Gesellschaftliche und soziale Verantwortung PDF
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This document provides an introduction to the concepts of social and corporate responsibility, examining the philosophical, historical, and theoretical perspectives on the topic. It explores various theoretical frameworks, including those in economics and management, and addresses aspects of corporate and leadership responsibility. The document uses an interdisciplinary approach, covering diverse concepts from the ancient world to the present day, including themes like CEO activism, sustainability, and human rights in business.
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Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Einleitung Gesellschaftliche und soziale Verantwortung: Gebrauch und Anspruch dieses Skriptums Dieses Skriptum möchte Studierenden verschiedener Fachrichtungen eine grundsätzliche Einführung in die aktuelle und historische Verantwortu...
Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Einleitung Gesellschaftliche und soziale Verantwortung: Gebrauch und Anspruch dieses Skriptums Dieses Skriptum möchte Studierenden verschiedener Fachrichtungen eine grundsätzliche Einführung in die aktuelle und historische Verantwortungsdebatte im Hinblick auf gesellschaftliche, historische und soziale Aspekte liefern. Die Darstellung erfolgt zumeist aus der Perspektive der philosophisch-normativen Theoriebildung, ist jedoch nicht explizit für Studierende mit Vorkenntnissen auf dem Gebiet der akademischen Philosophie verfasst. Im weiteren Verlauf der Darstellungen werden auch theoretische Perspektiven der Wirtschafts- und Managementwissenschaften aufgegriffen und skizziert. Dies betrifft insbesondere die Diskussion um Verantwortung von Unternehmen und Führungskräften. Grundsätzlich erheben die im Skriptum skizzierten Darstellungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Manche Definitionen und Klassifikationen, wenngleich im Grundgedanken meist ähnlich, variieren je nach herangezogener Quelle und wissenschaftlicher Fachrichtung. Dennoch liefern die hier illustrierten Konzepte einen adäquaten Einstieg in das Thema und sind für die weitere Orientierung in der Verantwortungsdebatte unerlässlich. Es ist das erklärte Ziel dieses Skriptums, den Studierenden einen gut verständlichen und interessanten Einblick in die verschiedenen Dimensionen der Verantwortungsdebatte zu ermöglichen. Die Komplexität und Vielschichtigkeit der wissenschaftlichen Primärliteratur lässt sich in diesem Zusammenhang nur ansatzweise und in vereinfachter Form abbilden. Das Skriptum illustriert einen bewusst gewählten Querschnitt durch den Verantwortungsdiskurs. Wichtig ist zu verstehen, dass sich „Verantwortung“ als relationaler und kontextabhängiger Begriff nicht auf eine einzige Bedeutung, ein Modell oder eine Definition festlegen lässt. Vielmehr geht es darum, die vielfältigen Merksatz theoretischen, historischen, konzeptionellen und anwendungszentrierten Kontexte des Verantwortungsbegriffes zu skizzieren und so für ein tiefergehendes Verständnis des Verantwortungsdiskurses insgesamt zu sorgen. Oder, um es mit den Worten der Philosophin und Publizistin Ina Schmidt zu sagen: „Immer wieder aufs Neue gilt es in einer konkreten Situation, die Verwendung des Begriffs Verantwortung zu überprüfen, festzustellen, von 1 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung welcher Form verantwortlichen Handelns wir sprechen, um das Beziehungsgeflecht zu verstehen, in dem Verantwortung wirksam werden soll, und eine Antwort zu finden, die tragfähig und vertretbar sein kann.“ 1 Demzufolge darf auch dieses Skriptum nicht als streng linearer Aufbau nach Vorbild eines Buches verstanden werden, sondern gleicht in seiner thematischen Gliederung mehr einem Mosaik, dessen Gesamtbild einen Überblick über den Verantwortungsdiskurs vermitteln soll. Manche Teile sind stärker als andere aufeinander bezogen, aber zumeist können die Abschnitte auch individuell gelesen und verstanden werden. Darüber hinaus wird den Studierenden nahegelegt, eine grundsätzlich philosophisch- kritische Grundhaltung zu ethischen und gesellschaftlichen Fragestellungen zu entwickeln. In diesem Sinne beinhalten viele der dargestellten Thematiken bewusst auch Verweise auf gängige Kritikpunkte an den vorgestellten Konzeptionen. Hierbei soll deutlich werden, dass auch weitgehend etablierte Konzepte und Modelle im wissenschaftlichen Diskurs selten einheitlich akzeptiert werden. In jedem Fall ist es unerlässlich, sich mit methodischer oder anwendungszentrierter Kritik bewusst auseinanderzusetzen. Dabei spannt das vorliegende Skript einen breiten thematischen Bogen von der Antike bis zur Gegenwart, von individuellen Akteurinnen bis zu Multi-Stakeholder-Initiativen und von philosophischen bis zu rechtswissenschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsansätzen. Die Vielfalt der dargestellten Themen geht notwendigerweise zulasten einer detailliert geführten wissenschaftlichen Binnendiskussion in den entsprechenden Fachgebieten. Die Auswahl der Themen erfolgte nach didaktischen, logischen und interessenszentrierten Kriterien. Dabei ließe sich jedes erwähnte Thema noch beliebig erweitern und intensiver behandeln. Die grundlegende Trias von sozialer, ökonomischer und ökologischer Nachhaltigkeit wird dabei als Querschnittmaterie in unterschiedlichen Kontexten illustriert. Zudem gilt es zu beachten, dass besonders junge Forschungsfelder, wie etwa die Beforschung von CEO-Activism, noch keine „Standardpositionen“ im eigentlichen Sinn herausgebildet haben. Die für die Bearbeitung herangezogenen Autorinnen und Autoren illustrieren jeweils einen konkreten Zugang zum Thema und decken, insbesondere bei aktuell in den wissenschaftlichen Fachzeitschriften geführten Debatten, nicht die Gesamtheit des Diskurses ab. Auch ist davon auszugehen, dass sich die Forschungsschwerpunkte der aktuellen Debatten, wie CEO-Activism, ESG-Standards oder Business and Human Rights, in den 1 Schmidt, 2021, S. 37 2 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung nächsten Jahren und Jahrzehnen grundlegend weiterentwickeln und verschieben werden. Wenngleich dies natürlich für jeden wissenschaftlichen Diskurs gilt, sind gerade die verhältnismäßig jungen Debatten in ihrer Darstellung als Momentaufnahme zu betrachten. Besonders interessierten Studierenden kann und soll dieses Skriptum bzw. die darin zitiere Fachliteratur daher explizit als Startpunkt für eine eigene vertiefte Beschäftigung mit unterschiedlichen Fragestellungen der gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung dienen. Das vorliegende Skriptum gliedert sich formal in fünf große Kapitel mit jeweils thematisch untergliederten Subkapiteln und Abschnitten. Am Ende jedes Abschnittes werden wichtige Lehrinhalte noch einmal zusammengefasst. Diese Zusammenfassungen dienen der einfachen Wiederholung des Gelernten und sollen einen Überblick über die wichtigsten Punkte des vorangegangenen Textes liefern. Die Darstellungen sollen ein vertieftes Verständnis der Hintergründe und Argumentationen im aktuellen Verantwortungsdiskurs vermitteln. Dabei werden im ersten Kapitel zunächst der Philosophie- und Ethikbegriff sowie die Methodiken der angewandten Ethik dargestellt. Anschließend wird der Verantwortungsbegriff in seiner historisch- geisteswissenschaftlichen Genese skizziert und durch aktuelle Diskurse der Nachhaltigkeitsforschung ergänzt. Im zweiten Kapitel, dem theoriebasierten Hauptstück, rückt der Verantwortungsbegriff in seinen verschiedenen konzeptionellen Dimensionen in den Blick. Nach der Darstellung verschiedener Verantwortungsdimensionen wird der Verantwortungsdiskurs im Hinblick auf seine rechtlichen und ethischen Implikationen, seine normativen Hintergrundtheorien sowie auf seine individuelle, kollektive und politisch- soziale Dimension hin skizziert. Das dritte Kapitel widmet sich dem weiteren Thema sozial und ökologisch verantwortlicher Unternehmensführung. Dabei werden Konzepte und Modelle der Corporate Social Responsibility (CSR) skizziert und aus organisationaler Sicht bewertet. Anschließend werden Konzepte nicht- staatlicher Regulierungsinitiativen (Private Governance) sowie das politische Handeln von Unternehmen im Kontext der Political Corporate Social Responsibility (PCSR) umrissen. Das vierte Kapitel widmet sich der politischen und sozialen Unternehmensverantwortung. Hierbei wird zuerst der politische Aktivismus von Führungskräften (englisch: CEO-Activism) sowie die menschenrechtliche Verpflichtung von Unternehmen (englisch: Business and Human Rights) auf konzeptioneller Ebene erläutert. Zudem werden im Hinblick auf ESG- 3 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Standards Kriterien für nachhaltige Investitionen skizziert. Abschließend werden betont praxisorientierte Ansätze des fairen Handels sowie die von der UN definierten Ziele der nachhaltigen Entwicklung (englisch: Sustainable Development Goals, SDGs) und deren unternehmenszentrierte Umsetzung im UN Global Compact umrissen. Das fünfte Kapitel fasst entscheidende Punkte des Skriptums noch mal zusammen und zeichnet einzelne Themen in ihren wechselseitigen Bezügen nach. Zuletzt werden die zentralen Aussagen des Skriptums zusammengefasst. 1.1 Methodiken der angewandten Ethik 1.1.1. Philosophie als Wissenschaft Die philosophische Ethik ist eine vielschichtige Disziplin mit einer über Jahrtausende gewachsenen Theoriegeschichte. Kaum eine andere Wissenschaft kann auf eine derart lange Diskurs- oder Begriffsgeschichte zurückblicken wie die Philosophie. So geht etwa die philosophische Ethik im westlichen Kulturkreis bereits wesentlich auf Aristoteles und das vierte vorchristliche Jahrhundert zurück. 2 Eine genaue Definition der Philosophie als Wissenschaft sowie die Kriterien ihrer Wissenschaftlichkeit können hier nicht erörtert werden, sondern müssen im Nachfolgenden vorausgesetzt werden. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass die Unterscheidung von wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen sowie die Kriterien zur Abgrenzung der Pseudowissenschaft zur „echten“ Wissenschaft selbst Teil des philosophischen Diskurses sind. Dabei befasst sich seit dem 19. Jahrhundert die Wissenschaftstheorie als eigenständige Teildisziplin der Philosophie etwa mit dem Status von Naturgesetzen oder dem Realitätsbegriff mathematischer Theorien. 3 Dieses auf den ersten Blick so theoretisch anmutende Fachgebiet gewinnt etwa bei der Frage, ob der biblische Kreationismus gleichberechtigt mit der Darwin’schen Evolutionstheorie unterrichtet werden soll, eine ungewohnt brisante politische Dimension. Auch eine einheitliche Definition von „Philosophie“ kann dieser Darstellung nicht vorausgeschickt werden, da die Frage nach der Definition von „Philosophie“ selbst eine philosophische Frage ohne allgemeingültige Antwort ist. 2 Vgl. Höffe, 2013, S. 9 3 Vgl. Gesang, 2008, S. 686 4 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Mangels einer solchen Definition gibt uns die Etymologie (also die Lehre vom Ursprung und der historischen Entwicklung der Wörter) 4 der Philosophie selbst eine Annäherung an ihren Gegenstand und ihre Arbeitsweise. Dem Wort nach hat der Philosophos (altgriechisch: φιλόσοφος) als ein „Freund“ oder Liebhaber (Philos, altgriechisch: φίλος) der „Weisheit“ oder wissenschaftlichen Erkenntnis (Sophia, altgriechisch: σοφία) die Merksatz „Bereitschaft, sich staunend und voll Bewunderung mit der Welt auseinanderzusetzen und sich über die Welt Wissen anzueignen, statt sie lediglich in ihrem jeweiligen akzidentiellen Erscheinungsbild wahrzunehmen.