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Fachspezifischer Lernstoff Architektur (2) PDF

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Dieser Dokument enthält Lernstoff für den Architektur-Aufnahmetest an der TU Wien. Es umfasst Themen wie barocke Sakralarchitektur in Rom, Gender in der Architekturtheorie und die Geschichte der horizontalen Verdichtung im Wohnbau.

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Fachspezifischer Lernstoff zum Aufnahmetest für das Bachelorstudium Architektur an der TU-Wien Inhalt: Teil 1: Barocke Sakralarchitektur in Rom von Robert Stalla, erschienen in: Kunsthi...

Fachspezifischer Lernstoff zum Aufnahmetest für das Bachelorstudium Architektur an der TU-Wien Inhalt: Teil 1: Barocke Sakralarchitektur in Rom von Robert Stalla, erschienen in: Kunsthistorische Arbeitsblätter KAb 7/8 2000, Deubner Verlag für Kunst, Theorie und Praxis GmbH & Co KG, Köln, 2000. Umfang: 20 Seiten Teil 2: Gender in der Architekturtheorie (Kap.6) von Dörte Kuhlmann, erschienen in: Kuhlmann, Dörte: Raum, Macht & Differenz Genderstudien in der Architektur, Kapitel 6, Luftschacht, Wien, 2005. Umfang: 25 Seiten Teil 3: Die Geschichte der horizontalen Verdichtung im Wohnbau bis 1934 (Kap. 1) und Die Entwicklung nach 1945 (Kap. 2) von Helmut Schramm, erschienen in Schramm, Helmut: Low Rise – High Density Horizontale Verdichtungsformen im Wohnbau, Springer Verlag, Wien New York, 2008. Umfang: 34 Seiten Teil 4: Entwicklung von Holzleichtbeton- Verbundkonstruktionen von A. Fadai et al., erschienen in Österreichische Ingenieur- und Architektenzeitschrift 162. Jg., Bauen in Holz, Heft 1-12/2017. Umfang: 10 Seiten Abb.3 Rom, Il Gesù, Fassade https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/8/8b/Il_Gesu.jpg Abb.6 Rom, S. Ivo alla Sapienza, Außenbau. Foto: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:%27_Io_al_Centro_%27. jpg Abb.8 Rom, S. Giovanni in Laterno, Langhaus. Foto: https://commons.wikime- dia.org/wiki/File:Rom,_San_Gio- vanni_in_Laterano,_Innenan- sicht,_Hochformat.jpg Abb.9 Rom, s.Agnese in Agone, Fassade. Foto: https://commons. wikimedia.org/wiki/Fi- le:Sant%27Agnese_in_Ago- ne_facade,_Rome,_Italy.jpg Abb.10 Rom, St. Peter, Vierungsaltar. Foto: https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Baldacchino_di_San_ Pietro,_G_L_Bernini.jpg Abb.12 Rom, s. Andrea al Quirinale, Innen- raum, Blick zum Altarraum. Foto: https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Roma._Sant%27An- drea_al_Quirinale._02.JPG Abb.13 Rom, S. Carlo alle Quattro Fontane, Fassade. Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Fachada_-_San_Carlo_alle_Quat- tro_Fontane_01.JPG Abb.14 Rom, S. Andrea al Quirinale, Fassade. Foto: https://commons.wikimedia. org/wiki/File:San_Andrea_al_Quiri- nale_(Bernini)_-_panoramio.jpg Abb.15 Rom, St. Peter und Petersplatz Foto: https://www.flickr.com/photos/ malfet/5031427801 D örte Kuhlman n Raum, Macht & Differenz G e nde r s t udi e n i n d e r A rch i t e k t u r © Dörte Kuhlmann 6 Gender in der Architekturtheorie Über Carolus Linnaeus hieß es, Gott habe die Welt erschaffen, aber der Schwede habe ihr eine Ordnung gegeben. Der Naturforscher, im Jahr 1761 von der schwedischen Krone zu „Carl von Linné“ in den Adels- stand erhoben, war eine zentrale Figur in der systematischen Erfassung von Tieren, Pflanzen und Mineralien. In der zehnten Ausgabe seines Werkes Systema naturae gab er allen ihm bekannten Tieren, etwa 4400 Arten, binomische Namen (Gattung und Art). Er teilte die Tiere nach aristotelischem Vorbild in sechs Klassen ein: Mammalia, Aves, Amphi- bia, Pisces, Insecta und Vermes. Außer der ersten Klasse stammten die Kategorien von Aristoteles und bezogen sich auf verschiedene Charak- teristiken der Tiere: Aves bedeutet Vögel und Pisces Fische, Amphibia verweist auf den Lebensraum dieser Tiere, Insecta auf die Unterteilung des Körpers, und Vermes kommt von der rotbraunen Farbe des Regen- wurms. Der einzige originale Beitrag von Linné war die Einführung der Kategorie Mammalia. Interessanterweise war die Bezeichnung Mamma- lia für die Säugetiere auch der einzige Name, der die geschlechtsspezi- fischen Organe betrachtete. Bis dato hatte man die Tiere, die wir heute als Säugetiere kennen, einschließlich einiger Reptilien und Amphibien, als Quadrupedia, also „Vierfüßer“, bezeichnet.192 Ursprünglich hatte Linné auch die Menschen unter den Quadrupedia eingeschlossen, aber diese Klassifikation wurde von einigen zeitge- nössischen Kritikern abgelehnt, mit dem Verweis, daß Menschen keine Tiere sind und nicht die traditionellen Anforderungen von vier Beinen und einem haarigen Körper erfüllen. Linné antwortete auf diese Kritik durch die Herausstellung von Brüsten als universaler Charakteristik von Vierfüßern und versuchte eine noch komplexere Klassifizierung aller Vierfüßer zu erstellen, basierend auf der Anzahl und Position der Brustwarzen.193 Das Problem, das von Linnés Konkurrenten Comte ⇠ Raum, Macht & Differenz de Buffon aufgezeigt wurde, nämlich daß Pferde keine Brüste und Brustwarzen haben, beweist, daß Brüste kein universales Merkmal von Vierfüßern sind. Die Wahl der Brüste als gemeinsames Merkmal dieser Gruppe ist umso erstaunlicher, als andere und bessere Kriterien bekannt waren. Auf deutsch werden die Mammalia als Säugetiere bezeichnet, und einen vergleichbaren Namen, etwa Lactentia oder Sugentia, hätte man auch auf lateinisch formulieren können, um auszusagen, daß all diese Tiere Muttermilch saugen. Das wäre eine naheliegende und lin- guistisch angemessene Entscheidung gewesen, zumal sich das lateini- sche Wort für Frau, femina, etymologisch vom indoeuropäischen *dhe(i)- ableitet, was soviel bedeutet wie „säugen“ (lateinisch felare). Linné hätte die Vierfüßergruppe auch als Pilosa oder „haarige Tiere“ bezeichnen können, da alle Säugetiere, einschließlich der Wale, Haare besitzen. Diese Bezeichnung war zum Beispiel von Peter Artedi vor- geschlagen worden, der ein Freund von Linnaeus war und das Wort Trichozoologia erfand (die „Wissenschaft von den haarigen Tieren“). Henri de Blainville wiederum verwendete den Begriff Pilifera, was soviel heißt wie „Haare haben“. Londa Schiebinger weist darauf hin, daß Linné durchaus Alternativen hatte und dennoch ein Kriterium wählte, das nicht wirklich als unter- scheidendes Merkmal funktionierte. Daher kann man vermuten, daß seine Entscheidung eher auf kulturellen oder politischen Gründen basierte.194 Sie argumentiert, daß Mammalia als solche bezeichnet wurden, weil Linnaeus zusammen mit anderen Autoren wie Jean- Jacques Rousseau an einer Kampagne des 18. Jahrhunderts teilnahm, die mütterliches Stillen propagierte. Viele Frauen der Mittelklasse und Oberschicht schickten damals ihre Säuglinge zu Ammen aufs Land, wodurch eine hohe Kindersterblichkeit