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Skript_Staatsrecht II_Teil 10.pdf

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 D. Prozessuale Geltendmachung von Grundrechtsverstößen „Doch leider hat man bisher nicht vernommen, dass etwas recht war und dann war´s auch so.“ (Kurt Weill / Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper, 1928 – erstes Dreigroschenfinale) I...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 D. Prozessuale Geltendmachung von Grundrechtsverstößen „Doch leider hat man bisher nicht vernommen, dass etwas recht war und dann war´s auch so.“ (Kurt Weill / Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper, 1928 – erstes Dreigroschenfinale) I. Geltendmachung vor den Fachgerichten ▪ Grundrechtsverstöße sind primär im Rahmen eines konkreten Rechtsstreits vor dem jeweils zuständigen Fachgericht geltend zu machen. Da gem. Art. 1 III GG auch die Rechtsprechung (Judikative) an die Grundrechte gebunden ist, muss sie etwaigen Grundrechtsverstößen durch die „vollziehende Gewalt“, aber auch durch die Gesetzgebung und die Rechtsprechung selbst (z.B. im Rahmen einer Berufung oder Revision) abhelfen. Ggf. erfordert dies – so bei vom Parlament beschlossenen nachkonstitutionellen Gesetzen – eine Vorlage nach Art. 100 I GG. ▪ Nur am Rande sei bemerkt, dass die Fachgerichte – so der Rechtsstreit hierzu Anlass bietet – auch die Gemeinschaftsgrundrechte und die Grundrechte aus der EMRK zu berücksichtigen haben. II. Geltendmachung vor den Verfassungsgerichten ▪ Grundrechtsverstöße der Staatsgewalten können im Übrigen vor den Verfassungsgerichten des Bundes (BVerfG) und der Länder (in BadenWürttemberg: Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg3, StGH) geltend gemacht werden. ▪ Für den Bürger kommen insofern 2 Verfahren in Betracht: Die Verfassungsbeschwerde (dazu sogleich nachfolgend III.) sowie die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 I GG (s.o.). Letztere kann vom Bürger allerdings nur angeregt, nicht hingegen „erzwungen“ werden. III. Insbesondere die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 I 4a GG (Schema) Zur Vertiefung: Ebert, Grundwissen: Verfassungsbeschwerde, ZJS 2015, 485 ff. 1. Zulässigkeit a) Beschwerdefähigkeit (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG) Unter Beschwerdefähigkeit versteht man die Fähigkeit, vor dem BVerfG eine Verfassungsbeschwerde zu erheben. Gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG ist „jedermann“ beschwerdefähig. Dies setzt die Fähigkeit voraus, Träger von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten sein zu können (Grundrechtsfähigkeit). Die Grundrechtsfähigkeit muss im Hinblick auf das konkret als verletzt gerügte Grundrecht bzw. grundrechtsgleiche Recht bestehen. 3 Bei der Bezeichnung des StGH ist eine Änderung zu erwarten. Die Möglichkeit der Landesverfassungsbeschwerde wurde in Baden-Württemberg erst im Jahre 2013 eingeführt. Nun soll der Name des Verfassungsgerichtes an diese Neuerung angepasst werden. 161 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 aa) Natürliche Personen Bei Inländern i.S.d. Art. 116 I GG kann die Grundrechtsfähigkeit knapp bejaht werden. Ausländer sind beschwerdefähig, soweit sie sich auf ein Grundrecht bzw. grundrechtsgleiches Recht berufen können, von dessen persönlichen Schutzbereich sie erfasst werden (partielle Grundrechtsunfähigkeit bezüglich der Deutschengrundrechte). Zu beachten ist die Sonderstellung von Ausländern aus EUMitgliedstaaten: Wegen des allgemeinen Diskriminierungsverbots in Art. 18 AEUV müssen insoweit entweder alle Deutschengrundrechte auch für EU-Ausländer Anwendung finden oder der als Auffanggrundrecht fungierende Art. 2 I GG muss so ausgelegt werden, dass