Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes PDF
Document Details
Uploaded by KidFriendlyPromethium8378
null
null
Gerlach, Alexander
Tags
Related
Summary
This document covers the core principles of the German Basic Law (Grundgesetz). It examines the concept of 'wehrhafte Demokratie' and explores the four fundamental principles of the constitution. The text also discusses the division of powers between the federal government and the states, and the role of the German parliament.
Full Transcript
© SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes „Wie kann die Demokratie in Deutschland dauerhaft gesichert werden?“ Dies war die Ausgangsfrage...
© SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes „Wie kann die Demokratie in Deutschland dauerhaft gesichert werden?“ Dies war die Ausgangsfrage, die sich den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges stellte. Als Antwort wurde das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ entwickelt. Was darunter zu verstehen ist, erfahren Sie im ersten Abschnitt dieses Kapitels. In den folgenden Abschnitten lernen Sie die vier grundlegenden sogenannten „Staatsstrukturprinzipien“ unserer Verfassung kennen: Repräsentations-, Bun- desstaats-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip. Dabei klären wir Fragen, die Sie sich vielleicht auch selbst schon einmal gestellt haben: Warum wählt die deut- sche Bevölkerung das Staatsoberhaupt nicht direkt? Welchen Sinn hat die Gliede- rung der Bundesrepublik in einzelne Bundesländer und was können diese selbst entscheiden? Was ist eigentlich ein Rechtsstaat und welche Rolle spielen hier die Menschenrechte? Was sagt das Grundgesetz über den Sozialstaat? Das Kapitel enthält darüber hinaus eine Übungsaufgabe, in der Sie das erworbe- ne Wissen anwenden können und eine Sachfrage erörtern und beurteilen sollen. Sie lernen, mit Texten umzugehen und eine Stellungnahme zu erarbeiten. 1.1 Wehrhafte Demokratie Nach 1945 wurde Deutschland von den Siegermächten in vier Besatzungszonen einge- teilt. In den westlichen Besatzungszonen bildete sich eine politische Ordnung nach den Vorbildern der liberalen Demokratien der USA, Großbritanniens und Frankreichs. In der sowjetischen Besatzungszone begann die Sowjetunion, eine kommunistische Gesell- schafts- und Staatsordnung zu errichten. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr 1949 war Deutschland nicht nur in zwei Staaten, sondern auch in zwei unterschiedliche Systeme mit gegensätzlichen politischen, gesellschaftlichem und wirt- schaftlichem Strukturen geteilt. Diese Gegensätze sind, wie oben erwähnt, schon in den Besatzungsjahren nach 1945, also Jahre vor den Staatsgründungen (1949) angelegt wor- den. Dass Deutschland 40 Jahre lang in Ost und West geteilt blieb, war eine Folge des Kalten Krieges zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. Erst nachdem diese Zweiteilung der Weltpolitik 1989/90 zusammengebrochen war, konnte auch die deut- sche Teilung überwunden werden. Fortan galt das Grundgesetz der Bundesrepublik für ganz Deutschland. Zustande gekommen war das Grundgesetz auf Initiative der Westmächte, die die west- deutschen Ministerpräsidenten 1948 ermächtigten, eine Verfassung zu erarbeiten. Der zu diesem Zweck eingesetzte Parlamentarische Rat aus 65 Delegierten der Landtage tagte vom 1. September 1948 bis zum 23. Mai 1949 in Bonn und erarbeitete in dieser Zeit das Grundgesetz. (Da es sich um eine vorläufige Verfassung für den westdeutschen Teilstaat handelte, wurde der Begriff „Verfassung“ vermieden.) Das Grundgesetz wurde anschließend von den Landesparlamenten (mit Ausnahme Bayerns) ratifiziert. Bei ihrer Arbeit legten die Mitglieder des Parlamentarischen Rats besonderen Wert da- rauf, die grundgesetzliche Ordnung so auszugestalten, dass eine Wiederkehr der Dikta- tur ausgeschlossen war. Der neue Staat sollte fähig sein, sich gegen Angriffe auf seine freiheitliche und demokratische Grundordnung zur Wehr zu setzen. PUW01 3 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes In der Weimarer Republik (1919–1933) konnten alle Gesetze und Regeln, auch die we- sentlichen demokratischen Grundsätze der Verfassung, von der jeweiligen Mehrheit im Parlament geändert werden, was der Nationalsozialismus für seine Ziele ausgenutzt hatte. Wenn Sie das heutige Grundgesetz ( Verfassung) anschauen, wird deutlich, dass besonders in diesem Punkt Konsequenzen gezogen worden sind: Das Grundgesetz schreibt einige Verfassungsprinzipien fest, die unabänderlich sind, d. h. auch durch keine Mehrheit aufgehoben werden können (sog. Ewigkeitsklausel): Menschenrechte und Grundrechte Demokratie Rechts-, Bundes- und Sozialstaat (Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 und 20 GG [ Grundgesetz]) die Einteilung des Bundes in Länder und die Mitwirkung der Länder an der Gesetz- gebung des Bundes (föderale Ordnung) Diesen unantastbaren Verfassungskern nennt man freiheitliche demokratische Grundordnung. Das Grundgesetz räumt den Feinden der demokratischen Grundordnung nicht die Frei- heit ein, diese Grundordnung zu zerstören. Um dies zu verhindern, hat das Grundgesetz einige Mittel vorgesehen: Für den Fall, dass Grundrechte wie Presse- und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung usw. zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grund- ordnung missbraucht werden, können diese Grundrechte entzogen werden (Art. 18 GG). Diese Möglichkeit, bei der an Demagogen ( Volksverführer, Volksverhetzer) wie Hitler und Goebbels zu denken war, ist bisher jedoch nie wirksam geworden; entsprechende Anträge scheiterten vor dem Bundesverfassungsgericht. Im Fall der Gefahr kann bewaffnete Macht der Polizei mehrerer Bundesländer sowie der Bundeswehr eingesetzt werden (Art. 91 und 87 a Abs. 4 GG). Verfassungswidrige Parteien und sonstige verfassungswidrige Vereinigungen kön- nen durch das Bundesverfassungsgericht verboten werden (Art. 21 Abs. 2 GG, Art. 9 Abs. 2 GG). Personen können vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden, indem aufgrund der hergebrachten Grundsätze des Beamtentums eine Verfassungstreue der öffentli- chen Bediensteten gefordert wird (Art. 33 GG). Es gibt ein Recht zum Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungs- mäßige Ordnung zu beseitigen – vorausgesetzt, dass Abhilfe anders nicht mehr möglich ist (Art. 20 Abs. 4 GG). Diesen Verfassungskern und das darauf aufbauende Maßnahmenbündel bezeichnet man als Konzept der wehrhaften (oder streitbaren) Demokratie. Bisher kam es zu kei- ner akuten Gefährdung der Demokratie, sodass diese Möglichkeiten noch nicht ausge- schöpft werden mussten. Allerdings wurden bislang zwei Parteien vom Bundesverfas- sungsgericht verboten: 1952 die sog. „Sozialistische Reichspartei“, die als Nachfolge- organisation der NSDAP eingestuft wurde und 