provoziert wurde. Die Angst, daß die Bevölkerung in Europa stark zurückgehen würde, alarmierte die Politiker, die mehr Arbeitskräfte und Soldaten für ihre militärischen und ökonomischen Expansionen brauchten. Es ist auch bezeichnend, daß Linné in demselben Band, in dem er den Terminus Mammalia einführte, den Begriff Homo sapiens vorstellte. Mit anderen Worten, Weisheit wurde als jene Eigenschaft hervorgehoben, die den Menschen von den anderen Tieren in der Primatengruppe unterscheidet (Affen, Lemuren oder Fledermäuse zum Beispiel). Das Konzept erinnerte an Aristoteles’ Definition vom Menschen als animal rationale. Aristoteles meinte, Verstand sei das, wodurch sich Menschen von Tieren unterscheiden, woraus zwar folgte, daß auch Frauen, Kinder und Sklaven einen gewissen Anteil davon hätten, doch waren sie bei Gender in der Architekturtheorie ⇠ Aristoteles nicht alle gleichgestellt. Er behauptete, der Sklave besäße überhaupt keine Urteilsfähigkeit; die Frau besäße zwar welche, jedoch, wenn sie unverheiratet ist, ohne Autorität (aufgrund ihrer mangelnden Anerkennung durch die Gesellschaft oder innerhalb des oikos, wenn sie den Sklaven Anordnungen geben muß), und beim Kind sei sie unausgereift.195 Laut Aristoteles verfügten Männer und Frauen zwar über die gleichen menschlichen Seelen, allerdings traf er auch hier eine Unterscheidung: demnach bekäme ein Kind von der Seite des Vaters eine rationale, denkende Tierseele und von der mütterlichen Seite eine irrationale Pflanzenseele. Beide Teile zusammen, der rationale und der irrationale, würden die menschliche Seele ausmachen.196 Einer ganz ähnlichen Auffassung schien Linné zu folgen, als er ein weibliches Attribut (Brüste) wählte, um den Menschen mit den Tieren zu verbinden, und eine männliche Charakteristik (Verstand), um den spezifischen menschlichen Charakter herauszustellen.197 Doch war dies nicht die einzige Stelle, an der Linné geschlechtliche Rollenbilder betonte. Sogar in bezug auf Pflanzen hatte Linné seine eigenen bezie- hungsweise die damals üblichen konservativen Vorstellungen von zwischenmenschlichen Beziehungen in die Kategorisierung einfließen lassen. So bestanden seine Pflanzen aus „Ehemann“ und „Ehefrau“, die beide „heirateten“. Es gab solche, die „heimlich heirateten“ und solche, die „mehrere Partner“ hatten. Das System von Linné bietet Evidenz für die These vieler feministischer Philosophinnen, daß Gender sogar in jenen Bereichen der Forschung wie den Naturwissenschaften, die man üblicherweise als sozial neutral und objektiv betrachtet, eine bedeuten- de Rolle spielt.198 In den Diskursen, die unmittelbarer soziale Themen adressieren, sind einseitige Gender-Bezüge sehr viel offensichtlicher, ein Beispiel dafür ist die Architekturtheorie. Der Ursprung der Architektur In ihrer Studie Sowing the Body fragte Page duBois mit Blick auf die Psychoanalyse und antike Repräsentationen von Frauen, ob die Theo- rie grundsätzlich männlich sei. Sie führte an, daß das griechische Wort theoria soviel bedeutet wie „betrachten, sehen, schauen, beobachten, erkennen“ und vor allem ein „Zuschauer bei den öffentlichen Spielen zu sein“. Im antiken Griechenland waren die theoroi Botschafter oder Zeugen, die zu den Olympischen Spielen oder zum Orakel von Delphi als Repräsentanten des Staates gesandt wurden. In diesem Sinn wären Theorie und der prüfende Blick traditionell männlich. Natürlich haben die Frauen auch damals schon die Welt betrachtet, aber nur die männ- ⇠ Raum, Macht & Differenz lichen theoroi hießen offiziell „jene, die sehen“.199 Widmet man sich der Geschichte der Architekturtheorie, so fällt auf, daß vor allem seit der Renaissance eine deutliche Hinwendung zum männlichen Geschlecht zu sehen ist, während frühere Interpreta- tionen, Mythen und Deutungen eine recht ausgewogene Verteilung bezüglich beider Geschlechter beinhalten. Mögen auch unter den irdischen Beobachtern des antiken Griechenland nur die männlichen eine Bezeichnung erhalten haben, so traten in ihren Mythen durchaus zahlreiche Frauen oder Göttinnen, auch im Zusammenhang mit der Architektur, auf. Im Mythos von Daidalos als Erfinder der Architektur tritt Pasiphae sozusagen als erste Bauherrin auf, zumindest als diejenige, die die Erfindung der Architektur überhaupt erst verursachte. Nach diesem Mythos überkam Pasiphae, die Gemahlin des Königs Minos auf Kreta, eines Tages der Wunsch, sich mit einem weißen Stier zu vereinen, den Poseidon an Minos geschickt hatte, damit dieser ihn opfere. Pasiphae verliebte sich in den Stier und verhinderte die Opfergabe. Sie beauftrag- te Daidalos, ihr ein Kuhkostüm anzufertigen, wodurch sich der Stier tatsächlich täuschen ließ. Die Frucht dieser Begegnung war das Unge- heuer Minotaurus, halb Mensch, halb Stier, der vor der Welt verborgen werden mußte. Zu diesem Zweck erfand Daidalos die Architektur, ein Labyrinth, aus dem das Untier nicht entkommen konnte. Doch mußte der Minotaurus alle neun Jahre mit sieben Jünglingen und Jungfrauen aus Athen gefüttert werden. Als Prinz Theseus diesem Treiben ein Ende bereiten wollte, kam ihm Ariadne, die Tochter von König Minos, zu Hilfe. Mit einem Wollfaden konnte das Rätsel des Labyrinths überwun- den werden. Nach Ann Bergren gibt es hier eine erste Konfrontation männlich und weiblich konnotierter Künste. Sie erklärte, daß Ariadne die weibliche Kunst des Fadenspinnens erfand, um die männliche Bau- kunst zu enträtseln und zu zerstören. Es gibt auch psychoanalytische Lesarten der griechischen Architektur, die einige ihrer geschlechtlichen Oppositionen hervorheben. Während sich der weibliche Raum im antiken Griechenland in erster Linie auf die dunklen Innenräume in den Privathäusern beschränkte, wurde der männliche Raum, dessen Essenz die offene agora war, durch die phal- lischen Kolonnaden der stoa charakterisiert, die aus architektonischer Sicht einen Mittler zwischen Innen- und Außenraum darstellt, wie Eva Keuls schrieb. In symbolischer Deutung zeige sich durch die Zuord- nung der Frau zu einem Herd der Ausschluß der Frau vom öffentlichen Raum und ihr Status als Besitz eines Mannes, wohingegen die stoa für Gender in der Architekturtheorie ⇠ die Transzendenz des Mannes steht, der zu allen Räumen Zugang hat. Der Tempel kann demnach als eine Überlagerung der männlichen und weiblichen Räume gesehen werden, indem der Innenraum dem Weibli- chen zugeordnet wird und die Kolonnade an die männlich besetzte stoa erinnert.200 In der antiken Götterwelt Griechenlands schien das Ver- hältnis weiblicher und männlicher Gottheiten relativ ausgewogen zu sein, wodurch sich auch die Ausstattung der Tempel nicht sonderlich aufgrund der geschlechtlichen Zugehörigkeit der Götter unterschied. Der Parthenon war als wichtigster Tempel Athens immerhin der weibli- chen Stadtgöttin Athene geweiht. Indra Kagis