“ 5 Darüber hinaus hat sich die grobe Unterscheidung zwischen praktischer und theoretischer Philosophie etabliert. Während die theoretische Philosophie (etwa die Erkenntnistheorie) Wissen gewissermaßen als Selbstzweck ansieht, wird die praktische Philosophie bzw. die Ethik mit praktischen Problemen konfrontiert und zielt auf deren Verbesserung bzw. Lösung ab. Der deutsche Philosoph Otfried Höffe unterscheidet im Hinblick auf diesen zweiten Zweig der praktischen Philosophie, der im Zentrum dieses Skriptums steht, die paradigmatischen Fälle von Konflikt, Kritik und Krise, welche die praktischen Konfrontationen der ethischen Theoriebildung kennzeichnen. Dabei lassen sich jeweils unterschiedliche Stufen unterscheiden. Konkret kann sich der Konfliktfall, mit dem die Ethik konfrontiert ist, etwa als moralisch-praktischer Konflikt, als Prinzipienkonflikt oder als Merksatz fundamentalethischer Konflikt darstellen. Der moralisch-praktische Konflikt geht von einem allgemein akzeptierten Leitziel, etwa der Führung eines glücklichen Lebens, aus. Dabei ist jedoch der konkrete „Weg“ zur Verwirklichung des Leitziels strittig. Gerade die antike Philosophie ist von Konflikten dieser Art geprägt. Auf der Stufe des Prinzipienkonflikts ist nun das Leitziel selbst strittig. Hierbei kommen unterschiedliche Ethiktheorien wie die am Glück orientierte aristotelische Ethik oder die am Gemeinwohl orientierte utilitaristische Ethik (siehe Kapitel 2.3) ins Spiel. Auf der letzten Stufe der fundamentalethischen Kritik ist der moralische Standpunkt strittig. Hierbei ist die ethische Theoriebildung etwa mit Positionen wie dem moralischen Skeptizismus (also ein radikaler Zweifel an der Ethik als solcher) konfrontiert. 6 4 Vgl. Schulz, 2008, S. 169 5 Masek, 2011, S. 10 6 Vgl. Höffe, 2013, S. 21-24 5 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Gleichzeitig existiert parallel eine Vielzahl an außereuropäischen Ethik- und Philosophiekonzeptionen, wie etwa die buddhistische oder die konfuzianische Philosophie, deren Grundlagen auch an europäischen Universitäten und Forschungsinstituten zunehmend ins Blickfeld der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft rücken. 7 Auch wenn im vorliegenden Skriptum primär auf europäische Philosophie- und Ethikkonzepte Bezug genommen wird, ist dies alleine dem einführenden Charakter dieser Darstellung, jedoch keineswegs einem Mangel an Qualität oder Komplexität der außereuropäischen philosophischen Grundkonzeptionen geschuldet. Oder in den Worten Höffes: „Der Ausdruck 'Ethik' geht zwar auf die Griechen zurück. Die dabei verhandelte Sache, die Moral, wurzelt aber in der Conditio humana, weshalb die Ethik anderen Kulturen ebenso vertraut ist: Die Suche nach einer Ethik gehört zum gemeinsamen Erbe der Menschheit.“ 8 Philosophie muss letztlich immer schon als komplexer und uneinheitlicher Forschungsbereich verstanden werden. Dies hängt nicht zuletzt mit den durch Philosophen und Philosophietraditionen geprägten Begriffen und deren Übersetzungen (etwa aus dem Altgriechischen oder dem Lateinischen) zusammen. Man bringt, um Michael Quantes Bonmot zu zitieren, „zwei Philosophen eher dazu, gemeinsam eine Zahnbürste zu benutzen, als dazu, die gleiche Begrifflichkeit zu verwenden“ 9. Daher ist es unerlässlich, die terminologischen Unterscheidungen der Alltags- und Fachsprache sowie die mitunter abweichende Verwendung einzelner Autoren explizit anzusprechen und möglichst trennscharf darzustellen. Die Nachfolgende kurze Einführung in die Ethik als philosophische Fachdisziplin und die damit verbundenen Methodiken der angewandten Ethik erheben, wie einleitend beschrieben, keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das Ziel besteht vielmehr darin, einen methodisch-theoretischen Einstieg in die Grundlagen der ethischen Verantwortungsdebatte zu ermöglichen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es keine einheitliche Definition von „Philosophie“ geben kann, da die Frage nach der Definition von „Philosophie“ selbst eine philosophische Frage ohne allgemeingültige Zusammenfassung Antwort ist. Konzeptionell wird die Philosophie in einen praktischen und einen theoretischen Zweig unterteilt. Die praktische Philosophie, die Ethik, versteht die Theoriebildung und das Erkenntnisinteresse im Hinblick auf praktische Fragestellungen und 7 Vgl. Geldsetzer, 2008, S. 452-454 8 Höffe, 2013, S. 24 9 Quante, 2008, S. 16 6 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Probleme, für die sie Lösungen und Konzeptionierungen formulieren möchte. Im Gegenzug dazu sieht die theoretische Philosophie den Erkenntnisgewinn als Selbstzweck. Der Philosoph Otfried Höffe unterscheidet drei Konfliktebenen, mit denen die Ethik konfrontiert ist, nämlich moralisch- praktische Konflikte, Prinzipienkonflikte und fundamentalethische Konflikte. 1.1.2. Begriffliche und Konzeptionelle Einführung in die Ethik Ethische Fragen haben sich in ihren Grundzügen seit der Antike kaum verändert. Haben Philosophinnen früher herrschende Personen in Angelegenheiten der gerechten Staats- und Lebensführung beraten, so sind es heute Ethikbeiräte und Ethikkommissionen, die Politiker und Unternehmensvorstände beraten. Dabei beziehen sich ethische Fragen aber nicht zwingend auf ein spezielles Expertenwissen, sondern werden in der gesamten Gesellschaft diskutiert. Auch allgemeine Regeln des Respekts oder der Höflichkeit fallen grundsätzlich in den weiten Bereich ethischen Verhaltens. Zudem ergeben sich ethische Fragestellungen auch aus der Arbeit verschiedener wissenschaftlicher Teildisziplinen wie der Medizin- oder Rechtswissenschaft. Gesamtgesellschaftlich relevante Fragen, wie jene nach dem Umgang mit Sterbehilfe und Embryonenforschung oder jene nach sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz, werden vorrangig unter ethischen Gesichtspunkten diskutiert. Auf dieser vielfältigen Definition von Ethik basierend, skizziert Michael Quante die erste Grundfrage der philosophischen Ethik als die Frage nach dem richtigen Handeln („Wie soll ich handeln?“) 10. Schon die Beantwortung dieser ersten Frage setzt jedoch ein grundlegendes Verständnis über das Wesen philosophischer Ethik voraus. Die philosophische Ethik (gelegentlich auch Moralphilosophie genannt) ist als philosophische Disziplin der praktischen Philosophie zuzuordnen. Trotz dieses Praxisbezugs ist es mitunter schwierig, eine genaue Definition von „Ethik“ anzugeben, die in allen wissenschaftlichen Teildisziplinen gleichermaßen verstanden wird. Peter Prechtl definiert eine übergreifende Begriffsbestimmung der Ethik in Metzlers Lexikon der Philosophie folgendermaßen: „Gegenstand der Ethik, (Einf. W.D.) ist das menschliche Handeln, sofern es einem praktischen Sollen genügt und zugleich eine 10 Quante, 2008, S. 9-11 7 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung allgemeine Verbindlichkeit zum Ausdruck bringt. Es ist auch die Aufgabe der Ethik., das Streben nach der Seite des Guten – der moralischen Werte und Normen – hin als sinnvoll zu begründen und zu zeigen, was das sich in moralischen Normen und Werten artikulierende Gute ist (…).“ 11 Diese unscharfe Begriffstrennung beginnt im deutschen Sprachraum schon mit der Parallelität von Ethik, Moral und Sitte(n), welche alltagssprachlich oft synonym gebraucht werden. Die historische Entwicklung dieser breiten Definition wird mit einem kurzen Exkurs in die Sprachwissenschaft bzw. Altphilologie schnell deutlich. 12 Tatsächlich gehen alle genannten Begriffe direkt oder indirekt auf das altgriechische Ēthos, ausgesprochen mit langem ē, (altgriechisch: ἦθος) zurück. Der Begriff weist schon in der altgriechischen Sprache drei verschiedene Bedeutungsvarianten auf. Ēthos kann entweder als Wohnung oder Wohnort (erste Bedeutung), als Sitte oder Gewohnheit von Gruppen (zweite Bedeutung) oder als Charakter bzw. Denkweise von Individuen (dritte Bedeutung) verstanden werden. Diese Bedeutungsvielfalt hat sich auch in der späteren lateinischen Übersetzung von Ēthos als „Mos“ und dem dazugehörigen Adjektiv „moralis“ weitgehend erhalten. Merksatz Um der sprachwissenschaftlichen Diskussion noch eine weitere Facette hinzuzufügen, sei auf den eng verwandten Begriff Ethos, mit kurz gesprochenem e, (altgriechisch: ἔθος), verwiesen. Dieser liegt näher an der Bedeutung des zuvor beschriebenen Ēthos, jedoch umfasst er – nach Meinung mancher Autoren – eher eine äußerliche Befolgung von kollektiven Sitten und individuellen Gewohnheiten im Unterschied zu einer tiefen Identifikation oder einer bewussten Entwicklung des eigenen Charakters. Daher spricht die philosophische Fachliteratur schon in der Antike meist vom Ēthos in der breiten Definition. 13 Die deutsche Sprache hat sich also neben ihrer eigenen Begrifflichkeit (Sitte bzw. Sitten) auch das griechische und lateinische Fremdwort (Ethik bzw. Moral) einverleibt. 14 Soweit zur alltagssprachlichen Begriffsverwirrung. Glücklicherweise schafft der standard-philosophische Sprachgebrauch hier mehr Klarheit. 11 Prechtl, 2008b, S. 163 12 Vgl. Höffe, 2013, S. 10 13 Vgl. Hübner, 2021, S. 11 ff. 14 Vgl. Höffe, 2013, S. 10 ff. 8 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Unter Moral versteht man im Fachdiskurs ein „Normensystem, dessen Gegenstand menschliches Verhalten ist und das einen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit erhebt.“ 15 Merksatz Gleichzeitig wird auch im Fachdiskurs nicht immer strikt zwischen ethisch und moralisch unterschieden (z. B. wird im englischen Sprachraum moral philosophy oft mit Ethik im weiteren Sinn gleichgesetzt). Moral besteht demnach aus Werturteilen und Maßstäben, die für sich den Anspruch erheben, in Bezug auf menschliche Handlungen uneingeschränkt gültig zu sein. Zudem kann sich Moral in diesem Sinn gleichermaßen auf Merksatz Einzelpersonen oder Gruppen beziehen und ist historisch und kulturell geprägt (z. B. unterscheidet sich die höfische Moral des mittelalterlichen Europas wesentlich von modernen Moralsystemen). Da viele solcher Normensysteme auf unterschiedlicher Basis (etwa auf religiösen Texten oder politischer Ideologie) parallel existieren, handelt es sich tatsächlich um „Moralitäten“ im Plural. Bei jeweiligem unbedingtem Geltungsanspruch können sich auch Normensysteme gegenseitig widersprechen. Jedoch wird hierbei nicht festgestellt, ob die Normensysteme ihren Geltungsanspruch auch berechtigterweise erheben. 16 Dies führt in weiterer Folge zur philosophischen Definition von Ethik als der „Wissenschaft von der Moral, d. h. diejenige Fachdisziplin, die sich damit befasst, welche Moralen es gibt, welche Begründungen sich für sie angeben Merksatz lassen und welcher Logik ihre Begriffe, Aussagen und Argumentationen folgen.“ 17 Diese Definition korrespondiert mit Michael Quantes zweiter Grundfrage der philosophischen Ethik („Warum ist diese Handlung richtig?“) 18. Während also die erste Grundfrage („Wie soll ich handeln?“) in den Geltungsbereich der Moral fällt, illustriert die zweite Frage den Geltungsbereich der philosophischen Ethik als Wissenschaft der Moral. Diese Wissenschaft von der Moral zerfällt – abhängig von ihrem Beobachtungsgegenstand – in mehrere Ebenen. Die wichtigste Unterscheidung betrifft jene von deskriptiver und normativer Ethik. Die deskriptive (auch empirische oder beschreibende) Ethik ist zumeist Gegenstand der Sozialwissenschaften. Die deskriptive Ethik beschreibt etwa Moral in verschiedenen Kulturen (etwa als Themengebiet der Soziologie, 15 Hübner, 2021, S. 13 16 Vgl. Hübner, 2021, S. 13 ff. 17 Ebd., S. 17 18 Quante, 2008, S. 12 9 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Ethnologie oder Kulturanthropologie). Andere Fragestellungen können Moralvorstellungen im Hinblick auf die menschliche Entwicklung, Erziehung oder auf soziale Gruppen (etwa als Themengebiet der Psychologie, Erziehungs- oder Politikwissenschaft) beschreiben. Auch wenn philosophisches Fachwissen hierfür nützlich ist und Philosophen mitunter ihren Überlegungen deskriptive Passagen voranstellen, ist die deskriptive Ethik kein Teil der philosophischen Ethik im strengen Sinn. Daher wird im Nachfolgenden, sofern nicht explizit anders erwähnt, unter Ethik die eigentliche philosophische Ethik, die sogenannte normative Ethik verstanden. 