Was wir dachten, Was wir taten PDF
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Mark Winter
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This document is a personal narrative, likely from a student's perspective, detailing an experience at school. It describes events, emotions, and thoughts related to an incident at school.
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Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. An diesem Tag. In diesen 143 Minuten. Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. Kann sein, dass es dich verändert. Kann sein, es lässt dich kalt. Kann sein, dass du schon davon gehört hast, im Fernsehen oder in den Schlagzeilen. So viele...
Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. An diesem Tag. In diesen 143 Minuten. Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. Kann sein, dass es dich verändert. Kann sein, es lässt dich kalt. Kann sein, dass du schon davon gehört hast, im Fernsehen oder in den Schlagzeilen. So viele Reporter, die darüber berichtet haben, Fotos geknipst und mit dem Rektor gesprochen … Wenn ja, vergiss es, nichts davon ist wahr. Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. Wir waren dabei. Mark Winter Fiona Nikolaus A. Filler »Es ist ein schwerwiegendes Sicherheitsproblem aufgetreten. B itte bewahren Sie Ruhe. B egeben Sie sich sofort in einen geschlossenen Fachraum und warten Sie auf weitere Anweisungen.« Als es plötzlich im Lautsprecher knackte, war ich schon kurz davor, alles hinzuschmeißen. Die Durchsage war meine Rettung. Während alle andern die Decke anstierten, nutzte ich die Gelegenheit, um vom Knallermann die dritte Aufgabe abzuschreiben. Knallermann, das ist Sylvester (Mädchenschwarm und Mathecrack – Knallermann macht’s möglich). Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Herr Filler in meine Richtung spähte. Ein spitzschnabliger Habicht, bereit, sich auf mich zu stürzen. Scheiße, dachte ich, und dabei hatte ich mir so viel Mühe mit der Platzwahl gegeben. Bei Klausuren muss man sich günstig positionieren, am besten ganz hinten in der Ecke bei dem Eingang. Schnell tat ich so, als wäre ich in meine eigenen Rechnungen vertieft. »Mark!« Ich zuckte zusammen. Er hatte mich erwischt. Sechs, aus, Ende. »Mark Winter! Schließt du mal bitte die Tür ab?« Jetzt erst blickte ich von meinem völlig sinnlosen Gekritzel auf. »Was?« »Du schließt sofort die verdammte Tür ab!« Ich war mir nicht sicher, ob mein mathegeplagtes Hirn mir nicht einen Streich gespielt hatte. Konnte das wirklich Herr Filler gesagt haben? Statt den Lautsprecher starrten jetzt alle mich an. »Mach endlich die Tür zu, du Depp!«, rief Sylvester. »Beeilung!«, kommandierte Herr Filler. Ich stand auf. Ging die zwei Schritte zur Tür. Drehte den Verschluss zweimal rum. »So okay?« Herr Filler nickte schwer atmend. »Mehr können wir im Augenblick nicht tun.« Herr Filler war für mich immer nur der smarte Mathelehrer. Der Mann in Jeans und dunkelblauem Sakko, der sich im Unterricht nie hinsetzte und auch nicht hin und her schlenderte. Herr Filler stand einfach, und zwar mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Wie ein Filmstar, der einen Soldaten spielen soll. In den ersten Wochen hatte es in unserer Klasse keine dringlichere Frage gegeben als die, ob er nun Schulterpolster trug oder nicht und ob er sich die Haare wohl färbte. Blond. Blond mit blauen Augen und ohne Schulterpolster. Das war Herr Filler. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, er könnte auch nur eine Sekunde lang nicht Herr der Lage sein. Herr Filler und Angst, das war unmöglich! Aber ich saß in der ersten Reihe. Und ich kann dir schwören, der hatte so was von Bammel. »Herr Filler? Ist das der Amokalarm?«, fragte Ida-Sophie. Ihre Locken wippten auf und ab. Richtige Korkenzieherlocken waren das, keine fedrigen Vogelnestusen. Amokalarm. Mit welcher Lockerheit sie das gesagt hatte, als ginge es nur um einen Fehler im Vertretungsplan. Amokalarm. Ein Unbehagen breitete sich zwischen uns aus, hüllte uns ein wie eine dichte Wolke. Ich sah meinen Füllerdeckel über die Tischkante kullern, ohne dass ich ihn aufhielt. Lauschte dem leisen Auftitschen. Merkte, wie Herr Filler bei dem Geräusch zusammenzuckte. Es gibt Wörter, da kommt es gar nicht darauf an, wie du sie aussprichst. Es reicht, dass du es tust. »Na ja, kein Grund, gleich den Teufel an die Wand zu malen.« Herr Filler versuchte, selbstsicher zu klingen, so wie sonst. »Ein Sicherheitsproblem, das kann alles Mögliche sein.« Er strich sich über sein Sakko, als wollte er die Angst wegschnippen wie einen Fussel. Strich über Schultern, die keine Polsterung nötig hatten. Herr Filler würde nicht zulassen, dass uns etwas passierte, das wusste ich. Eigentlich. »Aber wenn es ein Amokalarm wäre«, fragte ich, »dann würde diese Durchsage kommen, oder?