McEwen argumentierte in Socrates’ Ancestor, daß man in einer mythologischen und ikonologischen Deutung den Parthenon als symbolischen Herd und Webstuhl der Stadt Athen lesen kann und somit als männlich und weiblich konnotierten Ort. McEwen verwies zur Stützung ihrer These auf die etymologischen Verbindungen zwi- schen Schiffen und Tempeln, denn auch heute noch wird in vielen Spra- chen wie beispielsweise im Deutschen von einem „Kirchenschiff“ (oder im Englischen „nave“) gesprochen. Der Säulenkranz eines griechischen Tempels wurde als pteron (Flügel) bezeichnet, ähnlich wie Segel, die entweder als histia oder, von altgriechischen Dichtern wie Hesiod, als ptera (Flügel) bezeichnet wurden. Da sowohl Ruder als auch Segel der Fortbewegung der Schiffe dienten und beide Varianten eine gewisse Analogie zu Vogelflügeln zeigen, ist es vielleicht nicht weiter erstaun- lich, daß auch die Ruder der Galeeren in Homers Odyssee als Flügel beschrieben wurden. In diesem Sinne verleiht der pteron eines Tempels diesem Flügel, aber gleichzeitig ähnelt der Tempel in gewisser Weise einem Boot.201 Histia bezeichnet die Segel und histon den Mast eines Schiffes, aber interessanterweise auch den Webstuhl, bei dem es eben- falls ein „Schiffchen“ gibt, das durch die Ketten gleitet. Ein griechischer Webstuhl war vertikal aufgebaut, nicht horizontal wie die späteren Webstühle in Europa. Jeder Haushalt oder megaron besaß einen Webstuhl, histon, und einen Herd, histia, der sich im Zentrum des Hauses befand.202 In symboli- scher Hinsicht stellte der Herd das Bindeglied zwischen dem erdver- bundenen Haus und dem Himmel dar, denn der Rauch stieg vom Herd durch eine Öffnung im Dach in den Himmel auf. So war der Herd der Ort, an dem sich die drei Ebenen der Realität trafen – die menschliche, die chthonische und die uranische. An einem windstillen Tag mochte sich ein Bild ergeben, in dem die Rauchsäulen der Häuser der Stadt eine Säulenkolonnade am Himmel bilden, oder einen Webstuhl. In diesem ⇠ Raum, Macht & Differenz Sinne kann der pteron eines Tempels, wie etwa der des Parthenon, nach McEwen gleichzeitig als Webstuhl und Herd gelesen werden und damit als Zentrum der Stadt. Die Webkunst gehörte auch zum wichtigsten religiösen Ritual in Athen, der Panathenaia. Eine jährlich für die Göttin Athena neu gewebte Robe wurde bei dieser Feier wie ein Segel über einen Wagen (der eigentlich ein Boot auf Rädern war) ausgebreitet und in einer langen Prozession durch die Stadt gerollt. Am Schluß der Pro- zession wurde die Statue der Athena in ihre neue Robe gehüllt. Über dem Eingang zum Parthenon gibt es einen Fries, der die Übergabe der Robe an die Priesterinnen im Zuge der Panathenaia darstellt. Zahlreiche Mythen und Etymologien legen es nahe, wie Gottfried Semper argu- mentierte, daß der Ursprung der Architektur in der Weberei liegt. Der Symbolismus der Säulenordnungen In symbolischer Hinsicht gab es schon lange Auseinandersetzungen mit den geschlechtlichen Zuschreibungen der Architektur, insbesonde- re hinsichtlich der traditionellen Säulenordnungen. Die unmittelbare Verbindung zwischen Körpern von Männern und Frauen und den Säulenordnungen wurde ausführlich in der ersten englischen Archi- tekturabhandlung First and Chief Groundes of Architecture aus dem Jahr 1563 von John Shute erkundet. Obwohl Shute bei seiner Diskussion angeblich nur Serlio und dem französischen Vitruv-Experten Guillaum Philandier folgte, scheint dieser zeichnerische Vergleich von Säulen und Körpern weitge- hend Shutes eigener Beitrag zu sein.203 Die Idee ging auf den etwas abstrakteren Ansatz von Vitruv zurück, der die Säulenordnungen nach menschlichen Physiognomien unterschie- den hatte; so hatte er die dorische Ordnung dem männlichen Körper zugeordnet und die ionische und korinthische dem weiblichen Kör- per.204 Darüber hinaus hatte Vitruv erklärt, die ionische sei von ihrer Proportion her mit einem Frauenkörper vergleichbar, während die schlankere korinthische eher dem zarten Kör- per einer Jungfrau entspräche. Zur Bestätigung dieser Analogie berichtete er in dem ersten Kapitel seines vierten Buches die Geschichte vom Ursprung der korinthischen Säule: „Die dritte Bauweise aber, die ‚korinthisch‘ genannt Gender in der Architekturtheorie ⇠ wird, ahmt jungfräuliche Zartheit nach, weil die Jungfrauen, wegen der Zartheit ihres Alters mit zarteren Gliedern gewachsen, anmutiger im Schmuck wirken. Die erste Erfindung des Kapitells dieser Bauweise soll so vor sich gegangen sein: Eine jungfräuliche korinthische Bürge- rin, schon für die Vermählung reif, wurde krank und starb. Nach ihrem Begräbnis sammelte ihre Amme die Spielsachen, an denen diese Jung- frau zu ihren Lebzeiten Gefallen gehabt hatte, legte sie in einen Korb, trug ihn zu dem Grabmal, setzte ihn oben darauf und legte, damit sich die Sachen unter freiem Himmel länger hielten, über den Korb einen Ziegel. Dieser Korb war zufällig über eine Bärenklauwurzel (acanthus) gesetzt. Mittlerweile, durch das Gewicht niedergedrückt, trieb in der Frühlingszeit die Bärenklauwurzel in der Mitte Blätter und Stengel. Ihre Stengel wuchsen an den Seiten des Korbes empor, wurden jedoch von den Ecken des Ziegels durch dessen Gewicht nach außen gedrängt und gezwungen, sich nach außen umzubiegen und an den Enden einzurol- len. Damals bemerkte Kallimachos, der wegen seiner geschmackvollen und schönen Marmorarbeiten von den Athenern ‚Katatexitechnos‘ genannt worden war, beim Vorübergehen an diesem Grabmal diesen Korb und die ringsherum sprossenden zarten Blätter, und, bezaubert von der Art und Neuigkeit der Form, schuf er nach diesem Vorbild die Säulen bei den Korinthern und legte ihre Symmetrien fest.“205 In dieser Geschichte gibt es fünf zentrale Elemente: das Mädchen, den Tod und das Begräbnis, den Korb, Akanthus und den Frühling mit seinem Wachstum.206 Wahr- scheinlich wurde das Mädchen außerhalb der Stadtmauern an einer Straße begraben. Gemäß dem üblichen Brauch wurde ein Grabstein über ihrem Grab errichtet, ein momentum, wie es bei Vitruv heißt. Es gab damals drei typische Sorten von Grabmälern: die Säule, die Stele oder eine Amphora. Alle drei Variationen gehen auf eine lange Tradition zurück, wobei im 6. Jahrhun- dert die Keramikbehälter auf den Gräbern der Reichen durch Marmoramphoren oder lekythoi ersetzt wurden. Auch Grabbeigaben waren weit verbreitet und zählten zu den Elementen des üblichen Totenkultes. Bei den Opfergaben konnte es sich sowohl um Tieropfer als auch um Früchte oder kleine Geschenke handeln. Mit dem Toten- kult wurde im antiken Griechenland eine Reihe ⇠ Raum, Macht & Differenz von Pflanzen als Grabschmuck oder Gaben verbunden, etwa Majoran, Oregano, Selinon, Akanthus und andere.207 Wie die Darstel- lungen auf vielen antiken griechischen Vasen beweisen, war die von Vitruv beschriebene