German Staatsrecht – Grundrechte PDF, HWS 2023

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Universität Mannheim

2023

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz

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German constitutional law Constitutional principles Human dignity Political philosophy

Summary

This document is a lecture script from a German university course on Constitutional Law. The document provides in-depth details about Constitutional principles and the concept of human dignity.

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 C. Einzelne Grundrechte I. Statusgrundrechte 1. Garantie der Menschenwürde (Art. 1 I GG) a) Art. 1 I GG als Grundrecht? ▪ Art. 1 I GG ist laut BVerfG zunächst ein „tragendes Konstitutionsprinzip“ der grundgesetzlichen Ordnung (vgl. B...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 C. Einzelne Grundrechte I. Statusgrundrechte 1. Garantie der Menschenwürde (Art. 1 I GG) a) Art. 1 I GG als Grundrecht? ▪ Art. 1 I GG ist laut BVerfG zunächst ein „tragendes Konstitutionsprinzip“ der grundgesetzlichen Ordnung (vgl. BVerfGE 6, 32 [36] – Elfes; 109, 279 [311] – Großer Lauschangriff). Vor diesem Hintergrund fungiert die Würde insbesondere als eine Interpretationsleitlinie, welche die Ausübung staatlicher Gewalt sowie die Interpretation der nachfolgenden Grundrechte (Art. 2 ff. GG) und des sonstigen Rechts leitet. ▪ Art. 1 I GG ist eine „Reaktionsnorm“ auf die Gräueltaten des NSSchreckensregimes, eine bewusste Proklamation des Eigenwerts jedes menschlichen Individuums. ▪ Umstritten ist allerdings die Frage, ob Art. 1 I GG darüber hinaus auch der Charakter eines Grundrechts („Garantie“) zukommt. ▪ Erste Ansicht („keine Grundrechtsqualität“ – insbesondere Dreier, Enders, Isensee): Art. 1 I GG ist hiernach der „Grund der Grundrechte“, das oberste Konstitutionsprinzip der Verfassung und eine Interpretationsmaxime, nicht aber selbst ein Grundrecht. Arg.: ➢ Systematik des Art. 1 I – III GG (Würde – Menschenrechte – Grundrechte); ➢ atypische Normstruktur (gegenständlich nicht klar umrissener Schutzbereich [„Würde“], Absolutheitscharakter [„unantastbar“]). ▪ Zweite Ansicht (wohl h.A.): Art. 1 I GG ist nicht nur „Grund der Grundrechte“, sondern selbst auch Grundrecht. Arg.: ➢ systematische Stellung im Kap. I („Die Grundrechte“); ➢ Achtungs- und Schutzverpflichtung in Art. 1 I 2 GG; ➢ normativer Gehalt des Art. 1 I GG (Anerkennung des Menschen als Subjekt – Nipperdey: „Wurzel und Quelle aller später formulierten Grundrechte und damit selbst das materielle Hauptgrundrecht“). ▪ BVerfG: Das BVerfG hat bislang zu dieser Frage nicht explizit Stellung bezogen, geht aber sehr häufig – wenn auch nur implizit – vom Grundrechtscharakter des Art. 1 I GG aus (etwa beim postmortalen Persönlichkeitsrecht oder beim Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums nach Art. 1 I i.V.m. Art. 20 I GG). 57 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 b) Begriff der Würde ▪ Die Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 1 I GG („Würde des Menschen“) bereitet sowohl in personeller als auch in materieller Hinsicht Probleme. ▪ In personeller Hinsicht ist umstritten, ob Art. 1 I GG auch auf pränatale Stadien menschlicher Existenz zu erstrecken ist (dazu noch nachfolgend sub 2.). ▪ In materieller Hinsicht fällt es schwer, den gegenständlich nicht klar umrissenen Begriff der Würde zu definieren. Auf ihr lasten „zweieinhalbtausend Jahre Philosophiegeschichte“ (Pieroth/Schlink). In der Literatur werden insoweit verschiedene positive Definitionsversuche unternommen, die z.T. bestimmte philosophische Strömungen aufgreifen. Die Rechtsprechung definiert den Begriff der Würde demgegenüber negativ, d.h. vom Verletzungserfolg her. ➢ Positive Definitionsansätze: - Würde als Mitgift bzw. Wert („Mitgift- oder Werttheorie“): Nach diesem Ansatz steht der Begriff „Würde“ für eine bestimmte Eigenschaft, eine inhärente („angeborene“), den Menschen vor anderen Lebewesen auszeichnende Qualität, welche ihm von einem „Schöpfer“ (Gott) oder von „Natur“ aus (Evolution) mitgegeben sein soll. In ihrer theologischen Variante wurzelt diese „Mitgift“ in der Gottesebenbildlichkeit (imago dei) des Menschen, in der säkularisierten, auf Immanuel Kant zurückgehenden Variante steht die Würde für einen unverfügbaren (absoluten) inneren „Wert“ des Menschen, welcher seinen Grund in dessen Begabung zu vernunftgeleiteter (sittlicher) Autonomie findet. Damit ist der Mensch über jeden Preis erhaben, weder handelnoch austauschbar, sondern nur Zweck an sich selbst. - Würde als Ausdruck gelungener Selbstdarstellung („Leistungstheorie“): Nach diesem auf den Soziologen Niklas Luhmann zurückgehenden Ansatz ist Würde Ausdruck und Ergebnis „gelungener Selbstdarstellung“, nicht aber eine „Naturausstattung“. Der Würdegarantie kommt nach diesem Vorstellungsbild die Aufgabe zu, dem Individuum Freiheitsräume für autonome, seine Würde erst konstituierende Darstellungsleistungen zu ermöglichen. - Würde als Entwurfsvermögen: Dieser auf den RenaissancePhilosophen Giovanni Pico della Mirandola rückführbare Ansatz versucht, zwischen den antagonistischen (Eigen-)Wert- und Leistungsgedanken zu vermitteln. Menschenwürde wird nach dieser vermittelnden Konzeption deshalb als die Fähigkeit zum Entwurf einer eigenen Lebensform verstanden, nicht aber als deren Realisierung. Mitgift und Leistung stehen danach nicht in einem unvereinbaren Gegensatz, sondern erweisen sich als Bedingung und Bedingtes. 58 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz - Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Würde als Relationsoder Kommunikationsbegriff („Kommunikationstheorie“ – Hasso Hofmann): Nach diesem Ansatz ist Schutzgut des Art. 1 I GG nicht in erster Linie eine bestimmte individuelle Eigenschaft oder Leistung, sondern vielmehr die „mitmenschliche Solidarität“, welche sich Menschen einander zusprechen und sich als Rechtsgenossen versprechen. Hieraus soll insbesondere das Verbot folgen, unter den Mitgliedern der Anerkennungsgemeinschaft die Erniedrigung von Menschen zuzulassen. ➢ Negative Begriffsbestimmung (BVerfG): - Im Mittelpunkt der negativen Begriffsbestimmung steht nicht die Frage, was konkret (positiv) unter der Würde des Menschen zu verstehen ist, sondern vielmehr, wann diese durch staatliches oder privates Handeln beeinträchtigt wird. (Freilich setzt auch diese Herangehensweise voraus, dass der Interpret über ein Vorverständnis des verletzbaren Würdesubstrats verfügt. Denn nur dann vermag er festzustellen, ob im konkreten Fall eine Verletzung desselben zu bejahen ist.) - Entsprechend formulierte das BVerfG in seiner ersten Abhörentscheidung [G 10-Entscheidung]: „Was den in Art. 1 GG genannten Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde anlangt (...), so hängt alles von der Feststellung ab, unter welchen Umständen sie verletzt sein kann. Offenbar lässt sich das nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles“ (BVerfGE 30, 1 [25]; aus der jüngeren Rspr. vgl. BVerfGE 109, 279 [311] – großer Lauschangriff). - Diese negative, auf den Verletzungsvorgang abstellende Herangehensweise lässt sich dabei von der Erwägung leiten, dass gerade bei vagen normativen Begriffen das Falsifizieren oftmals leichter fällt als die positive Bestimmung ihres Inhalts. - Der Vorteil einer