19 Unter der normativen Ethik versteht man die Wissenschaft der Moral, insofern sie nach Moralbegründung fragt. Dabei handelt es sich um eine normative (d. h. nicht auf theoretische Wahrheit, sondern auf normative Geltung ausgerichtete) Wissenschaft. Die normative Ethik charakterisiert sich vor allem durch die verschiedenen normativ-ethischen Theorien wie etwa Deontologie (Pflichtenethik), Tugendethik (Ethik des guten Lebens) oder Utilitarismus (größtmögliches Merksatz Glück für die größtmögliche Anzahl). 20 Diesem Grundmodell von Moral als Normensystem und der Ethik als Wissenschaft der Moral kann noch eine letzte Differenzierung hinzugefügt werden, die sogenannte Metaethik. Sie wird meist als weitere Ebene der Ethik (neben deskriptiver und normativer Ethik) dargestellt, jedoch gäbe es auch gute Gründe, sie aufgrund ihres Abstraktionsverhältnisses zur Ethik als eine eigene Kategorie zu behandeln. Die Metaethik ist die Wissenschaftstheorie der Ethik und versucht, eine tiefergehende Reflexion der ethischen Grundbegriffe wie „sollen“, „müssen“, „Pflicht“, „Tugend“ zu leisten. 21 Sie korrespondiert mit Michael Quantes dritter Grundfrage der Ethik („Wie sind die ethischen Grundbegriffe beschaffen und wie funktionieren ethische Begründungen?“) 22. Die Grundfragen nach der Bedeutung ethischer Grundbegriffe beschreiben weder ein Normensystem, noch formulieren sie normative Forderungen, vielmehr ist diese Form der Reflexion nötig, da sich die Ethik als Wissenschaft auf eine Systematisierung und Strukturierung ihres Wissens verpflichten muss. Diese Systematisierung wird auch in anderen Wissenschaften häufig als zentrales Kriterium für die Unterscheidung von Alltagswissen und 19 Vgl. Hübner, 2021, S. 21 ff. 20 Vgl. Pauer-Studer, 2010, S. 12 ff. 21 Vgl. Hübner, 2021, S. 23 ff.; Fenner, 2010, S. 3 ff. 22 Quante, 2008, S. 15 10 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung wissenschaftlichem Wissen genannt. Fachdiskussionen „über die Bedeutung moralischer Begrifflichkeiten und über die Gültigkeit bestimmter Grundsätze reichen über die normative Ethik hinaus und sind Teil der Metaethik, also der philosophischen Reflexion über die Sprache der Moral.“ 23 Diese metaethische Reflexion ist in ihren Analysen und Prämissen natürlich nicht völlig neutral gegenüber materiellen ethischen Aussagen und Theorien. Einerseits kann eine metaethische Annahme mit gewissen ethischen Positionen unvereinbar sein, wodurch die Metaethik eine limitierende Funktion für die Ethik hat. Andererseits benötigt eine metaethische Annahme, die basalen Ethikkonzeptionen entgegensteht, besonders starke Rechtfertigungsgründe. Damit kommt ethischen Annahmen zugleich die Funktion zu, das Ausmaß an Rechtfertigungsbedarf der metaethischen Annahmen zu bestimmen. 24 Quante spricht in diesem Zusammenhang auch von einem sogenannten Überlegungsgleichgewicht zwischen Ethik und Metaethik. Darunter versteht Quante, „dass die wechselseitige Korrektur und Anpassung der diversen Annahmen sich danach ausrichten muss, einen maximal positiven Gesamteffekt auf unsere Überzeugungen bzw. deren Kohärenz und Nützlichkeit zu erzielen.“ 25 Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass ein Drei- Ebenen-Modell von Ethik als deskriptiver, normativer und Metaethik sowie die strikte Abgrenzung von Ethik und Moral einen guten Startpunkt für die Zusammenfassung weitere Beschäftigung mit philosophischen Fragestellungen dieser Art darstellt. 26 Hierbei kann man sich die einzelnen Ebenen auch als aufeinander aufbauende Abstraktionsstufen vorstellen. Während die Moral das Untersuchungsobjekt darstellt, ist die Ethik die wissenschaftliche Theorie der Moral und die Metaethik wiederum die Wissenschaftstheorie der Ethik. Die deskriptive Ethik ist nicht Teil der Philosophie und beschreibt lediglich die Moral. Spricht man von philosophischer Ethik ist stets normative Ethik gemeint. 1.1.3. Induktive und deduktive Modelle der angewandten Ethik Aufbauend auf den zuvor skizzierten Klassifizierungen der philosophischen Ethik sei insbesondere auf den seit den 1970er-Jahren bestehenden Boom der sogenannten „practical ethics“ bzw. „angewandten“ Ethik hingewiesen. 23 Pauer-Studer, 2010, S. 193 24 Vgl. Quante, 2008, S. 24-25 25 Quante, 2008, S. 24 26 Vgl. Hübner, 2021, S. 23 ff.; Quante, 2008, S. 16 ff. 11 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Zunächst erscheint der Begriff „angewandte Ethik“ selbst erklärungsbedürftig. Da die Ethik als Teilbereich der praktischen Philosophie immer schon einen Anwendungsbezug aufweist, erscheint der Begriff einer „praktischen“ Ethik einigermaßen tautologisch. Einige Autoren plädieren daher alternativ etwa für den Begriff einer „problembezogenen“ Ethik im Unterschied zur herkömmlichen „begründungsorientierten“ Ethik. Grundsätzlich muss auch die angewandte Ethik, deren Begrifflichkeit sich trotz unterschiedlicher Interpretationen weitgehend durchgesetzt hat, als Teilbereich der normativen Ethik verstanden werden. Das Bedürfnis, die zuvor mühsam definierte normative Ethik nochmals in eine „allgemeine“ und eine „angewandte“ Ethik zu unterteilen, hängt mit der Begründungsfunktion moralischer Theorien selbst zusammen. Grundsätzlich entwickeln normative Theorien (wie etwa die Pflichtenethik Kants oder der Utilitarismus) allgemeine Prinzipien, die möglichst unabhängig vom konkreten Kontext moralisches Verhalten begründen sollen. Jedoch tritt hierbei häufig das Problem auf, dass universale Prinzipien im konkreten Anlassfall ein Problem nicht zufriedenstellend lösen können. Bei allgemeinen ethischen Prinzipien (z. B. in der Not ist es erlaubt die Unwahrheit zu sagen) ist faktisch oft unklar, wie und unter welchen Bedingungen (z. B. welche Situation ist eine Notsituation? Wie groß muss die Not sein, damit ich die Unwahrheit sagen darf?) diese Prinzipien umzusetzen sind. Um diese Problematik zu adressieren, formuliert die angewandte Ethik zwei wesentliche Typen von Anwendungsmodellen. Die sogenannten Top-down-Modelle der angewandten Ethik folgen einer „deduktiven“ Schlussform und versuchen, aus allgemeinen Prinzipien und dem konkreten situativen Kontext die richtige Handlungsoption abzuleiten. Konkret versteht man unter der Deduktion eine formallogische Methode, bei der nach „Regeln des logischen Schließens eine Aussage (Konklusion) aus anderen Aussagen (Prämissen) abgeleitet“ wird. 27 Es wird also versucht, das Besondere (eine konkrete Handlung) unter das Allgemeine (ein ethisches Prinzip) unterzuordnen. In diesem Fall liegt die ethische Theoriebildung immer schon abgeschlossen vor. Demgegenüber verfahren die sogenannten Bottom-up-Modelle der angewandten Ethik genau umgekehrt, also „induktiv“. Darunter versteht man eine formallogische Methode, „die es erlaubt, von beobachteten Einzelfällen zu allgemeinen Gesetzen aufzusteigen“ 28. Aus der Sammlung vieler Problemfälle und Einzelurteile werden Regeln und Prinzipien gebildet. Eine strikte ethische Theorie fehlt in diesen Fällen, vielmehr ist die philosophische Ethik selbst Gegenstand der 27 Prechtl, 2008a, S. 98 28 Prechtl, 2008c, S. 266 12 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Kritik. In diesen Fällen steht der diskursive Charakter eines demokratischen Beratungsprozesses und einer Vermittlung zwischen Wissenschaft und Politik im Zentrum der angewandten Ethik. Tatsächlich müssen die Definitionen der „angewandten“ Ethik insbesondere vor dem Hintergrund dieser zwei methodischen Zugänge verstanden werden. Während Definitionen im Sinne der Top-down-Modelle die Ethik als wissenschaftliche Teildisziplin der Philosophie ernst nehmen, werden Definitionen im Sinne der Bottom-up-Modelle (etwa der zuvor erwähnte Boom der „practical ethics“) häufig institutionell und personell von der philosophischen Ethik abgekoppelt. Das deduktive Modell ist dabei in hohem Maße durch eine interdisziplinäre Forschungspraxis gekennzeichnet, da Philosophinnen und Philosophen auf empirisches Wissen von Kolleginnen und Kollegen aus den Einzelwissenschaften (z. B. Medizin, Wirtschaft, Recht usw.) angewiesen sind. 29 Die induktive Methodik zeichnet sich demgegenüber durch ein zunehmend transakademisches Engagement von Ethikkommissionen aus. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für die angewandte Ethik als Teilbereich der normativen Ethik vor allem die Methodiken ihrer Theoriebildung konstitutiv sind. Top-down-Modelle verfahren deduktiv, Zusammenfassung während Bottom-up-Modelle induktiv vorgehen. Die deduktive Methode versucht, aus allgemeinen ethischen Prinzipien konkrete Handlungsanweisungen abzuleiten. Die induktive Methode bemüht sich hingegen, aus empirischen Einzelfällen allgemeine ethische Prinzipien zu formulieren. Die deduktive Methodik ist genuin Teil der philosophischen Ethik, indem sie versucht, konkrete ethische Herausforderungen im Hinblick auf die ethischen Theorien der philosophischen Tradition zu lösen. 1.2. Abgrenzung der philosophischen Bereichsethi- ken Die philosophischen Bereichsethiken stehen in vielfältiger Weise in Beziehung zu den zuvor skizzierten Konzeptionen der angewandten Ethik. Der inhärente Praxisbezug ist eine grundlegende Gemeinsamkeit der Bereichsethiken mit dem nachfolgend zentral behandelten Verantwortungsbegriff. Den sogenannten Bereichsethiken begegnet man im philosophischen Diskurs zumeist dann, wenn abseits der allgemeinen normativen 29 Vgl. Fenner, 2010, S. 1-15 13 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Theoriebildung von ethischen Problemen einer bestimmten thematischen Zuordnung die Rede ist. Zumeist handelt es sich um Bereichsethiken wie Wirtschaftsethik, Medizinethik, aber auch Umweltethik oder Marketingethik. Sie alle finden sich unter dem Sammelbegriff der Bereichsethiken. Allen gemeinsam ist ein bestimmter Praxisbezug im Umgang mit ethischen Themen, jedoch ist eine allgemeine Systematisierung der Bereichsethiken Merksatz oft schon unter methodologischen Gesichtspunkten schwierig. Dies zeigt sich schon bei den verschiedenen Definitionsversuchen zum Gegenstand der Bereichsethiken. Metzlers Lexikon der Philosophie etwa definiert die Bereichsethiken synonym zu den „angewandten“ oder „Bindestrich-Ethiken“ als „den Teil der philosophischen Ethik, in dem (…) ethische Konflikte behandelt werden, die in einem spezifischen Handlungskontext entstehen oder entstehen können“. 30 Der Begriff der „Bindestrich-Ethiken“ bezieht sich auf die gängige Praxis, solche Handlungskontexte mit Bindestrichen etwa als Medizin-, Tier-, Klima-, Technik- oder Wirtschaftsethik zu bezeichnen. Die starke Orientierung an Anwendungskontexten (und vorwiegend an empirischen Problemstellungen) unterscheidet die Bereichsethiken jedoch grundsätzlich von anderen philosophischen Teildisziplinen wie der Rechtsphilosophie oder der politischen Philosophie. 31 Auch die zuvor eingeführte Unterscheidung von deduktiven Top-down-Modellen und induktiven Bottom-up-Modellen der angewandten Ethik findet sich in der methodischen Konzeption der Bereichsethiken wieder. Bei der Frage der historischen Genese der Bereichsethiken wird dies besonders deutlich. Begreift man Bereichsethiken als die Praxis- und Handlungsfelder der angewandten Ethik, so blicken die Bereichsethiken auf eine verhältnismäßig kurze Geschichte. Geht man von einem deduktiven Modell aus, wobei bereits begründete Prinzipien der allgemeinen Ethik auf konkrete Problemstellungen angewendet werden, so handelt es sich bei der angewandten Ethik bzw. bei den Bereichsethiken um ein vergleichsweise junges Phänomen der wissenschaftlichen Forschung. Erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts existieren hierzu konkrete Lehrstühle an Universitäten, und Philosophen können als Wirtschaftsethiker, Medienethiker oder Tierethiker öffentlich als Experten zu den jeweiligen Themen auftreten. Geht man hingegen von einer induktiven Reflexion aus, bei der generelle Prinzipien auf 30 Lohmann, 2008, S. 72 31 Vgl. ebd., S. 72 14 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Basis systematischer Erfahrungen hergeleitet werden, so finden die anwendungsbezogenen Bereichsethiken ihren Vorläufer bereits in der sogenannten Kasuistik des Mittelalters. In der Kasuistik (vom Lateinischen „casus“: Fall, Vorkommen) wurden Einzelfälle in den Bereichen der Rechtswissenschaften oder der Moraltheologie besprochen und möglichst konkrete Merksatz Handlungsanweisungen formuliert. Auch die antike Vorstellung der Philosophie als Lebenskunst oder Lebenshilfe folgt dieser Logik. 