Anordnung durchaus normal. Handelte es sich bei dem Grabmal um eine Säule, so wurde oft ein Korb auf ihrer Spitze plaziert, der von einer kohlartigen Pflanze, meist wohl Akanthus, umrankt wurde.208 Eine weitere Zweideutigkeit verbirgt sich hin- ter dem Brauch und der Legende, denn akan- thos bedeutet im Griechischen soviel wie „blü- hende Spitze“ und beschreibt somit bereits sehr treffend die korinthische Säule mit ihrem blättrigen Kapitell.209 Die Herkunft der korin- thischen Säule aus der Grabarchitektur scheint durchaus plausibel, denn in der griechischen Friedhofsarchitektur tauchen steinerne Akan- thusblätter bereits lange vor der ersten korinthischen Säule auf, oft in Verbindung mit einer Palmette oder einem stilisierten Bündel von Blättern. Als erste korinthische Säule in einem Tempel wird die Säule im Tempel von Apollo Epiturius in Bassae genannt. Es handelt sich um eine einzelne freistehende Säule in der cella, die, umrahmt von zwei ionischen Kolonnaden, die Position der Tempelstatue oder des xoanon, des künstlichen Baumes als Gottesbild, einnimmt. Anthropomorphismen Vitruv berichtete bereits im ersten Kapitel seines ersten Buches über die Geschichte der Karyatiden auf der Akropolis, in der Meinung, hier würden menschliche Körper auf unehrenhafte Weise als Säulen dienen. Laut der Legende wurden die weiblichen Karyatiden des Erechtheions nach den Frauen der kleinen Stadt Carya am Peloponnes benannt. Die Stadt hatte sich während der Perserkriege neutral verhalten (oder sogar die feindliche Seite unterstützt). Nach der Niederlage der Perser wur- den die Ehefrauen aus Carya durch die Griechen entführt und mußten Sklavendienste verrichten. Um ihre Schande zu verdeutlichen, mußten sie weiterhin die Zeichen reicher Ehefrauen tragen, vor allem ihre lan- gen Kleider. An den öffentlichen Gebäuden setzten die Architekten, laut Vitruv, damals die Karyatiden als Säulen ein, damit sie schwere Lasten Gender in der Architekturtheorie ⇠ tragen mußten. Vom Erechtheion aus blicken sie sogar ewig auf die Reste des durch ihre Schuld zerstörten Tempels der Athe- na.210 Rykwert zeigte jedoch auf, daß die Karyatiden bei genauer Betrachtung nicht wirklich wie unterdrückte, leidende Sklavin- nen aussehen und daß es eine große Diskrepanz zwischen der theoretischen Erklärung von Vitruv und der materiellen Darbie- tung gibt. Daher schließt Rykwert, daß es sich wahrscheinlich um Abbildungen von Tempeldienerinnen handelt, die auf der Akropolis von Athen lebten und hoch geachtet wurden: „Der Weiler Carya war in ganz Griechenland für etwas anderes als seine Schande im Persischen Krieg berühmt: er war Heimat des Artemis Karneia oder Caryatis-Kultes, dessen Hauptritual darin bestand, daß weibliche Anhängerinnen um einen heiligen Nußbaum tanzten. In der Tat war der Ausdruck Karuatisein (,auf stattliche Weise tanzen‘ oder ,einen Rundtanz durchführen‘) ein oft gebrauchtes Wort.“211 Außerdem gab es auch schon vor den Per- serkriegen Karyatiden als Säulen, etwa in den Syphnischen und Knidi- schen Schatzkammern in Delphi. Sie tragen lächelnd ornamentverzierte Behälter auf ihren Köpfen, und es scheint sich hier ebenfalls nicht um unterdrückte Sklavinnen zu handeln. Offenbar setzten die Griechen bei den männlichen Koroi und weibli- chen Koren eine unterschiedliche Formensprache ein. So sind die Koren grundsätzlich bekleidet, im Gegensatz zu den männlichen Koroi, die meistens nackt dargestellt sind. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß die weiblichen Koren üblicherweise statisch und bewegungslos präsentiert werden, was durch die nebeneinandergestellten Füße aus- gedrückt wird, wohingegen die männlichen Skulpturen meist einen Schritt andeuten. Die bekleideten Karyatiden des Erechtheion folgen diesem Schema: Sie wirken immobil und präsentieren eher die steifen, statischen Wächter des Tempels. Allerdings läßt sich diese Formen- sprache nicht generell auf alle Skulpturen übertragen. So gibt es auch nackte weibliche Figuren, wie die berühmte Aphrodite des Bildhauers Praxiteles auf Knidos, über die Plinius der Ältere berichtete.212 Die Frauen im Parthenon-Fries sind zwar bekleidet, zeigen aber keine stati- sche Haltung, sondern wirken bewegt.213 Dem Beispiel von Vitruv folgend, war Leon Battista Alberti ebenfalls davon überzeugt, daß sich die klassischen Säulenordnungen von den Proportionen des Menschen ableiteten, und meinte, daß sich diese Eigenschaft an den Bezeichnungen der einzelnen Elemente ablesen lasse. Er lehnte allerdings Vitruvs Bezeichnungen für die Säule ab ⇠ Raum, Macht & Differenz (summa columna als Spitze der Säule, entasis als Schwellung, imma columna als Basis der Säule) und führte seine eigenen Begriffe ein, die direkt vom Menschen abgeleitet waren: caput (Kopf), venter (Bauch) und planta (Fußsohle).214 Von ähnlichen Gedanken getragen, schlug Filarete die Einteilung von Männern gemäß ihrem Körperbau vor, um die drei klassischen Säulenordnungen zu legitimieren.215 Seine Klassifizierung sah zunächst einmal fünf Gruppen vor: Zwerge, Kleine, Mittlere, Große und Giganten. Zwerge und Giganten sollten aber ignoriert werden, da sie Monster seien und eine Travestie der Natur, geboren aus der Unmo- ral. Die übrigen Klassen seien normal und universal. Ganz der traditio- nellen Neigung folgend, bevorzugte Filarete große Männer, denn diese Qualität sei Adams Körper zu eigen gewesen, der, von Gott gestaltet, der schönste Mann gewesen sein muß. Die kleinen und mittleren Män- ner rechnete Filarete zwar zu den Schöpfungen der Natur, erkannte jedoch ihre Göttlichkeit nicht an. Adam besaß laut Filarete dorische Verhältnisse, und sein Kopf, der edelste und bestproportionierte Teil des Körpers, diente als Maßeinheit.216 Die drei mittleren Klassen der Männer präsentierten bei Filarete die Proportionen der klassischen Ordnungen: Dorik korrespondierte mit großen Männern und der Länge von neun Köpfen (sieben als korrekte Höhe bei Vitruv); Ionik war die kleinste Ordnung mit nur sieben Köp- fen (neun bei Vitruv und acht bei Alberti) und die korinthische Ordnung die mittlere mit einer Höhe von acht Köpfen (neun bei Alberti). Später änderte Filarete seine Meinung und verband die dorische und toskani- sche Ordnung mit nackten Männern, während er glaubte, daß Säulen mit Kanneluren von Frauen mit gefalteten Kleidern abgeleitet seien. Zum Abschluß formulierte er ein Regelwerk, wonach die korinthische Ordnung der „Jungfrau“ entspricht (mit den idealen Proportionen 2:1), die ionische der „Frau“ (mit dem Verhältnis 5:3) und die dorische dem „Mann“ (und der Proportion 3:2). Es fällt auf, daß von den drei klassischen Säulenordnungen gleich zwei dem weiblichen Körper zugeschrieben wurden, was nahelegt, daß damals eine etwas andere Auffassung von den Geschlechtern vorherrschte als jene, die vor allem ab