« Herr Filler nickte. Woraufhin ein kleiner Tumult ausbrach, alle redeten durcheinander. Was, ein Amokläufer? Nein, das kann nicht sein. Ein echter Amokläufer?! Ich war genauso ungläubig wie der Rest der Klasse. »Wer sollte das denn bitte sein?«, raunte ich meiner Freundin Greta zu, »so durchgeknallt ist doch hier keiner!« Meine Stimme klang schnell und spuckig und überhaupt nicht nach mir selbst. Ich sah Greta an. Durch die Brille wirkten ihre Augen noch runder, als sie es ohnehin schon waren – große, dunkle Sorgenaugen. Sag was, dachte ich, los, stimm mir zu, mach mir keine Angst! Greta fummelte an ihrem Brillenbügel. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte oder verlegen war. An manchen Stellen war das Plastik schon ganz blank poliert. »Wahrscheinlich nicht«, antwortete sie. Wahrscheinlich. Das Wort geel mir ganz und gar nicht. »Würden die doch endlich verraten, was los ist«, sagte ich. »Herr Filler hat recht, schwerwiegendes Sicherheitsproblem, das kann alles Mögliche sein!« Regentropfen pladderten in der Stille gegen das Fenster. Zerplatzten an der Scheibe wie winzige Geschosse. »Ja«, murmelte Greta, »das kann alles Mögliche sein.« Ich dachte an die letzte Pause zurück, die vielen Schüler, in Grüppchen über den Hof verteilt. Manche quatschend auf den Stufen, manche auf der Mauer, um noch schnell die Hausaufgaben abzuschreiben, manche dahinter … Ein paar komische Typen waren schon dabei. Solche, die sich die Haare färbten, alle zwei Tage anders, oder die T-Shirts trugen mit Marilyn-Manson-Zitaten oder die sich die Zunge piercen ließen, einmal mittendurch. Wie verrückt musste man sein für einen Amoklauf? »Herr Filler!« Mark meldete sich, der Idiot aus der letzten Reihe. »Heißt das, wir müssen die Klausur nicht zu Ende schreiben?« Ich lachte, laut und schrill. Wie absurd war das denn? »Ruhe!« Da war sie wieder. Herrn Fillers Autorität. Er stemmte die Hände in die Hüften und fokussierte uns einen nach dem anderen. »Freunde, wahrscheinlich ist das hier kein echter Amokalarm. Wir warten gemeinsam auf weitere Anweisungen, bis dahin seid ihr einfach ruhig und arbeitet weiter.« Allgemeines Aufstöhnen. »Na toll.« Seufzend ließ Ida-Sophie den Kopf auf die Tischplatte sinken und eine Welle von Haaren schwappte über die Kante. »Ich dachte, wir müssen kein Mathe mehr machen …« Sie pückte sich eine Locke aus der Stirn und gähnte. Ich mochte sie nicht besonders, vermutlich weil sie hübsch war. Versteh mich nicht falsch, ich hab nichts gegen hübsche Menschen. Nur gegen solche, die wissen, dass sie hübsch sind, und Ida-Sophie wusste das sehr genau. »Meint ihr, da ist wirklich jemand … unterwegs?«, fragte Tamara vorsichtig. »Jemand mit einer echten Wae?« Durch die rosa Pausbäckchen wirkte sie immer noch ein wenig wie ein Kind, ein ziemlich verstörtes Kind. Aber vielleicht waren wir das auch alle. Verstörte Kinder. »Ich hab gesagt, ihr sollt abwarten!«, herrschte Herr Filler sie an und Tamara sackte zusammen. »Weiterarbeiten! Freunde, ihr habt noch viel zu tun!« Sylvester hob die Hand, gerade so, dass es wichtig und gleichzeitig lässig aussah. »Sorry, aber wir können doch nicht abwarten und gleichzeitig weiterarbeiten, das geht einfach nicht.« Er lächelte verschmitzt. Und wie das bei ihm so ist, waren alle sofort auf seiner Seite: »Echt.« »Genau!« »Find ich auch.« »Knallermann, go!!« Das ist schwer zu verstehen, wenn man ihn nicht kennt. Wenn mich vor ein paar Jahren jemand gefragt hätte, wie ich mir jemanden vorstellte, der Sylvester hieß, hätte ich sicher alles Mögliche gesagt, nur nicht cool. Bis unser Sylvester kam und alles über den Haufen warf. Umwerfend, ja, das war er, der Knallermann! Ich weiß nicht, wie er das machte, aber aus seinem Mund klang alles gut und schlau, und selbst wenn er schwieg, sagte das mehr aus als alles, was irgendein anderer von sich gab. Er war einfach ein Wunder, ein Genie, eine Bombe, kurzum: der absolut hinreißendste Junge, den man sich vorstellen kann. Dabei sah er nicht mal besonders modelmäßig aus. Okay, er sah schon gut aus mit seinem rabenschwarzen Haar, dem aufrechten Rücken, dem klaren, blauen Blick … Aber das taten Fabio und Luca auch und trotzdem hielt in ihrer Gegenwart nicht alle Welt den Atem an. Vielleicht war das so eine biologische Reaktion, vielleicht verfügte Sylvester über genau die Stimme, das Lachen, den Gang, bei denen jeder sofort »Sympathisch!