er einen den Deutschengrundrechten gleichwertigen Schutz gewährt. Eine spezielle Situation liegt überdies beim Tod des Beschwerdeführers während des Prozesses vor. Da es dazu keine gesetzliche Regelung gibt, sind die Folgen laut BVerfG4 für jeden Einzelfall unter Berücksichtigung der Art des angegriffenen Hoheitsaktes und des Standes des Verfahrens gesondert zu beurteilen. Es hat sich jedoch folgende (grobe) Leitlinie entwickelt5: Geht es um ein vermögenswertes Recht, kann die Beschwerde-befugnis auf die Erben übergehen.6 Aus prozessökonomischen Gründen wird dann einfach das Verfahren mit den Erben weitergeführt. Liegt hingegen ein höchstpersönliches Recht in Streit, so geht das BVerfG grundsätzlich von einer Erledigung des Rechtsstreits aus. Ausnahmsweise geht das BVerfG dennoch aufgrund der objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde von einer Befugnis zur Entscheidung aus.7 (Hinweis: Der Prüfungsort für dieses Problem ist umstritten. Einige Stimmen in der Literatur sehen den Punkt „Rechtsschutzinteresse“ als passenden Ort für die Überprüfung an, weil man dort passenderweise die Folgen (Erledigung) unterbringen kann.8 Andere verorten das Problem im Rahmen der Beschwerdefähigkeit.9) bb) Juristische Personen (Art. 19 III GG) Zum Begriff der juristischen Person im Sinne des Art. 19 III GG und zum Problem des Grundrechtsschutzes juristischer Personen des öffentlichen Rechts vgl. B. III. 1 e) sowie Schema Verletzung eines Freiheitsgrundrechtes. 4 BVerfGE 6, 389 (442). Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., Rn. 515 (m.w.N.); Lenz/Hansel, BVerfGG, § 90 Rn. 88. 6 Vgl. BVerfGE 114, 371 (383) m.w.N. 7 BVerfGE 124, 300 (318 f.). 8 Prüfung der Folgen der Erledigung unter dem Punkt „Rechtsschutzinteresse“ bei: Lechner/Zuck, BVerfGG, 6. Aufl., § 90 Rn. 117. 9 Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., Rn. 515 (m.w.N.); Lenz/Hansel, BVerfGG, § 90 Rn. 88; Ruppert, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.) BVerfGG, 2. Aufl. Rn. 23. 5 162 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Zur Vertiefung: Hummel, Beschwerdefähigkeit und Beschwerdebefugnis – zum Prüfungsort des Art. 19 III GG bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, JA 2010, 346 ff. ggf. ergänzen mwN: Ludwigs/Friedmann, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 III GG, JA 2018, 807. b) Prozessfähigkeit Die Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst oder durch selbst bestimmte Bevollmächtigte wirksam vornehmen (lassen) zu können. Grundsätzlich setzt dies die Geschäftsfähigkeit des Handelnden voraus. Bei Erwachsenen ist dies i.d.R. unproblematisch und daher im Gutachten nur knapp oder gar nicht zu erwähnen, es sei denn, es handelt sich um psychisch Kranke oder Betreute (vgl. §§ 1896 ff. BGB). Dabei gilt im verfassungsgerichtlichen Verfahren der Grundsatz, dass geistig Kranke oder betreute Personen zumindest prozessfähig hinsichtlich einer staatlichen Entscheidung über ihren Geisteszustand sind (vgl. BVerfGE 10, 302 [306]; 65, 317 [321]). Problematisch ist die Prozessfähigkeit zumeist bei Minderjährigen. Diese werden grundsätzlich von ihrem gesetzlichen Vertreter (i.d.R. die Eltern – § 1629 I BGB) vertreten. Wenn der Minderjährige jedoch als reif anzusehen ist10 oder gar von der Rechtsordnung11 als reif angesehen wird, in dem grundrechtlich geschützten Bereich eigenverantwortlich zu handeln (Grundrechtsmündigkeit), so kann er selbst Prozesshandlungen vornehmen oder einen Bevollmächtigten bestimmen. Für juristische Personen muss stets deren vertretungsbefugtes Organ handeln. c) Beschwerdegegenstand (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG) Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde kann