dem 17. Jahrhundert Gültigkeit erlangte. Während des Mittelalters und der Renaissance hatte man die Differenz der beiden Geschlechter als Kontinuum betrachtet und nicht als Gegensatz. Thomas Laqueur hob beispielsweise hervor, daß Galen von Pergamum einst behauptete, Frauen seien aufgrund ihrer gerin- geren Körpertemperatur unterentwickelte Männer. Um diese These zu beweisen, zeigte er Darstellungen von männlichen und weiblichen Gender in der Architekturtheorie ⇠ Geschlechtsorganen, die in fast allen Elementen übereinstimmten, wobei die weiblichen Genitalien die nach innen gekehrte Variante der männlichen Genitalien waren.217 Auch wenn spätere Argumentationen darauf hinausliefen, daß Männer und Frauen unterschiedliche Rollen bei der Reproduktion spielen, sahen die klassischen Denker ähnliche Differenzen bereits zwischen den Rollen von Jungfrauen und Müttern, die dadurch zwei verschiedene Klassen von Frauen darstellten.218 Neben Filarete dachte auch Francesco di Giorgio Martini über Analogi- en von Säulenordnungen und menschlichen Körpern nach. Er sinnier- te, daß die Frau zwar ein imperfektes Tier sei und, wie Aristoteles an zahlreichen Stellen bemerkte, ein defekter Mann (in Filaretes Worten maschio occasionato), doch sei sie trotzdem schöner als der Mann in ihrer Erscheinung, besonders wenn sie jung ist, und daher würden Säulen, die von der Frau abgeleitet sind, mehr Ornamentik aufweisen.219 Er meinte auch, daß die Dorik, welche auf dem Mann basiere, im Gegen- satz dazu eine höhere Perfektion aufweise. In anderen Worten: Um ein Gebäude perfetto zu bauen, müßte man nach Dorik verlangen, und um es ornato zu machen, nach Ionik oder Korinthik. Francesco kümmerte sich aber im Grunde nicht um die Einhaltung seiner Äußerungen und zeigte in seiner praktischen Tätigkeit eine sehr wechselhafte Haltung gegenüber seiner Theorie. So entschied er nach anderen Überlegungen, wann ein Gebäude eher perfetto oder eher ornato akzentuiert werden sollte. Allerdings legte er durchaus Wert darauf, daß bestimmte Kriteri- en eingehalten werden sollten: „Obwohl Dorische und Ionische Säulen seltener verwendet werden, als Korinthische, können sie dennoch korrekt eingesetzt werden, vorausgesetzt, daß die Dorische nicht innen und die Korinthische außen oder vice versa eingesetzt wird; aber da ein Gebäude ein künstlicher Körper ist, der den Menschen in vielerlei Hinsicht ähnelt, sollten gleiche Teile die gleichen Maße aufweisen und keine unterschiedlichen.“220 Die geschlechtliche Symbolik der Säulenordnungen beinhaltete auch eine Hierarchie bezüglich ihrer Wertigkeit. Aus theoretischer Perspekti- ve wurde oft postuliert, daß die dorische Ordnung in ihrer Bedeutung als männliche Ordnung auch am wichtigsten sei und über der ioni- schen oder korinthischen Ordnung stünde. In einem oft zitierten Para- graphen seiner Zehn Bücher der Architektur hatte Vitruv geschrieben: „Der Minerva, dem Mars und dem Herkules werden dorische Tempel errichtet werden, denn es ist angemessen, daß diesen Göttern wegen ihres mannhaften Wesens Tempel ohne Schmuck gebaut werden. Für Venus, Flora, Proserpina und die Quellnymphen werden Tempel, die ⇠ Raum, Macht & Differenz in korinthischem Stil errichtet sind, die die passenden Eigenschaften zu haben scheinen, weil für diese Götter wegen ihres zarten Wesens Tem- pel, die etwas schlank, mit Blumen, Blättern und Schnecken (Voluten) geschmückt sind, die richtige Angemessenheit in erhöhtem Maße zum Ausdruck zu bringen scheinen. Wenn für Juno, Diana und Bacchus und die übrigen Götter, die ganz ähnlich sind, Tempel in ionischem Stil errichtet werden, wird ihre Mittelstellung berücksichtigt sein, weil sich die diesen Tempeln eigentümliche Einrichtung von der Herbheit des dorischen Stils und der Zierlichkeit des korinthischen Stils fernhält.“221 In Kenntnis dieser Aussagen hatte Alberti ebenfalls behauptet, daß die Tempel der weiblichen Gottheiten Schönheit und Eleganz (venustas, festivitas) und die der männlichen Gottheiten dagegen Ernsthaftigkeit (gravitas) hervorheben sollten. Es hieß dazu bei ihm: „Hierher gehört noch, daß man sagt, der Venus, der Diana, den Musen, Nymphen und den zierlichen Göttinnen müsse man Heiligtümer weihen, die ihre jungfräuliche Schlankheit und die zarte Blüte ihrer Jugend versinn- bildlichen. Dem Herkules, Mars und den mächtigen Göttern müsse man die Tempel so erbauen, daß sie mehr gewichtiges Ansehen infolge ihrer ernsten Würde als Anmut infolge ihrer Zierlichkeit gewähren.“222 Die höchste Qualität war für ihn gravitas, was charakteristisch für die dorische Ordnung war. So meinte er, wie Vitruv und Francesco, daß die wichtigsten Gebäude nach der dorischen Ordnung gebaut werden sollten, da diese ernsthaft und würdevoll sei, während er die reicher geschmückte korinthische als passend für Gartenpavillons und andere kleinere Bauten ansah. Bei einer Analyse der existierenden Bauten zeigt sich aber ein eklatan- ter Widerspruch zwischen den Theorien von Vitruv, seinen späteren Anhängern wie Francesco di Giorgio oder Alberti und den architektoni- schen Fakten in der klassischen Tradition. Die Meinung der Theoretiker, daß die dorische Ordnung in ihrer Bedeutung am wichtigsten sei, weil sie den männlichen Körper darstellt, widersprach der üblichen Bau- praxis. Im allgemeinen wurden die wichtigsten öffentlichen Gebäude und Tempel in der korinthischen Ordnung oder der Kompositordnung gebaut, weil ein anderes, ökonomisches Argument besagte, daß die dekorativste Ordnung die teuerste und daher die wertvollste sei. Die beiden Auffassungen standen durch die Jahrhunderte stets im Wider- spruch zueinander, aber es scheint, daß meistens die teuerste auch als die höchste Ordnung angesehen wurde und daß nicht der geschlechtli- chen Wertung, daß sie „mädchenhaft“ und nicht „männlich“ sei, Rech- nung getragen wurde. Gender in der Architekturtheorie ⇠ Die unterschiedlichen Wertungen der Säu- lenordnungen symbolisierten auch die Unterscheidung von öffentlichen und priva- ten Räumen, innen und außen, wie es Fran- cesco beschrieben hatte, beziehungsweise profanen und heiligen. So ist die öffentliche Seite der Stoa von Attalos im Erdgeschoß mit dorischen Säulen ausgestattet, während die innen liegenden Räume und die oberen Geschosse mit ionischen und pergamon-korinthischen Säulen ausgestattet sind. Menschliche Proportionen Die klassische Theorie operierte mit einer Reihe von sichtbaren sym- bolischen Systemen, von denen einige geschlechtlich kodiert waren. Darüber hinaus gab es eine Reihe von weniger offensichtlichen Annah- men über die wahre Essenz der Architektur, die ebenfalls geschlechtlich kodierte Wertungen implizierten. Eine davon betrifft die Doktrin der Proportion. Vor allem in der Renaissance gab es eine deutliche Bevorzugung der männlichen Körper, weil man den weiblichen