« denkt, ganz automatisch. Es war ein Phänomen. Wie von selbst nickte ich mit dem Kopf, einfach, weil er das sagte, dabei hätte ich gar nichts dagegen gehabt, die Klausur noch zu Ende zu schreiben. Ich gebe es ja nur ungern zu, aber ich mag Mathe. Ich mag Zahlen. Ich mochte sogar Herrn Filler, obwohl ich nicht glaube, dass es irgendwo auf der Welt einen eingebildeteren Mathelehrer gibt. »Danke, Sylvester, für diesen außerordentlich scharfsinnigen Beitrag.« Herr Filler war der Einzige, dem das Sylvester-Syndrom nichts anhaben konnte. Musste ein genetischer Defekt sein. »Keine Ursache!« Herr Filler zog die Stirn kraus, setzte seine »Ich warne euch«-Miene auf. »Freunde, ich warne euch, der Nächste, den ich ermahnen muss, kann sein Matheheft wirklich abgeben.« »Och, Herr Filler«, Aline schlug die Beine übereinander und guckte so mäuschenmäßig wie möglich, »wir können uns gar nicht mehr konzentrieren …« »Ruhe jetzt, die Zeit läuft weiter!« Hinter mir sprang jemand geräuschvoll vom Stuhl auf, Turnschuhe quietschten über den frisch geputzten Plastikboden. Ich drehte mich um. Mark. Ohne ein Wort bahnte er sich den Weg durch die einzelnen Tische nach vorne, die Matheklausur unterm Arm. Besonders cool sah er dabei nicht aus. Der verwaschene Pulli, den er trug, schlackerte zu sehr an ihm herunter, um noch wirklich modisch zu wirken, und die Turnschuhe hinterließen eine Bröselspur, die genauso matschbraun war wie sein Haar. Über seinem linken Auge klate eine Narbe, einmal quer durch die Braue wie ein X. Darunter Furchen, so tief wie bei einem, der seit Monaten kaum geschlafen hat. Wer bist du eigentlich? Mir el auf, dass dies das erste Mal war, dass ich ihn aus seiner Ecke herauskommen sah. Normalerweise hockte er bloß mit verschränkten Armen da, gebeugt, als interessiere er sich mehr für seine Schnürsenkel als für uns. Mark stehend und Herr Filler sitzend – das war neu. Drei schrecklich spannungsgeladene Sekunden lang starrten sich die beiden einfach an, lange, unerträglich lange, dann holte Mark aus und klatschte Herrn Filler die Blätter auf den Tisch. Ich erschrak fast so sehr wie Greta. Das hier war eine andere Nummer als ein vermasselter Vokabeltest, es war unsere letzte Klausur vor den Ferien und, wie Herr Filler mehrfach betont hatte, die wichtigste. »Mark, willst du es nicht zumindest noch mal versuchen?« Herrn Fillers Kiefer verhärtete sich. »Noch hast du genug Zeit …« Doch der schüttelte nur den Kopf. »Nö. Falls hier wirklich ein Irrer mit ’ner Knarre rumläuft, will ich die letzten Minuten meines Lebens nicht mit Mathe verbringen.« Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, stolz vielleicht oder einfach verrückt. Er steckte die Hände in die Taschen und setzte sich zurück auf seinen Platz. In diesem Moment verstand ich die Relativitätstheorie (wenn auch nicht ganz so wie Einstein). In der Schule ist alles relativ wichtig. Wichtig also in Relation zu anderen Sachen. Wichtiger, als zu Hause auf dem Sofa rumhängen. Unwichtig, wenn es um Leben oder Tod geht. Wer weiß, vielleicht saßen wir nur da rum und lösten Gleichungen, weil uns gerade nichts Besseres einel. Jetzt, wo ich so drüber nachdenke, kann ich das erklären. Damals dachte ich nur: Irgendwie hat er recht, diese dämliche Klausur ist jetzt doch völlig egal. »Diese dämliche Klausur ist jetzt doch völlig egal!«, rief Fabio zwei Reihen hinter mir, anscheinend hatte sich die Relativitätstheorie nicht nur mir oenbart. Geschlossen wie eine Gang sprangen Sylvester, Fabio und Ida-Sophie von ihren Stühlen auf. Oder war Sylvester eine Millisekunde vor Fabio und Ida auf den Beinen? Bestimmt, schließlich war er der Anführer, immer. Er blickte sich um und seine Augen funkelten so blau wie nur irgendwas. Sylvester. Mannometer. Fabio schlug ihm auf die Schulter, Fabio, das Kraftpaket, und trotzdem zuckte Sylvester kein bisschen zusammen, er nicht. Stattdessen lächelte er, mit halbem Mundwinkel, schaute kurz zu mir, zu mir!, zu mir!, und dann weiter an mir vorbei zu Ida-Sophie. Sie lächelte zurück. Strahlte, fraß ihn fast auf mit ihren riesigen weißen Zähnen, merkte er das nicht? Es versetzte mir einen Stich, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich an ihrem Körper vorbeischob, so dicht, dass ihre Hände sich streiften, seine braun gebrannt und mit dunklen Härchen besetzt, ihre lang und fein wie Elfennger. So traten sie nach vorne, Sylvester, Ida-Sophie und ganz zum Schluss Fabio. Wie eine wahnsinnig schöne Gang. Und mit welcher Eleganz knallten sie Herrn Filler die Klausurbögen vor die Nase! Erst Sylvester, dann Ida-Sophie und schließlich mit einem unglaublich lauten Wumms Fabio, während Herr Filler daneben stand. Auf einmal wirkte der nicht mehr ganz so smart in seinem maßgeschneiderten Sakko. Arbeitsverweigerung in seinem Unterricht! Unter anderen Umständen hätte das niemand gewagt. Unglaublich, wie schnell sich alles ändern kann, dachte ich, während ich mich streckte, um meine Blätter zu denen der anderen segeln zu lassen. Ja, genau das tat ich, auch wenn ich ein aues Gefühl dabei hatte: Ich ließ sie Herrn Filler vor die Nase gleiten, genau wie Sylvester, genau wie Mark. Viereinhalb eng bekritzelte Seiten, bedeutungslos mit einem Schlag. Wow. Ich hatte nicht einmal dafür aufstehen müssen. »Fiona! Wenigstens du könntest versuchen, die Arbeit abzuschließen.