1956 die KPD, deren Ziel einer „Diktatur des Proletariats“ mit dem Grundgesetz unvereinbar war. Das 2001 eingeleitete Verbots- verfahren gegen die NPD scheiterte an Verfahrensfehlern. Darüber hinaus wurde vor al- 4 PUW01 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes 1 lem in den 1970er- und 1980er-Jahren durch den sog. „Radikalenerlass“ vor allem Per- sonen aus dem linksradikalen Spektrum der Zugang zum öffentlichen Dienst verweigert. Ungewiss ist, was die Regelungen gegenüber einer breiten antidemokratischen Massen- bewegung bzw. einem Staatsstreich leisten würden. Bedeutend scheint jedoch ihre vor- beugende Funktion. Schon ohne solche Mittel massiv und umfassend einzusetzen, kann deren maßvolle Anwendung mit dazu beitragen, dass antidemokratische Strömungen erst gar nicht zu einer breiten Massenbewegung anwachsen. Arbeitstipp: Im Abitur müssen Sie mit zentralen Begriffen vertraut sein. Sie können sich diese besser einprägen, wenn Sie sich dazu Karteikarten anlegen, auf denen Sie Begriffsin- halte in einem Diagramm darstellen oder durch Stichpunkte verdeutlichen. Eine Karteikarte zum Begriff „Wehrhafte Demokratie“ könnte beispielsweise so aus- sehen: 1.2 Durchbruch zu konsequent parlamentarischer Demokratie Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 vollzog zwar den Übergang zur parlamenta- rischen Demokratie in Deutschland, indem sie die Regierung vom Vertrauen des Parla- ments abhängig machte und nicht direkt vom Volk wählen ließ (dieses System haben wir in der Bundesrepublik auch heute). Allerdings blieb die Verfassung hier in verhängnis- voller Weise inkonsequent: Sie stellte neben den Reichstag (das Parlament) einen direkt vom Volk gewählten Reichspräsidenten und führte darüber hinaus den Volksentscheid ein. Dadurch gab es drei konkurrierende demokratische Legitimationen ( Berechtigun- gen). Auch wurde die Reichsregierung in eine zweifache Abhängigkeit – von der Parla- mentsmehrheit wie vom Reichspräsidenten – versetzt. Ungünstige Regelungen waren unter anderem auch: Der Kanzler konnte vom Parlament gestürzt werden, ohne dass gleichzeitig ein neu- er ernannt wurde (sog. destruktives Misstrauensvotum, vergleiche auch Abschnitt 3.1.2). PUW01 5 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes Parteien mussten nicht demokratische Ziele verfolgen. Dadurch konnten verfas- sungsfeindliche Parteien politischen Einfluss bekommen, die Macht erringen und waren damit in der Lage, die Demokratie abzuschaffen. Mithilfe neuer Gesetze konnten sehr leicht die Grundrechte ausgehebelt werden. Der Reichspräsident hatte die Macht, eigenständig den Kanzler zu ernennen und zu entlassen. Der Reichspräsident konnte aus eigener Macht den Notstand ausrufen und das Par- lament auflösen. Diese Regelungen erleichterten ab 1930 die Selbstabschaffung des Parlaments und den „legalen“ Übergang in die Diktatur. Um solche Gefahren für die Zukunft auszuschließen, hat das Grundgesetz der Bundes- republik drei Schlussfolgerungen gezogen: Das Parlament ( der Bundestag) hat das „Legitimationsmonopol“: Das Staats- oberhaupt (Bundespräsident) und der Regierungschef (Bundeskanzler) werden nicht direkt von der Bevölkerung gewählt, sondern durch Repräsentativorgane (Vertreter). In Abb. 1.1 sehen Sie, wie das politische System aufgebaut ist. Bundes- Bundes- kanzler3 präsident4 Bundeskabinett Bundesversammlung gekorene Mitglieder Bund § Länder 5 Landeskabinett 1 2 Bundestag Bundesrat Ministerpräsident Bundes- Landes- Landtag verfassungsgericht verfassungsgericht Wahlberechtigte Bürger (ab 18 Jahren) Legislative wählt / ernennt 1: Alle vier Jahre Wahl von Direktmandaten und Parteien 2: Länderkammer. Sitzverteilung relativ zur Bevölkerungsgröße Exekutive entsendet / ist Mitglied 3: Regierungschef mit Richtlinienkompetenz. Wird vom Bundespräsidenten vorgeschlagen 4: Staatsoberhaupt. „Neutrale Gewalt“ – nur im Notstand stärkere Kompetenzen Judikative ernennt formal / Vetorecht 5: Landesebenen und Namen der einzelnen Organe unterscheiden sich von Land zu Land stark Abb. 1.1: Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland (©1 Al eskön er: htps:/de.wikpedia.org/wki /Datei:Politsches_System_Deutschlands_neu.svg) Das Grundgesetz stellt eine reine Repräsentativverfassung dar. Repräsentative Demokratie bedeutet, dass das Volk seine Souveränität (Herr- schaftsgewalt) indirekt durch Wahlen ausübt. Der Begriff der repräsentativen Demokratie wird oft gleichgesetzt mit dem parla- mentarischen Regierungssystem (parlamentarische Demokratie). Dies ist jedoch nicht ganz korrekt. Es gibt zwei Ausprägungen der repräsentativen Demokratie: die parlamentarische Demokratie und die Präsidialdemokratie. 6 PUW01 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes 1 – In einer strikt parlamentarischen Demokratie wird nur das Parlament gewählt und die Regierung geht aus der Parlamentsmehrheit hervor. Die Bundesrepublik Deutschland ist eine solche parlamentarische Demokratie. – In einer Präsidialdemokratie (wie in den USA) werden sowohl die Spitze der Exekutive, also der Präsident, wie auch das Parlament (in den USA der Kongress aus den beiden Kammern Repräsentantenhaus und Senat) in getrennten Wahlen bestellt. Beide repräsentieren den Volkswillen. Daher kann das Parlament den Präsidenten auch nicht ablösen (eine Amtsenthebung ist nur bei schweren Amts- verfehlungen möglich) und der Präsident kann das Parlament nicht auflösen. – Daneben gibt es noch Mischformen, die als semipräsidentielle Systeme be- zeichnet werden. Hier wird der Präsident wie im Präsidialsystem direkt vom Volk gewählt, es gibt aber zusätzlich einen vom Parlament abhängigen Regie- rungschef. Das Parlament kann hier den Präsidenten nicht absetzen, aber der Präsident kann das Parlament auflösen und Neuwahlen anordnen. Ein Beispiel für ein solches semipräsidentielles Regierungssystem ist Frankreich. Die repräsentative Demokratie existiert in zwei Grundformen: parlamentarische Demokratie und Präsidialdemokratie. Daneben gibt es noch eine Mischform beider Regierungssysteme, die semipräsidentielle Demokratie. Allen diesen Regierungssystemen gemeinsam ist, dass die Volkssouveränität nicht direkt sondern durch Wahlen ausgeübt wird. Regierung Parlament Regierung Parlament Volk Volk Das Grundgesetz sieht eine strikt repräsentative Demokratie in Form eines parla- mentarischen Regierungssystems vor. Plebiszitäre Entscheidungen (direkte Ent- scheidungen durch die Bevölkerung etwa durch Volksentscheide) sind nicht vorge- sehen (abgesehen von der Änderung von Ländergrenzen nach Art. 29 GG). Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten dabei die negativen Erfahrungen aus der Weimarer Republik vor Augen, in der Volksbegehren und Volksentscheide zu auf- rührerischen Kampagnen missbraucht worden waren. Zwar gibt es bis heute immer wieder Forderungen, in die Verfassung zusätzliche ple- biszitäre Elemente aufzunehmen und etwa den Bundespräsidenten direkt zu wählen. Bislang wurden diese Anregungen jedoch nicht umgesetzt. Die Landesverfassungen beispielsweise enthalten die Möglichkeit von Volksentscheiden; dies zeigt, dass die Folgerung des Grundgesetzes aus den Erfahrungen der Vergangenheit keineswegs allgemein als zwingend betrachtet worden ist. Auch in Ländern wie den USA, Frank- reich oder der Schweiz ist, wie Sie sicher wissen, der Volksentscheid ein übliches de- mokratisches Mittel. Ein parlamentarisches Regierungssystem: Nach dem Grundgesetz sollen nur Re- gierungen möglich sein, die von parlamentarischen Mehrheiten getragen sind. Das bedeutet erstens, dass der Bundeskanzler vom Parlament ( Bundestag) gewählt PUW01 7 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes wird. Zweitens kann der Bundeskanzler sein Amt nur durch ein „konstruktives Misstrauensvotum“ (Art. 67 GG) verlieren, d. h., wenn die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gleichzeitig einen neuen Amtsinhaber wählt. Er kann also nicht nur einfach abgewählt werden. Drittens ist – anders als vor 1933 – die Einflussnahme des Präsidenten eng begrenzt worden. Außerdem bleiben selbst im Notstandsfall parlamentarische Entscheidungsrechte und Kontrollen bestehen. Dies alles dient da- zu, die Macht einzelner Personen und Organe zu beschränken, damit es nicht wieder auf legalem Wege zu einer Machtübernahme durch extreme Gruppierungen kom- men kann. Die Parteien haben Verfassungsrang: Die Weimarer Verfassung hatte die Parteien ignoriert und sie lediglich einmal abwehrend mit der Formulierung, die Beamten seien „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“ (Art. 130 WRV) erwähnt. Das Grundgesetz dagegen bezieht die politischen Parteien in die Verfassung mit ein und gibt ihnen eine zentrale Rolle im demokratischen Prozess (Art. 21 GG). 1.3 Föderalismus als Staatsprinzip Begriffsabgrenzung: Bundesstaat – Staatenbund – Einheitsstaat Schon der Name „Bundesrepublik Deutschland“ verweist auf den Föderalismus als Ver- fassungsprinzip. Unter Föderalismus (lat.: foedus Bund) versteht man ein System, in dem ein Staat aus einem Bund mehrerer Einzelstaaten besteht, die weitgehend ihre Ei- genständigkeit behalten, gleichzeitig aber auch Gliedstaaten eines übergeordneten Ge- samtstaates sind. Die staatlichen Aufgaben sind also zwischen dem Gesamtstaat und den Teilstaaten aufgeteilt. Man spricht daher auch von teilsouveränen Gliedstaaten. Der Gegensatz dazu ist Zentralismus: Hier werden Politik und Verwaltung eines Staates zusammengezogen und alle Entscheidungen an einer Stelle getroffen. Beispiele für zen- tralistisch organisierte Staaten sind Frankreich, Dänemark, die Niederlande, Polen. Na- türlich sind auch solche Einheitsstaaten, besonders wenn es sich um große Flächenstaa- ten handelt, regional gegliedert. Die Provinzen (in Frankreich lautet die Bezeichnung Departments) sind aber reine Verwaltungsgliederungen, keine selbstständigen Gebiets- körperschaften. Von einem bloßen Staatenbund ( Konföderation) unterscheidet sich der Bundesstaat wiederum dadurch, dass die Bundesländer einen Gesamtstaat bilden, der völkerrechtlich und staatsrechtlich souverän ist. Bei einem Staatenbund verbleibt die Souveränität bei den Einzelstaaten und es gibt nur wenige gemeinsame Organe und keine den Einzelstaa- ten übergeordnete Gesetzgebung. Einen Staatenbund bilden beispielsweise die Benelux- länder Belgien, Niederlande und Luxemburg. Sie haben eine Wirtschaftsunion zum frei- en Handelsaustausch gegründet, ohne dass es eine übergeordnete Regierung gibt. Ein anderes Beispiel ist die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) der ehemaligen So- wjetunion. Die einzelnen Bundesstaaten der Bundesrepublik Deutschland kennen Sie: Es sind die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Mecklen- burg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Sachsen- Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen sowie die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg. Wir nennen sie im Folgenden mit dem üblichen Begriff Bundesländer. (Bay- ern, Sachsen und Thüringen bezeichnen sich in ihren Landesverfassungen offiziell als 8 PUW01 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes 1 „Freistaat“, was nur ein anderes Wort für Republik ist; die offizielle Bezeichnung der Länder Bremen und Hamburg lautet „Freie und Hansestadt“.) Diese Bundesländer kön- nen eigene staatliche Aufgaben erfüllen, sie sind relativ selbstständig und verfügen über eigene Rechte und Zuständigkeiten. Interessen dagegen, die den Gesamtstaat berühren, wie zum Beispiel die Außenpolitik, werden nicht von den Bundesländern geregelt. Die gesamtstaatlichen Organe üben im Bundesstaat gegenüber den Bürgerinnen und Bür- gern der Einzelstaaten eine unmittelbare Hoheitsgewalt aus. Bei aller Vielfalt ist also auch immer ein gewisses Maß an Einheitlichkeit gegeben. Auch in den Bundesländern gilt das Prinzip der repräsentativen Demokratie. Sie haben eigene Parlamente (die Land- tage), Regierungen und Verwaltungen. Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern: Das Grundgesetz legt die Aufgabenteilung zwischen dem Bund und den Ländern nach drei Prinzipien fest: Wenn im GG nicht ausdrücklich der Bund verantwortlich für einen Aufgabenbe- reich genannt wird, sind die Länder dafür zuständig. Wichtige Bereiche sind Polizei und Justizwesen, Kultur und Bildung („Kulturhoheit der Länder“ – dazu gehört das Schulwesen und die Hochschulen) und das Kommunalrecht. Ausschließlich dem Bund zugewiesen sind Außenpolitik („Auswärtige Angelegen- heiten“), Verteidigung, Zoll, Post- und Fernmeldewesen. Darüber hinaus gibt es Bereiche, in denen sowohl der Bund wie auch die Länder Ge- setze erlassen können (etwa bei Verkehrsinfrastruktur, Umwelt u. a.). Man spricht hier von konkurrierender Gesetzgebung. Dabei gilt: Bundesrecht bricht Landes- recht, d. h. sobald der Bund ein Gesetz erlassen hat, hat es Vorrang gegenüber anders lautenden Landesregelungen und die Länder können keine Gesetze mehr zum selben Thema erlassen. Bis zur Föderalismusreform im Jahre 2006 gab es noch den Fall der sog. Rahmengesetzgebung: Hier gab der Bund lediglich eine grobe Richtlinie vor, die die Länder durch eigene Gesetze ausfüllten. Die betreffenden Reglungsmaterien wurden in ausschließliche Bundes- oder Länderkompetenz oder in die konkurrieren- de Gesetzgebung überführt. Die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern mag damit hinlänglich klar gere- gelt sein. Von der Finanzierung kann man dies nicht behaupten. Der größte Teil der Steuereinnahmen (etwa Lohn- und Einkommensteuer, Umsatzsteuer) geht immer noch in einen sog. Steuerverbund und wird nach einem festgelegten Schlüssel zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verteilt. Hinzu