Körper als minderwertig ansah. Die Schriften des römischen Architekten und Gelehrten Vitruv wurden zu dieser Zeit sehr populär, insbesondere seine Erläuterungen zum Thema der Proportionen. Im ersten Kapitel seines dritten Buches über die Architektur hatte Vitruv beschrieben, daß die Maße des Tem- pels von den perfekten Proportionen des menschlichen Körpers abge- leitet seien. Er forderte, daß die Baumeister bei der Errichtung ihrer Gebäude die Proportionsregeln in Anlehnung an den menschlichen Körper beherrschen sollten: „Die Formgebung der Tempel beruht auf Symmetrie, an deren Gesetze sich die Architekten peinlichst genau halten müssen. Diese aber wird von der Proportion erzeugt, die die Griechen analogia nennen. Proportion liegt vor, wenn den Gliedern am ganzen Bau und dem Gesamtbau ein berechneter Teil (modulus) als gemeinsames Grundmaß zu Grunde gelegt ist. Aus ihr ergibt sich das System der Symmetrien. Denn kein Tempel kann ohne Symmetrie und Proportion eine vernünftige Formgebung haben, wenn seine Glie- der nicht in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, wie die Glieder eines wohlgeformten Menschen.“223 Zur Unterstützung seiner These führte er an, daß sich ein Mensch mit ausgestreckten Armen in die beiden als vollkommen betrachteten geometrischen Figuren des Quadrates und des Kreises einfügen läßt.224 Obwohl Vitruv vom ⇠ Raum, Macht & Differenz menschlichen Körper im allgemeinen sprach, wurde die Figur von vie- len späteren Theoretikern einseitig als Mann interpretiert. Die Ausgangsposition, daß der menschliche Körper das Maß aller Dinge in der Architektur darstellt, wurde zum Credo der westlichen Baugeschichte. Allerdings ging es dabei vor allem um den männlichen Körper, denn viele Philosophen und Theoretiker sahen den weiblichen Körper als fehlerhafte Variante des perfekten männlichen Körpers an. Interessanterweise ist die Proportion bei Vitruv zunächst auch weiblich, denn seine Charakterisierung der Säulenordnungen basierte, wie zuvor beschrieben, auf drei Systemen mit unterschiedlichen Proportionen. Das Verhältnis der Länge zur Höhe zeichnete die ionische Ordnung als die schlankere Ordnung gegenüber der dorischen aus und damit als weiblich, während die noch schlankere korinthische Ordnung dann als mädchenhaft oder jungfräulich gesehen wurde. Erst in der Erweiterung der Idee der Proportionierung auf seine Konzepte von symmetria und Schönheit kam die einseitige Bevorzugung der maskulinen Variante zum Tragen. Die meisten Renaissancetheoretiker und Künstler bevor- zugten den männlichen Körper als Beispiel für gute Proportionierung. In Cennino Cenninis Handbuch über Malerei, geschrieben im 15. Jahr- hundert, konnte man eine zur damaligen Zeit gängige Meinung lesen: „Merke dir, bevor wir weiter gehen, die genauen Maße eines Mannes, die ich dir jetzt angeben werde. Die der Frau übergehe ich ganz, denn sie hat keine vollkommenen Verhältnisse... Über die unvernünftigen Tiere sage ich dir nichts, denn sie scheinen keine bestimmten Verhält- nisse zu haben. So viel du kannst, skizziere und zeichne sie nach der Natur, und du wirst es selbst erfahren. Du bedarfst aber dazu vieler Übung.“225 Der weibliche Körper wurde durch solche Äußerungen degradiert und dadurch der Ausschluß der Frauen aus der Architektur und Kunst als naturgegeben gerechtfertigt. Der männliche Körper dagegen wurde aufgewertet und sollte als Modell für bedeutende Einzelgebäude, aber auch für ganze Stadtkompositionen, wie in den Vorschlägen von Francesco di Giorgio Martini, gelten. Leonardo da Vincis berühmte Zeichnung illustrier- te am anschaulichsten die durch Vitruv beschrie- bene Verbindung zwischen der menschlichen, allerdings männlichen, Anatomie und mathema- tischer „göttlicher“ Proportion. Diese Vorstellung Gender in der Architekturtheorie ⇠ war von essentieller Bedeutung für die Architektur der Renaissance und wurde von zahlreichen Künstlern und Architekten aufgegriffen. Bereits Francesco di Giorgios Handschrift Ashburnham 361 hatte sich mit dieser Darstel- lung befaßt und war später in den Besitz von Leonardo da Vinci gelangt, der Vitruvs Text noch genauer interpre- tierte.226 Leonardos Figur besteht aus zwei überlagerten Darstellungen eines Mannes, die jeweils in einen Kreis beziehungsweise ein versetztes Quadrat eingeschrieben sind und den menschlichen Proportionen recht nahe kom- men: Einmal ist der „himmlische“ Nabel das Zentrum, das andere Mal der „irdische“ Penis.227 Fra Giocondo stellte beide Figuren, homo ad quadratum und ad circulum, getrennt dar, während Cesare Cesariano etwas ungeschickt ver- suchte, beide Gegensätze in einer Figur zu vereinen.228 Cesariano fügte seinen Zeichnungen einen ausgiebigen Kommentar bei, der in der Behauptung mündete, mittels des vitruvianischen Mannes könne man die gesamte Welt proportionieren.229 Die Vorstellung Cesarianos war nicht ungewöhnlich, denn ganz ähnliche Annahmen fin- den sich bei dem Mathematiker und Freund Leonardos, Luca Pacioli: „Zuerst wollen wir von den Proportionen des Menschen sprechen, weil vom menschlichen Körper sich alle Maße und ihre Bezeichnungen ableiten und in ihm alle Zahlenverhältnisse und Maßbeziehungen zu finden sind, durch welche Gott die tiefsten Geheimnisse der Natur enthüllt. (...) Nachdem die Alten das rechte Maß des menschlichen Lei- bes studiert hatten, proportionierten sie alle ihre Werke, besonders die Tempel, im Einklang damit. Denn im Menschen- leib fanden sie die beiden Hauptfiguren, ohne welche kein Kunstwerk gelingen kann, nämlich den vollkommenen Kreis und das Quadrat.“230 Die Abhängigkeit Francesco di Giorgio Martinis von Vitruv zeigt sich in seiner Behauptung, daß jede Kunst und Berechnung ragione aus dem wohlproportionierten menschlichen Körper zu gewinnen sei.231 Deshalb benutzte er bei seinen Kirchenentwürfen auf männlichen Proportionen basierende geometrische Raster und Quadratur, meist jedoch eine Kombination beider Metho- den, wodurch die korrekten Größenverhältnisse ⇠ Raum, Macht & Differenz innerhalb des Entwurfes gewährleistet werden sollten.232 Francesco di Giorgio Martini bemühte sich als einer der führenden Verfechter des Renaissanceanthropomorphismus um die Anwendung dieser Theorien auf jeder Ebene der Architektur. So zitierte er im ersten Kapitel seines Traktates neben Vitruv Beispiele aus der Antike und der Natur, um den Aufbau einer Festung und den einer Stadt analog zum Körper eines Mannes zu rechtfertigen.233 Stadtpläne sollten seiner Meinung nach ebenfalls anthropomorph organisiert und angelegt sein, um optimal zu funktionieren, wobei Francesco das Argument fortführ- te, welches er in seiner Beschreibung befestigter Städte angefangen hatte. Seine Kernthese betraf die funktionale Beziehung zwischen Kopf und Körper: So wie die Augen, Ohren, Nase, Mund, Organe und