« Herr Filler klang jetzt fast ehend. »Das ist doch einfach nur Trotz, wir sind hier nicht mehr in der fünften Klasse …« Ich schaltete auf Durchzug. Was er sagte, war plötzlich albern. Es war irrelevant. »Was machen wir eigentlich, wenn wir Schüsse auf dem Flur hören?«, unterbrach ich ihn. »Stellen wir uns tot?« Ein paar der anderen lachten, doch ich erkannte ihre Stimmen nicht wieder. »Genau, was machen wir dann?« Ida-Sophie legte den Kopf schief. »Hatten Sie dazu nicht vielleicht eine Einweisung oder so?« Nein, ich hatte keine Einweisung oder so. Feueralarm ja, Amokalarm nein. Ich war erst seit knapp zwei Jahren an der Schule, Herrgott! »Erst mal warten wir auf weitere Anweisungen.« Ich zwang mich dazu, mich nicht von der Aufregung der Schüler anstecken zu lassen. Vorbildfunktion. »Ich bin sicher, man wird uns bald genauer informieren, so lange bewahren wir bitte Ruhe. « Bitte. Wie es mir auf die Nerven ging, dieses höiche Getue. Hört mal bitte zu, seid mal bitte leise, benehmt euch bitte nicht wieder wie im Kindergarten … Immer höich bleiben. Die Schüler akzeptieren. Transparenz. Manchmal wäre ich gern in einem anderen Jahrhundert geboren. Nur Mut, mein Junge. Nachsichtig schaute Pythagoras von seinem Gemälde zu mir herunter, der weiseste Mathematiker aller Zeiten mit wallendem Vollbart und Denkergesicht, eingerahmt in Gold. Meine Freundin hatte ihn mir geschenkt, zu Weihnachten, letztes Jahr. Valérie. Wie viel lieber wäre ich jetzt bei ihr daheim gewesen! Hätte mit ihr auf der Couch gelegen, ihre herrlichen gefüllten Pfannkuchen vertilgt oder meinetwegen auch für sie den Staubsaugerbeutel gewechselt. Trotz Hausstaubmilbenallergie. Denn natürlich gaben sich die Schüler damit nicht zufrieden. Warten, das können Jugendliche nicht besonders gut. Schon gar nicht auf weitere Anweisungen. Noch schlaer als sonst hingen sie auf ihren Stühlen, blass und unsicher, als würden sie von ihrer eigenen Coolness zu Boden gezogen. Ein Haufen Leichen in meinem Klassenraum. Einen winzigen Augenblick lang stellte ich mir das tatsächlich vor, die ganze Klasse, ausgelöscht von einem Moment auf den anderen. Was würde mein Chef dazu sagen? »Kann ich bitte mein Handy wiederhaben, ich müsste mal kurz meiner Mum schreiben …« Sehnsüchtig schaute Aline zu der Kiste unter meinem Pult herüber. Enges Top, lange Wimpern und ein Gesicht, dem man ansah, dass sie sich viel Mühe gab, es möglichst erwachsen wirken zu lassen. Sie schob die Unterlippe vor, ihre Augen glänzten mich an. Aline war eines dieser vielen überforderten Mädchen, die ihre Rolle erst noch nden mussten – man musste Geduld mit ihnen haben. »Ich auch!« Gleich mehrere Schüler sprangen auf Alines Handy-Gejammer an. »Dann können wir auch gleich beim Sekretariat nachfragen …« Ida-Sophie hatte sich auf ihrem Stuhl umgedreht und tuschelte hektisch mit Sylvester. »Ruhe im Karton!« Ich zwang mich zur Konzentration. Vielleicht war irgendwo in der Schule ein Problem aufgetreten – nun gut, das lag außerhalb meines Handlungsbereiches, daran konnte ich nichts ändern. Später würde man mich informieren. Bis dahin musste ich, so gut es ging, die Stellung halten. Was ich brauchte, war ein Plan. Es ist wie im Krieg: Wenn man gewinnen will, dann reicht es nicht, sich seine eigene Taktik zu überlegen, nein, man muss auch die Aufstellung des Gegners studieren. Günstigerweise handelte es sich um eine kleine Klasse, nur acht Doppeltische. In vorderster Front: die Musterschüler, natürlich. Fiona, Brillen-Greta und an einem zweiten Tisch daneben Tamara mit ihrem dicklichen Kindergesicht. Folgsam und pegeleicht alle drei. Was hatte Fiona sich bloß dabei gedacht, mir ihre Klausur hinzuschmeißen? Linker Flügel: die Desinteressierten, die sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, Mark zu folgen. David und Jill in ihrer Friedhofstracht – ein wenig unheimlich, aber harmlos. Im Zentrum: Ida-Sophie, die lockige Anführerin, ankiert von ihrer besten Freundin, deren Namen ich ständig vergaß. (Thea oder Svea oder so ähnlich). Bei ihr musste ich vorsichtiger sein. Wenn ich Ida-Sophie verärgerte, hatte ich in Kürze den ganzen Raum gegen mich. Dahinter, in der Mitte, lungerte die Muskelkohorte, Sylvester und seine durchtrainierten Kumpane. Luca und Fabio. Deren betonte Lässigkeit, die mir sonst so