32 Terminologisch kann angewandte Ethik im Sinne einer deduktiven Konzeption als Sammelbezeichnung für alle Bereichsethiken aufgefasst werden, wobei die angewandte Ethik komplett in die einzelnen Handlungsfelder wie Medizinethik oder Wirtschaftsethik zerfiele. Geht man hingegen von einer generalistischen Sichtweise der Bereichsethiken aus, so kommt ein systematischer Zusammenhang der einzelnen Bereichsethiken hinsichtlich ihrer ethischen Grundprinzipien in den Blick. Wie stark die Eigenständigkeit bzw. Abhängigkeit der Bereichsethiken zueinander und zur allgemeinen philosophischen Ethik betont werden, ist unterschiedlich. Auch die Frage nach der genauen Anzahl der Bereichsethiken ist schwer zu beantworten, da die Einteilung der Bereichsethiken historischen Entstehungsprozessen folgt und nicht immer streng systematisch argumentiert wird. So können etwa bestimmte menschliche Handlungskomplexe oft nicht trennscharf von ihren Subkategorien unterschieden werden, wodurch der konkrete Umfang der jeweiligen Bereichsethiken variieren kann. So kann etwa eine Fragestellung der Bioethik (als ethische Beschäftigung mit dem Lebendigen) im Fall der Reproduktionsmedizin oder Genomanalyse genauso gut als Handlungskontext der Technikethik verstanden werden. Die Bioethik selbst könnte nun ihrerseits wieder in die Medizinethik (als ethische Beschäftigung mit dem menschlichen Leben), die Tierethik (als ethische Beschäftigung mit dem nicht-menschlichen Leben) und die Pflanzenethik (als ethische Beschäftigung mit dem pflanzlichen Leben) weiter spezifiziert werden. Die Tier- und Pflanzenethik ließen sich wiederum zusammen unter die Natur- oder Umweltethik subsumieren. Zudem werden auch andere philosophische Teilgebiete und Methodiken wie die feministische Ethik oder die Gender-Ethik häufig als Bereichsethik definiert, wobei hierbei eben kein Praxisfeld, sondern ein konkreter methodischer Ansatz Basis der 32 Vgl. Fenner, 2010, S. 12-15 15 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Systematisierung ist. 33 Darüber hinaus legen Autoren der jeweiligen Bereichsethiken häufig eine eigene Systematisierung und Abgrenzung ihres Arbeitsgebietes vor. So halten etwa die Philosophen Herwig Grimm und Markus Wild in ihrer Einführung zur Tierethik fest, dass Tiere kein Bereich menschlichen Handelns sind, da diese vielmehr in verschiedenen menschlichen Tätigkeitsbereichen (wie Wissenschaft, Wirtschaft oder Militär) eine entscheidende Rolle spielen. Somit sei die Tierethik keine Bereichsethik, sondern stehe vielmehr quer zu den Bereichsethiken. 34 Ein einheitliches oder universell akzeptiertes Vorgehen, welches Thema welcher Bereichsethik zuzuordnen ist, gibt es im derzeitigen Wissenschaftsbetrieb nicht. Faktisch entscheiden oft Herausgeber wissenschaftlicher Journale und Sammelbände oder renommierte Forschende, welche Diskussionen oder Autoren in einen bestimmten Bereich (z. B. ein auf Wirtschaftsethik spezialisiertes Journal, ein zur Tierethik publizierter Sammelband oder eine zur Umweltethik organisierte Konferenz) fallen. Zudem besteht stets die Möglichkeit, ein in einer bestimmten Bereichsethik angesiedeltes Thema (z. B. die Nutztierhaltung in der Tierethik) unter den Gesichtspunkten einer anderen Bereichsethik (z. B. die Nutztierhaltung aus wirtschaftsethischer oder umweltethischer Sicht) zu behandeln. Der Verantwortungsbegriff ist jedoch im Anwendungskontext der Bereichsethiken als offener und interdisziplinärer ethischer Leitbegriff zentral. 35 Hierzu schreibt Günter Banzhaf: „Die zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Systeme und neuartige globale Herausforderungen erfordern einen offeneren ethischen Leitbegriff. Die Ausdifferenzierung von Problemstellungen führt zur Etablierung von neuen Wissenschaftsfeldern und der Entwicklung von entsprechenden Bereichsethiken wie Wissenschafts-, Wirtschafts-, Umwelt-, Medizin- oder Bioethik, wofür der Begriff der Verantwortung durch seine praxisbezogene Ausrichtung in besonderer Weise geeignet ist (…).“ 36 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es keine universal gültige systematische Einteilung der Bereichsethiken in der philosophischen Ethik gibt. Zudem sind Umfang und Basis der jeweiligen Bereichsethiken zumeist Zusammenfassung nicht klar definiert. Auch die Abgrenzung zur angewandten Ethik ist je nach methodologischer Ausrichtung (deduktive Modelle oder induktive Modelle) strittig. Jedenfalls bilden die deduktiven und induktiven Methodiken der angewandten Ethik einen entscheidenden Kern der wissenschaftlichen 33 Vgl. ebd., S. 46 ff. 34 Vgl. Grimm/Wild, 2016, S. 16 35 Vgl. Banzhaf, 2018, S. 150 36 Ebd., S. 150 16 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Theoriebildung in den Bereichsethiken. Der Verantwortungsbegriff ist in den Bereichsethiken insofern zentral, als er ähnlich wie die Bereichsethiken einen inhärenten Praxisbezug aufweist. 1.3. Der Verantwortungsbegriff im historischen Wan- del Anders als viele der zuvor schon vorgestellten Begriffe des philosophischen Fachjargons blickt die „Verantwortung“ bzw. das Adjektiv „verantwortlich“ auf eine verhältnismäßig kurze Begriffsgeschichte zurück. Im Unterschied zu verwandten Begriffen wie „Pflicht“ oder „Schuld“ taucht das Wort „verantwortlich“ im Deutschen erst ab dem 15. bzw. 17. Jahrhundert auf. Darauf aufbauend konnte es sich jedoch in den letzten 300 Jahren als philosophisches Grundkonzept von entscheidender Bedeutung etablieren. Konsequenterweise kann man nicht über die historische und gesellschaftliche Entwicklung eines so entscheidenden Begriffes sprechen, ohne dessen verschiedene Definitionen, Typen und Subkategorien gleichzeitig im Blick zu behalten. 37 Während an späterer Stelle (siehe Kapitel II.1) detailliert auf die inhaltlichen Definitionen und strukturellen Konzeptionen des Verantwortungsbegriffs eingegangen wird, soll hier die historische Entwicklung des Verantwortungsbegriffs bzw. dessen thematische Vorläufer behandelt werden. Da man hierzu dennoch eine grobe Vorstellung des betreffenden Begriffes benötigt, wird hier zunächst nur eine Minimaldefinition als Arbeitsbasis aufgezeigt werden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass grobe (und durchaus vereinfachte) geistesgeschichtliche Strömungen nachgezeichnet und anhand exemplarischer Beispiele illustriert werden. Eine vertiefte Behandlung einzelner Theorien oder Autoren, so lohnend diese in anderen Kontexten auch sein mag, ist hierbei explizit nicht Gegenstand der Darstellung. 1.3.1. Der Verantwortungsbegriff von der Antike bis zum 19. Jahrhundert Welche Definition von Verantwortung konkret zugrunde gelegt wird, lässt sich zunächst von der historischen Genese des Verantwortungsbegriffes selbst trennen. Die Philosophin Janina Loh etwa illustriert die allgemeine Minimaldefinition von Verantwortung dergestalt, „dass jemand, dem wir eine spezifische psychomotivationale Verfasstheit zuschreiben, in der Lage 37 Vgl. Loh, 2018, S. 35 ff.; Fonnesu, 2018, S. 113 17 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung ist, im normativen und nicht nur rein deskriptiven Sinn für etwas Rede und Antwort zu stehen“. 38 Die sperrige Formulierung tut an dieser Stelle nichts zur Sache, entscheidend ist, dass im Konzept der Verantwortung bereits die Idee eines Rede-und-Antwort-Stehens für eigene Taten beinhaltet. Für diesen Vorgang des „Antwortens“ müssen offenbar gewisse philosophische Vorbedingungen (wie z. B. Freiheit des Handelns oder kausale Verursachung) gegeben sein. 39 Zudem schwingt in einer so verstandenen Konzeption immer auch eine thematische Nähe zu Lob und Tadel bzw. zu einer Rechenschaftspflicht für begangene Taten mit. 40 Daher scheint es auch nicht verwunderlich, dass die antiken und mittelalterlichen Versionen des Verantwortungskonzepts (ohne jedoch einen derartigen Begriff ausdrücklich zu gebrauchen) im Kontext dieser Themenkomplexe verhandelt wurden. Die griechisch-römische Antike bezieht sich dabei etwa auf den Begriff des „Freiwilligen“ (griechisch: to hekouson) oder dessen, „was bei uns liegt“ (griechisch: to eph’hemin). 41 Zentral ist für die Gruppe antiker Denker also die Frage, inwieweit Menschen in ihrem Handeln frei sind und welche Rolle das Schicksal oder die Natur – im Sinne des Determinismus oder einer Naturnotwendigkeit – dabei spielt. Die Philosophen Susan Mayer und Jeffrey Hause fassen den antiken Diskurs folgendermaßen zusammen: „Für Aristoteles, Epikur und die Stoa ist die wesentliche Frage bei der Zuschreibung von Verantwortung die, inwieweit unsere Handlungen bei uns liegen; viel weniger (…) die modernere Frage, ob und inwieweit unsere Wahl und unsere Entscheidungen bei uns liegen.“ 42 Ausgehend von dieser philosophischen Basis verlagert sich die Diskurstradition im Mittelalter dann zusehends in den theologischen Bereich. Hierbei gehen die Autoren zunehmend davon aus, dass der Mensch verantwortlich für seine Willensakte ist und (auf Basis der in seinen Verantwortungsbereich fallenden Handlungen) von Gott gemäß dem Ausmaß seiner Verantwortung im Jenseits belohnt oder bestraft wird. Da die christlichen Denker der Spätantike und des Mittelalters von der Güte und Vollkommenheit Gottes überzeugt sind, kann die Sünde folglich nicht das Resultat einer Naturanlage sein, sondern muss vielmehr im menschlichen Vermögen zum willentlichen Handeln begründet sein. Somit ist der Mensch für seine Sünden selbst verantwortlich. Daher verwundert es nicht, dass christliche Philosophen, wie etwa der Kirchenvater Augustinus (354-430), eine erste umfassend ausgearbeitete Theorie des menschlichen Willens 38 Loh, 2018, S. 39 39 Vgl. Heidbrink, 2018, S. 4 ff. 40 Vgl. Mayer/Hause, 2018, S. 88 41 Vgl. ebd. 42 Ebd., S. 93 18 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung vorlegten. 43 Diese theologische Tradition setzte sich in der Neuzeit unter veränderten Vorzeichen in der sogenannten Theodizee-Debatte fort. Die Theodizee (zusammengesetzt aus dem altgriechischen „Theos“, Gott und „dike“, Recht) 44 fragt grundsätzlich nach der Vereinbarkeit der Konzeption eines allmächtigen und gütigen Gottes bei gleichzeitigem Fortbestand des Leidens in der Welt. Die Kernfrage lautet also, ob Gott das Böse in der Welt entfernen möchte, aber es nicht kann (was ein Widerspruch zur postulierten Allmacht Gottes wäre), oder ob er das Böse aus der Welt entfernen kann, aber es nicht will (was ein Widerspruch zur postulierten Güte Gottes wäre), oder aber, ob er das Böse nicht entfernen will und es nicht kann bzw. wenn er das Böse aus der Welt entfernen will und kann, warum er dennoch untätig bleibt. Kurz gesagt, fragt die Theodizee-Debatte nach der Verantwortung Gottes für das Böse in der Welt. 45 Eine weitere entscheidende Wendung in der bewegten Geschichte der Verantwortungskonzeption zeigt sich im Zeitalter der Aufklärung. Hierbei wird der zuvor aus dem Englischen übernommene Begriff der „responsibility“ (damals jedoch bezogen auf die königlichen Minister, die, anders als der König selbst, für ihre politischen Entscheidungen rechenschaftspflichtig waren) in seiner französischen Version (französisch: responsabilité) zum Modewort der französischen Revolution. 