kommt der sog. Länderfinanzausgleich, nach dem finanzstarke Länder die schwächeren stützen müssen. Doch sind sich Bund und Länder einig, dass die vollständige Neuregelung der Finanzbeziehungen eine weitere Stufe der Föderalismusreform nötig macht. Dabei wird es auch darum gehen, die immer komplizierter gewordenen Regelungen zum Finanzausgleich zwischen Bund und Län- dern und unter den Ländern übersichtlicher zu gestalten. Zudem wollen vor allem die finanzstarken Länder derzeit bestehende „Anreiz-Fehlsteuerungen“ beseitigen. Denn in vielen Bundesländern ist es derzeit wenig attraktiv, mehr eigene Einnahmen zu erwirt- schaften, da sie in vielen Fällen den größten Teil davon wieder abgeben müssen. Wenn Leistung nicht belohnt, sondern bestraft wird, arbeitet ein Gemeinwesen schnell unter seinen Möglichkeiten. PUW01 9 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes Konsens- und Exekutivföderalismus Die föderale Ordnung der Bundesrepublik weist eine Besonderheit auf, die man mit den Begriffen „Konsens-„ und „Exekutivföderalismus“ umschreibt. Dabei geht es um folgen- de Sachverhalte: Verteilte Exekutivkompetenz: Obwohl ein Großteil der Gesetze Bundesgesetze sind, verfügt der Bund nur über eine verhältnismäßig kleine Anzahl eigener Bundesbe- hörden. Er nutzt weitgehend die Verwaltung der Länder und Kommunen. Die Bun- desländer haben somit eine Funktion als allgemeine Exekutive ( vollziehende Ge- walt in Regierung und Verwaltung) bei der Ausführung von Bundesrecht. Insofern lässt sich hier zuspitzend von einem Exekutivföderalismus sprechen: Po- litische Entscheidungen werden hauptsächlich vom Bund getroffen und die Bundes- länder führen diese Entscheidungen aus. Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes: Bundesgesetze, die durch die Länder ausgeführt werden, bedürfen der Zustimmung durch die Vertre- tung der Länder, den Bundesrat. Durch den Bundesrat wirken die Bundesländer an den zentralstaatlichen Entscheidungsprozessen mit und können jeder Aushöhlung von Länderrechten entgegentreten. Im Bundesrat sind die Länder durch Mitglieder ihrer Landesregierungen vertreten. Die Spitze der Exekutive in den Ländern nimmt damit im Bund legislative Funktionen wahr. Je nach den politischen Mehrheitsver- hältnissen in den Ländern können sich unterschiedliche Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ergeben. Der Bundesrat bildet so ein echtes Gegengewicht zur Bun- desregierung. Die bundesdeutsche föderale Ordnung ist also nicht durch ein getrenntes Nebeneinan- der von Bund und Ländern, sondern durch gegenseitige Verflechtungen gekennzeich- net; wichtige Entscheidungen können nur im Kosens von Bund und Ländern gefällt wer- den. Die Gemeinden als Teil der Länder Die Gemeinden oder Kommunen (von lat. communis öffentlich/gemeinschaftlich) ha- ben als unterste Ebene im Staatsaufbau keinen eigenen Staatscharakter, sondern sind den Ländern unterstellt, verwalten sich aber selbst (kommunale Selbstverwaltung). Als Kommunen bezeichnet man alle selbstständigen (sich selbst verwaltenden Gebietskör- perschaften – vom kleinen Dorf über die Landkreise ( Gemeindeverbünde) bis zur Mil- lionenstadt. Sie sind den Ländern zugeordnet, da sie deren Gesetzgebung und Rechtsaufsicht unter- liegen. So hat jedes Bundesland seine eigene Kommunalverfassung. Inzwischen haben alle Kommunalverfassungen die Direktwahl der Bürgermeister einge- führt. Grundsätzlich gilt laut Art. 28 Abs. 2 GG, dass die Gemeinden das Recht haben, die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln (Selbstverwaltung). Sie sind dabei an die von Bund und Ländern erlassenen Gesetze ge- bunden. Welche Aufgaben im Einzelnen die Gemeinden selbstständig erledigen können, ist verfassungsrechtlich nicht genau festgelegt. Die Gemeindebehörden sind sowohl aus- führende Organe des Staates als auch selbstständige politische Körperschaften, die in ei- gener Regie bestimmte Aufgaben wahrnehmen. Entsprechend unterscheidet man zwi- schen Selbstverwaltungs- und Weisungsaufgaben. 10 PUW01 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes 1 Zu den freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben gehören beispielsweise der Bau von Spielplätzen, der Unterhalt von Schwimm- und Sportstätten, die Förderung des Vereins- lebens u. dgl. Einige dieser Aufgaben sind auch verpflichtende Aufgaben – etwa Müll- abfuhr oder die Bereitstellung von Kindergärtenplätzen. Weisungsaufgaben sind das Meldewesen, die Auszahlung von Wohngeld und Sozialhilfe u. Ä. Die moderne Industriegesellschaft verlangt von den Gemeinden wachsende Aufwen- dungen, damit sie die von ihren Einwohnern erwarteten öffentlichen Dienstleistungen und Infrastrukturen bereitstellen können. Denken Sie an all die Tätigkeiten in den Be- reichen Sozialwesen, Bildung, Freizeit, Wirtschaftsförderung und Entsorgung, die Ver- sorgung mit Gas, Elektrizität, Wasser und den Nahverkehr. Die finanziellen Mittel der Städte und Gemeinden für diese Leistungen waren und sind im Durchschnitt zu gering und zu unterschiedlich verteilt, um eine gleichmäßige Ent- wicklung zu gewährleisten. Als Folge der Finanzreform von 1969 hatte sich die finanzi- elle Situation der Städte und Gemeinden zwar verbessert, denn die Finanzreform machte die Gemeinden nicht mehr so stark vom Gewerbesteueraufkommen abhängig, stärkte den Finanzausgleich zwischen den Kommunen und beseitigte damit allzu krasse Unter- schiede in der Finanzausstattung der Gemeinden. Diese sind seitdem auch an der Ein- kommen- und Körperschaftsteuer beteiligt. Insgesamt ist aber die Finanznot der Kom- munen nicht behoben worden. Dies schlägt sich auch in einer übergroßen Schuldenlast nieder. In Wirtschaftskrisen – wie zu Beginn des Jahrhunderts oder nach der Wirt- schafts- und Finanzkrise 2008/2009 – kommt es regelmäßig zu einem Einbruch der Ge- werbesteuereinnahmen. Andererseits müssen die Gemeinden immer mehr Bürger mit Sozialleistungen unterstützen. So sinken die Rücklagen der Gemeinden. Vielleicht haben auch Sie schon in Ihrer Gemeinde festgestellt, dass bestimmte Projekte nicht mehr un- terstützt werden konnten oder öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken und Schwimmbäder geschlossen wurden. Die Krise der Gemeindefinanzen bedroht somit die kommunale Selbstverwaltung. Die Bundesländer in der EU Neue Fragestellungen und Probleme ergeben sich für die Bundesländer durch die Euro- päische Union. Die Länder befürchten, dass sie an Einfluss verlieren könnten, weil Ent- scheidungsbefugnisse auf europäische Institutionen verlagert werden. Um den Verände- rungen, die sich durch die Europäische Union für die Bundesländer ergeben, gerecht zu werden, wurde unter anderem eine Neufassung des Art. 23 GG beschlossen. Dabei ging es unter anderem darum, die Rechte der Bundesländer zu sichern. So wurde Art. 23 Abs. 2 wie folgt geändert: „In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bun- destag und durch den Bundesrat die Länder mit...