auf die Nerven ging, war heute vielleicht ausnahmsweise einmal nützlich. Jeden, der half, Panik zu vermeiden, konnte ich gut gebrauchen. Zumal Lucas momentane Freundin und Sitznachbarin Aline mit ihrem Gejammer noch immer Unruhe stiftete. Rechts am Fenster: diejenigen, die es nicht in die Muskelkohorte geschat hatten – der eine, Jan, weil er zu fett war, der andere, weil er ständig von seinen Eltern zum Lernen verdonnert wurde. Lasse. Sein Vater war im Elternrat. Und dann war da noch Mark. Einzelkämpfer, zum Glück. Von ihm ging eindeutig die größte Gefahr aus. Typisch für ihn, sich direkt an der gegenüberliegenden Wand zu positionieren. So nah wie möglich am Ausgang und so weit wie möglich entfernt von mir und der Tafel. Man war ja schließlich nicht zum Lernen hier. Das Tuscheln breitete sich aus, zunehmend erregter. »Wenigstens ein Handy könnten Sie zur Sicherheit rausrücken«, brummte Sylvester, »meins zum Beispiel …« Luca nickte zustimmend. »Mein Vater ist im Elternrat!«, rief Lasse. Allmählich geriet ich wirklich ins Schwitzen. Mathe, Sport und Geschichte, das konnte ich den Kindern beibringen, aber nicht, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Ich wusste es ja selbst nicht! Verzweifelt kramte ich in meinem Gedächtnis nach brauchbaren Verhaltensregeln, aber da waren keine Regeln. Bloß eine schwache Erinnerung an diese aufdringliche Frau mit der schwarzen Fleecejacke, wie sie ein Handout nach dem andern austeilte. Beim Vortrag letztes Jahr. Stundenlang hatte die krakeelt über Risikofaktoren und Prävention – es war die längste Konferenz meines Lebens gewesen und am Ende konnte ich mich trotzdem nur noch an die vielen blondierten Haare erinnern, die an ihrer Jacke klebten (sechs auf den Schultern, drei auf dem Rücken und acht auf der Brust). Was hatte die noch gleich zum Thema Amoklauf gesagt? Ruhe bewahren. Ablenken. Auf keinen Fall eine Massenpanik bei den Eltern auslösen. Das war alles, was ich behalten hatte. Diese veruchten Haare! »Die Handys bleiben bei mir«, sagte ich. »Vielleicht brauchen wir die noch, um… äh … mit der Polizei in Verbindung zu bleiben.« Entsetzte Blicke. »Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass es da wirklich ein ernstes Problem gibt!«, fügte ich hastig hinzu. Hervorragend, jetzt hast du zwar nicht bei den Eltern, aber dafür bei den Schülern eine Massenpanik ausgelöst. »Der hat das doch voll nicht unter Kontrolle«, piepste Aline und am liebsten hätte ich sie dafür mit ihrem Smartphone abgeworfen, »vielleicht sind wir gleich alle tot!« Luca nickte, sein brauner Pony el ihm bis fast über die Augen. Er schlang seiner Freundin beschützend den Arm um die Schulter, während er mich nster musterte. »Echt.« Ich beschloss, es ganz wie die Monarchen im 19. Jahrhundert zu machen: die Meute durch kleinere Zugeständnisse ruhigstellen. »Na schön, ich seh ja ein, dass es unter diesen Umständen etwas viel verlangt ist, noch zu Ende zu schreiben. Gebt die Blätter ab, ich werte das Ganze als Test, und nächste Woche wird wiederholt. In Ordnung?« Das wirkte. Sylvester klopfte anerkennend auf die Tischplatte, Fabio grinste. Aline befreite sich aus Lucas Umarmung und entblößte eine Reihe äußerst gerader Zähne. »Danke, Herr Filler! Sie sind voll nett!« Noch vor einem Jahr wäre ich rot angelaufen vor Stolz, heute nickte ich nur knapp. Schüler sind eine wankelmütige Masse und sie sind bestechlich. Sehr bestechlich. Kein Kapitän wäre mit einer solchen Mannschaft in See gestochen – einer Mannschaft, bei der jederzeit die Gefahr einer Meuterei bestand, nur weil die Wellen ein wenig höher schlugen. Ich lehnte mich gegen die Tischkante. Mein Rücken kribbelte unter dem vollgeschwitzten Sto der Schulterpolster, doch ich zog das Sakko nicht aus. Falls ich schon sterben sollte, dann wenigstens ordentlich gekleidet. »Also schön, Freunde, dann schickt mir mal den Rest der Blätter nach vorne.« So tun, als wäre das alles so geplant, das war der Trick. Dazu eine gesunde Portion Selbstbewusstsein und der Röntgenblick – mehr brauchte es nicht, um den Schülern Respekt einzuößen. Keine Klingel, wie die Pappenheim sie immer benutzte, und auch keine dieser lächerlichen Klangschalen. Schon war das ganze Klassenzimmer erfüllt von eilfertigem Rascheln, das Flüstern verstummt. Ich spürte wie meine Schultermuskeln sich lockerten. Alles war gut. Man gehorchte mir. Stapel von kariertem Papier wurden von Reihe zu Reihe nach vorne durchgegeben, schlitterten über Tische, glitten hinunter, wurden wieder aufgehoben und landeten schließlich auf Gretas Schoß. »Bitte schön, Herr Filler.