andere innere und äußere Elemente des Körpers gemäß ihrer Funktion und Bedürfnisse angeordnet seien, so sollte die Organisation einer Stadt auf- gebaut sein. Sofern die Stadt in ihrer Gestalt dem menschlichen Körper folge, seien ihr Versorgung, Schönheit und Gesetzmäßigkeit sicher.234 Ihm zufolge sollte eine Stadt wie ein großer Mann gestaltet werden. Als nobelstes Glied des Körpers galt der Kopf oder die Festung als più nobile membro, die Hände und Füße konstituierten sekundäre Plätze und Tem- pel. In den Mittelpunkt dieses „Stadtmannes“ plazierte er die Piazza, denn durch den Nabel erhält der Mensch in seinem Anfang Nahrung und Perfektion, und auf die gleiche Weise sollte dieser gemeinschaftli- che Platz die anderen Orte bedienen.235 Auf der theoretischen Ebene kann man hierin einen weiteren Versuch sehen, den öffentlichen Raum vor allem durch maskuline Qualitäten zu prägen. Doch finden sich auch hier in der traditionellen Architek- turtheorie eklatante Widersprüche zwischen den postulierten theore- tischen Positionen und der tatsächlich erfolgten Baupraxis. Die ganze Proportionstheorie litt ohnehin an schwerwiegenden Problemen, was David Hume und Edmund Burke erfolgreich demonstrierten. In seinem Essay Of the Standard of Taste (1757) hatte David Hume auf die unter- schiedlichen Sinnesempfindungen verwiesen und damit die zuvor angenommene Allgemeingültigkeit dieser proportional gerechtfertig- ten Ästhetik relativiert.236 Im gleichen Jahr veröffentlichte Edmund Burke sein A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Subli- me and Beautiful, wo er sich ausgiebig der klassischen Proportionslehre widmete, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß sich Schönheit nicht durch mathematische Regeln ausdrücken lasse.237 Zudem verändern sich – je nach Haltung des Körpers – die Proportionen, die man ohnehin schlecht messen kann, denn zunächst müßten die einzelnen Körperteile Gender in der Architekturtheorie ⇠ genau individuiert werden. Das Problem besteht bereits darin, daß es keine festen Kriterien dafür gibt, die eindeutig besagen, wo bei jedem einzelnen Menschen die Hand oder das Knie endet. Da sich zudem die exakte Länge eines Unterarms oder eines Beines verändert, je nachdem, in welcher Position sie sich befinden, stellt sich die Frage, welche Posi- tion die richtige wäre. Abgesehen davon, läßt es sich bei einer Reihe von abstrakten Proportionsmaßen ohnehin nicht nachvollziehen, ob diese Maße (relativ willkürlich) von einem weiblichen oder männlichen menschlichen Körper abgeleitet wurden oder nicht. Insofern handelte es sich um eine rein intellektuelle Anschauung, die nichts mit einem empirischen Ansatz gemein hatte. Nach Burke seien die Vergleiche zwischen dem menschlichen Körper und der Architektur vornehmlich deshalb entwickelt worden, um den professionellen Status des Archi- tekten zu erhöhen, anstatt das Ziel zu verfolgen, eine metaphysische Theorie der Proportion zu entwickeln.238 Der männliche Körper diente jedoch nicht nur als Basis des Renaissance- anthropomorphismus, sondern wurde in der funktionalistischen Moderne wieder aufgegriffen, insbesondere von Ernst Neufert und Le Corbusier. Um den männlichen Menschen als Maß aller Dinge zu etablieren, hatte Le Corbusier den Modulor entwickelt, einen fiktiven männlichen Durchschnittsmenschen mit der Größe von zunächst 1,75 und später 1,83 Meter. Die Größe des letzteren Modulors mit erhobenen Armen betrug 226 Zentimeter und dessen Nabelhöhe – als Hälfte die- ses Maßes – 113 Zentimeter. Mit diesem Maß als Quadrat (Seitenlänge 1,13 Meter) entwickelte er durch die Fibonacci-Reihe die sogenannte „rote Reihe“ als Proportionsschema (eine Approximation des Goldenen Schnitts) und mit dem doppelten Quadrat (Seitenlänge 2,26 Meter) die „blaue Reihe.“ Daraus folgte, daß alle Dimensionen entweder auf den Goldenen Schnitt oder auf das Verhältnis 1:2 reduziert werden konn- ten. Obwohl sein Modulor auch nicht immer gleich groß war, wurde Le Corbusier nicht müde, nach außen hin diesen Maßstab als neues Universal zu verteidigen: „Die offiziellen französischen oder ameri- kanischen oder deutschen Normen sind vergänglich wie der Mensch selbst. Sie können irrig sein, sie können lähmend wirken. Dies habe ich bewiesen mit mathematischen Studien (...) und insbesondere durch die Schöpfung des Modulors, der heutzutage in der ganzen Welt von der Elite der Architekten und Ingenieure angewandt wird.“239 Allerdings handelte es sich beim Modulor um ein rein ästhetisches und ideologi- sches Dogma und nicht um den Wunsch, wirklich in Anlehnung an den Körper zu bauen. So wird die Unité d’Habitation in Berlin etwa ⇠ Raum, Macht & Differenz durch zehn sogenannte „Innenstraßen“ erschlossen, die eine Breite von 2,96 Metern bei einer Gesamtlänge von 140 Metern haben, und angesichts dieser Dimensionen fällt es schwer, diese Maße überhaupt auf irgendeinen menschlichen Körper zu beziehen.240 Zum anderen irrte Le Corbusier in seiner Annahme, die Renaissanceanthro- pomorphisten hätten ihre Proportionen in Anlehnung an den Goldenen Schnitt entwickelt, wobei auch Le Corbu- siers Beeinflussung durch die Theosophie und sein Glaube an eine Zahlenmystik eine Rolle gespielt haben mögen.241 Er hielt sich allerdings auch nicht immer an seine eigenen mathematisch ermittelten Proportionsregeln. William J. R. Curtis bemerkte, daß Le Corbusier nicht zögerte, sel- ber vom Modulor abzuweichen, wenn die Proportionen seinem Auge mißfielen, und er war ärgerlich, wenn Architekten in seinem Büro einen häßlich proportionierten Entwurf auf der Basis des Modulors zu rechtfertigen suchten. Deshalb durfte der Modulor sogar für einige Monate in seinem Atelier nicht verwendet werden.242 Außerdem wurde schon früh erkannt, daß Le Corbusiers Ableitung des Goldenen Schnitts von den Diagonalen eines Rechtecks auf einem einfachen, aber fundamentalen geometrischen Fehler beruht, der jedoch nicht korrigiert werden kann. Le Corbusier wollte die Stan- dardkonstruktion des Goldenen Schnitts mit seinem älteren Kompositi- onsprinzip, das auf dem „Ort des rechten Winkels“ basierte, verbinden. Sein Kompositionsprinzip basierte darauf, daß beispielsweise eine Fassade durch eine Reihe von Diagonalen, die in einem rechten Winkel zueinander stehen, strukturiert wird. Auf die gleiche Weise wollte Le Corbusier ein Doppelquadrat aus dem Goldenen Schnitt konstruieren, indem er zwei Diagonalen, verbunden durch einen 90-Grad-Winkel, zeichnete. Sowohl sein Assistent Hanning als auch die Mathematikerin M. Taton erklärten Le Corbusier, daß die Figur kein Doppelquadrat ergeben kann, sondern nur eine Annäherung, die um 0,0006:1 länger ist. Le Corbusier verstand dieses Argument offensichtlich nicht, sondern sah es als Beweis dafür an, daß sein Proportionssystem Poesie und Leben enthält.243 In Neuferts Ausführungen ging es ebenfalls nicht nur darum, die Höhen von Treppenstufen und die Breite von Badezimmern vom menschlichen Körper abzuleiten, sondern auch das zeitgenössische Bild der Idealfa- milie mit ihren Geschlechterrollen zu propagieren. Kerstin Dörhöfer und Ulla Terlinden konstatierten: „In alle Räume zur Verrichtung von Gender in der Architekturtheorie ⇠ Hausarbeit wurden Frauen eingezeichnet, in alle für Ausbildung und Beruf Männer. Neben dieser Arbeits- teilung zeigten die Zeichnungen auf sublime Art und Weise, daß der Frau die sorgende und untergeordne- te Rolle zugedacht war.