solchen kasuistischen Konkretisierung besteht zudem darin, dass einer Versteinerung des Würdebegriffs entgegengewirkt, diese in die Zeit hinein stetig an neue gesellschaftliche Herausforderungen angepasst werden kann. Auch vermag eine solche Herangehensweise ohne Festlegung auf eine bestimmte ethische, theologische oder sonstige weltanschauliche Position auszukommen. - Unter dem Eindruck der noch frischen Erinnerung an die nationalsozialistische Schreckensherrschaft hat das BVerfG Verletzungen der Menschenwürde zunächst in Handlungen wie „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“ (BVerfGE 1, 97 [104] – Grundrente. Aus jüngerer Zeit 59 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 s. etwa: BVerfGE 96, 375 [400] – Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation, wo diese Enumeration noch um das Merkmal der „Kommerzialisierung menschlichen Daseins“ erweitert wurde; 102, 347 [366 f.] – Benetton I; BVerfG-K, NJW 2001, 2957 [2958 f.] – Wilhelm Kaisen) sowie in „grausame(n), unmenschliche(n) und erniedrigende(n) Strafen“ (BVerfGE 45, 187 [228] – lebenslange Freiheitsstrafe. Ähnlich BayVerfGH, BayVBl. 1982, 47 [50], welcher insoweit von „Diffamierung, Diskriminierung, Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung und grausame(r) Bestrafung“ spricht.) gesehen. - Über diese Regelbeispiele hinaus hat das BVerfG den Aussagegehalt des Menschenwürdebegriffs unter Rückgriff auf die von Günter Dürig in Anlehnung an den zweiten kategorischen Imperativ Immanuel Kants entwickelte „Objektformel“ (Dürig, AöR 81 [1956], 117 [127]; ders., in: Maunz/Dürig, GG, Bd. 1, Art. 1 I, Rdnr. 28, 34 [Erstb.]) „Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“) in st. Rspr. allerdings rasch dahingehend verallgemeinert, dass eine Verletzung der Menschenwürde auch dann anzunehmen sei, wenn der einzelne zum bloßen Objekt des Staates degradiert werde („Objektformel“). Eine solche Behandlung verletze den einem Menschen in der Gemeinschaft zukommenden „sozialen Wertund Achtungsanspruch“ (vgl. BVerfGE 9, 89 [95] – Untersuchungshaft; 27, 1 [6] – Mikrozensus; 45, 187 [228] – lebenslange Freiheitsstrafe I; 50, 166 [175] – Ausweisung aus generalpräventiven Gründen; 63, 332 [337] – Auslieferung; 72, 105 [116] – lebenslange Freiheitsstrafe II; 96, 375 (399) – Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation). - Das Reaktive der Dürig´schen Objektformel auf den nationalsozialistischen Terror und seine entmenschlichende Verobjektivierung des Individuums ist in dieser Umschreibung mit Händen zu greifen. - Freilich ist der Einzelne nicht selten Objekt sowohl der Verhältnisse und gesellschaftlichen Entwicklungen als auch des Rechts, dem er sich häufig ohne Rücksicht auf seine eigenen Interessen zu beugen hat (BVerfGE 30, 1 [25] – erste Abhörentscheidung). Allein darin, so das BVerfG, kann eine Verletzung der Menschenwürde jedoch nicht gefunden werden. Eine „schlichte“ Objektstellung reicht deshalb nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 1 I GG zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht fordert vielmehr, dass der Mensch „einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt“ (BVerfGE 30, 1 [26] – erste Abhörentscheidung – Hervorhebung nur hier). Dies soll dann der Fall sein, wenn die Behandlung seitens der öffentlichen Gewalt die Achtung des Werts vermissen lässt, der jedem 60 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Menschen um seiner selbst willen zukommt. In diesem Eigenwert, in dieser Selbstzweckhaftigkeit des Menschen nun aber liegt zugleich das Vorverständnis, dessen es bedarf, um einen Würdeverstoß vom Verletzungsvorgang her überhaupt erst identifizieren zu können. - Die Umschreibungen der Objektformel bleiben damit vage und unbestimmt und können deshalb lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle einer Menschenwürdeverletzung möglicherweise zu finden sind (BVerfGE 30, 1 [25] – erste Abhörentscheidung). Was die Achtung der Würde in concreto erfordert, kann nach Ansicht des Gerichts zudem nicht völlig losgelöst von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und Anschauungen betrachtet werden (vgl. BVerfGE 45, 187 [228] – lebenslange Freiheitsstrafe I; 96, 375 [399 f.] – Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation). - Um den Geltungsbereich des Art. 1 I GG weiter zu restringieren, hat das BVerfG in seiner ersten Abhörentscheidung zudem darauf abgestellt, ob „in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen liegt.“ Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand müsse, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, deshalb Ausdruck der Verachtung des Werts, der dem Menschen kraft seines Personseins zukomme, in diesem Sinne eine „verächtliche Behandlung“ sein (BVerfGE 30, 1 [26] – Hervorhebungen nur hier). In späteren Entscheidungen hat das Gericht diese Einschränkungen allerdings nicht wieder aufgegriffen. Mit Recht ist ihnen entgegengehalten worden, dass es für das Vorliegen einer Würdeverletzung nicht darauf ankommen kann, ob sich der Störer auf für sich genommen sachgerechte, d.h. willkürfreie Handlungsmotive (z.B. die Entwicklung neuer therapeutischer Verfahren) zu berufen vermag bzw. ob der Eingriff in die Menschenwürde in verächtlicher Art und Weise oder mit Respekt erfolgt. Nicht die subjektiven Intentionen des Handelnden können maßgebend sein für das Vorliegen einer Würdeverletzung, sondern allein die Wirkung seines Handelns auf den Würdeträger. - Aufgrund ihrer Inhaltsleere läuft die Objektformel deshalb Gefahr, „als beliebig einsetzbare Floskel“ (Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rdnr. 14) subjektiver Präferenzentscheidungen missbraucht zu werden. Der hierin zum Ausdruck kommende Vorwurf ist an sich nicht neu, sondern wurde schon früh gegen ihr „philosophisches Vorbild“ – den zweiten kategorischen Imperativ – erhoben.1 Die Objektformel taugt deshalb lediglich Berühmt insoweit die Kritik Arthur Schopenhauers: „Dieser von allen Kantianern so unermüdlich nachgesprochene Satz, `man dürfe den Menschen immer nur als Zweck, nie als Mittel behandeln´, ist zwar ein bedeutend klingender und daher für alle die, welche gern eine Formel haben mögen, die sie alles ferneren Denkens überhebt, überaus geeigneter Satz; aber bei Lichte besehen ist es ein höchst vager, 1 61 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 „zur Identifizierung evidenter Menschenwürdeverletzungen herkömmlicher Art, (weist) aber sonst Identifikationsschwächen auf“ (Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, Art. 1 I Rdnr. 53). - Nicht zuletzt um diese Inhaltsarmut zu kompensieren, hat es sich im rechtswissenschaftlichen Schrifttum etabliert, den Menschenwürdebegriff in Fallgruppen zu untergliedern, in denen typischerweise – wenn auch nicht stets – zumindest der Verdacht einer Objektstellung des Menschen naheliegen könnte. - Gemeinhin werden dabei folgende Gruppen unterschieden: 1. Achtung und Schutz der körperlichen Integrität, 2. Sicherung einer Lebensgrundlagen, 3. Gewährleistung (Willkürfreiheit), der menschengerechten elementaren Rechtsgleichheit 4. Wahrung der personalen Identität. ▪ Beispiele: - erniedrigende (70 Stockhiebe für vorschriftswidrigen Gebrauch eines Handys durch einen saudi-arabischen Offizier an Bord eines Flugzeugs; allg. Strafen der Scharia) oder nicht schuldangemessene Strafen („three strikes and you´re out“Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten); - Folter bzw. Androhung von Folter zur Erzwingung einer Aussage (vgl. Art. 104 I 2 GG); - Lebenslange Freiheitsstrafe ohne Chance auf Resozialisierung eines resozialisierungswilligen Täters (BVerfGE 45, 187 ff.); - Todesstrafe (vgl. Art. 102 GG – str.); - Fremdnützige Menschenversuche ohne Einwilligung des einwilligungsfähigen Betroffenen (Problembereiche: Fremdnützige Forschung am Nicht-Einwilligungsfähigen, Stammzellforschung am Embryo); unbestimmter, seine Absicht ganz indirekt erreichender Ausspruch, der für jeden Fall seiner Anwendung erst besonderer Erklärung, Bestimmung und Modifikation bedarf, so allgemein genommen aber ungenügend, wenigsagend und noch dazu problematisch ist“ (in: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, hrsg. v. Arthur Hübscher, 3. Aufl., Wiesbaden 1972, S. 412). 