“ In Absatz 5 heißt es: „Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind..., berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates.“ Der Beobachter der Länder bei der Europäischen Union ist eine zusätzliche gemeinsame Einrichtung der deutschen Bundesländer. Hauptaufgabe des Länderbeobachters ist die Unterrichtung der Länder über die Beratungen in den Räten. Zudem verfügen die Län- der über eigene Büros in Brüssel, die aber keinen diplomatischen Status besitzen. Sie ar- beiten mit dem Länderbeobachter und der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland zusammen und stellen soweit erforderlich die unmittelbare Verbindung der Länder zu den Einrichtungen der EU her. PUW01 11 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes Die Europaministerkonferenz (EMK) ist eine Fachministerkonferenz der deutschen Län- der. Sie wurde 1992 auf Initiative von Rheinland-Pfalz zur Abstimmung der Europapo- litik eingerichtet und formuliert die europapolitischen Positionen der Länder (die teil- weise Eingang in Beschlüsse des Bundesrates finden). Die Länder sind in der EMK je nach Zuschnitt der Ressorts und der politischen Verantwortlichkeit in den 16 Landesre- gierungen durch Minister, Senatoren, Staatssekretäre oder Staatsräte vertreten. Gründe für den Föderalismus Die föderale Ordnung wird oft kritisiert oder als nicht mehr zeitgemäß bezeichnet. Bil- den sich aufgrund der Landtagswahlen unterschiedliche politische Mehrheiten in Bun- destag und Bundesrat, dann werfen die Regierungsvertreter im Bund den Ländern oft eine Blockadepolitik vor. Ob eine solche parteipolitisch motivierte Opposition vorliegt, oder ob die Bundesländer – wie in der Verfassung gewollt – einfach nur ihre legitimen Länderinteressen wahrnehmen, ist im Einzelfall oft schwer unterscheidbar. Fakt ist aber, dass die vielfältige Aufgabenverschränkung zwischen Bund und Ländern und die Mit- wirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes auf jeden Fall zu langen Entschei- dungswegen und zu einem hohen Abstimmungsaufwand führen. Oft wird von Kritikern des Föderalismus auch das Argument der zu hohen Kosten für den Unterhalt von 16 Landesparlamenten und Landesregierungen ins Feld geführt – ein Argument, das auch in der Öffentlichkeit auf Resonanz stößt. Hier ist aber zu bedenken, dass bei einem Wegfall der Länder eine entsprechende große Bundesverwaltung ge- schaffen werden müsste. Und auch ein Einheitsstaat bedarf einer regionalen Unterglie- derung mit dann unselbstständigen Regierungsbezirken und entsprechender Bürokratie. Die Einsparungen dürften sich daher in engen Grenzen halten. Der Föderalismus ist in Deutschland tief verwurzelt und spiegelt auch die politischen Traditionen des Landes wieder. Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich oder Spanien lebten die Deutschen über viele Jahrhunderte nicht in einem einheitlichen Königreich oder Nationalstaat. Seit dem Mittelalter gewannen die Fürsten des deutschen Reichs zu- nehmend an Macht und Selbstständigkeit gegenüber dem Kaiser und waren darauf be- dacht, diese Unabhängigkeit zu erhalten und auszubauen. Auch das 1871 gegründete Kaiserreich, der erste deutsche Nationalstaat, war ein Fürstenbund und hatte den Cha- rakter eines Bundesstaates, auch wenn ein Staat – Preußen – faktisch dominant war. Ebenso bestand das Deutsche Reich in der Weimarer Republik aus Ländern. Erst die Na- zis ersetzten diese Gliederung durch einen zentralistischen Einheitsstaat. Nach dem Krieg bestanden die Westmächte daher ausdrücklich auf einer Wiederherstel- lung der föderalistischen Struktur Deutschlands, um eine neue Machtzusammenballung zu verhindern. Der Parlamentarische Rat stärkte die Rechte der Länder und ihre Stellung im Gesamtstaat sogar. Dadurch entstand neben der horizontalen Gewaltenteilung (der Aufteilung der staatlichen Gewalt in Legislative, Exekutive und Judikative) eine zusätz- liche vertikale Dimension der Gewaltenteilung (Teilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern). Dies darf als Hauptvorteil einer föderalen Ordnung gelten, da es die Möglichkeiten des Machtmissbrauchs weiter einschränkt. Darüber hinaus spricht für den Föderalismus, dass den Besonderheiten der Regionen stärker Rechnung getragen werden kann als in einem zentralistischen Einheitsstaat. So können etwa regionale oder landestypische kulturelle Besonderheiten besser gewahrt werden; die Bürger haben mehr Einfluss auf das politische Geschehen in ihrer unmittel- 12 PUW01 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes 1 baren Region, Probleme werden in der Regel besser angegangen, wenn sie da diskutiert und gelöst werden, wo sie auftreten. Föderalismus fördert so Bürgernähe und Subsidi- arität (Vorrang der untergeordneten Ebene vor der übergeordneten Ebene). Er stärkt zu- dem die demokratischen Mitwirkungsrechte. Aus den unterschiedlichen Ausgestal- tungen der Bereiche, in denen die Länder Gesetzeshoheit haben, kann sich ein frucht- barer Wettbewerb ergeben. Nachteilig könnte sein, dass dadurch unterschiedliche Stan- dards, etwa im Schulwesen, hingenommen werden müssen. Arbeitstipp: Halten Sie auf Karteikarten in eigenen Worten fest: Definition Bundesstaat / Abgrenzung zu Einheitsstaat und Staatenbund Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern Vor- und Nachteile des Föderalismus Lesen Sie zur Ergänzung die folgenden Artikel des GG: 20 (1), 24 (1), 30, 31, 35 (1), 50–53 Notieren Sie auf den Karteikarten die passenden Artikel. 1.4 Rechtsstaat Der Begriff „Rechtsstaat“ bedeutet, dass alle staatlichen Entscheidungen und Handlun- gen an das Recht gebunden sein sollen, also den Bestimmungen der Verfassung und der Gesetze entsprechen müssen. Willkürhandlungen von Staatsorganen sind nicht zulässig. Wer sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt, hat die Möglichkeit, die Gerichte anzu- rufen, die dann eine Entscheidung herbeiführen. Es gab bereits früher einen Begriff des Rechtsstaates, der aber rein formell war. Gefor- dert wurde die Bindung des Staates, seiner Behörden und Amtsträger an die Buchstaben der Gesetze und Verordnungen. Man ging davon aus, dass formell korrekt zustande ge- kommene Gesetze auch gerecht und legitim seien. An der Diktatur des „Dritten Reiches“ ist diese Illusion zerbrochen. Es wurde deutlich, dass ein formeller Rechtsstaat den Un- rechtsstaat nicht verhindern konnte, sondern dazu beitrug, diesem eine scheinbare Le- gitimität ( Rechtmäßigkeit) zu verschaffen. Denken Sie etwa an das Ermächtigungsge- setz, das die Errichtung der Nazi-Diktatur auf „legalem“ Wege ermöglichte. Es war daher ein zentrales Anliegen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates, im Grundgesetz einen Missbrauch des Rechts auszuschließen, wie er im „Dritten Reich“ ständig praktiziert worden war. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes ergänzten da- her die Festlegung des formellen Rechtsstaats durch das Prinzip eines materiellen Rechtsstaates. Danach muss staatliches Handeln nicht nur in formell korrekten For- men, sondern auch unter Beachtung elementarer Grundwerte erfolgen. Das Neuartige an der Konstruktion des Rechtsstaates im Grundgesetz besteht daher in der herausge- hobenen Rolle von Grundrechten und in der Einrichtung eines Bundesverfassungs- gerichtes. Zwar hat auch die Weimarer Reichsverfassung Grundrechte und einen Staatsgerichtshof gekannt. Deren Stellenwert war jedoch anders als heute. Der Unter- schied zur Weimarer Verfassung wird in einigen Punkten des Grundgesetzes der Bun- desrepublik Deutschland deutlich: PUW01 13 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes Die Grundrechte sind betont an den Anfang des Grundgesetzes gestellt, was ihren herausgehobenen Stellenwert unterstreichen soll. Die Grundrechte können zwar mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit geän- dert werden, als menschenrechtliches Prinzip sind sie aber unantastbar (Art. 19 GG). Das Bundesverfassungsgericht (siehe Abschnitt 3.5) entscheidet verbindlich auch über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und nicht nur über Rechtsstreitigkei- ten zwischen Verfassungsorganen (Art. 93 GG). Inhaltlich stellen die Grundrechte nichts Neues dar. Sie gehören in die westliche, liberal- demokratische Tradition, die auf die englische Verfassungsentwicklung, die amerikani- sche und die Französische Revolution zurückgeht. Sie lassen sich im Wesentlichen in zwei Gruppen gliedern: Liberale „Abwehrrechte“ gegenüber dem Staat. Darunter fallen Persönlichkeits- schutz und Menschenwürde, Glaubensfreiheit, Freizügigkeit, Berufsfreiheit, Wehr- dienstverweigerung, Unverletzlichkeit der Wohnung, Eigentum, Staatsangehörig- keit, Postgeheimnis, Gleichheit vor dem Gesetz. Neben diesen Individualrechten (also für Einzelpersonen) zählen zu dieser Gruppe noch als institutionenbezogene Rechte (also für gesellschaftliche Einrichtungen) beispielsweise der Schutz der Fa- milie und das Elternrecht. Demokratische Mitwirkungsrechte am öffentlichen Leben, also Meinungs-, Ver- sammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Petitions- und Wahlrecht. Institutionellen Bezug hat die Pressefreiheit. Diese Grundrechte dienen der Verwirklichung der vier wichtigsten Grundsätze des Rechtsstaates, die Sie sich nochmals verdeutlichen sollten: Freiheitssicherung: Der Staat soll die Freiheitsrechte des Individuums nicht beschrän- ken und er soll die Privatsphäre des Individuums schützen. Die Freiheit des Einzelnen, zu deren Sicherung die staatliche Gewalt eingesetzt ist, findet ihre Grenze nur da, wo die Freiheit des anderen beginnt. Da ein unbeschränkter Gebrauch der Freiheit zum Recht des Stärkeren führen würde, überwacht der Staat die Geltung der Freiheitsrechte auch in den Beziehungen Privater untereinander und gewährt im Konfliktfall dem Indi- viduum Schutz gegen mächtige soziale Gruppen und Organisationen. Rechtsgleichheit: Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich. Das Prinzip des Rechtsstaats verträgt sich nicht mit der Existenz privilegierter Klassen. Rechtssicherheit: Zur Rechtssicherheit gehört, dass die rechtlichen Folgen persönli- chen, ökonomischen ( wirtschaftlichen) und politischen Handelns kalkulierbar sind. Der Idee nach soll formal gesetztes, überprüfbares und gesichertes Recht den Rahmen des Handelns fest und unerschütterlich umreißen. Daher gehört zum Rechtsstaat: die Bindung der staatlichen Organe an Recht und Gesetz die Ermächtigung des Staates zu Eingriffen in die Privatsphäre des Einzelnen nur aufgrund eines Gesetzes („Gesetzesvorbehalt“) das Verbot willkürlicher Verhaftung (ohne richterlichen Haftbefehl) das Verbot rückwirkender, das heißt erst nach Begehung der betreffenden Tat erlas- sener Strafgesetze 14 PUW01 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes 1 das Gebot der Verhältnismäßigkeit (also beispielsweise keine lebenslängliche Haft für Ladendiebstahl) Gewaltenteilung: Der Grundsatz des gemäßigten, an das Recht gebundenen Staates wird durch die Gewaltenteilung verwirklicht. Dabei hat sich als Grundmodell die von Charles de Montesquieu skizzierte Trennung von Exekutive (vollziehender Gewalt), Legislative (Gesetzgebung) und Judikative (richterlicher Gewalt) durchgesetzt. Aller- dings sind im modernen Parlamentarismus die Exekutive (Regierung) und die Legislati- ve (Parlament) nicht stark getrennt, sondern eher miteinander verflochten: Die Regie- rung ist ein verlängerter Arm der Parlamentsmehrheit, die sie wählt und stützt. Die Kontrollbefugnisse gehen auf die Opposition über. Somit verbleibt als wichtigstes Ele- ment der Gewaltenteilung die Unabhängigkeit der Gerichte. Die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichtes zeigt, dass diesem Grundsatz im Grundgesetz eine hohe Wertigkeit eingeräumt worden ist. Im Hinblick auf die Medien spricht man gelegentlich auch von einer „vierten Gewalt“. Allerdings sind die Medien kein Teil der staatlichen Gewalt, sie üben ihre Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktion in der Gesellschaft aus. Arbeitstipp: Erläutern Sie: Formeller und materieller Rechtsstaatsbegriff Vier Grundprinzipien des Rechtsstaats 1.5 Sozialstaat Das Grundgesetz enthält eine Reihe von Vorschriften, die dem Staat soziales Handeln gebieten. Ausdrücklich gefordert wird der soziale Staat im Grundgesetz nur an zwei Stellen: Art. 20 Abs. 1 GG bestimmt, dass die Bundesrepublik ein „demokratischer und sozi- aler Bundesstaat“ ist. Nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“. Man bezeichnet diese beiden Formulierungen als Sozialstaatspostulat. Ähnliche Rege- lungen finden sich in den meisten Landesverfassungen. Es ist also zunächst nur ein all- gemeiner Auftrag an den Staat oder eine Staatszielbeschreibung. Wie dies umgesetzt werden kann, bleibt der jeweiligen politischen Mehrheit, also dem Gesetzgeber überlas- sen. Letztlich ist es eine Frage der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Prioritäten- setzungen und nicht zuletzt der finanziellen Möglichkeiten des Staates. Auch über die Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung schweigt sich das Grundgesetz weitgehend aus. Im ersten Teil des Grundgesetzes, in dem die Grundrechte aufgeführt sind, findet sich nur der Hinweis, das private Eigentum solle zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen (Art. 14), und Art. 15 erlaubt die mögliche Sozialisie- rung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln. Es wird oft be- hauptet, das Grundgesetz enthalte abgesehen von diesen vagen