jeder Akt der deutschen öffentlichen Gewalt i.S.v. Art. 1 III GG (Legislative, Exekutive, Judikative) sein. Akte öffentlicher Gewalt sind auf die Setzung einer Rechtsfolge gerichtete Akte oder ein einfaches Tun oder Unterlassen.12 Die Verfassungsbeschwerde ist also auch unmittelbar gegen Gesetze 13 (sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerde), gegen Rechtsverordnungen (vgl. Art. 80 GG) oder Verwaltungsakte und gegen Gerichtsentscheidungen 14 (sog. Urteilsverfassungsbeschwerde) möglich. Bei mehreren Akten der öffentlichen Gewalt in der gleichen Sache (z.B. Verwaltungsakt, Widerspruchsbescheid, Urteile der Instanzgerichte) hat der Beschwerdeführer die Wahl, entweder nur die letztinstanzliche Gerichtsentscheidung oder alle Entscheidungen und den zu Grunde liegenden Akt der vollziehenden Gewalt anzugreifen. In jedem Fall handelt es sich nur um eine Verfassungsbeschwerde. Im Erfolgsfall werden grundsätzlich nur die vom Beschwerdeführer angegriffenen Akte vom BVerfG 10 Bspw. ein minderjähriger Redakteur einer Schülerzeitung für Art. 5 I GG. Vgl. insbes. § 5 RelKErzG, wonach sich Kinder ab dem 14. Lebensjahr selbst, d.h. ohne Mitwirkung ihres gesetzlichen Vertreters, auf Art. 4 I, II GG berufen dürfen. 12 Vgl. §§ 92, 95 I 1 BVerfGG, wo dies vorausgesetzt wird. 13 Vgl. §§ 93 III, 94 IV, 95 III BVerfGG. 14 Vgl. §§ 93 I, 94 III, 95 II BVerfGG. 11 163 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 aufgehoben. Trifft der Beschwerdeführer keine ausdrückliche Wahl, so gelten der Ausgangsakt und die letztinstanzliche Entscheidung als angegriffen. d) Beschwerdebefugnis (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG) Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde setzt des Weiteren voraus, dass der Beschwerdeführer behauptet, durch den Beschwerdegegenstand in einem Grundrecht oder in einem der in Art. 93 I Nr. 4a GG abschließend genannten grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein. Der angegriffene Akt muss dabei zugleich geeignet sein, den Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seiner grundrechtlich geschützten Position zu beeinträchtigen. aa) Behauptung einer Grundrechtsverletzung Der Beschwerdeführer muss zumindest die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung geltend machen (sog. Möglichkeitstheorie). Die Rechtsverletzung darf also nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Hier sind in einer Klausur die in Betracht kommenden Grundrechte zu nennen. Ob tatsächlich eine Grundrechtsverletzung vorliegt, ist indes keine Frage der Zulässigkeit, sondern Gegenstand der Begründetheitsstation (2.). Ein bloß subjektives Empfinden, in einem Grundrecht verletzt zu sein, reicht nicht aus. Die angegriffene Maßnahme muss Rechtswirkungen entfalten und geeignet sein, Rechtspositionen des Beschwerdeführers nachteilig zu verändern. Besitzt ein Verhalten der öffentlichen Gewalt keinen Regelungsgehalt (z.B. bloße Mitteilungen über den Stand der Dinge) und keine Außenwirkung (z.B. behördeninterne Anträge), besteht schon nicht die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung. bb) Betroffenheit des Beschwerdeführers (1) selbst Der Beschwerdeführer muss in eigenen Grundrechten betroffen sein. Eine Popularbeschwerde ist verboten. Er darf kein fremdes Grundrecht (also das einer dritter Person) im eigenen Namen geltend machen (gewillkürte Prozessstandschaft15). Eine juristische Person kann nur für sich selbst und nicht für ihre Mitglieder Verfassungsbeschwerde erheben. Unproblematisch ist diese Voraussetzung, wenn der Beschwerdeführer Adressat des angegriffenen Aktes der öffentlichen Gewalt ist. Ist hingegen ein Dritter Adressat dieses Aktes, so muss der Beschwerdeführer seine Betroffenheit in eigenen Grundrechten ausführlich darlegen. Eine bloß mittelbare oder wirtschaftliche Berührung des Beschwerdeführers genügt dafür nicht. 