62 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 - (Direkt-)Übertragung einer Hinrichtung im Fernsehen (jedenfalls soweit dies ohne Zustimmung des Betroffenen erfolgt); - Reproduktionsmedizinische Maßnahmen als Verstoß gegen die Menschenwürde? (Laut Dürig ja, nach heute herrschender Anschauung aber wohl kaum – wessen Würde sollte tangiert sein?); - Klonen als Verstoß gegen die Menschenwürde (wessen Würde) ?; ggf. ergänzen: mwN Erich/Wittek, „Strafund verfassungsrechtliche Gedanken zum Verbot des Klonens von Menschen“, MedR 2003, 258 - Tötung von unbeteiligten Passagieren in einem zur Waffe missbrauchten Passagierflugzeug durch Abschuss des Flugzeuges (s. unten sub 2.)?; - willkürliche Gesetzesanwendung; - Peep-Show, Prostitution, Big Brother, Schockwerbung, „Sterben vor laufender Kamera“, „Ultimate Fighting Championship“, Laserdome-Spiele: Würdeverstöße gegen sich selbst oder gegen eine Gattungswürde („Menschheitswürde“)? s. Lösungshinweise; - unfreiwilliger „Lügendetektortest“ (vgl. BGHSt 44, 308 ff.; NStZ 2011, 474 f.); - Heimliches Abhören ohne Wohnraumüberwachung? - Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 I i.V.m. Art. 20 I GG (sichert jedem Hilfsbedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“ (BVerfGE 125, 175 – Hartz IV – hierzu auch Skript Staatsorganisationsrecht/Staatsrecht I sub § 2 E.). Benachrichtigung; akustische „Das Recht des Menschen ist auf dieser Erden, da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein, teilhaftig aller Lust der Welt zu werden, zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein, das ist des Menschen nacktes Recht auf Erden.“ (Kurt Weil/Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper, 1928 – erstes Dreigroschenfinale) ▪ „nachwirkender“ (postmortaler) Würdeschutz: ➢ Locus classicus für die Anerkennung des postmortalen Würdeschutzes: BVerfGE 30, 173 (194) – Mephisto (aus jüngerer Zeit vgl.: BVerfG-K, NJW 1994, 783 [784] – Leichenöffnung; BVerfG-K, 63 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 NJW 2001, 594 – Willy Brandt-Gedenkmünze; BVerfG-K, NJW 2001, 2957 [2958] – Wilhelm Kaisen). ➢ Auch wenn hinsichtlich der dogmatischen Fundierung dieser Rechtsfigur nach wie vor Einiges im Dunkeln liegt, hat sie auch in der Fachgerichtsbarkeit und im rechtswissenschaftlichen Schrifttum breite Anerkennung erfahren. ➢ Der Würdeschutz wird über den Todeszeitpunkt hinaus erstreckt, um so einen „würdevollen“ Umgang mit den sterblichen Überresten des Verstorebenen sowie dem seinem Andenken in der Öffentlichkeit (= postmortaler Persönlichkeitsschutz) zu gewährleisten. Genau genommen handelt es sich hierbei nicht um eine „Nachwirkung“ des Würdeschutzes über den Zeitpunkt der Rechtssubjektivität des einst Lebenden hinaus; der Verstorbene ist vielmehr selbst als Träger des Art. 1 I GG anzusehen, dem auch im Zustand des Nicht-mehrlebendig-Seins ein – freilich stetig verblassender – Würdeschutz zu Teil wird (str. – a.A.: rein objektiv-rechtlicher Schutz). Denn im Gegensatz zur Lebensschutzgarantie sowie den anderen Freiheitsrechten ist die Würde als „Statusrecht“ nicht auf die Existenz eines noch lebenden oder handlungsfähigen Menschen angewiesen. Auch der tote Mensch kann vielmehr – dies belegen schon die zahlreichen Beispiele aus der Judikatur – Gegenstand einer Verächtlichmachung oder Instrumentalisierung (etwa seines Leichnams zu Forschungs- oder medizinischen Zwecken) werden. c) „Antastbarkeit“ der Menschenwürde? ▪ Art. 1 I GG erklärt die Menschenwürde für „unantastbar“. ▪ Dieses Unantastbarkeitspostulat ist wörtlich zu verstehen: Es untersagt jede Beeinträchtigung der Menschenwürde und errichtet mithin eine verfassungsrechtliche Tabuzone für die staatlichen Organe (Art. 1 I 2 GG). ▪ Anders als bei den „nachfolgenden Grundrechten“ (Art. 1 III GG), die entweder unter einem expliziten Gesetzesvorbehalt stehen oder ihre Grenze in „verfassungsimmanenten Schranken“ finden, ist eine verfassungsrechtliche Eingriffsrechtfertigung bei Art. 1 I GG deshalb nicht möglich. Die Würdegarantie wirkt mithin absolut und nicht nur relativ: Jede Würdebeeinträchtigung stellt deshalb zugleich einen nicht zu rechtfertigenden Würdeverstoß dar; das „Spiel von Grund und Gegengrund“ (Alexy), die Abwägung mit kollidierenden grundrechtlich geschützten Interessen oder sonstigen Rechtsgütern von Verfassungsrang – unter Einschluss der Würde eines Opfers („Würde des Täters gegen Würde des Opfers“-Konstellationen) – entfällt also (h.M., aber nicht unstr.). ▪ Eine solche Schlussfolgerung wird nicht nur vom Wortlaut des Art. 1 I 1 GG („unantastbar“) nahegelegt. Sie folgt zudem aus der verfassungssystematischen Erwägung, dass Art. 79 III GG die in Art. 1 GG niedergelegten Grundsätze – unter ihnen die Menschenwürdegarantie – parlamentsbeschlossenen Verfassungsänderungen entzieht; a maiore ad minus kann eine 64 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Beschränkung des Würdeschutzes dann allerdings auch nicht durch ein lediglich „verfassungsimmanente Schranken“ konkretisierendes einfaches Gesetz erfolgen. ▪ Das Unantastbarkeitsgebot, die Platzierung des Art. 1 I GG an der Spitze des Grundgesetzes sowie seine Inbezugnahme durch die Veränderungssperre (Art. 79 III GG) weist die Würde zugleich als den „obersten Rechtswert“ der Verfassung, als den „Mittelpunkt“ ihres Wertesystems aus, auch wenn im Übrigen dem Grundrechtskatalog eine Rechtsnormenhierarchie fremd ist. Fall: K beantragt die Erteilung einer Erlaubnis gem. § 33a GewO zum Betrieb einer sog. Peep-Show. Die Behörde lehnt die Erteilung der beantragten Erlaubnis mit der Begründung ab, die Lage des Betriebs in einer bevorzugten Einkaufsstraße trage unter Verstoß gegen § 33a II Nr. 1 GewO dazu bei, dass die betreffende Straße ihren bisherigen überwiegenden Nutzungszweck entfremdet werde. Ferner lasse der Betrieb i.S.d. § 33a II Nr. 3 GewO eine erhebliche Belästigung der Allgemeinheit befürchten und schließlich sei die Zurschaustellung des völlig entblößten weiblichen Körpers i.S.d. § 33a II Nr. 1 GewO sittenwidrig. Hat K einen Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis? (Vgl. BVerwGE 64, 274 ff.) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 14) K hat einen Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis zur Schaustellung von Personen gem. § 33a GewO, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm erfüllt sind (präventives Verbot mit Genehmigungsvorbehalt). Vorliegend stellt sich die Frage, ob – wie die Behörde behauptet – die Zurschaustellung des völlig entblößten weiblichen Körpers i.S.d. § 33a II 1 GewO „sittenwidrig“ ist. In Anknüpfung an die „Ausstrahlungslehre“ des BVerfG (Lüth-)Entscheidung, hat das BVerwG diesen Begriff im Lichte des Art. 1 I 1 GG (Menschwürdegarantie) ausgelegt. Es kam zu dem Ergebnis, dass die kommerzialisierende Zurschaustellung des eigenen, entblößten weiblichen Körpers eine Preisgabe der eigenen Menschenwürde der Frau darstelle, was mit Art. 1 I GG nicht vereinbar sei. Denn – so das Gericht – die Würde des Menschen sei unveräußerlich; ihr Träger könne nicht auf sie verzichten. Zwar hat das BVerwG insofern Recht, als die Würde des Menschen, die diesem Kraft seines Menschseins ohne Eigen- oder Vorleistung zusteht, unverlierbar ist. Dementsprechend kann man tatsächlich nicht auf seine Würde verzichten. Allerdings geht es in der vorliegenden Konstellation auch nicht um einen solchen Verzicht, sondern um die Frage, worin ein Würdeverstoß liegt. Würdeschutz ist – dies folgt aus dem rechtsphilosophischen Fundament der Würdegarantie – letztlich Autonomieschutz; der Einzelne soll nicht zu einem autonomielosen, reinen Objekt der gewillkürten Interessen Dritter bzw. des Staates degradiert werden. Zur Autonomie gehört es aber eben auch, selbst zu definieren, was die eigene Würde in der sozialen Interaktion mit den Rechtsgenossen ausmacht. Sofern sich eine Frau freiwillig dazu entschließt, ihr Geld durch das Entblößen ihres Körpers zu verdienen, verwirklicht sie gerade die ihr Kraft ihres Menschseins zustehende Autonomie, ohne dadurch Dritte zu 65 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 schädigen. Dies kann kein Würdeverstoß (gegen sich selbst) darstellen, sondern ist vielmehr als Verwirklichung der eigenen Würde zu begreifen. Nach richtiger Ansicht konnte deshalb das in Rede stehende Verhalten nicht als sittenwidrig i.S.d. § 33a II 1 GewO qualifiziert werden. Zur Vertiefung: LG Frankfurt, BeckRS 2005, 01796 (Fall Daschner); Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, DÖV 2009, 694 ff.; Hufen, Die Menschenwürde, Art. 1 I GG, JuS 2010, 1 ff.; Bautze, Die Menschenwürde als Ware – Grenzen des selbstbestimmten Umgangs mit Art. 1 I GG, Jura 2011, 647 ff. (zusammenfassend und instruktiv, i. Erg. aber nicht überzeugend); ggf. ergänzen: leichte Lektüre, aber durchaus auch interessant für junge Studierende zur Thematik: Schirach, „Die Würde ist antastbar“, München 2017 66 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 2. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) Aufgabe: Diskutieren Sie die Verfassungsmäßigkeit des § 218a StGB am Maßstab des Art. 2 II 1 GG. (ggf. hier neue Literatur ergänzen, insb. durch Abschaffung von § 219a StGB zum Juli 2022 sehr aktuell, Stand 20.08.2022, keine hilfreiche Literatur gefunden, ggf. Frommel, "Weg mit §§ 218, 219a StGB"?, NK 2021, 474 a) Verhältnis Physis/Dignitas ▪ Physis (Körperlichkeit) und Dignitas (Würde) stehen in einem besonders engen Verhältnis. Denn ohne körperliches Substrat und dessen Unversehrtheit ist menschliches Leben und damit Würde nicht denkbar. Würde setzt mithin die Existenz eines (im Regelfall lebenden – s.o. sub 1.) Menschen voraus (Leben als „vitale Basis“ der Menschenwürde). ▪ Dessen ungeachtet kann nicht jeder Eingriff in das Leben und die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) zugleich einen Würdeverstoß darstellen. Dies folgt zum einen aus dem Umstand, dass beide Grundrechte unterschiedliche Schutzgehalte (Würde = „modales“ Grundrecht, das die Verletzung vom Verletzungsvorgang her betrachtet/körperliche Unversehrtheit = ergebnisorientiertes Grundrecht) aufweisen. Zudem resultiert dies aus der Existenz des einfachen Gesetzesvorbehalts in Art. 2 II 3 GG, der sich auch auf die grundrechtlichen Verbürgungen „Leben“ und „körperliche Unversehrtheit“ in Art. 2 II 1 GG bezieht und damit deutlich zum Ausdruck bringt, dass staatliche Eingriffe in diese Grundrechte prinzipiell denkbar sind und auch gerechtfertigt sein können. Oder anders formuliert: Es gibt Formen der Beeinträchtigung des Lebens (= Tötung) und der körperlichen Unversehrtheit, die nicht zugleich einen Verstoß gegen die unantastbare Würdegarantie darstellen (und damit nicht a priori unzulässig sind). b) Recht auf Leben aa) Schutzbereich ▪ Persönlicher Schutzbereich: ➢ Am Beginn des Lebens ist von einer Kongruenz des personalen Schutzbereichs von Art. 2 II 1 GG und Art. 1 I GG (s.o. sub 1.) auszugehen (str.). Laut BVerfG ist der nasciturus (Embryo/Fetus) „jedenfalls“ ab der Nidation bzw. Individuation Träger dieses Grundrechts (ca. 14 nach Befruchtung). Es entwickelt sich ab diesem Zeitpunkt „als Mensch“ und nicht „zum Menschen“. Da sich das BVerfG insofern auf das Individualitäts-, Kontinuitäts- und Potenzialitätsargument stützt (KIP-Argumente), spricht viel für die Annahme, dass der Grundrechtsschutz auch auf die Phase davor 67 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 (d.h. auf den Zeitpunkt ab der Befruchtung der Ei- durch die Samenzelle) zu erstrecken ist. ➢ Das Leben endet mit dem Tod. Nach herrschender Ansicht, die durch den Gesetzgeber im § 3 II Nr. 2 TPG bestätigt worden ist, ist dabei auf das Hirntodkriterium abzustellen. Ein Mensch ist danach tot, wenn die Gesamthirnfunktionen irreversibel ausgefallen sind. Nach anderer Ansicht (Höfling) ist insoweit auf das Herz-Kreislauf-Versagen abzustellen. Einen Lebensschutz nach dem Tode gibt es nicht. ▪ Sachlicher Schutzbereich: ➢ Geschützt wird die Unversehrtheit des Lebens. Leben = biologischphysische Existenz. ➢ Geschützt wird nach herrschender Ansicht zudem nur das Recht auf Leben, d.h. eine positive Gewährleistung. Nicht umfasst hingegen ist das Recht auf Selbsttötung gleichsam als negative Grundrechtsdimension. Dieses Recht fließt allerdings aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG – s. dazu unten sub II. 2.). bb) Eingriff ▪ Greift der Staat in das Recht auf Leben ein (bzw. greift ein Privater in das Recht auf Leben über), dann hat dies den Tod des Grundrechtsträgers zur Folge. Der Eingriff (Übergriff) ist deshalb stets mit der Tötung des Grundrechtsträgers gleichzusetzen. Aus diesem Grunde hat das BVerfG für das Grundrecht auf Leben die Dogmatik der „eingriffsgleichen Grundrechtsgefährdung“ entwickelt, weshalb bereits die Gefahr, dass es aufgrund einer staatlichen Maßnahme zur Tötung eines Grundrechtsträgers kommen könnte, ausreicht, um einen Eingriff zu bejahen. An die Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts sind dabei keine überhöhten Anforderungen zu stellen. ▪ Beispiele für staatliche Eingriffe: ➢ „finaler Rettungsschuss“; ➢ Todesstrafe; ➢ Abschiebung, falls der sichere Tod droht (Problem im Verhältnis zur USA → Todesstrafe). ▪ Beispiele für private Übergriffe: ➢ Vorsätzliche oder fahrlässige Tötung eines anderen (§§ 211, 212, 222 StGB); ➢ (Tödliche) Teilnahme am Straßenverkehr; 68 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ➢ (Vernichtende) Forschung an Embryonen; ➢ Betrieb gefährlicher Anlagen (AKW!); ➢ Abtreibung; ➢ (Aktive oder passive) Sterbehilfe. cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ▪ Eingriffe in das Recht auf Leben können gem. Art. 2 II 3 GG „aufgrund eines Gesetzes“ gerechtfertigt sein. ▪ Ob der Höchstrangigkeit des Grundrechts auf Leben (neben der Würdegarantie dürfte es sich um das höchstrangige Rechtsgut des Grundrechtskatalogs handeln – a.A. noch Friedrich Schiller: „Das Leben ist der höchsten Güter nicht.