bzw. Kann-Bestimmun- gen keine konkreten Normen zur Wirtschaftsverfassung. Im Unterschied zu anderen PUW01 15 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes Verfassungen, etwa derjenigen der früheren DDR, kennt das Grundgesetz in der Tat kei- ne einklagbaren Ansprüche wie ein Recht auf Arbeit, auf Bildung oder auf Wohnung. Andererseits enthält es wichtige Elemente einer freiheitlichen Wirtschafts- und Sozial- ordnung, die mit sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen nur schwer in Übereinstim- mung zu bringen sind. Dazu gehören das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2), die Unabhängigkeit der Presse (Art. 5), Versammlungs-, Vereinigungs- und Ko- alitionsfreiheit (Art. 8 und 9), Berufsfreiheit und Verbot von Zwangsarbeit (Art. 12) und die Garantie des Eigentums- und Erbrechts (Art. 14). Konkretisiert hat das Sozialstaatsgebot das Bundesverfassungsgericht in seiner Recht- sprechung. Demnach soll der Staat für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze sorgen, eine gerechte Sozialordnung garantieren, die Existenzgrundlagen der Bürger sichern und fördern. Diese soziale Verpflichtung des Staates gründet sich auf weitere Verfassungsgrundätze. Beispiele: Die Verpflichtung des Staates, jedem Bürger ein Existenzminimum zu sichern, leitet sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ab: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Art. 3 GG mit seinen Gleichheitssätzen verpflichtet den Staat, Ungleich- behandlungen abzubauen oder zu vermeiden. Art. 6 GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates und for- dert die Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern. Die soziale Sicherung wird durch ein ganzes Netz von Leistungen („soziales Netz“) ge- währleistet. Dabei unterscheidet man drei unterschiedliche Prinzipien: das Versicherungsprinzip: Arbeitnehmer (mit Ausnahme von Beamten) unter- liegen einer gesetzlichen Sozialversicherungspflicht. Sie und ihre Arbeitgeber leisten gesetzlich festgelegte Zwangsbeiträge zur Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Die Arbeitgeber tragen zusätzlich die Beiträge zur (beruflichen) Unfallversicherung. Allerdings funktionieren die Gesetzlichen Sozialversicherungen im Gegensatz zu den Privatversicherungen nicht nach dem Äquivalenz-, sondern nach dem Solidarprinzip: In privaten Versicherungen hängt die Höhe des Beitrags vom individuellen Risiko und dem gewünschten Leistungsspektrum ab (Preis und Leistung sind also äquivalent, d. h. entsprechen sich). Die Sozialversicherung dage- gen funktioniert nach dem Solidar- (oder auch Solidaritäts)prinzip: Zwischen Versi- cherung und Versicherten besteht kein Vertragsverhältnis – die Mitgliedschaft be- steht aufgrund gesetzlichen Zwangs und die Beiträge bemessen sich nicht nach Risiko oder Leistung, sondern sind vom Einkommen abhängig. das Versorgungsprinzip: Hier entstehen Ansprüche nicht aufgrund erbrachter Ver- sicherungsbeiträge, sondern als Gegenleistung für besondere Leistungen, insbeson- dere für den Staat. Dazu gehören vor allem die Beamten-Pensionen. das Fürsorgeprinzip: Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip werden in Notlagen und nach Bedürftigkeit gewährt – also ohne eine Gegenleistung des Empfängers. Dazu gehören das ALG II („Hartz IV“), Wohngeld, Jugendhilfe und andere Zuschüs- se an bedürftige Personen. 16 PUW01 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes 1 Neben diesen direkten Leistungen gibt es auch eine Reihe weiterer indirekter Leistun- gen des Staates, etwa Steuervorteile, Subventionen u. dgl. Zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit Die staatliche Sozialpolitik muss sich immer wieder an neue Herausforderungen anpas- sen, denn der wirtschaftliche Strukturwandel, demographische Entwicklungen und die sich verändernden finanziellen Möglichkeiten des Staates verlangen ständige Neujustie- rungen in den staatlichen Sozialsystemen. Da es im Kern dabei um die Verwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen und um Steuerbelastungen oder Entlastungen für ver- schiedene gesellschaftliche Gruppen geht, also um Verteilungsfragen, spielt die „soziale Gerechtigkeit“ in den Debatten eine große Rolle. Dabei ist dieser Begriff sehr vage und kann ganz Unterschiedliches bedeuten. Es kommt letztlich darauf an, welchen Gerech- tigkeitsbegriff man zugrunde legt. Hier einige gängige Gerechtigkeitsvorstellungen: Verteilungsgerechtigkeit: Gerechtigkeit wird hier an gesamtwirtschaftlichen Verteilungsergebnissen gemessen – unabhängig davon, wie viel einzelne Gruppen zu diesem Ergebnis beigetragen ha- ben. Maßstab ist immer eine maximale egalitäre Verteilung bei Einkommen und Ver- mögen („Jedem das Gleiche“). Verfahrensgerechtigkeit: Ob ein Zustand oder eine Maßnahme als sozial gerecht einzustufen ist, bemisst sich danach, ob es die dem Verfahren zugrunde liegenden Regeln sind. Am wichtigsten ist hier der Grundsatz der Gleichbehandlung und der Chancengleichheit („Jedem das Seine“). Leistungsgerechtigkeit: Gerechtigkeit erfordert nach diesem Verständnis ein ausgewogenes Verhältnis zwi- schen Leistung und Lohn. Ungerecht wäre eine Privilegierung etwa nach bloßer Herkunft oder Abstammung. Gerecht aber ist es, durch eigene Anstrengung und Leistung zu dem zu werden, was man ist („Leistung muss sich lohnen.“), auch wenn dadurch soziale Unterschiede extrem werden können. Beteiligungsgerechtigkeit: Gerecht ist eine Sozialordnung dann, wenn sie allen gesellschaftlichen Gruppen und jedem Individuum gleiche Rechte und Chancen einräumt, am gesellschaftlichen Fortschritt teilzuhaben. Zusammenfassung Das bundesdeutsche Grundgesetz von 1949 zieht Konsequenzen aus den vorherigen ge- schichtlichen Erfahrungen (zwei Weltkriege, verletzte Menschenrechte und die legale Ermächtigung des NS-Unrechtsregimes). Im Grundgesetz spiegelt sich der Wille wider, eine dauerhafte Demokratie einzuführen und Sicherungsmechanismen einzurichten, um demokratiefeindlichen Bestrebungen keine Chance zu geben. Zu den grundsätzlichen Prinzipien des Grundgesetzes gehören: eine wehrhafte Demokratie, die ihre Rechte notfalls massiv verteidigen darf; PUW01 17 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes die (repräsentative) parlamentarische Demokratie, in der die Bevölkerung das Staatsoberhaupt und die Regierung nicht direkt wählt, sondern nur die Zusammen- setzung des Parlaments bestimmt; ein föderalistisches System, in dem die Bundesländer über den Bundesrat an der Gesetzgebung mitwirken; das Rechtsstaatprinzip, in dem die Grundrechte besonders hervorgehoben werden und jeder Bürger die Gerichte anrufen kann, um sein Recht zu erhalten; ferner das Sozialstaatspostulat, das den Staat zu sozialem Handeln und zu einem Ausgleich sozialer Gegensätze verpflichtet, ohne dabei eine bestimmte Wirtschafts- und Sozialpolitik vorzuschreiben. Die Sicherungsmechanismen bestehen in mannigfachen Kontrollinstanzen, so eine weitgehende Gewaltenteilung, eigene Rechte der Bundesländer, eingegrenzte Rechte einzelner Personen und Organe. Wiederholungsaufgaben 1.1 Welche Aufgaben haben Verfassungen? Gehen Sie bei Ihrer Antwort bitte be- sonders auf das deutsche Grundgesetz ein. Sie sollten dazu auch in das Inhalts- verzeichnis des Grundgesetzes schauen. 