46 Etymologisch gehen sowohl die englische als auch die französische Version auf das lateinische „respondere“ (antworten) zurück. Als solches geht die Verantwortung auf ein reaktives Verhalten (ich antworte auf jemanden) Merksatz zurück. Dieser Aspekt wird in der inhaltlichen Bestimmung des Verantwortungsbegriffes noch von Bedeutung sein. 47 In diesem Kontext tritt auch erstmals die heute noch gebräuchliche englische Terminologie auf. 43 Vgl. Mayer/Hause, 2018, S. 96 44 Vgl. Srowig, 2008, S. 609 45 Vgl. Fonnesu, 2018, S. 115 ff. 46 Vgl. ebd., S. 112 47 Vgl. Bayertz/Beck, 2018, S. 138 19 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Gleichzeitig begründet sich hier die heutige entscheidende Differenzierung des Verantwortungsbegriffes als ethische Verantwortung (englisch: responsibility), rechtliche Verantwortung (englisch: liability) und soziale Merksatz Verantwortung (englisch: accountability). 48 Eine ähnlich praktische Unterscheidung gibt es im Deutschen leider nicht, weshalb in diesem Kontext häufig auf die englische Terminologie verwiesen wird. Strukturell ähnelt diese äußerst nützliche englische Differenzierung jener von Thomas Schramme im Bereich der Medizinethik vorgeschlagenen Unterscheidung des biologischen Aspekts einer Krankheit (englisch: disease), des subjektiven Erlebens des Krankseins (englisch: illness) und der sozialen Aspekte und allfälligen Stigmatisierungen bestimmter Krankheiten (englisch: sickness). 49 In beiden Fällen kennt die deutsche Sprache nur ein Wort – nämlich „Verantwortung“ oder „Krankheit“ –, welches die vielschichtigen mit dem Begriff verbundenen Bedeutungsdimensionen nicht ohne entsprechende Zusätze abzudecken vermag. Tatsächlich entstammt die moderne deutsche Version der „Verantwortung“ von der im allgemeinen Sprachgebrauch zuvor geläufigen „Zurechnung“ (eine direkte Übersetzung der lateinischen „imputatio“) ab. Als solche stand die „Zurechnung“ genauso wie ihre jüngere Schwester – die „Verantwortung“ – von jeher in einem juristischen Kontext einer Verteidigung oder Rechtfertigung. Diese primär juristische Bedeutung des Verantwortungsbegriffs wandelt sich erst im 19. und 20. Jahrhundert. 50 Der philosophische Bedeutungswandel des Verantwortungsbegriffes und seine zunehmende Rezeption lassen sich – in unterschiedlicher Ausprägung – ab Anfang des 19. Jahrhunderts etwa beim dänischen Philosophen Søren Kierkegaard oder bei Friedrich Nietzsche beobachten. So wird dem Verantwortungsbegriff bei Kierkegaard eine existenzielle Bedeutung beigelegt (im Sinne einer Verantwortung für die eigene Existenz und das Ganze des Daseins), und Nietzsche rückt die „Selbstverantwortlichkeit“ in das philosophische Begriffsfeld. Später beziehen sich auch andere namhafte Wissenschaftler jener Zeit, wie der Philosoph Edmund Husserl oder der Soziologe Max Weber, auf den Verantwortungsbegriff. Interessant ist hierbei aus konzeptioneller Sicht jedoch, dass der Verantwortungsbegriff zunächst eher im existenziell- individuellen Kontext rezipiert wurde, bis sich der Fokus nach 1945 vermehrt 48 Heidbrink, 2018, S. 19 49 Vgl. Schramme, 2012, S. 14 50 Vgl. Fonnesu, 2018, S. 113 20 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung auf die Verantwortung gesellschaftlicher Systeme richtete. 51 Der Verantwortungsbegriff wird schließlich spätestens im 20. Jahrhundert durch Hans Jonas endgültig zur ethischen Schlüsselkategorie erhoben und bei Jonas sogar zum Zentralbegriff jeglicher Ethikkonzeption. 52 Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass im Konzept der Verantwortung bereits die Idee eines Rede-und-Antwort-Stehens für eigene Taten beinhaltet ist. Für diesen Vorgang des „Antwortens“ müssen gewisse Zusammenfassung philosophische Vorbedingungen (wie z. B. Freiheit des Handelns oder kausale Verursachung) gegeben sein. Die griechisch-römische Antike bezieht sich dabei primär auf den Begriff des „Freiwilligen“ oder dessen, „was bei uns liegt“. Zentral ist für die Gruppe antiker Denker also die Frage, inwieweit Menschen in ihrem Handeln frei sind und welche Rolle das Schicksal oder die Natur dabei spielen. Nur wer frei handelt, kann auch für sein Handeln verantwortlich gemacht werden. Ausgehend von dieser philosophischen Basis verlagert sich die Diskurstradition im Mittelalter dann zusehends in den theologischen Bereich. Hierbei ist die Idee einer Verantwortung gegenüber Gott bzw. der Strafe und Belohnung im Jenseits zentral. Da die christlichen Denker der Spätantike und des Mittelalters von der Güte und Vollkommenheit Gottes überzeugt sind, kann die Sünde folglich nicht das Resultat einer Naturanlage sein, sondern muss vielmehr im menschlichen Vermögen zum willentlichen Handeln begründet sein. Somit ist der Mensch für seine Sünden selbst verantwortlich. Diese theologische Tradition setzte sich in der Neuzeit unter veränderten Vorzeichen in der sogenannten Theodizee-Debatte fort. Kurz gesagt, fragt die Theodizee-Debatte nach der Verantwortung Gottes für das Böse in der Welt. Eine weitere entscheidende Wendung in der bewegten Geschichte der Verantwortungskonzeption zeigt sich im Zeitalter der Aufklärung. Hierbei wird der zuvor aus dem Englischen übernommene Begriff der „responsibility“ in seiner französischen Version (französisch: responsabilité) zum Modewort der französischen Revolution. Gleichzeitig begründet sich hier die heutige entscheidende Differenzierung des Verantwortungsbegriffes als ethische Verantwortung (englisch: responsibility), rechtliche Verantwortung (englisch: liability) und soziale Verantwortung (englisch: accountability). Die moderne deutsche Version der „Verantwortung“ leitet sich von der „Zurechnung“ (eine direkte Übersetzung der lateinischen „imputatio“) ab. Als solche stand die „Zurechnung“ genauso wie ihre jüngere Schwester – die „Verantwortung“ – von jeher in einem juristischen Kontext einer Verteidigung oder Rechtfertigung. Der philosophische Bedeutungswandel des 51 Vgl. Gerhardt, 2018, S. 437-443 52 Vgl. Bayertz/Beck, 2018, S. 134 ff. 21 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Verantwortungsbegriffes und seine zunehmende Rezeption lassen sich, in unterschiedlicher Ausprägung, ab Anfang des 19. Jahrhunderts beobachten. Zunächst wird der Verantwortungsbegriff primär im existenziell- individuellen Kontext rezipiert, bis sich der Fokus nach 1945 vermehrt auf die Verantwortung gesellschaftlicher Systeme richtete. 1. Reflexionsfrage: Reflektieren Sie Kernpunkte der historischen Verantwortungsdebatte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Übung 1.3.2. Der Verantwortungsbegriff im 20. Jahrhundert – Hans Jonas und das „Prinzip Verantwortung“ Jonas’ berühmtes Werk „Das Prinzip Verantwortung“ hat seit seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1979 eine überaus starke Rezeption erfahren. Manche Autoren sehen darin sogar das „vielleicht am meisten gelesene moralphilosophische Buch der Nachkriegszeit“. 53 Jonas verortet den Verantwortungsbegriff in einem grundlegend anderen Kontext als seine historischen Vorgänger. Ausgehend von den aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen der 1970er-Jahre macht Jonas die drohende Gefahr eines Atomkrieges, die zivile Nutzung der Kernenergie, die absehbare Erschöpfung der globalen Ressourcen und die daraus resultierende Umweltkrise, die wachsende Weltbevölkerung, aber auch die zunehmenden technischen und moralischen Herausforderungen der medizinischen Forschung und der Gentechnik zum Kern seiner philosophischen Auseinandersetzung mit dem Verantwortungsbegriff. Die meisten der genannten Problemfelder sind auch heute – über vierzig Jahre später – von unveränderter Relevanz. Jonas betont vor allem, dass diese Krisen in ihrer bis dahin unvergleichlichen Dimension zugleich, eine neue Art der philosophischen Ethik als Lösungs- und Konzeptionierungsansatz benötigen. Jonas geht davon aus, dass die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte noch nie zuvor der Möglichkeit, ihre eigene Vernichtung herbeizuführen, gegenübergestanden hatte. Jonas’ sogenannte Vermeidungsethik dient also primär dem Ziel, das ultimative Übel, die (Selbst-)Vernichtung der Menschheit zu verhindern. Für Jonas kann die klassische Ethik (etwa die Ethiktheorie Kants) mit den Merksatz enormen Dimensionen des technischen Fortschritts im 20. Jahrhundert nicht adäquat umgehen. 53 Werner, 2003, S. 41 22 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung So nimmt etwa durch zunehmend arbeitsteilige Prozesse der Industriegesellschaft die Distanz zwischen Handelnden und den Folgen einer Handlung zu, während gleichzeitig die langfristigen Effekte einer Handlung immer ungewisser werden. Auch die Auswirkungen von Handlungen auf zukünftige Generationen, wie sie heute in der Umweltethik breit diskutiert werden, finden sich in der historischen Debatte kaum. 54 Jonas’ Verantwortungsbegriff basiert auf einer Form wohlwollender Fürsorglichkeit. Dabei sind es die Gegenstände unserer Verantwortung selbst, denen wir moralisch verpflichtet sind. Diese Fürsorglichkeit ist für Jonas nicht wechselseitig und bezieht sich primär auf zukünftige Ereignisse. 55 Jonas versteht unter Verantwortung „die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur „Besorgnis“ wird“. 56 Jonas’ Verantwortungsbegriff hebt sich klar von anderen Verantwortungskonzeptionen ab. Diese Differenz findet sich konzeptionell in der Jonas’schen Ethiktheorie sowie in der Bedeutung von empirischem Wissen für die ethische Urteilsfindung, welche Jonas in der Anwendungsdimension des Prinzips Verantwortung hervorhebt, angelegt. 57 Ausgehend von der Ethik Kants und dessen berühmten kategorischen Imperativ „Ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ 58 kritisiert Jonas die formalen Grundlagen der Kant’schen Ethik, etwa dahin gehend, dass Kant die Existenz der menschlichen Gesellschaft immer schon voraussetzt. Darauf aufbauend formuliert Jonas einen neuen kategorischen Imperativ: „Ein Imperativ, der auf den neuen Typ menschlichen Handelns paßt (sic!) und an den neuen Typ von Handlungssubjekt gerichtet ist, würde etwa so lauten: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“; oder negativ ausgedrückt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens“; oder einfach: „Gefährde 54 Vgl. Werner, 2003, S. 41-43 55 Vgl. ebd., S. 49 ff. 56 Jonas, 2017, S. 391 57 Vgl. Werner, 2003, S. 45 ff. 58 Kant hat den kategorischen Imperativ an mehreren Stellen formuliert. Diese Zitation stammt aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Kant, 2012, S. 28 23 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden“; (…).“ 59 Wichtig ist jedoch in diesem Zusammenhang zu betonen, dass Jonas’ Verantwortungs- bzw. Zukunftsethik als Nebenprodukt zu seinen vertiefenden naturphilosophischen Arbeiten verstanden werden muss (welche im Nachfolgenden aber den Rahmen eines solchen Skriptums weit übersteigen würden). Dabei argumentiert Jonas, grob skizziert, für eine objektive (d. h. von menschlicher Interpretation unabhängige) Zweckhaftigkeit der Natur. Diese Zweckhaftigkeit stellt in Jonas’ Argumentation ein Gut an sich dar, aus dem wiederum die Pflicht zum Schutz dieses Gutes folgt. Darüber hinaus darf Jonas’ Ethik nicht als Versuch einer gänzlich neuen normativen Theorie verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine Art Ergänzung zu bestehenden Ethiktheorien. 60 Diese konzeptionelle Unvollständigkeit im „Prinzip Verantwortung“ ist auch wiederholt Gegenstand der Kritik an Jonas. So schlussfolgert etwa der Verantwortungstheoretiker Günter Banzhaf: „Aufs Ganze gesehen entwickelt Jonas keine neue Ethik. Es bleibt bei einer „Notstandsethik“, die letztlich beharrend und konservativ ist.“ 61 Ähnlich argumentiert auch der Bioethiker Micha H. Werner: „Das Prinzip Verantwortung bietet (…) kein höherstufiges Kriterium, mit dessen Hilfe die Forderungen der „traditionellen“ Ethik gegen das Postulat der Menschheitsbewahrung abgewogen werden können. Mit diesem Manko hängen die vieldiskutierten Unschärfen in Jonas’ Überlegungen zur politischen Implementierung der globalen Zukunftsverantwortung zusammen.