15 Verfassungsbeschwerden in gesetzlicher Prozessstandschaft durch Parteien kraft Amtes (z.B. Testamentsvollstrecker – vgl. §§ 2212f BGB) sind jedoch zulässig. 164 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 (2) gegenwärtig Der Beschwerdeführer muss schon oder noch betroffen sein. Eine mögliche zukünftige Betroffenheit durch den angegriffenen Akt öffentlicher Gewalt genügt nicht (z.B. noch nicht erlassener Verwaltungsakt, noch nicht in Kraft getretenes Gesetz oder ein Gesetz, das gegenwärtig nicht auf den Beschwerdeführer anwendbar ist, weil er dessen Voraussetzungen nicht erfüllt). Ausnahmsweise wird die gegenwärtige Betroffenheit jedoch bejaht, wenn ein Gesetz die Normadressaten bereits jetzt zu später nicht mehr korrigierbaren Dispositionen und/oder Entscheidungen zwingt. Bei vergangenen oder bereits aufgehobenen Maßnahmen wird eine Ausnahme gemacht, wenn von diesen weiterhin Beeinträchtigungen ausgehen oder Wiederholungen ernsthaft zu befürchten sind. (3) unmittelbar Die behauptete Grundrechtsverletzung muss bereits durch den angegriffenen Akt selbst und nicht erst durch einen noch erforderlichen weiteren Akt (insbesondere Vollzugsakt) eintreten. Problematisch ist diese Voraussetzung vor allem bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden, da sich Gesetze i.d.R. nicht unmittelbar gegen den Beschwerdeführer richten, sondern auf den Vollzug durch die Verwaltung bzw. die Gerichte angelegt sind (Ausn.: Das Gesetz ist „self-executing“16). Erst der konkrete, gegen den Beschwerdeführer gerichtete Vollzugsakt (z.B. Verwaltungsakt oder Gerichtsentscheidung) betrifft ihn unmittelbar, so dass vor der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde i.d.R. erst dieser Vollzugsakt abzuwarten bzw. zu beantragen und sodann im normalen Rechtsweg anzufechten ist. Zu den abzuwartenden Vollzugakten zählen allerdings nicht die Sanktionen des Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitenrechts, da ihr Abwarten stets unzumutbar ist. Eine Ausnahme vom Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit wird ferner zugelassen, wenn ein Gesetz den Normadressaten bereits vor Erlass eines Vollzugsaktes zu Entscheidungen und/oder Dispositionen zwingt, die später nicht mehr korrigiert werden können. e) Rechtswegerschöpfung (§ 90 II BVerfGG) Der Beschwerdeführer muss alle prozessualen Möglichkeiten zur Beseitigung der behaupteten Grundrechtsverletzung ausgeschöpft haben. Er darf dabei keinen zugelassenen Rechtsbehelf unterlassen oder (z.B. wegen Fristablaufs) versäumt haben. Rechtsweg ist dabei der unmittelbar gegen den grundrechtsverletzenden Akt gerichtete, vor deutsche staatliche Gerichte führende Weg mit dem Ziel, die behauptete Rechtsverletzung zu überprüfen und auszuräumen. Er beginnt u.U. bei der Verwaltung (z.B. vorgeschaltetes 16 Gesetz, das die Rechtsstellung des Beschwerdeführers ohne Zwischenschaltung eines Vollzugsaktes unmittelbar verändert, so dass die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz gerichtet werden kann. 165 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Widerspruchsverfahren) und endet i.d.R. mit der letztinstanzlichen (Fach-) Gerichtsentscheidung (eventuell noch Wiederaufnahmeverfahren).17 Nicht zum Rechtsweg zählt die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde vor den Landesverfassungsgerichten (vgl. § 90 III BVerfGG). Ausnahmen vom Gebot der Rechtswegerschöpfung werden zum einen zugelassen gemäß § 90 II 2 BVerfGG18. § 90 II 2 Alt. 1 BVerfGG betrifft das sog. Vorabentscheidungsverfahren. „Von allgemeiner Bedeutung“ sind dabei insbesondere Fälle, deren