1.2 Inwiefern zieht das Grundgesetz Konsequenzen aus dem Scheitern der Weima- rer Republik? 1.3 Definieren Sie bitte in eigenen Worten den Begriff „wehrhafte Demokratie“. 1.4 Welche Bestimmungen im Grundgesetz zeigen den Durchbruch zu konsequent parlamentarischer Regierungsweise? 1.5 Definieren Sie bitte den Begriff: „Föderalismus“. Welche Funktion sollte er nach 1945 erfüllen? 1.6 Inwiefern lässt sich von einem „Exekutivföderalismus“ sprechen? 1.7 Beschreiben Sie bitte kurz, welche Bedeutung die Kommunen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland haben. 1.8 Inwiefern gehört das Rechtsstaatsprinzip zu den grundlegenden Merkmalen des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland? Was ist das Neuar- tige an der Rechtsstaatskonstruktion des Grundgesetzes? 1.9 Was für eine Art Recht nehmen Sie wahr, wenn Sie a) darauf bestehen, dass keine staatliche Behörde Ihre Post öffnet? b) zur nächsten Wahl gehen und der Partei Ihres Vertrauens Ihre Stimme ge- ben? 1.10 Was versteht man unter dem „Sozialstaatspostulat“ des Grundgesetzes? Nach welchen Prinzipien ist die soziale Sicherung in Deutschland ausgestaltet? 18 PUW01 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes 1 Übungsaufgaben Ein zentrales Thema dieses Kapitels war das Verhältnis von repräsentativer und plebis- zitärer Demokratie. In Ihrer Abiturprüfung müssen Sie ein solches Thema anhand eines Textes oder auch mehrerer Texte erörtern. Die folgende Übung gibt Ihnen hierfür ein erstes Beispiel. Gehen Sie bitte Schritt für Schritt vor: Lesen Sie zuerst einmal die Aufgabenstellungen. Sie merken dabei, dass konträre Ge- sichtspunkte einander gegenübergestellt werden sollen, und dass auch Ihre Meinung ge- fragt ist. Dann sollten Sie den Text gründlich lesen und verstehen. Dazu ist es notwendig, dass Sie Begriffe, die Sie nicht kennen, in einem Wörterbuch, Lexikon oder im Internet nach- schlagen. Um sicherzugehen, dass Sie die Argumentation des Autors verstanden haben, sollten Sie sich die wichtigsten Aussagen markieren. Worum geht es in diesen Texten? Welche Mei- nung vertritt der Verfasser? Wie begründet er dies? Lesen Sie danach noch einmal die Aufgabenstellungen. Arbeiten Sie dann den Text streng bezüglich der Aufgabenstellungen durch und markieren Sie die Aussagen, die für die Aufgabenlösung wichtig sind. Dann arbeiten Sie Ihre Antwort schriftlich aus, wobei Sie sich bitte genau an die Aufga- benstellung halten. Aufgabe: 1.1 Fassen Sie den Zeitungsartikel mit eigenen Worten möglichst knapp zusammen, und erläutern Sie anschließend den Begriff der „Zuschauerdemokratie“. 1.2 Wägen Sie die Chancen und Risiken der von Wassermann vorgeschlagenen Grundgesetzänderungen gegeneinander ab; beziehen Sie die bisher schon beste- henden Möglichkeiten zur politischen Teilhabe in Ihre Überlegungen ein, und kommen Sie abschließend zu einem begründeten eigenen Urteil. Text: Die Zuschauerdemokratie Der folgende Text aus dem Jahre 1984 stammt von dem früheren Oberlandesgerichtsprä- sidenten in Braunschweig, Rudolf Wassermann. Trotz seines Alters hat er nichts an Ak- tualität eingebüßt, da im Gefolge der Wiedervereinigung, aber auch in der Diskussion um Maastricht und die Vollendung der Europäischen Union immer wieder die Forderung nach direkter Beteiligung des Volkes an solch weitreichenden Entscheidungen laut wird. (Die Rechtschreibung wurde den heutigen Standards angepasst.)... Kern jeder demokratischen Forderung ist die Teilhabe. Die Demokratie kann nur überleben, wenn sie sich von der passiven Zuschauerdemokratie... zur aktiven Teil- nehmerdemokratie wandelt.... Lässt man Revue passieren, was an institutionellen Ar- rangements zur Ermöglichung von Partizipation auf dem Meinungsmarkt angeboten wird, so ist es in erster Linie der Gedanke der Ergänzung des Repräsentationssystems durch die Einführung von Plebisziten, der Aufmerksamkeit erregt.... PUW01 19 © SGD, 23.01.25, Gerlach, Alexander (1126567) 1 Zentrale Prinzipien des Grundgesetzes Da Art. 20 Abs. 2 GG ausdrücklich bestimmt, dass das Volk die Staatsgewalt sowohl in Wahlen als auch in Abstimmungen ausübt, bestehen keine verfassungsrechtlichen Be- denken gegen die Einführung des Plebiszits. Es würde dadurch nur von einer im Grund- gesetz vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, also ein Vollzugsdefizit der Verfas- sung beseitigt werden.... Noch weniger überzeugend ist der Zweifel an der Fähigkeit des Bürgers, sich bei Volks- entscheiden vernünftig zu entscheiden. Dieser Zweifel ist ein Einwand gegen die Demo- kratie als solche; er entspricht haargenau der Position, die früher einmal gegen die de- mokratischen Wahlrechtsreformen eingenommen wurde, die für uns heute Selbstver- ständlichkeiten sind. Es ist bekannt, in welcher Weise sich die Bundestagswahlen zu Per- sonalplebisziten entwickelt haben. Wer angesichts dessen Plebiszite über Sachfragen für eine Überforderung des souveränen Bürgers hält, plädiert für eine Demokratie, in der das einmal gewählte Führungspersonal während der Wahlperiode in den Grenzen der Verfassung machen kann, was es will. Der gegenwärtige Zustand entspricht diesem im Grunde aristokratischen Ideal.... Er betrachtet den Bürger nicht als Souverän, sondern als Resonanzboden für die von den Funktionseliten in Parteien, Regierung und Exekuti- ve gefällten Entscheidungen. Im Übrigen lassen sich alle vorgebrachten Einwände... durch konkrete Regelungen über das Volksbegehren und den Volksentscheid ausräumen. Es trifft einfach nicht zu, wenn man — wie dies immer wieder geschieht — unterstellt, die im Gesetzgebungsverfahren zu treffenden Sachentscheidungen seien stets so komplex1, dass sie für den Bürger nicht beurteilbar seien. Wie überhaupt im politischen Bereich, so ist auch hier eine Reduktion der Komplexität ( eine Einengung auf das Wesentliche) geboten und möglich. Die Be- hauptung, dass dies nicht möglich sei, dient der Pflege einer Legende, hinter der sich die Furcht der an der Macht befindlichen Gruppen vor politischen Entscheidungen verbirgt, die sie nicht ausreichend kontrollieren können. Zudem ist das Plebiszit gegen den Durchgriff von Sonderinteressen weitgehend immun. Man kann es deshalb gar nicht deutlich genug aussprechen, dass sich Parlamentarismus und Referendum2 nicht aus- schließen, sondern sich ergänzen können... [aus: Frankfurter Rundschau vom 30.8.1984] 1. umfassend, unüberschaubar 2. Plebiszit 20 PUW01