“ 62 Zusammenfassend kann Hans Jonas als beispielhafter Autor für eine entscheidende Weiterentwicklung des Verantwortungsbegriffs im 20. Jahrhundert verstanden werden. Jonas geht davon aus, dass die Zusammenfassung Menschheit im Laufe ihrer Geschichte noch nie zuvor der Möglichkeit, ihre eigene Vernichtung herbeizuführen, gegenübergestanden hat. Jonas sogenannte Vermeidungsethik dient also primär dem Ziel, das ultimative Übel, die (Selbst-)Vernichtung der Menschheit zu verhindern. Konstitutiv für den Aufstieg des Verantwortungsbegriffs zur ethischen Schlüsselkategorie sind nicht zuletzt die ökonomischen, technischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Verlauf der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Zu den bedeutendsten Entwicklungen zählen die wachsende Arbeitsteilung und 59 Jonas, 2017, S. 36 60 Vgl. Werner, 2003, S. 41-51 61 Banzhaf, 2018, S. 151 62 Werner, 2003, S. 44 24 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Ausdifferenzierung einzelner Arbeitsgebiete, der Übergang von primär zwischenmenschlichen Beziehungen hin zu anonymen Marktbeziehungen sowie der Einsatz neuer Technologien (etwa der Nuklearenergie) mit potenziell verheerenden Folgen. Diese Entwicklungen machten nicht zuletzt die Zurechnung von Handlungsfolgen zu einzelnen Akteurinnen schwierig. 63 Nach Kurt Bayertz und Birgit Beck entsteht der moderne Verantwortungsbegriff „aus der Wahrnehmung, dass die normative Steuerung des menschlichen Handelns unter den neuen sozialen Bedingungen komplexere Anforderungen stellt.“ 64 1.4. Ethische Perspektiven der Nachhaltigkeitsdebatte Die aktuelle Nachhaltigkeitsdebatte und deren normative Zugänge spielen sowohl im Kontext der Umweltethik im Sinne einer Bereichsethik als auch unter dem Schlagwort der Klimaverantwortung in der Verantwortungsdebatte eine entscheidende Rolle. Daher soll der abschließende Teil des Einführungskapitels diese konzeptionelle Verbindung sowie die historische Entwicklung des Nachhaltigkeitsbegriffes als normative Kategorie und dessen Binnenunterscheidungen näher beleuchten. Seit der anthropogene (d. h. vom Menschen verursachte) Klimawandel ab den 1960er-Jahren systematisch erforscht wird, werden dessen ernsthafte Folgen für menschliche Gesellschaften sowie das Dasein des Menschen auf dem Planeten überhaupt immer evidenter. Die internationale Klimaforschung liefert in Form des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) eine regelmäßige Bestandsaufnahme der aktuellen Forschungsergebnisse und bereitet diese für Entscheidungsträger Merksatz gezielt auf. Die darin artikulierten Appelle der internationalen Forschungsgemeinschaft für einen verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen sowie das Weltklima sind weitgehend bekannt. Philosophisch betrachtet fällt die Bearbeitung dieser Problemstellung in den Bereich der Umweltethik, genauer gesagt, in den Teilbereich der Klimaethik, insofern sich diese „mit einem zentralen Aspekt der menschlichen Umwelt, dem Klimasystem, befasst“. 65 Die Umweltethik setzt dabei voraus, dass die Natur durch menschliche Handlungen beeinflusst wird und dass menschliches Handeln der Einsicht und Reflexion von Werten sowie der argumentativen Normenbegründung zugänglich ist. Naturverantwortung ist 63 Vgl. Bayertz/Beck, 2018, S. 139 ff. 64 Ebd., S. 146 65 Braun/Baatz, 2018, S. 856 25 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung in konzeptioneller Hinsicht äußerst komplex. Erstens ist Verantwortung immer schon als diverses Begriffsfeld mit vielen Einzelbedeutungen zu verstehen, zweitens ist gerade die Naturverantwortung durch ihre zeitliche Dimension geprägt, da sie meist erst über große Zeiträume hinweg an Bedeutung gewinnt, drittens wird verantwortliches Handeln nur als soziales Handeln verständlich, insofern der Natur ein moralisch wirksamer Wert zugeschrieben wird. 66 Zwei dieser Aspekte finden sich auch in der historischen und aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte direkt angesprochen. Nachhaltigkeit bezeichnet grundsätzlich ein „Bewirtschaftungs- und Entwicklungsprinzip, nach dem nicht mehr natürliche Ressourcen verbraucht werden als jeweils nachwachsen, so dass die (Lebens-)Chancen künftiger Generationen erhalten werden (…)“. 67 Die historischen Wurzeln des Nachhaltigkeitsbegriffes liegen in der deutschen Forstwirtschaft. Dabei sollte ursprünglich nicht mehr Holz dem Wald entnommen werden, als binnen eines Jahres wieder nachgewachsen ist. 68 Konkret forderte Carl von Carlowitz bereits 1713, die wirtschaftliche Basis bzw. die Ressourcenbasis des Waldes zu schonen. Damit ist Nachhaltigkeit – zumindest dem Ursprung nach – ein ressourcenökonomisches Prinzip, welches das Ziel verfolgt, eine Ressource dauerhaft und dennoch Ertrag bringend zu nutzen. Merksatz Dieses Prinzip wurde Mitte des 19. Jahrhunderts gewissermaßen entwertet, als die Reinertragslehre und das Prinzip der Gewinnmaximierung bzw. die Frage nach der höchstmöglichen Verzinsung des investierten Kapitals Ökonomie und Ökologie konzeptionell auseinanderdriften ließen. Statt eines dauerhaft hohen Holzertrags fokussierte man sich auf einen möglichst hohen direkten Geldertrag. Damit wurde der Maßstab der Produktivität der Natur von jenem des freien Marktes abgelöst. Erst ab den 1970er-Jahren setzte eine Gegenbewegung ein, in deren Zuge der Nachhaltigkeitsbegriff wieder breite Beachtung erfuhr. Zu den wachstumskritischen Schriften jener Zeit zählte etwa der Bericht „Grenzen des Wachstums“ (1973). Das Forscherteam um Dennis Meadow hatte darin mittels Computersimulation den exponentiellen Ressourcenverbrauch von Industriegesellschaften auf globaler Ebene in Wechselwirkung mit Faktoren wie Bevölkerungsentwicklung, 66 Vgl. ebd., S. 856 ff. 67 Hinkmann, 2008, S. 398 68 Vgl. ebd., S. 398 26 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Nahrungsmittelressourcen oder Umweltzerstörung simuliert. Damals hatten die Forschenden für einen globalen Gleichgewichtszustand (Homöostase) und entsprechende weltweite Maßnahmen plädiert. 2006 wurde eine Folgestudie des Forscherteams um Meadows veröffentlicht, worin abermals für eine Senkung des ökologischen Fußabdrucks der Menschheit plädiert wurde. 1983 gründeten die Vereinten Nationen die sogenannte World Commission on Environment and Development (WCED) mit Sitz in Genf. Die erste politische Definition der Nachhaltigkeit folgte 1987 im Rahmen des sogenannten Brundtland-Berichts. Der offizielle Perspektivbericht zur langfristig tragfähigen globalen Entwicklung bis zum Jahr 2000 wurde unter dem Titel „Our Common Future“ bzw. nach der damaligen Vorsitzenden, Gro Harlem Brundtland, als Brundtland-Bericht bezeichnet. Darin wird nachhaltige Entwicklung als eine Entwicklungsform definiert, die die Bedürfnisbefriedigung gegenwärtiger und zukünftiger Generationen gleichermaßen berücksichtigt. 69 Hierzu heißt es im Bericht: „Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“ 70 Entscheidend ist dabei auch der zugrunde liegende Unterschied zwischen Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung. Hierbei verweist Nachhaltigkeit nämlich „auf einen Zustand, Statik und Beständigkeit; nachhaltige Entwicklung impliziert Bewegung, Dynamik, das Prozesshafte sowie das Werdende und Entstehende“. 71 Tatsächlich kommt der Ökologie in der Nachhaltigkeitsdebatte bis heute eine besonders entscheidende Rolle zu. Im Sinne dieses Primats der Ökologie sind Nachhaltigkeitsthemen häufig mit Umweltschutzthemen verbunden. Zugleich ist Nachhaltigkeit durch seine inhärente Verbindung zum Gerechtigkeitsbegriff (bzw. dem Konzept generationenübergreifender Gerechtigkeit) auch ein stark normativer Begriff. Konzeptionell wird Nachhaltigkeit heute – mit breiter Zustimmung der wissenschaftlichen Gemeinschaft – zumeist als dreidimensionales Konzept verstanden. Die sogenannte ökologische Nachhaltigkeit beschreibt „die Nutzung eines Systems in einer Weise, dass dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt und so sein Forstbestand gesichert wird“. 72 Hierbei wird vor allem das Phänomen der Übernutzung natürlicher Ressourcen diskutiert, wobei Vertreter einer starken ökologischen Nachhaltigkeit schon jetzt attestieren, dass unser gegenwärtiger globaler Ressourcenverbrauch nicht mit dem Prinzip 69 Vgl. Pufé, 2014, S. 43-65 70 UN, 2022 71 Pufé, 2014, S. 43 72 Pufé, 2014, S. 105 27 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung ökologischer Nachhaltigkeit übereinstimmt. Vielmehr würden Ressourcen auf Kosten nachkommender Generationen aufgebraucht. Die zweite Nachhaltigkeitsdimension bezeichnet die sogenannte ökonomische Nachhaltigkeit. Die ökonomische Nachhaltigkeit bezeichnet „die betriebswirtschaftliche Nutzung eines Systems im Sinne einer Organisation oder eines Unternehmens in einer Weise, dass dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt und sein wirtschaftlicher Fortbestand gesichert ist“. 73 Dabei befürworten Vertreter einer starken ökonomischen Nachhaltigkeit ein Wirtschaftsmodell, welches Wohlstand nicht allein durch Wachstum erreicht, sondern vielmehr umwelt- und sozialverträglich ist. Zuletzt bezieht sich daher die Dimension sozialer Nachhaltigkeit auf die „auf Menschen ausgerichtete Nutzung eines Systems oder einer Organisation in einer Weise, dass dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt und sein personalbezogener sowie gesellschaftlicher Fortbestand so gesichert ist“. 74 Hierbei ist die soziale Nachhaltigkeit im Vergleich zu den zwei übrigen Nachhaltigkeitsdimensionen häufig unterrepräsentiert. Sie befindet sich jedoch aktuell in einem Stadium der Aufwertung. Konkrete Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Nachhaltigkeit betreffen etwa die Schaffung von Chancengleichheit in Bildung und Beruf oder die möglichst breite Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen. 75 Zusammen werden diese drei Nachhaltigkeitsdimensionen, die nicht im Sinne singulärer Säulen, sondern als sich wechselseitig aufeinander beziehende Dimensionen zu verstehen sind, auch als Triple-Bottom-Line Merksatz bezeichnet. 76 Der von John Elkington geprägte Begriff stellt sich im Unternehmenskontext dergestalt dar, dass ein Unternehmen ökonomisch langfristig plant und dadurch auch in Zukunft noch erfolgreich ist. Eine klimaneutrale Produktionsweise fiele demzufolge unter die Dimension der ökologischen Nachhaltigkeit, während gute Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende als Teil einer sozialen Nachhaltigkeitsstrategie zu verstehen sind. 77 73 Ebd., S. 106 74 Ebd., S. 107 75 Vgl. ebd., S. 108 ff. 76 Vgl. ebd., S. 128 77 Vgl. Clausen, 2009, S. 75 ff. 28 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass der Nachhaltigkeitsbegriff sowohl in der Umwelt- und Klimaethik als auch in der breiteren Debatte der Klimaverantwortung von Bedeutung ist. Basierend auf der inhärenten Zusammenfassung (intergenerationalen) Gerechtigkeits-konzeption muss Nachhaltigkeit als grundsätzlich normativer Begriff verstanden werden. Dabei ist vor allem die Unterscheidung der drei Nachhaltigkeitsdimensionen von ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit relevant. Zusammen werden diese drei Nachhaltigkeitsdimensionen, die nicht im Sinne singulärer Säulen, sondern als sich wechselseitig aufeinander beziehende Dimensionen zu verstehen sind, auch als Triple-Bottom-Line bezeichnet. Diese bedeutende Trias wird in unterschiedlichen Kontexten aufgegriffen und fortgeführt. Dabei beziehen sich etwa die Sustainable Development Goals (SDGs) (siehe Kapitel IV.5) der UN oder die ESG-Standards (englisch: Environmental, Social und Governance) für sozial verantwortliche Investmentoptionen wesentlich auf die genannten Nachhaltigkeitsdimensionen (siehe Kapitel IV.3). Darüber hinaus entsprechen die einzelnen Aspekte des fairen Handels in Grundzügen den Dimensionen ökonomischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit. Besonders Konzepte der unternehmerischen Verantwortung weisen einen starken inhaltlichen Bezug zur Nachhaltigkeitsdebatte auf. 29 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung 2. Verantwortung als philosophisches Arbeits- feld Eine Philosophie der Verantwortung Das Nachfolgende zweite Kapitel des Skriptums beschäftigt sich mit dem Verantwortungsbegriff als solchem. Hierzu wird zuerst eine umfassende Definition des Verantwortungsbegriffs illustriert. Im Unterschied zum vorangegangenen Kapitel stehen nicht die historische Genese, sondern vielmehr konzeptionelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Verantwortungsdefinitionen im Zentrum. Damit stellt dieses Kapitel das theoretische Hauptstück des Skriptums dar. Ausgehend von einer vierfachen Definition des Verantwortungsbegriffes in der philosophischen Fachliteratur wird der Verantwortungsbegriff im Hinblick auf seine rechtliche und ethische Dimension, seine normativen Hintergrundtheorien, seine individuelle und kollektive Akteursdimension sowie seine politischen und sozialen Implikationen dargestellt. Das vorliegende Kapitel soll ein grundlegendes Verständnis des aktuellen Verantwortungsdiskurses in seinen vielfältigen Ausprägungen ermöglichen. 