« Hastig drückte sie mir die Bögen in die Hand, schlug schnell die Augen nieder, bevor ich etwas erwidern konnte. (Noch eine dieser Schülereigenarten: Schau niemals einem Lehrer in die Augen!) Ich räusperte mich. »Und jetzt«, fuhr ich besänftigend fort, »sind wir am besten komplett leise. Falls, nur falls, da draußen von jemandem Gefahr ausgeht, wird er denken, der Raum sei leer.« Kaum, dass ich das gesagt hatte, klopfte es. Fast hätte ich gelacht. Da steht der großkotzigste Lehrer der Welt vor dir, und plötzlich klappt ihm die Kinnlade runter, als hätte er gerade erfahren, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Oder ihm wäre soeben aufgegangen, dass er seinen Fallschirm vor dem Sprung im Flugzeug liegen gelassen hat. Nur blöd, dass ich wahrscheinlich genauso geguckt habe. Abgesehen davon, dass ich kurz davor war, laut loszuprusten, hatte ich eine Mordsangst. Ich will hier raus! Nie zuvor hatte ich das inbrünstiger gespürt als jetzt, gefangen in Herrn Fillers Klassenzimmer. Scheiße, ich wollte so dringend woandershin, raus aus diesem verdammten Käg! Mein Blick og hinüber zum Fenster, suchte nach einem Weg nach draußen. Über die Fensterbank? An der klapprigen Regenrinne entlang? Runterspringen, aus dem zweiten Stock?! Es war ausweglos. Auch wenn ich kein Mathe konnte, die Gesetze der Schwerkraft kannte ich. »Amokläufer klopfen nicht«, behauptete Lasse in die Stille hinein, »so was machen die nicht, das weiß ich, mein Vater ist bei der Polizei.« Vielleicht hätten die Leute ihm eher geglaubt, wenn seine Stimme nicht so sehr dabei gezittert hätte. »Oder, Herr Filler? Ist doch so?« Hilfe suchend wandte er sich nach vorne, glotzte zu Herrn Filler, als wäre der das Orakel vom Dienst. »Der würde nicht klopfen, ne?« Als ob Herr Filler das wüsste! Der stand noch immer da wie erstarrt. Verkniener Mund, Tropfen an der Adlernase, Augen wie zwei wild ackernde Blaulichter. Es klopfte erneut. »Wir machen nicht auf, Herr Filler, ja?« Sofort hatte Ida-Sophie einen ganzen Fanclub auf ihrer Seite. Aufmachen? Niemals! Wir waren doch nicht lebensmüde! Ich schnaubte verächtlich. Betrachtete die andren wie über eine Mauer hinweg, als wäre da eine unüberwindliche Grenze zwischen ihnen und mir. Ich sah sie reden und diskutieren und miteinander streiten … Als könnten sie sich dadurch in Sicherheit bringen. Durch Labern. Nur Jill schwieg hinter ihrem lila Pony, aber das war normal. Jill lag das Reden nicht besonders, sie sprach lieber über die Farben ihrer Klamotten: Gelb oder Orange hieß: Alles okay. Rot hieß: Vorsicht, bissig! Und Schwarz: Der Nächste, der mich anspricht, erlebt einen grausamen Tod. Jills Klamotten waren fast immer schwarz. Aus dem Klopfen wurde ein Schluchzen. Wer auch immer da draußen wartete, er wollte wirklich verdammt dringend hier rein. »Und was, wenn das ein Schüler ist, der ausgeschlossen auf dem Flur rumsteht und Hilfe braucht? Vielleicht war er gerade auf dem Klo und jetzt lässt ihn niemand rein …« Gretas Stimme versickerte in Unsicherheit. Sie war auch sonst nicht die Mutigste. Hilfsbereit schon, aber nicht mutig. »Wie gesagt«, antwortete Herr Filler mechanisch, »fürs Erste halten wir uns einfach an die Anweisungen, danach können wir immer noch …« »Aber wir können doch nicht einfach nichts tun!«, unterbrach ihn Fiona ungeduldig. Es war das erste Mal, dass ich sie so mit einem Lehrer sprechen sah, so wütend, so klar: »Sie sind Vertrauenslehrer, Herr Filler, Helfen ist Ihr verdammter Job!« Ich fand das gut. Herr Filler nicht. Die Tür blieb verschlossen. »Jemand sollte den da draußen nach seinem Namen fragen«, befahl Sylvester. »Mark, du sitzt am nächsten an der Tür!« Ich weiß nicht mehr, wer es war, der diesen Geistesblitz hatte (vermutlich Lasse). Eigentlich ist es aber auch ganz egal, denn alle anderen waren sofort derselben Meinung: »Schnell, Mark, geh zur Tür und frag, was der will!« Ich krallte die Finger umeinander, begann ganz langsam, mir die Härchen auf dem Handrücken auszureißen, eines nach dem anderen. Es war dieses Wimmern. Diese beschissenen Schluchzgeräusche katapultierten mich irgendwie woandershin, nach Hause, nach Früher, nach Dunkel, und plötzlich hämmerten die Fäuste auch auf mich ein. Dröhnten, krachten, wurden mit jedem Schlag mehr zu denen meines Vaters, seinen festen, dicht behaarten Händen, während sich das Wimmern da draußen in mein eigenes verwandelte … »Mach schon!« Ich schreckte auf, grapschte mir instinktiv ins Gesicht. Fast erwartete ich, in das matschige, rote Etwas von damals zu greifen, aber natürlich war die Narbe längst verheilt. Natürlich. Ich fuhr mir durchs Haar, merkte, dass meine Finger zitterten. Alle starrten mich an. »Okay«, stieß ich hervor, »ich mach’s.