“ [aus Braut von Messina]) kann ein solcher Eingriff stets nur durch ein formelles Gesetz (d.h. vom Parlament beschlossenes Gesetz) gerechtfertigt sein. Dieses Gesetz muss seinerseits strengsten Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügen (auch zum Schutz von Sachwerten [„Pinakothek“-Bsp. von Lerche]?). In seiner LuftSiG-Entscheidung hat das BVerfG zudem Art. 1 I GG als Schranken-Schranke für das Recht auf Leben herangezogen. ▪ Hauptanwendungsfall des Rechts auf Leben ist der sog. polizeiliche Rettungsschuss (finaler Rettungsschuss). Hierzu finden sich unterschiedliche Regelungen in den Polizeigesetzen der Länder (vgl. z.B. § 68 PolG BW). Im Grundsatz besteht Einigkeit, dass ein solcher Rettungsschuss als ultima ratio in Betracht kommt, wenn er aus Sicht der Polizei die einzig verbleibende Möglichkeit darstellt, um den Angriff eines Störers (z.B. Entführers) auf das Leben und die körperliche Unversehrtheit eines Opfers (z.B. Geisel) zu beenden. Ein solcher tödlicher Rettungsschuss stellte im Übrigen keinen Verstoß gegen die Würdegarantie des Störers dar, da er nicht als reines Objekt oder reines Mittel zur Erreichung eines anderen Zwecks (Rettung der Geisel) eingesetzt wird. Als Störer hat er das Geschehen in der Hand. Von daher kann er im Regelfall die Situation durch Beendigung seines Angriffs auf die Rechtssphäre des Opfers beenden. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist es Gott sei Dank bislang nur zu sehr wenigen polizeilichen Todesschüssen gekommen. In der Polizeirechtslehre ist im Übrigen umstritten, ob alle Polizeigesetze der Länder hierfür eine hinreichend dichte Befugnisnorm zur Verfügung stellen. (Nota bene: Typischerweise handelt der Staat in den vorstehend skizzierten Konstellationen zur Erfüllung seiner Schutzpflicht für Leib und Leben des Opfers. Er kann aber – was für die Schutzpflichtenkonstellation typisch ist – seiner Pflicht nur dadurch nachkommen, dass er zugleich in die Grundrechtssphäre eines anderen – des Störers – eingreift. Im Hinblick auf den Störer stellt sich das staatliche Handeln deshalb als 69 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Eingriff, im Hinblick auf das Opfer als Verwirklichung der Schutzpflicht dar. Oder anders formuliert: Durch den Eingriff (Tötung) kommt der Staat seiner Schutzverpflichtung gegenüber dem Opfer nach. ▪ Ob daneben ein „abgestufter Lebensschutz“ (etwa in Bezug auf Frühformen menschlichen Lebens) zulässig ist, ist streitig, i. Erg. jedoch abzulehnen. Hierin läge ein eklatanter Verstoß gegen die in Art. 2 II 1 GG zum Ausdruck kommende Gleichwertigkeit aller Lebenden. c) Recht auf körperliche Unversehrtheit Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit steht in einem engen thematischen Zusammenhang mit dem Recht auf Leben („Durchgangsstadium“). Auch weist das Recht auf körperliche Unversehrtheit enge Bezüge zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) auf. aa) Schutzbereich ▪ Persönlicher Schutzbereich: Deckt sich mit demjenigen des Rechts auf Leben bzw. der Würdegarantie. ▪ Sachlicher Schutzbereich: ➢ Geschützt wird die körperliche (physische) Integrität des Menschen vor Substanzverletzungen (insbes. in Form des Durchdringens der „äußeren Hülle“ [Haut]) und der menschlichen Gesundheit (z.B. vor der Verabreichung von Wirkstoffen). ➢ Geschützt wird auch die Entscheidung über das äußere Erscheinungsbild des Menschen (Haarlänge, Bartwuchs – a.A. BVerwG, NVwZ-RR 2014, 767 ff. – Haartracht von Soldatinnen und Soldaten). ➢ Geschützt wird nach h.A. zudem das Recht, über Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit zu entscheiden. Die Einwilligung des Patienten in eine Operation oder sonstige medizinische Handlung fließt deshalb aus Art. 2 II 1 Alt. 2 GG (gleichsam als negative Dimension der körperlichen Unversehrtheit) und nicht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. ➢ Nicht geschützt wird allerdings das (reine) psychische Wohlbefinden, es sei denn, die Beeinträchtigung schlägt in eine psycho-somatische Störung (Gesundheitsbeeinträchtigung) um. 70 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 bb) Eingriff ▪ Typische Eingriffsformen des Staates sind: ➢ Entnahme von Blut oder genetischem Material (§ 81a StPO); ➢ gesetzliche Anordnung des Impfzwangs; ➢ dienstliche Anordnungen (Polizei/Bundeswehr) zur Haar- und Barttracht (a.A. BVerwG, NVwZ-RR 2014, 767 ff.: „nur“ über Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG geschützt); ➢ Foltermaßnahmen. ▪ Private Übergriffe können z.B. in Folgendem bestehen: ➢ ärztliche (Heil-)Eingriffe; ➢ emittierende Anlagen. cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung gelten die Ausführungen zu Art. 2 II 1 Alt. 1 GG (Recht auf Leben) entsprechend. Da Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit zumeist nicht irreversibel sind, sind die Verhältnismäßigkeitsanforderungen nicht ganz so streng wie beim Recht auf Leben. Dessen ungeachtet sind auch hier – je nach Einzelfall – gewichtige Gründe erforderlich, um einen solchen Eingriff zu rechtfertigen (z.B. im Hinblick auf einen gesetzlich angeordneten Impfzwang, der ggf. zu fatalen Impfschäden führen könnte). Fall In Reaktion auf die Vorfälle des „11. Septembers“ verabschiedet der Deutsche Bundestag das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG). § 14 III dieses Gesetzes ermächtigt den Verteidigungsminister u.a. dazu, bei der Zweckentfremdung eines Luftfahrzeugs als Waffe, durch die das Leben von Personen am Boden bedroht sein könnte, die unmittelbare Anwendung von Waffengewalt gegen das Luftfahrzeug anzuordnen. Steht diese Regelung mit Art. 2 II 1 Alt. 1 GG in Einklang? (vgl. BVerfGE 115, 118 ff.) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 15) Das BVerfG maß § 14 III LuftSiG am Maßstab des Art. 2 II 1 GG (Recht auf Leben). Da § 14 III LuftSiG dem Verteidigungsminister die Befugnis einräumt, gegen ein (auch mit unbeteiligten Passagieren besetztes) Luftfahrzeug Waffengewalt einzusetzen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode der Piloten und Passagiere führen wird, ist der Schutzbereich des Art. 2 II 1 GG thematisch berührt. Da das Gesetz mit Inkrafttreten eine Befugnis zum Abschuss (und damit sehr wahrscheinlich zur Tötung) von Menschen bereithält, die Tötung eines Menschen jedoch irreversibel ist, genügt nach der Dogmatik der „eingriffsgleichen Grundrechtsgefährdung“ vorliegend bereits die nicht völlig auszuschließende Wahrscheinlichkeit, dass der Verteidigungsminister in 71 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Zukunft von dieser Befugnisnorm Gebrauch machen könnte. Von daher stellt sich die Frage, ob es sich bei Art. 2 II 1 GG um eine verhältnismäßige Bestimmung handelt (sie mithin verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann). Das BVerfG vertrat insoweit (die für sich genommen zutreffende) These, dass auf der SchrankenSchranken-Ebene Art. 1 I GG eine für den Staat nicht überschreitbare Grenze bei der Tötung von Menschen definiere. Da § 14 III LuftSiG aufgrund der Weite seines Tatbestands auch die Tötung unschuldiger Passagiere ermöglicht, nahm das BVerfG eine verfassungskonforme Reduktion der Norm vor: Denn die Tötung unschuldiger Passagiere degradiere diese zu einem reinen Objekt, um ein anderes Ziel – den Schutz von Personen am Boden – zu erreichen. Die Bestimmung dürfe sich deshalb nur auf solche Konstellationen beziehen, in denen es lediglich zur Tötung der Störer (etwa der Entführer eines ansonsten unbemannten Luftfahrzeuges) komme. Die Argumentation des BVerfG ist nicht in jeder Hinsicht befriedigend und erfolgt in der Entscheidung recht lapidar. So ist der Instrumentalisierungsthese des Gerichts entgegengehalten worden, dass der Staat beim Abschuss eines Luftfahrzeuges gerade nicht seine Insassen zu einem bestimmten Zweck instrumentalisiere, sondern die mit dem Abschuss einhergehende Tötung aus seiner Sicht lediglich eine ungewollte, wenn auch unvermeidliche Nebenfolge darstelle. Andere Ansätze haben deshalb – allerdings gleichfalls nicht in jeder Hinsicht überzeugend – versucht, diese „9/11“-Konstellation unter Berufung auf den ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Grundsatz des Staatsnotstandes bzw. eine mutmaßliche Einwilligung der Passagiere an Bord zu lösen. Dem BVerfG ist immerhin zugutezuhalten, dass es fest am Grundsatz „Leben kann nicht gegen Leben“ bzw. „Würde kann nicht gegen Würde“ abgewogen werden“ festhält. Das Lebensgrundrecht zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass es jedem dieses Recht zubilligt, auch wenn klar ist, dass er/sie in Bälde (etwa in wenigen Sekunden) sterben wird. Bis zu diesem Zeitpunkt genießt er/sie jedoch das gleiche Lebensrecht wie Personen, die noch eine lange Lebensdauer vor sich haben. Von daher handelt es sich bei dieser Konstellation um ein echtes Dilemma, das aufzulösen schwerfällt. Das BVerfG hat deshalb letztlich den Ausweg über das Strafrecht gesucht: So stellte es in der LuftSiG-Entscheidung fest, dass der Pilot, der sich dennoch für den Abschuss des Passagierflugzeugs entschließt, um weitere Schäden bzw. Verluste von Menschenleben am Boden zu verhindern, dafür sehr wahrscheinlich strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden kann (wegen der Figur des „entschuldigten Notstands“). Der Pilot handelt dementsprechend nicht schuldhaft, aber immerhin doch rechtswidrig. Damit verlagert das BVerfG das Problem allerdings auf eine einzige Person, von der in einer solchen extremen Krisensituation möglicherweise Wohl und Wehe der gesamten Nation abhängt. Der Verteidigungsminister jedenfalls dürfte den Abschuss nicht anordnen. Aufgabe: Zur Vertiefung: Linke, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 766 ff.; Linke, BVerfGE 96, 375 – „Kind als Schaden“, ebd., S. 630 ff. 72 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Zur Vertiefung (Art. 2 II 1 GG): Augsberg, Grundfälle zu Art. 2 II 1 GG, JuS 2011, 28 ff., 128 ff.; Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 147. II. Allgemeine Freiheitsrechte 1. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) Art. 2 I GG lautet: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ a) Schutzbereich aa) Persönlicher Schutzbereich ▪ Jedermannsgrundrecht („jeder“) ▪ Schutz von Ausländern (laut BVerfG auch EU-Ausländer), soweit sich diese nicht auf Deutschengrundrechte (z.B. Art. 8, 12 GG) berufen können. bb) Sachlicher Schutzbereich ▪ Die Formulierung „Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“ legt eine persönlichkeitszentrierte Sichtweise des Art. 2 I GG nahe (Peters: Schutz eines „Persönlichkeitskerns“). ▪ BVerfG erteilt dieser Sichtweise in der sog. Elfes-Entscheidung (BVerfGE 6, 32 ff.) indes eine deutliche Absage und interpretiert Art. 2 I GG als „allgemeine Handlungsfreiheit“. ▪ Arg. (u.a.): Herrenchiemsee-Entwurf des Art. 2 I GG: „Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten, alles zu tun, was anderen nicht schadet.“ ▪ Geschützt wird deshalb (Beispiele): ➢ Teilnahme am Straßenverkehr; ➢ Fahren ohne Gurt und Helm; ➢ Taubenfüttern im Park (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 28.5.2014, Az. 27.5.2014, juris); 73 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ➢ Reiten im Wald (BVerfGE 80, 64 ff. – a.A. Dieter Grimm in seinem Sondervotum: „geschützt wird nur engerer Kern der Persönlichkeit“); ➢ Privatautonomie (Vertragsfreiheit – Problemfälle: Bürgschaften unter Verwandten und Ehegatten, Diskriminierungsverbote – AGG); ➢ Schutz vor Zwangsmitgliedschaften (vor allem in berufsständischen Kammern; str. – a.A. Art. 9 I GG); ➢ Konsum von Alkohol, (Selbstgefährdungen); Tabak, Drogen sowie Extremsport ➢ Ausreisefreiheit von Deutschen (ius emigrandi – str. a.A. Art. 11 I GG); ➢ Schutz gegen Steuern, sonstigen Abgaben oder gesetzlich angeordneten Entgelten (vgl. BVerfG, NVwZ 2006, 201 – bayerisches Teilnahmeentgelt); ➢ Art der Rechtschreibung (für Schulbereich str. – offen gelassen von BVerfGE 98, 218 [216]). b) Eingriff ▪ Jede belastende staatliche Maßnahme, der mehr als nur ein reiner „Belästigungscharakter“ zukommt. ▪ „Adressatenstellung“ im Verwaltungsprozessrecht (vgl. § 42 II VwGO). c) Rechtfertigung ▪ „Schrankentrias“ des Art. 2 I GG. ▪ „verfassungsmäßige Ordnung“: ➢ ≠ Grundentscheidungen der Verfassung (etwa i.S. der „FDGO“ – vgl. Art. 9 II, 20 III GG); ➢ = verfassungsgemäße Ordnung, d.h. jedes Gesetz, das in formeller (Kompetenz, Verfahren etc.) und materielle (Bestimmtheit, Verhältnismäßigkeit etc.) Hinsicht mit der Verfassung in Einklang steht. ▪ Ergo: Weitem Schutzbereich (allg. Handlungsfreiheit) korrespondiert weite Beschränkungsmöglichkeit (jedes verfassungsgemäße Gesetz). ▪ „verfassungsmäßige Gesetzesvorbehalt. Ordnung“ 74 fungiert dabei als allgemeiner Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ▪ „Rechte anderer“ und das „Sittengesetz“ haben daneben keine praktische Relevanz (mehr), da sie vom weiten Topos der „verfassungsmäßigen Ordnung“ konsumiert werden. ▪ Nicht nur das jeweilige Gesetz selbst, sondern auch seine Anwendung und Auslegung durch die Gerichte setzt der allgemeinen Handlungsfreiheit Grenzen. Die Anwendung freiheitsbeschränkender Gesetze durch die Gerichte steht ihrerseits nur solange mit Art. 2 I GG i.V.m dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) in Einklang, wie sie sich in den Grenzen vertretbarer Auslegung und Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung bewegt. Die Auslegung des einfachen Rechts, die Wahl der hierbei anzuwendenden Methoden sowie seine Anwendung auf den Einzelfall sind Sache der dafür zuständigen Fachgerichte. Nur wenn die Gerichte hierbei Verfassungsrecht verletzen, kann das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde hin eingreifen. Das ist nicht schon dann der Fall, wenn eine Entscheidung am einfachen Recht gemessen objektiv fehlerhaft ist, sondern nur wenn sich die Auslegung in krassen Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen setzt und damit ohne entsprechende Grundlage im geltenden Recht Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt (vgl. BVerfGE 128, 193 ff. – Dreiteilungsmethode; BVerfG-K, Bschl. v. 24.9.2014 – 2 BvR 2782/10 = NJOZ 2015, 269 ff.). d) Konsequenzen der „Elfes“-Rechtsprechung ▪ Nahezu jedes menschliche Verhalten steht unter Grundrechtsschutz. ▪ Dies führt zu einer erheblichen Ausweitung der prozessualen Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde zu erheben (u.a. auch deshalb, weil schon fehlerhafter Gesetzesvollzug Grundrechtsträger in nicht gerechtfertigter Weise in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit zu tangieren vermag). ▪ BVerfG erweitert Prüfprogramm auf objektives Verfassungsrecht (Kompetenzen und Verfahren – Art. 70 ff. GG; = bedeutende „Schnittstelle“ zum Staatsorganisationsrecht!). ▪ Wegen der Weite des Schutzbereichs fungiert Art. 2 I GG nur noch als sog. (subsidiäres) Auffanggrundrecht (lex generalis). Es ist subsidiär zu den spezielleren Freiheitsverbürgungen (leges speciales) des Grundrechtskatalogs und kommt dementsprechend nur dort zur Anwendung, wo ein solches spezielleres Grundrecht thematisch nicht tangiert ist (d.h. der Schutzbereich nicht eröffnet ist). ▪ BVerfG hat die „Elfes“-Konstruktion später auf alle anderen Grundrechte erstreckt! => Jedes Grundrecht darf nur durch ein formell und materiell verfassungsgemäß zustande gekommenes Gesetz eingeschränkt werden. 