2.1. Definitionen der Verantwortung 2.1.1. Eine Definition der Definition Eine allgemeingültige Definition des Verantwortungsbegriffes zu skizzieren, ist kaum möglich. Wie bereits anhand der historischen Debatte ersichtlich, haben sich viele Autoren in unterschiedlicher Art mit dem Begriff auseinandergesetzt und diesen dadurch sowohl historisch als auch inhaltlich geprägt. Tatsächlich steckt hinter den vielfältigen und uneinheitlichen Definitionsvarianten philosophischer Begriffe (so unbefriedigend und verwirrend diese fallweise auch sein mögen) selbst ein philosophisches Problem. Michael Quante beschreibt diese Problematik (mit Rückgriff auf den britischen Philosophen George E. Moore) mit einer Differenzierung von verschiedenen Arten der Definition im Hinblick auf Sprach- und Begriffsgebrauch. Zum einen lässt sich eine sogenannte nominale Definition eines Sachverhalts, eines Konzepts oder einer Sache angeben. Dabei legt ein Autor oder eine Gruppe von Autoren (oder die wissenschaftliche Community im weiteren Sinne) fest, einen Begriff mit einer bestimmten Bedeutung zu definieren und im weiteren Verlauf nur so zu gebrauchen. So wird etwa in der akademischen Philosophie (sowie in diesem Skriptum), sofern nicht 30 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung explizit erwähnt, unter Ethik lediglich die normative Ethik verstanden. Wie an anderer Stelle gezeigt wurde (siehe Kapitel I.1), könnte dieser Konsens einer nominalen Definition in anderen Wissenschaften (etwa der Soziologie oder der Sozialanthropologie) durchaus anders sein. Solche nominalen Definitionen sind insbesondere dann hilfreich bzw. nötig, wenn bereits viele verschiedene Definitionen eines Begriffes parallel verwendet werden. Für eine weitergehende philosophische Beschäftigung mit einem Thema ist die bloße nominale Definition eines Begriffes natürlich ungenügend. Als zweite Definitionsart lässt sich die sogenannte Standarddefinition von der nominalen Definition unterscheiden. Standarddefinition in diesem Sinne meint die Definition im Sinn des alltäglichen Wortgebrauchs. Merksatz Diese Standarddefinition kann man etwa in Wörterbüchern finden. Die im Wörterbuch aufgeführte Definition bzw. Definitionen (oftmals kennen auch Wörterbücher mehrere Definitionen) erheben nicht den Anspruch, dass jeder Sprecher einer Sprache sogleich die wörterbuchbasierte Definition seines Begriffes im Blick hat. Dennoch bildet die Standard- oder Wörterbuchdefinition gewissermaßen eine Nulllinie oder ein Bezugssystem, anhand dessen sich abweichende Definitionen im Sprachgebrauch erst als abweichend identifizieren lassen. Eine philosophische Analyse, so Quante, dürfe weder die Standarddefinition eines Begriffes mutwillig ignorieren noch versuchen, diese (etwa durch statistische oder linguistische empirische Erhebungen) nachzuzeichnen. Wenngleich sich keine allgemeine Aussage über das beste Verhältnis von philosophischen Begriffsdefinitionen einerseits und wörterbuchgemäßen Standarddefinitionen andererseits angeben lässt, sollten diese möglichst nicht vollständig voneinander entkoppelt werden. Zuletzt lässt sich in diesem Kontext die sogenannte Realdefinition von den beiden zuvor genannten Definitionsarten unterscheiden. Die Realdefinition zielt anders als die nominale Definition und die Standarddefinition nicht auf eine Bedeutungs- und Verwendungsanalyse der Sprache ab, sondern bezieht sich auf eine Analyse der mit der Sprache bezeichneten Gegenstände selbst. Ohne hierbei auf den sprachphilosophischen Hintergrund im Detail einzugehen, liegt dieser Herangehensweise die These zugrunde, dass es eine Unterscheidung zwischen den Gegenständen der Sprache und der Sprache selbst gibt. Dabei ist die Sprachanalyse bzw. der sprachanalytische Zugang in der Philosophie jedoch, nach Quante, kein Selbstzweck, sondern zeigt, dass eine Analyse der Sprache zur Analyse des Sachproblems beiträgt. 31 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Das primäre Interesse des Philosophen gilt in der Realdefinition dem Sachproblem selbst, und dieses besteht zu (kleinen) Teilen aus der verwendeten Sprache. Entscheidend ist für diese Definitionsunterscheidung Merksatz (die lediglich eine von vielen möglichen Unterscheidungen auf diesem Gebiet darstellt) die grundsätzliche Differenz von Begriffsanalyse (nominale Definition und Standarddefinition) einerseits und Gegenstandsanalyse (Realdefinition) andererseits. 78 Ein anschauliches Beispiel für die unterschiedlichen Definitionsarten und ihre Verbindung zur Alltagssprache findet man etwa im Werk des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860) und seinem Hauptwerk mit dem Titel Die Welt als Wille und Vorstellung. Darin erhebt Schopenhauer den Begriff des „Willens“ bzw. des Willens zum Leben zum Grundbegriff seiner Philosophie. Anders als die Standarddefinition von Willen als „Verhaltensweise leitendes Streben“ 79 versteht Schopenhauer unter dem „Willen“ eine Art Überlebenstrieb, welcher der ganzen Welt zugrunde liegt. Jener Wille ist „als das Ding an sich (…) ein blinder universeller Lebensdrang. (…) Der Wille zum Leben findet sich nicht infolge der Welt ein, sondern die Welt infolge des Willens zum Leben.“ 80 Hierbei zeigt sich am Beispiel Schopenhauers die philosophische Tendenz, sich graduell am alltagssprachlichen Begriff zu orientieren und gleichzeitig eine Realdefinition zu entwerfen, deren Gegenstandsgrundlage von der rein sprachlichen Analyse unterschieden ist. Der spezielle sprachphilosophische Zugang Moores (und Quantes) beispielsweise ist jedoch nicht universell akzeptiert in der akademischen Philosophie, insofern andere Autoren eine solche Einteilung der Definition nicht zugrunde legen. Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass sich im Zuge einer philosophischen Definitionsanalyse im Kontext des Verantwortungsbegriffes nicht nur verschiedene Definitionen auf sprachlicher Ebene unterscheiden Zusammenfassung lassen, sondern, dass Definitionen auch methodisch und erkenntnistheoretisch auf verschiedene Aspekte einer Sache abzielen können. Das philosophische Hauptproblem besteht also darin, dass Definitionen nicht nur rein quantitativ anhand verschiedener kontextabhängiger sprachlicher Bestimmungen unterschieden werden können, sondern auch qualitativ anhand verschiedener Grundlagen der besagten Definitionen selbst. Michael Quante beschreibt diese Problematik 78 Vgl. Quante, 2008, S. 25-26 79 Duden, 2022 80 Schoppenhauer, zit. nach: Spierling, 2010, S. 241 32 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung (mit Rückgriff auf den britischen Philosophen George E. Moore) mit einer Differenzierung von drei verschiedenen Arten der Definition. Zum einen lässt sich eine sogenannte nominale Definition eines Sachverhalts, eines Konzepts oder einer Sache angeben. Dabei legt eine Autorin oder eine Gruppe von Autoren fest, einen Begriff mit einer bestimmten Bedeutung zu definieren und im weiteren Verlauf nur so zu gebrauchen. Als zweite Definitionsart lässt sich die sogenannte Standarddefinition unterscheiden. Standarddefinition in diesem Sinne meint die Definition im Sinn des alltäglichen Wortgebrauchs. Diese Standarddefinition kann man etwa in Wörterbüchern finden. Zuletzt lässt sich in diesem Kontext die sogenannte Realdefinition unterscheiden. Die Realdefinition zielt – anders als die nominale Definition und die Standarddefinition – nicht auf eine Bedeutungs- und Verwendungsanalyse der Sprache ab, sondern bezieht sich auf eine Analyse, der mit der Sprache bezeichneten Gegenstände, selbst. 2.1.2. Verantwortung erkennen: die Fälle Carola Rackete und Francesco Schettino Nimmt man den Verantwortungsbegriff und seine philosophische Definition in den Blick, so zeigt sich, dass Verantwortung in alltagspraktischen Situationen auf verschiedenen Grundlagen zu- oder abgesprochen wird. Betrachtet man hierzu zwei konkrete Beispiele der jüngsten Vergangenheit, zeigen sich die unterschiedlichen Facetten des Verantwortungsbegriffes im gesellschaftlichen und medialen Kontext besonders deutlich: Im Sommer 2019 hatte die deutsche Kapitänin des Seenotrettungsschiffes Sea-Watch 3, Carola Rackete, dreiundfünfzig lybische Flüchtlinge auf der italienische Insel Lampedusa abgesetzt. Rackete verstieß damit eindeutig und wissentlich gegen die Anordnungen der italienischen Behörden, wonach die Flüchtlinge italienisches Staatsgebiet nicht hätten betreten dürfen. Gleichzeitig hätte laut Rackete die lybische Küstenwache erst spät und zögerlich reagiert, während der allgemeine Zustand der Flüchtlinge als sehr besorgniserregend seitens der Crew und des medizinischen Bordpersonals eingeschätzt wurde. Kapitänin Rackete hatte daraufhin den bewussten Rechtsbruch damit gerechtfertigt, dass sie nur so den in Not geratenen Flüchtlingen angemessen hätte helfen können. Der Fall wurde medial breit rezipiert, wobei vor allem Racketes Motive, ihr wissentlicher Rechtsbruch sowie die individuelle und gesamtgesellschaftliche moralische Verpflichtung gegenüber Geflüchteten im Zentrum der Debatte standen. Nur sieben Jahre zuvor hatte ein gänzlich konträrer Fall in einem ähnlichen Kontext für Empörung in den internationalen Medien gesorgt. 2012 hatte der Kapitän des havarierten Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia, Francesco Schettino, 33 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung den Unglücksort als einer der ersten Personen verlassen, noch bevor die Sicherheit der übrigen Crew und der Passagiere gewährleistet war. Bei dem Schiffsunglück starben insgesamt zweiunddreißig Menschen. Kapitän Schettino wurde dafür letztlich von einem italienischen Gericht wegen fahrlässiger Tötung zu sechzehn Jahren Haft verurteilt. Wenngleich diese beiden Fälle aufgrund ihrer tragischen Umstände und menschlichen Schicksale als bedauernswert gelten müssen, lassen sich verschiedene Facetten des Verantwortungsbegriffes aus der medialen Rezeption und der öffentlichen Diskussion erkennen. Einerseits lässt sich erkennen, dass Rackete die Verantwortung proaktiv übernommen hatte, während Schettino diese entgegen seinem Eingeständnis zugeschrieben wurde. Zudem hatten beide agierende Personen neben ihrer konkreten Handlungsverantwortung als Kapitäne auch eine besondere Rollenverantwortung inne. Die Empörung am Verhalten Schettinos war nicht zuletzt wesentlich von dem Eindruck geprägt, er hätte seine Verantwortung als Kapitän (also erst von Bord zu gehen, wenn die übrigen Personen in Sicherheit wären) nicht wahrgenommen. Zudem wird die grundsätzliche Differenz von rechtlicher und moralischer Verantwortung und der Rolle der Justiz als richtende Instanz besonders deutlich. Beide Fälle stellten juristisch gesehen einen klaren Rechtsbruch dar, wurden jedoch moralisch sehr unterschiedlich bewertet. 