Entscheidung über den Einzelfall hinaus Rechtsklarheit für viele gleichgelagerte Fälle schafft. § 90 II 2 Alt. 2 BVerfGG setzt voraus, dass das (weitere) Beschreiten des Rechtswegs zu schweren, d.h. intensiven, und unabwendbaren, d.h. irreparablen Nachteilen führt. Eine zusätzliche ungeschriebene Ausnahme ist die der fehlenden Zumutbarkeit des (weiteren) Beschreitens des Rechtswegs. Das wird insbesondere angenommen, wenn dem Begehren des Beschwerdeführers eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung entgegensteht, oder wenn über das Bestehen weiterer Rechtsmittel falsch belehrt wurde. Kein unmittelbarer Rechtsweg existiert gegen formelle Gesetze (vgl. § 93 III BVerfGG) sowie gegen Verordnungen und Satzungen, die nicht der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nach § 47 VwGO (z. B. Rechtsverordnungen des Bundes) unterliegen, so dass das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung in diesen Fällen grundsätzlich keine Relevanz besitzt. Allerdings kann – je nach Einzelfall – in diesen Fällen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde am Kriterium der allgemeinen Subsidiarität scheitern (s. nachfolgend f). f) Allgemeine Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde Vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde muss der Betroffene über das Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 90 II BVerfGG) hinaus alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren und wirkungsvollen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten ergreifen, um eine Korrektur der Grundrechtsverletzung zu erwirken oder den Grundrechtsverstoß zu verhindern.19 Bevor er unmittelbar Verfassungsbeschwerde gegen ein förmliches Gesetz erhebt, muss der Beschwerdeführer deshalb grundsätzlich die Möglichkeit einer inzidenten Normenkontrolle bei den Fachgerichten nutzen, indem er beispielsweise eine Feststellungsklage (§ 43 I VwGO) erhebt oder durch sein Verhalten bzw. einen Antrag einen behördlichen Verwaltungsakt herbeiführt, den er sodann im Wege der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage angehen kann (§ 42 I VwGO). Das Fachgericht prüft dann als Vorfrage die Verfassungsmäßigkeit der Norm und legt diese ggf. nach Art. 100 I GG dem 17 Das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (z.B. nach § 80 V oder § 123 VwGO) ist dabei ein eigener Rechtsweg neben dem Hauptsacheverfahren, der vor Erschöpfung des Hauptsacherechtswegs erschöpft sein kann. Der Beschwerdeführer kann dann bereits nach Erschöpfung des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes eine VB einlegen, soweit sich diese gegen Grundrechtsverstöße in diesem Eilverfahren wendet. 18 Voraussetzung ist dabei, dass der Rechtsweg noch offen ist (er kann auch bereits beschritten sein). 19 Sinn und Zweck dieser allgemeinen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist die umfassende fachgerichtliche Vorprüfung des Prozessstoffes und die Aufbereitung des Tatsachenmaterials durch die Fachgerichte, die auch der gesetzlichen Aufgabenverteilung zwischen BVerfG und den Fachgerichten entspricht. Das BVerfG wird dadurch entlastet. 166 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 BVerfG vor. Unterbleibt die Vorlage im fachgerichtlichen Rechtszug, so ist Verfassungsbeschwerde gegen die Gerichtsentscheidungen möglich.20 In der Klausur taucht das Problem der Subsidiarität typischerweise bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden auf, bei denen ein Rechtsweg i.S.v. § 90 II 1 BVerfGG nicht gegeben ist. Bei Verfassungsbeschwerden gegen Behördenakte ist dem Subsidiaritätsgrundsatz mit der Erschöpfung des Rechtsweges mangels anderweitiger Rechtsschutzmöglichkeiten grundsätzlich genügt. Beruht der