75 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Fall: Wilhelm Elfes, Zentrumspolitiker und bis 1933 Polizeipräsident in Krefeld, war nach dem Krieg u.a. Oberstadtdirektor von Mönchengladbach und wurde 1947 als CDU-Mitglied in den Landtag von NRW gewählt. In den 50er Jahren bekämpfte er die Wiedervereinigungs- und Wehrpolitik Konrad Adenauers. Er unterhielt Kontakte zur SED, nahm an Tagungen u.a. in Paris, Budapest und Ostberlin teil und äußerte sich öffentlich im In- und Ausland. 1952 unterzeichnete und verlas er auf einem Kongress in Wien eine von „Delegierten der … DDR“ mitgetragene „Gesamtdeutsche Erklärung“, die u.a. dem Bonner Bemühen um Wiederbewaffnung Verfassungsbruch, eine „Politik der Gewalt und Kriegsvorbereitung“, letztlich eine ganz Europa bedrohende „Wiederbelebung des deutschen Militarismus“ vorwarf. 1953 wurde Elfes die Verlängerung seines Reisepasses unter Hinweis auf § 7 I lit. a PassG (heute § 7 I Nr. 1 PassG) verweigert, wonach der Pass zu versagen ist, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Passbewerber die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Nach erfolglosem Beschreiten des Rechtswegs zu den Verwaltungsgerichten wandte sich Elfes an das BVerfG. Wie hat dieses entschieden? (BVerfGE 6, 32 ff.) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 16) In der Elfes-Entscheidung stellten sich zwei Fragen: 1. Ist § 7 I 1 PassG hinreichend bestimmt und genügt er auch sonst den Anforderungen an eine verhältnismäßige Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit? 2. War die Anwendung dieser Bestimmung im konkreten Einzelfall gegenüber Elfes verhältnismäßig oder hat die Ausländerbehörde dabei grundrechtliche Wertungen verkannt? Zu 1.: Da das BVerfG in der Elfes-Entscheidung unter die allgemeine Handlungsfreiheit nicht nur den engeren Persönlichkeitskern subsumierte, sondern im Grundsatz jedes menschliche Verhalten, das nicht durch ein spezielles Grundrecht i.S.d. Art. 4 ff. geschützt wird, war auch die Ausreisefreiheit (ius emigrandi) von Herrn Elfes durch dieses Grundrecht umfasst. Allerdings wurde diese Ausreisefreiheit durch § 7 I 1 PassG beschränkt. Gestützt auf den Topos der „verfassungsmäßigen Ordnung“ (vgl. Art. 2 I GG) erachtet das BVerfG solche Beschränkungen als verfassungskonform, wenn es sich um ein in formeller und materieller Hinsicht verfassungsgemäß zustande gekommenes Gesetz handelt. Für das Passwesen besitzt der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz (Art. 73 I Nr. 3 GG). Auch ist § 7 I 1 PassG in einem ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen. In materieller Hinsicht stellte sich die Frage, ob die Bestimmung hinreichend bestimmt ist. Dies wurde vom BVerfG – wie so häufig – mit dem Argument bejaht, die Bestimmung sei zumindest interpretationsoffen. Auch verfolgt sie einen legitimen Zweck, ist zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich und im Übrigen verhältnismäßig (nicht zuletzt aufgrund ihrer Interpretationsoffenheit). Auf der abstrakten Ebene handelt es sich bei § 7 I 1 PassG deshalb um eine 76 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 verfassungskonforme Regelung, welche geeignet ist, die allgemeine Handlungsfreiheit (hier in Gestalt der Ausreisefreiheit) wirksam zu beschränken. Zu 2.: Fraglich ist jedoch, ob die Verwaltung und die Fachgerichtsbarkeit bei der Anwendung dieser Norm die Grundrechtspositionen von Herrn Elfes hinreichend berücksichtigt haben. Legt man für diesen Gedankenschritt die Lüth-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 7, 198 ff.) zugrunde, so ist diese Frage zu verneinen: Denn weder die Ausländerbehörde noch die Fachgerichte haben der Bedeutung der Meinungsfreiheit von Herrn Elfes (Art. 5 I 1 Alt. 1 GG) bzw. seinem demokratischen Recht als Abgeordneter, sich kritisch mit der Regierungspolitik auseinanderzusetzen, bei der Interpretation des unbestimmten Rechtsbegriffs „Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland“ hinreichend Rechnung getragen. Heute hätten wir keine Zweifel daran, dass Personen auch dann ins Ausland reisen dürfen, wenn sie dort politische Positionen vertreten, die der gegenwärtigen Bundesregierung nicht genehm erscheinen. Das BVerfG hat diese Problematik allerdings ebenfalls nicht erkannt, da – wie der Fundstelle (BVerfGE 6, 32 ff.) zu entnehmen ist – die Elfes-Entscheidung kurz vor der LüthEntscheidung (BVerfGE 7, 185 ff.) ergangen ist. Das BVerfG kam dementsprechend in der Elfes-Entscheidung zu dem Ergebnis, dass die konkrete Gesetzesanwendung nicht gegen grundrechtliche Freiheiten von Herrn Elfes verstieß. Aus heutiger Sicht sowie in Ansehung der mit Lüth entwickelten Grundrechtsdogmatik muss man dieses Ergebnis wohl als falsch oder doch zumindest als höchst erstaunlich qualifizieren. Zur Vertiefung: Fiedler, BVerfGE 6, 32 ff. – Elfes, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 82 ff. 2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. 1 I GG) Aufgabe: Diskutieren Sie die Verfassungskonformität des § 173 II 2 StGB (vgl. BVerfGE 120, 224 ff. – Geschwisterbeischlaf; EGMR, 12.4.2012 Az. 43547/08 – Stübing v. Deutschland; Deutscher Ethikrat, 24.09.2014, Inzestverbot). a) Schutzbereich aa) Persönlicher Schutzbereich ▪ Jedermannsgrundrecht („jeder“) ▪ Postmortaler Persönlichkeitsschutz wird laut BVerfG über postmortalen Würdeschutz (Art. 1 I GG) vermittelt (str.). 