« Ein kurzer Blick zu Herrn Filler, doch der hob bloß die Schultern und machte irgendeine fahrige Bewegung, die sowohl als Nicken als auch als Kopfschütteln zu deuten war. Feigling. Ich erhob mich. Zugegeben, Mark bewies an dieser Stelle echt Mumm. Den hatte er ja schon durch seine Klausurprotestaktion gezeigt. Während wir anderen nur dumm dasaßen und jede seiner Bewegungen verfolgten, stand er auf und marschierte zur Tür. Innerhalb weniger Minuten war er vom Deppen aus der letzten Reihe zum Helden der Klasse aufgestiegen. »Wer bist du und was willst du?« Falls er Angst hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Vollkommen bewegungslos stand er vor der Tür, die Hände tief in den Taschen vergraben. »Hilfe, bitte helft mir! Macht auf, bitte!« Das war die Stimme eines Mädchens, eines weinenden Mädchens, bestimmt nicht viel älter als zehn Jahre. Ich biss mir auf die Lippe. Wäre es ein Junge gewesen, es hätte mein kleiner Bruder sein können. »Warum bist du nicht bei deiner Klasse?« Höchst überzeugend schate es Mark, wie der Luftschutzwart in einer nsteren Kriegsdoku zu klingen. Das Mädchen – nein, das Kind! – klang jetzt noch panischer: »Ich hab den Raum nicht gefunden, und dann … Bitte, ich bin tot, wenn ihr nicht aufmacht!« Lautes Schluchzen. Langsam drehte sich Mark zu uns um und jetzt endlich begri ich, was sich an ihm verändert hatte: Mark wirkte auf einmal wach. Beim Warten auf dem Flur, im Unterricht … verglichen mit jetzt hatte er bisher die ganze Zeit vor sich hingedöst. Ob er froh war, endlich was Spannenderes zu erleben als die Matheklausur? »Ein Mädchen. Sie hat Angst.« Nein, das war er nicht. Ganz bestimmt war er nicht froh über den Alarm, dafür klang er viel zu ernst. Fünfmal so tief wie sonst kam seine Stimme mir vor, stark, fest. Fast so wie die von Sylvester. »Soll ich aufschließen?« Die Frage war oensichtlich nicht an Herrn Filler gerichtet. Von dem, so hatte Mark wohl beschlossen, war keine Hilfe zu erwarten. Das erste Mal in unserm Leben hatten wir eine wirklich wichtige Entscheidung zu treen. »I don’t know …« Sylvester knetete seine Unterarme, sehnige, braun gebrannte Unterarme. »Vielleicht ist das ein Trick.« Ein Trick, ein Trick, pochte es in meinen Ohren. Ja, vielleicht war das ein Trick. Ein ganz hinterhältiger Plan, um uns aus dem Klassenzimmer zu locken, uns entgegenzutreten und allesamt … Allesamt was? Abzustechen? Als Geiseln zu nehmen? Ich versuchte mir vorzustellen, wie Herr Filler und wir gefesselt auf unseren Stühlen hockten, mit Paketband über den Mündern, aber es gelang mir nicht. Natürlich nicht, so etwas passierte vielleicht in irgendeinem staubigen Kriegsgebiet, aber doch nicht hier! Das Pochen in meinen Ohren ließ ein wenig nach. Was auch immer das Mädchen da draußen erschreckt hatte, es musste eine harmlose Erklärung dafür geben – wie für alles Aufregende im Leben. Selbst das Tapptapp auf dem Dachboden hatte sich schließlich als harmloser Siebenschläfer herausgestellt. Die Wahrscheinlichkeit für einen echten, einen wirklichen Amoklauf tendierte bestimmt gegen null, ach was, gegen minus eine Million! Fast spürte ich Opas faltige Pranke auf meiner Schulter ruhen. Trink erst mal ’ne Tasse Tee, meine Liebe. Man malt sich immer alles schlimmer aus, als es ist. Neben mir knirschte es. Ein vertrautes Geräusch, es stammte von Gretas Grübeleien. Sie hatte die Brille abgenommen und bog den Bügel, bis er knarzte. »Wir müssen helfen«, wisperte sie, »sonst sind wir schuld, wenn …« … jemand sie unwahrscheinlicherweise erschießt, beendete ich ihren Satz, bevor Opa mich davon abhalten konnte. Der Regen prasselte gegen die Glasscheibe. »Also was ist?«, fragte Mark, »soll ich?« Sein Blick blieb an mir haften. Soll ich? Ich dachte an meine Schwester. Mila, meine schöne, starke Schwester, die längst studierte (in Oxford, Medizin). Dachte daran, was sie gesagt hatte an dem Tag, an dem mein Bruder in dem Müllcontainer verschwand. Warum er da hineinkletterte, weiß ich nicht mehr, vermutlich wollte er einfach mal sehen, wie so ein Ding von innen aussieht. Und gerade als er auf dem Boden der leeren Metalltonne gelandet war, kamen zwei Typen vom Sportplatz vorbei, lachten, kamen näher und schoben die Önung zu, direkt über seinem Kopf. Der Knall war laut, Metall auf Metall, nur deshalb hörte ich ihn überhaupt von der anderen Straßenseite. Einer der beiden hielt den Deckel zu, während der andere weiterlachte. Mila blieb sofort stehen. Sie sah die beiden Typen, hörte meinen Bruder in der Tonne, Niels, der langsam Panik kriegte in dem dunklen Ding. Sie erfasste das alles mit einem Blick und lief los, quer über die Straße mit ihren klackernden, roten Schuhen. Safran zerrte an der Leine, er wollte mit! Ich hielt ihn fest. »Bleib«, wiederholte ich ein ums andere Mal, »bleib, Safran!