Behördenakt jedoch auf einer grundrechtsverletzenden Norm, die eine Ausnahmereglung zulässt, so muss der Beschwerdeführer zunächst versuchen, den Eingriffsakt unter Berufung auf die Ausnahmeregelung zu beseitigen, wenn das nicht offensichtlich aussichtslos ist. Bei erfolgloser Erschöpfung des (rechtlich selbstständigen!) vorläufigen Rechtsschutzverfahrens muss der Beschwerdeführer nach Rspr. des BVerfG21 auch noch das Hauptsacheverfahren durchführen, wenn dieses ausreichende Möglichkeiten zur Abhilfe der Grundrechtsverletzung bietet und dieser Weg dem Beschwerdeführer zumutbar ist. Das ist i.d.R. anzunehmen, wenn (1) ausschließlich Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen, (2) die tatsächliche und einfach-rechtliche Lage durch die Fachgerichte noch nicht ausreichend geklärt ist und (3) dem Beschwerdeführer durch die Verweisung auf den Rechtsweg in der Hauptsache kein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht (Rechtsgedanke des § 90 II 2 BVerfGG). Die Ausnahmen vom Subsidiaritätsgrundsatz entsprechen denen beim Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (analog; s.o. e). g) Form (§§ 23 I, 92 BVerfGG) Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 23 I BVerfGG schriftlich mit Begründung einzureichen. Dafür genügt auch ein Telegramm oder Telefax, nicht aber eine E-Mail. Eine eigenhändige Unterschrift ist nicht erforderlich. Allerdings müssen der Absender sowie der Wille, Verfassungsbeschwerde erheben zu wollen, erkennbar sein. Für die Begründung (§ 92 BVerfGG) muss das als verletzt geltend gemachte Recht dem Inhalt nach umschrieben werden. Eine genaue Artikelangabe ist nicht notwendig. h) Frist (§ 93 I, III BVerfGG) Bei Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen ein formelles Gesetz oder gegen einen Hoheitsakt, gegen den ein Rechtsweg nicht offensteht, kann die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93 III BVerfGG binnen eines Jahres seit Inkrafttreten des Gesetzes bzw. seit Erlass des Hoheitsaktes eingereicht werden. 20 21 Bei Erfolg Resultat: § 95 II, III 2 BVerfGG. BVerfGE 104, 65 – Schuldenspiegel. 167 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Bei sonstigen Akten der öffentlichen Gewalt (insbesondere Gerichtsentscheidungen) gilt die Monatsfrist nach § 93 I BVerfGG. Wird diese unverschuldet versäumt, so gibt es die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 93 II BVerfGG. Verfassungsbeschwerden gegen ein Unterlassen der öffentlichen Gewalt sind ebenfalls grundsätzlich zulässig, solange das Unterlassen andauert. Ab Kenntnis des Beschwerdeführers von der Beendigung des Unterlassens läuft die Monatsfrist des § 93 I BVerfGG. i) Rechtsschutzbedürfnis Noch im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG muss ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsakts bzw. für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit bestehen. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis fehlt daher i.d.R., wenn sich die Beschwer zwischenzeitlich erledigt hat (z.B. durch Aufhebung der grundrechtsverletzenden Maßnahme). Trotz Erledigung besteht das Rechtsschutzbedürfnis ausnahmsweise fort, ▪ wenn von der aufgehobenen oder gegenstandslos gewordenen Maßnahme weiterhin beeinträchtigende Wirkungen ausgehen, ▪ bei besonders schwerwiegenden Eingriffen, ▪ bei Wiederholungsgefahr, ▪ wenn anders verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz nicht erreichbar ist (z.B. bei kurzfristiger Freiheitsentziehung), ▪ wenn andernfalls die Klärung einer grundsätzlich bedeutsamen Frage unterbliebe oder ▪ wenn der Eingriff ein besonders bedeutsames Grundrecht betroffen hat. 2. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der angegriffene Akt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Im Folgenden werden die als verletzt in Betracht kommenden Grundrechte geprüft, wobei das BVerfG umfassend prüft, also nicht auf die als verletzt gerügten Grundrechte beschränkt ist. Prüfungsmaßstab sind dabei ausschließlich die Grundrechte. Das Bundesverfassungsgericht fungiert insoweit nicht als „Superrevisionsinstanz“. D. h. einfachrechtliche Fragen werden nicht vom Bundesverfassungsgericht geklärt. Das Bundesverfassungsgericht untersucht nur, ob die angegriffene Maßnahme gegen Grundrechte verstößt. Es überprüft lediglich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts (sog. Hecksche Formel). Im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde ist der Prüfungsmaßstab vor der eigentlichen Prüfung der Grundrechtsverletzungen darzustellen. Nach der sog. Schumannschen Formel bestimmt sich diese Verletzung spezifischen Verfassungsrechts dadurch, dass „der angefochtene Richterspruch eine Rechtsfolge annimmt, die der einfache Gesetzgeber nicht als Norm erlassen dürfte“ (vgl. Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 29. Aufl., Rn. 1446). Das BVerfG hingegen geht von einer Verletzung spezifischen Verfassungsrechts aus, wenn „bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt ist“ (BVerfGE 89, 276 [285]). Dies ist der Fall, wenn das einschlägige Grundrecht 168 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 übersehen oder grundsätzlich falsch angewendet wurde und die gerichtliche Entscheidung darauf beruht (näher hierzu Kingreen/Poscher, a.a.O. Rn. 1450 f.). Freiheitsgrundrechte werden vor den Gleichheitsgrundrechten geprüft. Unter den Freiheitsgrundrechten werden diejenigen vorrangig geprüft, auf deren Schwerpunkt die Problematik liegt. Durch die Annahme, das Recht der Europäischen Union lasse keinen Umsetzungsspielraum, kann ein Fachgericht Bedeutung und Tragweite der Grundrechte des Grundgesetzes verkennen. (BVerfGE 129, 78 ff.) 169 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Exkurs: Die einstweilige Anordnung, § 32 BVerfGG A. Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 I BVerfGG I. Verfahrensart II. Statthaftigkeit Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache; keine Beschränkung auf bestimmte Verfahrensarten. III. Einleitung des Verfahrens 1. Antragserfordernis; 2. ex officio nur möglich, wenn Hauptsache schon anhängig. IV. Parteifähigkeit Orientierung am Hauptsacheverfahren. V. Antragsbefugnis 1. Geltendmachung schwerer Nachteile oder drohender Gewalt und 2. Eile geboten. VI. Rechtsschutzbedürfnis 1. Keine evidente Unzulässigkeit des Hauptsacheverfahrens. 2. Keine Vorwegnahme der Hauptsache; Ausnahme: wenn sonst irreversible Tatsachen geschaffen würden und der Schutz durch das Ergebnis in der Hauptsache zu spät käme (effektiver Rechtsschutz, Art. 19 IV GG). 3. Fehlen anderweitiger Rechtsschutzmöglichkeiten VII. Form (§ 23 BVerfGG) B. Begründetheit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung • Umfassende Güter- und Interessenabwägung in Form einer Doppelhypothese: Einstweilige Anordnung muss zum gemeinen Wohl dringend geboten sein: 1. Notwendigkeit zur Abwehr schwerer Nachteile, drohender Gewalt oder anderer wichtiger Gründe; 2 Abwägung der Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Hauptsache aber Erfolg hätte (z.B. eine angegriffene Maßnahme verfassungswidrig wäre) gegenüber den Nachteilen, die zu befürchten wären, wenn eine einstweilige Anordnung erginge, die Hauptsache aber nicht erfolgreich wäre (sog. Doppelhypothese) • Erfolgsaussichten in der Hauptsache 1. Grundsatz: nicht zu berücksichtigen! 2. Ausnahme: Vorwegnahme der Hauptsache oder Hauptsache von vornherein evident unbegründet. 170

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