77 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz HWS 2023 bb) Sachlicher Schutzbereich ▪ Im Gegensatz zur allgemeinen Handlungsfreiheit schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht einen engeren (würderelevanten) Bereich der Persönlichkeit. ▪ In ihm lebt die „Persönlichkeitskerntheorie“ (Peters) weiter. ▪ Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist eher „statisch“ ausgerichtet, schützt also mehr einen bestimmten Status der Persönlichkeit. ▪ Die allgemeine Handlungsfreiheit ist demgegenüber eher „dynamisch“ ausgerichtet, schützt also primär das (aktive) Handeln des Grundrechtsträgers. ▪ Art. 2 I i.V.m. 1 I GG schützt vor allem Aspekte der Selbstbestimmung, Selbstbewahrung und Selbstdarstellung (Pieroth/Schlink). ▪ Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung „Unterrechte“ (Fallgruppen) des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kreiert, welche diese Aspekte näher konkretisieren: ➢ Selbstbestimmung (Beispiele): o Schutz der Privat-, Geheim- und Intimssphäre; o Kenntnis der eigenen Abstammung; o Namensrecht (jüngst: BVerfGE 123, 90 – Verhinderung von Mehrfachnamen); o Bestimmung über sexuelle Orientierung und sexuelle Selbstverwirklichung; o Recht auf Fortpflanzung (str. – a.A. Art. 6 I GG); o „Recht auf Rausch“? o ggf. ergänzen: Recht auf selbstbestimmtes Sterben, BVerfGE 153, 182 (Suizidhilfe, Verfassungswidrigkeit von § 217 StGB) ➢ Selbstbewahrung o Schutz des Arzt-Patienten-Verhältnisses, BVerfGE, 32, 373; o Recht auf gen-informationelle Selbstbestimmung (Recht auf Wissen bzw. Nicht-Wissen; jüngst: BVerfG-K, Bschl. v. 22.5.2009, BeckRS 2009, 35364); o Vertraulichkeit eines Tagebuchs, BVerGE, 80, 367 78 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz ➢ HWS 2023 Selbstdarstellung o Recht auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1 ff. – Volkszählung). Nota bene: Dieses Grundrecht ist subsidiär zu spezielleren Ausprägungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (insbes. Art. 10 I GG); o Recht auf den Schutz informationstechnischer Systeme (BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchung; dieses Recht ist seinerseits subsidiär zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung, also „doppelt subsidiär“); o Schutz der persönlichen Ehre (geschützt durch § 185 ff. StGB; §§ 823 ff. BGB); o Recht am eigenen Bild (vgl. §§ 22, 23 Kunsturhebergesetz); o Recht am eigenen (gesprochenen oder geschriebenen) Wort (vgl. §§ 201 ff. StGB; kein „Unterschieben von Zitaten bzw. Äußerungen); o Recht auf Resozialisierung. b) Rechtfertigung ▪ „Schrankentrias“ des Art. 2 I GG; „Unantastbarkeitspostulat“ des Art. 1 I GG. es gilt also ▪ Bezugnahme auf Art. 1 I GG modifiziert allerdings nicht nur den Inhalt des Schutzbereichs, sondern erhöht zudem Rechtfertigungsanforderungen an Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht. ▪ „Sphärentheorie“: nicht das ➢ Intimsphäre, insbes. sexuelle Selbstbestimmung und Verwirklichung (grds. unantastbar); ➢ Privatsphäre (gesteigerte Rechtfertigungsanforderungen); ➢ Sozialsphäre (wie Art. 2 I GG: im Regelfall nur geringer Schutz). • Kritik an Sphärentheorie: Die Sphären sind oftmals nur schwer voneinander abzugrenzen. Sie können deshalb allenfalls als „erste Orientierungshilfe“ für die Intensität von Rechtfertigungsanforderungen herangezogen werden. Fall: Lebach ist eine saarländische Kleinstadt, die 1969 Schauplatz eines aufsehenerregenden Gewaltverbrechens wurde. An diesem „Soldatenmord von Lebach“ 79 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 war als Tatgehilfe der seinerzeit 23-jährige Gernot W. beteiligt. Sein Tatbeitrag bestand im Wesentlichen darin, einem der beiden Haupttäter die Handhabung der Pistole erklärt zu haben, mit der diese Täter dann einen Überfall auf ein Munitionsdepot der Bundeswehr ausführten, dabei vier Wachsoldaten töteten und Waffen sowie Munition entwendeten. Ziel des Überfalls war, sich für weitere Straftaten zu rüsten, mit denen die Mittel für ein beabsichtigtes gemeinschaftliches Leben der drei Männer auf einer Hochseeyacht in der Südsee beschafft werden sollten. Die Tatbeteiligten betrachteten sich als außerhalb der Gesellschaft stehend, sie waren untereinander befreundet, „wobei die Beziehungen zum Teil eine homosexuelle Komponente hatten“ (BVerfG). Alle drei wurden nach mehrmonatiger Fahndung ermittelt, die Haupttäter zu lebenslanger, W. zu sechsjähriger Freiheitsstrafe verurteilt. Nach Verbüßung von ca. zwei Dritteln der Strafe erhob W. Verfassungsbeschwerde beim BVerfG. Die Beschwerde richtete sich gegen zivilgerichtliche Entscheidungen, mit denen ein Antrag des W. auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abgelehnt worden war. Die Verfügung sollte dem ZDF untersagen, ein eigenproduziertes sog. Dokumentarspiel über den Soldatenmord von Lebach, in dem auch der Bf. mit Bild und Name erwähnt und im Übrigen durch einen Schauspieler dargestellt wurde, auszustrahlen. Wie wird das BVerfG über diese Beschwerde entscheiden? (BVerfGE 35, 202 – Lebach; Sachverhalt wiedergegeben nach Cornils, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 238 f.) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 17): Ein Unterlassungsanspruch des W gegen das ZDF könnte aus § 1004 I i.V.m. § 823 I BGB analog wegen einer Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts fließen. Der Unterlassungsanspruch bestünde gem. § 1004 II BGB analog allerdings nicht, wenn W zur Ausstrahlung des Dokumentarspiels verpflichtet wäre, d.h. dieses dulden müsste. Eine solche Duldungspflicht könnte sich aus § 23 KUG ergeben, wonach ohne Einwilligung des Betroffenen Bildnisse der Zeitgeschichte präsentiert werden dürfen (vgl. Abs. I. Nr. 1). Allerdings findet dieser Rechtfertigungsgrund seinerseits eine Grenze an § 23 II KUG, der eine Veröffentlichung von Bildnissen der Zeitgeschichte ohne Einwilligung des Betroffenen dann untersagt, wenn einer solchen Veröffentlichung „berechtigte Interessen“ des Betroffenen entgegenstehen. Insofern nahm – nach der Dogmatik der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte (Lüth-Entscheidung!) – das BVerfG vorliegend eine Interpretation dieser unbestimmten Rechtsbegriffe (Bildnisse der Zeitgeschichte, berechtigte Interessen) im Lichte der miteinander im Widerspruch stehenden (d.h. konfligierenden) Grundrechte – Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG (APR) des W v. Art. 5 I 2 Alt. 2 GG (Rundfunkfreiheit) des ZDF – vor. Zwar besteht ein grundsätzliches Interesse der Öffentlichkeit an einer Berichterstattung über schwere Straftaten. Dieses Interesse kann auch noch Jahre bzw. Jahrzehnte nach der Tat bestehen und stellt deshalb grundsätzlich einen legitimen Berichtsgegenstand für die Medien dar. Allerdings haben die Medien 80 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 dabei das durch das Persönlichkeitsrecht des Täters geschützte Resozialisierungsinteresse zu berücksichtigen. Das BVerfG kam vorliegend zu dem Ergebnis, dass dieses Resozialisierungsinteresse umso gewichtiger wiege, je näher der Zeitpunkt der Entlassung des Täters heranrücke und damit der Aspekt einer erfolgreichen Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft besondere Bedeutung erlange. Dieses individuelle wie gesellschaftliche Interesse kann jedoch durch eine im Hinblick auf den Entlassungszeitpunkt zeitnahe identifizierende Berichterstattung über den damaligen Teilnehmer W erheblich gefährdet werden. Insoweit erachtete das BVerfG das Persönlichkeitsrecht des W als gewichtiger als das Berichterstattungsinteresse des ZDF. Der Dokumentarfilm durfte deshalb nicht ausgestrahlt werden und liegt bis heute im „Giftschrank“ des ZDF (instruktive Besprechung des Falls von Cornils in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Auflage 2017, S. 238 ff. m.w.N). Aufgabe: (Freiraum für persönliche Notizen) Zur Vertiefung: Germann, Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, Jura 2010, 734 ff.; Martini, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Spiegel der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JA 2009, 839 ff.; Peilert, BVerfGE 65, 1 ff. – Volkszählung, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 371 ff.; Stuckenberg, BVerfGE 120, 224 – Inzestverbot, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 825 ff.; Peilert, BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchung, in: Menzel/Mül

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