« Die Typen waren bestimmt zwei Köpfe größer als ich und mindestens dreimal so breit. Der eine grinste blöd, der andere blies meiner Schwester Rauch ins Gesicht. Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen die Leine, während Mila dem Typen die Zigarette aus der Hand schnippte, auf den Container zeigte und schrie. »Das ist mein Bruder, ihr Spatzenhirne, und den holt ihr da jetzt sofort wieder raus, oder ihr könnt was erleben!« Keine zehn Sekunden später stand Niels wieder auf dem Gehweg. »Angst ist scheiße«, sagte Mila nachher, »da darfst du nicht drauf hören. Nie wieder, Fio, versprich mir das. Wenn was falschläuft, hör auf deinen Kopf, nicht auf die Scheißangst. Mach, was richtig ist, klar?« »Klar«, hatte ich geantwortet, aus tiefster Überzeugung, während mein Herz ganz überquoll vor Bewunderung. Mila hatte gewonnen, sie hatte gewonnen, weil sie mutig war, und die dummen Typen, die hatten verloren. Mut war gut, meine Schwester war gut, was sollte daran unklar sein? Und jetzt saß ich hier, im stickigen Klassenzimmer, während die Kleine da draußen klopfte und bettelte, und so klar war mir die Sache plötzlich gar nicht mehr. »Lass es, bitte«, sagte Lasse in seinem typischen Lass-es- bitte-Ton, genervter Kindergärtner, umgeben von Säuglingen, »in der Durchsage hieß es klar und deutlich, wir sollen die Tür verschlossen halten, oder Herr Filler?« Herr Filler schwieg. »Genau, Mann«, Fabio verschränkte die Arme vor der Brust. Breite Arme vor einer immensen Brust. Lasse, Luca und er waren seit Jahren zusammen beim Basketball. »Das klingt jetzt echt hart, aber … besser eine als wir alle. Wenn da draußen was ist, dann ist die eh schon so gut wie tot. Und wenn da nichts ist, tja …«, er zuckte mit den Schultern, »dann braucht sie auch keine Hilfe!« Über ihre Brillengläser hinweg starrte Greta ihn an wie einen Schwerverbrecher. Wenn es um Menschen geht, kann sie ziemlich starrsinnig sein. (Wenn es um Tiere geht, übrigens auch.) Fast konnte ich hören wie es in ihrem Kopf ratterte, wie sie kombinierte, abwog, sie war doch so unheimlich schlau. Tränen glänzten in ihren Augen. Warum sagte sie bloß nichts? Die Stimme des Mädchens war mittlerweile heiser geworden, brüchig. Konnte sie es nicht einfach bei einem anderen Raum versuchen? »Macht auf! MACHT AUF!« Ein wenig dumpf drang sie durch die Tür – fast so, als steckte sie in einer Mülltonne. »Bitte!« Nur war da diesmal keine Mila, die ihr zur Rettung eilen konnte. »Schnell!« Da war nur ich. Nur ich … »Aufschließen«, sagte ich. Leise, aber laut genug, dass Mark es hören konnte. Die grüne Tür lag gar nicht so weit von Sylvesters Sitzplatz entfernt und irgendwie hote ich, dass der Knallermann es auch mitbekam, dass ich mich für die Rettung des Mädchens einsetzte, dass er sich vielleicht sogar auf meine Seite schlug. Sylvester und ich gegen den Rest der Welt. »Spinnst du?«, fuhr Fabio mich an. »Wir können der eh nicht helfen, damit bringst du uns alle nur in Gefahr!« Er lehnte sich zurück, der Totenschädel an seiner Halskette grinste in die Runde. »Jedenfalls ist das meine Meinung.« »Das ist keine Meinung«, entgegnete ich. »Das ist Angst. Auf so was hört man nicht.« Erstaunlich, wie ruhig mein Atem plötzlich ging. »Ach ja?«, spöttisch zog Ida-Sophie eine Braue hoch, »und auf was hört man dann? Auf dich?« Sie warf einen vielsagenden Blick zu Sylvester hinüber und der grinste zurück. »Never.« Seine Zähne strahlten. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss, während die beiden mich musterten. »Mit Sommersprossen sieht man immer aus, als hätte man Pickel«, hatte Ida-Sophie mal gesagt und ich bestand förmlich nur aus Sommersprossen. Ich wandte den Kopf ab, schaute plötzlich nicht mehr zu Sylvester, sondern zu Mark, der noch immer abwartend in der Ecke stand. Mark grinste nicht. Stattdessen machte er langsam einen Schritt zur Tür und streckte die Hand zur Klinke. Er schien nachzudenken, die Narbe über seinem Auge zuckte nervös, er gri zum Riegel. Soll ich? Irgendwie machte sein Vertrauen in mich mir Mut. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und nickte, entschlossen, mich von Ida-Sophie nicht einschüchtern zu lassen. Die war doch dumm wie Brot, das würde Sylvester schon noch begreifen! Mach, was richtig ist. Die Tür zu önen war richtig. Es musste richtig sein, denn Mark wandte sich wieder um und entriegelte die Tür. Die Tür schwang auf. Davor stand ein schniefendes Mädchen mit zwei kurzen Zöpfen. Und einer Pistole an der Schläfe. Stell dir vor, du guckst einen Horrorlm. So einen dieser richtig esen, die du eigentlich erst mit achtzehn sehen darfst. »Mit den Augen der Gehenkten« vielleicht oder »Nachtaktiv – die Meuchelmaa 3«. Der Film ist die totale Folter, aber gleichzeitig ist es auch ungemein aufregend, das