81 Die Philosophin Ina Schmidt stellte in diesem Kontext fest: „Verantwortliches Handeln ist also keine Selbstverständlichkeit – es versteht sich nicht von selbst und bezieht sich auf verschiedene Ebenen des eigenen Tuns. Der Unterschied im Handeln von Carola Rackete und Francesco Schettino scheint offensichtlich. Die eine hat das Richtige getan, der andere nicht. So weit, so klar. Aber was genau bedeutet: das Richtige? Rein rechtlich hat Rackete etwas Verbotenes getan, dass es damit aber nicht notwendig auch das Falsche war, ist der Punkt, an dem die Sache interessant wird.“ 82 Aufbauend auf diesen anschaulichen Beispielen wird im nächsten Abschnitt ein Modell präsentiert, das die bereits implizit in den Fällen von Carola Rackete und Francesco Schettino angelegten Verantwortungsdimensionen in ein explizites und formales Modell integriert. Eine vorläufige philosophische Definition von Verantwortung kann an dieser Stelle mit 81 Vgl. Schmidt, 2021, S. 22 ff. 82 Ebd., S. 23 34 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Rückgriff auf Andrea Clausen als „die Verpflichtung, bestimmte negative Konsequenzen des eigenen Handelns zu vermeiden oder umgekehrt erwünschte Konsequenzen zu garantieren und bei Zuwiderhandeln dafür gerade zu stehen“ angegeben werden. 83 Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass Verantwortungszuschreibungen unterschiedlicher Arten in der gesellschaftlichen und medialen Debatte dargestellt werden. Der Zusammenfassung Verantwortungsdiskurs ist trotz seiner theoretischen und interdisziplinären Vielfalt keineswegs auf akademische Debatten im berüchtigten „Elfenbeinturm“ beschränkt. Der wissentliche Rechtsbruch der deutschen Kapitänin des Seenotrettungsschiffes Sea-Watch 3, Carola Rackete, zeigt, wie Verantwortung proaktiv übernommen werden kann. Gleichzeitig zeigt der Fall des italienischen Kapitäns des havarierten Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia, Francesco Schettino, wie Verantwortung von außen zugeschrieben werden kann. Dabei spielten in beiden Fällen konkrete Rollenverantwortungen sowie eine Differenzierung von rechtlichen und moralisch-ethischen Dimensionen der Verantwortung eine zentrale Rolle. 2.1.3. Verantwortung als relationaler Begriff: vier Definitio- nen des Verantwortungsbegriffs Wie bereits gezeigt wurde, birgt die vermeintlich einfache Aussage „Carola trägt Verantwortung“ eine Vielzahl möglicher Interpretationen. So wird deutlich, dass Carola als Verantwortungssubjekt für etwas, einen Verantwortungsgegenstand, verantwortlich gemacht wird. Grundsätzlich gibt es mehr als ein Element, durch welches Verantwortung konzeptionell beschrieben werden muss. Dabei gilt es als übergreifender Konsens der Verantwortungsforschung, dass Verantwortung ein relationales Konzept aus verschiedenen Elementen und deren Beziehung zueinander darstellt. Jedoch wird in der Verantwortungsforschung mitunter heftig diskutiert, welche Elemente der Relation (die sogenannten Relata) konkret gemeint sind und in welcher strukturellen Beziehung diese zueinanderstehen. Je nach Verantwortungsdefinition und impliziten Annahmen über die Abhängigkeiten der einzelnen Relata zueinander zeichnet sich ein anderes Bild des Diskurses. 84 83 Clausen, 2009, S. 92 84 Loh, 2018, S. 35-37 35 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Als plausible Kandidaten für die möglichen Relata eines relational gefassten Verantwortungsbegriffes gelten nach Janina Loh jedenfalls der Träger der Verantwortung (Wer ist verantwortlich?), der konkrete Gegenstand der Merksatz Verantwortung (Wofür ist jemand verantwortlich?), die Instanz der Verantwortung (Wovor ist jemand verantwortlich?) gegenüber einem konkreten Adressaten (Warum ist man verantwortlich?) und auf Grundlage welcher normativer Prinzipien (Inwiefern ist man verantwortlich?). 85 Vor dem Hintergrund dieser möglichen Relata lassen sich auch die verschiedenen Definitionsversuche des Verantwortungsbegriffes in der aktuellen Forschungsdebatte in konzeptionelle Kategorien einteilen. Ganz allgemein gilt, dass Verantwortung als „das Einstehen von Agierenden für die Folgen einer Handlung in Relation zu einer geltenden Norm“ verstanden werden kann. 86 Der deutsche Philosoph und Experte auf dem Gebiet der Verantwortungsforschung, Ludger Heidbrink, unterscheidet insgesamt vier Definitionen der Verantwortung. Dabei lässt sich Verantwortung folgendermaßen verstehen: eine Form der Zurechnungsfähigkeit und Zuständigkeit definieren (1. Definition) als folgenbasierte Legitimation (2. Definition) als kontextualistisches Reflexionsprinzip (3. Definition) als Struktur und Steuerungselement (4. Definition) Diese Definitionen decken zwar nicht die Gesamtheit aller zeitgenössischen und historischen Verantwortungsdiskurse ab, zeigen jedoch in paradigmatischer Weise die Entwicklung und Relevanz unterschiedlicher Konzeptionen des Verantwortungsbegriffs. 87 Daher sollen die Charakteristika der von Heidbrink vorgeschlagenen Verantwortungsdefinitionen im Nachfolgenden näher betrachtet werden. 2.1.4. Erste Verantwortungsdefinition: Verantwortung als Zurechnungsfähigkeit und Zuständigkeit Die erste Verantwortungsdefinition nimmt direkt Bezug auf die historische Debatte, insofern die Eigenschaft, für eine Handlung zurechnungsfähig zu 85 Loh, 2018, S. 39 86 Heidbrink, 2018, S. 5 87 Vgl. ebd., S. 8 36 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung sein, insbesondere in der christlichen Philosophie und der Verantwortung vor Gott konzeptionell angelegt ist. Dieser traditionelle Verantwortungsbegriff ist also stark apologetisch (also entschuldigend) geprägt und steht in Zusammenhang mit schuldhaftem Handeln. Die Zuschreibung von Verantwortung kann daher nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen der Freiheit, der Kausalität und der Intentionalität erfüllt sind. Merksatz Damit Verantwortung also zugeschrieben werden kann, muss die agierende Person ohne Zwang handeln, wissentlich und willentlich handeln und kausaler Verursacher der Handlung sein. Zusätzlich werden weitere Maßstäbe für die Zurechenbarkeit von Verantwortung aus den konkreten Umständen und Rahmenbedingungen abgeleitet (etwa die Fähigkeiten der agierenden Person, seine Aufgaben und Rollen, gesetzliche Regelungen usw.). Der zweite Aspekt dieser ersten Definition beruht hingegen auf der Zuständigkeit als Basis der Verantwortung. Während die Zurechnungsverantwortung primär retrospektiv (also im Nachhinein) aus der Beobachterperspektive im Rahmen fix etablierter rechtlicher und moralischer Normen erfolgt, wird die Zuständigkeitsverantwortung als freiwillige Initiative der agierenden Person aus der Teilnahmeperspektive primär prospektiv (also im Vorhinein) übernommen. Es handelt sich also, grob gesagt, um den Unterschied, ob jemandem Verantwortung übertragen wird, oder ob jemand von sich aus Verantwortung übernimmt. Auch die soziale Reaktion auf Zurechnungs- und Zuständigkeitsverantwortung ist, wie am Beispiel von Francesco Schettino und Carola Rackete gezeigt wurde, durchaus unterschiedlich. Die Zuständigkeitsverantwortung ergibt sich neben der Selbstverpflichtung primär aus bestimmten Rollenerwartungen und Aufgabenfeldern, die übernommen werden (z. B. die Rolle einer Kapitänin auf einem Schiff). Dabei sind jedoch beide Verantwortungsarten als jeweils graduelle Abstufungen voneinander zu verstehen. Letztlich lassen sich in diesem Kontext vier unterschiedliche Verantwortungsarten im Hinblick auf Zurechnung und Zuständigkeit unterscheiden. 37 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Die sogenannte Handlungs(ergebnis)verantwortung umfasst alle Formen der Kausalverantwortung für bereits begangene oder noch zu begehende Handlungen. Dies gilt sowohl für individuelle als auch kollektiv agierende Merksatz Personen. Die bereits erwähnte Rollen- und Aufgabenverantwortung bezieht sich primär auf berufliche Zuständigkeit, aber etwa auch auf Haftungen in Institutionen. Die (universal) moralische Verantwortung wiederum ist primär jene Form der Verantwortung, die prinzipielle Formen der Verantwortung gegenüber anderen vorsieht bzw. auch rollenbasierte Pflichten, die als solche nicht delegierbar sind. Zuletzt wird die rechtliche Verantwortung anhand objektiver Schuldkriterien (im Unterschied zu Verantwortung aus Selbstverpflichtung) festgestellt und kann zu juristischen Sanktionierungen führen. 88 2.1.5. Zweite Verantwortungsdefinition: Verantwortung als folgenbasierte Legitimation Die zweite Verantwortungsdefinition nach Heidbrink versteht Verantwortung als folgenbasierte Legitimation. Aufbauend auf der ersten Definition gilt, dass zurechnungsfähige, agierende Personen für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden können. Die Beurteilung von Handlungen erfolgt jedoch nicht in Hinsicht auf erwartbare Handlungsfolgen, sondern vielmehr im Ausgang von solchen erwartbaren Folgen. Damit wird Verantwortung in diesem Sinn kein folgenorientiertes, sondern ein folgenbasiertes Legitimationsprinzip. Diese Folgen können sowohl intendiert als auch nicht intendiert sein oder bloß in Kauf genommen (Kollateralschäden) werden. Dabei ist wiederum die konzeptionelle Unterscheidung der retrospektiven und prospektiven Verantwortung von entscheidender Bedeutung. Die sogenannte Ex-post-Verantwortung bezieht sich auf bereits vollzogene Handlungen und ist rückwärtsgewandt. Die sogenannte Ex-ante-Verantwortung richtet sich auf die Zukunft bzw. auf in der Zukunft liegende Handlungsfolgen. Diese Fokussierung auf Handlungsfolgen führt zudem zu einer konzeptionellen Unterscheidung drei unterschiedlicher Klassen von Folgen. Konkret lassen sich beabsichtigte Folgen (erste Klasse), vorhergesehene und bloß in Kauf genommene Handlungsfolgen (zweite Klasse) und unvorhergesehene Handlungsfolgen (3. Klasse) unterscheiden. Jene Folgen, die von Handelnden unter normalen 88 Vgl. Heidbrink, 2018, S. 8-13 ff. 38 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Bedingungen antizipiert werden können, sind beabsichtigte Folgen. Vorhergesehene und bloß in Kauf genommene Handlungsfolgen sind zwar nicht erwünscht, jedoch waren sie vorhersehbar. Unvorhersehbare Folgen sind schließlich jene Handlungsfolgen, die weder in Kauf genommen noch vorhersehbar waren. Dabei lassen sich beabsichtigte Folgen leicht einer agierenden Person zurechnen, während vorhersehbare und in Kauf genommene Folgen etwa nach dem Umfang ihrer Vermeidbarkeit, der Art des Schadens oder etwaiger Fahrlässigkeit beurteilt werden müssen. Am schwierigsten ist die Zurechenbarkeit von unvorhersehbaren Handlungsfolgen zu bewerten. Hier gilt es zu klären, inwieweit die Folgen vorhergesehen werden hätten können bzw. wie mit dem Element der Ungewissheit in der folgenbasierten Verantwortungsdefinition allgemein umzugehen ist. Hier hängt die Zurechenbarkeit von nicht intendierten Handlungsfolgen einerseits von der Art der Ungewissheit bezüglich der Handlungsfolgen und andererseits von der Zumutbarkeit, sich ggf. das benötigte Wissen das Schadensrisiko betreffend anzueignen, ab. Dabei muss auch zwischen absolutem Nichtwissen und relativem Nichtwissen unterschieden werden. Während nämlich absolutes Nichtwissen über die Handlungsfolgen niemals hätte gewusst werden können, bewegt sich relatives Nichtwissen grundsätzlich im gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Wissensspektrum. Relatives Nichtwissen kann also, graduell abgestuft, in Wissen umgewandelt werden, wenn sich die Akteurin entsprechend informiert. Nichtwissen ist im Verantwortungsdiskurs dann zurechenbar, wenn es sich in Ungewissheit umwandeln lässt. Die bloße Ungewissheit vo