“244 So wurde die Frau der Küche, den Kindern und dem Konsum zugeordnet, eine Zeichensprache, die erst in den 1980er Jahren verschwand. Bedenkt man, daß Neuferts Bauent- wurfslehre von 1936 mittlerweile in über 30 Auflagen erschienen und weltweit zu einem Standardwerk für Architekten geworden ist, wird klar, wie einflußreich diese Auffassung über die idealen Maße und Pro- portionen des menschlichen Körpers in bezug auf die Architektur auch heute noch nachwirkt. Frauen und die Raumkunst So wie das Gender-Vorurteil in den Proportionstheorien nicht sofort offensichtlich ist, gibt es in der Architektur noch eine Reihe anderer grundlegender Ideen, bei denen eine vergleichbare Unausgewogen- heit existiert. Eine davon betrifft die bedeutendste Annahme des Modernismus, die Auffassung, daß Raum die eigentliche Essenz der Architektur darstellt. Diese Idee ist relativ jung, denn sie geht auf das späte 19. Jahrhundert zurück, auf Architekten und Historiker wie Hans Auer und August Schmarsow. Die Theorie wurde zu einer Zeit unter den Architekten sehr populär, als der Architektenberuf davon bedroht wurde, seinen sozialen Status einzubüßen. In diesem Sinne kann sie als Selbstverteidigungsstrategie gegen die in das Architekturfeld eindrin- genden Künstler wie Peter Behrens oder Henry van de Velde gesehen werden. Vor 1880 hatte man nicht angenommen, daß der Raum an sich die ästhe- tische Substanz der Architektur verkörpern könnte. Frühere Theorien sahen die Architektur oft in ikonographischer Weise als Präsentation von Religion, Staatsmacht, eines Mäzens usw. an oder, in funktionaler Hinsicht, als Inszenierung von Ritualen und Zeremonien sowie meta- physisch, als Repräsentation kosmischer Prinzipien, mathematischer oder anthropomorpher Qualitäten und vieles mehr. Die Reduzierung der Architektur auf eine visuelle Erfahrung des Raumes ist eine moder- ne Erfindung. Rückbezogen auf die historische Architektur, führte sie zu erschreckenden Schlußfolgerungen, wie der absurden Erklärung von Bruno Zevi, wonach der Parthenon keine Architektur ist, weil er keine großen Innenräume besitzt. Zevi meinte zunächst, daß die Archi- ⇠ Raum, Macht & Differenz tekten das Räumliche gegenüber dem Dekorativen in der Architektur nicht unterschätzen sollten, denn kein Werk ohne Innenraum könne als Architektur bezeichnet werden. Er schloß daraus, daß die Bewertung von Architektur vor allem die Bewertung des Innenraumes von Gebäu- den sei.245 Zevi glaubte an die universale Gültigkeit dieser Theorie und forderte den Leser auf, Bücher über Architekturgeschichte und Ästhetik in dieser Hinsicht zu überprüfen.246 Diese Perspektive führte zu der ominösen Behauptung, daß weder der Triumphbogen von Titus noch das Vittoriano in Rom Architekturwerke darstellten. Zevi folgerte mit der gleichen Sicherheit, daß der Parthenon keine Architektur sein kann, denn die cella wäre nicht nur ein umschlossener, sondern im sprich- wörtlichen Sinn ein geschlossener Raum gewesen, und ein solcher versiegelter Innenraum sei charakteristisch für Skulpturen. Insofern ist der Parthenon nur eine große Skulptur von Phidias!247 Nach der Theorie von Zevi ließe sich also ein architektonisches Gebäude durch das Verschließen der Türen in eine Skulptur verwandeln. Trotz seiner Ablehnung des Parthenons schlug Zevi vor, daß Baumgruppen durch- aus die architektonische Funktion übernehmen könnten, Außenräume oder urbanen Raum zu definieren, mit anderen Worten, eine Reihe von Bäumen ist laut Zevi ein besseres Beispiel für Architektur als der Parthenon.248 Um einige der Implikationen zu erfassen, die mit der Theorie von Architektur als Raumkunst verbunden sind, ist es hilfreich, diese mit einer anderen Theorie zu vergleichen, die im deutschsprachigen Raum viele Anhänger hatte, nämlich Gottfried Sempers Theorie der vier Elemente der Baukunst. Semper sprach von den vier Elementen und Techniken der Urhütte und meinte, diese seien auch für spätere Architekturen von Bedeutung. Die vier Urtechniken waren Keramik, Zimmerei, Weberei und Mauerkunst, wobei die letztere nicht, wie man meinen könnte, dem Aufbau der Wände diente, sondern dem Fundament des Hauses.249 Statt dessen meinte er, daß die ursprüngli- chen Wände eher Teppiche waren, die der optischen Eingrenzung des Raumes dienten. Er unterschied sehr klar die tragende Funktion von Stützen oder Wandelementen, einschließlich weiterer Funktionen wie Sicherheits- oder Schutzfunktionen, und die optische, schmückende Aufgabe der Wände.250 Schon Vitruv hatte die Meinung vertreten, daß die Alten ihre Wände gewebt hätten. Die Weberei gilt traditionell als weibliche Technik, und ist eine der wenigen Erfindungen, die sogar Freud den Frauen zuschreibt: „Man meint, daß die Frauen zu den Entdeckungen und Erfindungen der Kul- Gender in der Architekturtheorie ⇠ turgeschichte wenig Beiträge geleistet haben, aber vielleicht haben sie doch eine Technik erfunden, die des Flechtens und Webens. Wenn dem so ist, so wäre man versucht, das unbewußte Motiv dieser Leistung zu erraten. Die Natur selbst hätte das Vorbild für diese Nachahmung gege- ben, indem sie mit der Geschlechtsreife die Genitalbehaarung wachsen ließ, die das Genitale verhüllt. Der Schritt, der dann noch zu tun war, bestand darin, die Fasern aneinander haften zu machen, die am Kör- per in der Haut staken und nur miteinander verfilzt waren. Wenn Sie diesen Einfall als phantastisch zurückweisen und mir den Einfluß des Penismangels auf die Gestaltung der Weiblichkeit als eine fixe Idee anrechnen, bin ich natürlich wehrlos.“251 Für Freud bestand die Essenz der einzigen weiblichen Erfindung, der Textilkunst, im Maskieren. Schon einige Zeit vor Freud war Semper zu demselben Schluß gekommen, wobei er sich die Frage stellte, ob das Maskieren eher dem Verstecken oder dem Akzentuieren dienen soll- te.252 Semper kam zu dem Schluß, daß die Textilien eher der Maskie- rung oder der artifiziellen Betonung von persönlichen Qualitäten dien- ten, und erklärte, daß der Beginn der Architektur mit dem Beginn der Textilkunst gleichzusetzen sei, unter der Annahme, daß die Textilkunst zuerst für architektonische Zwecke und erst später für Kleidung einge- setzt wurde.253 Um seine Thesen zu stützen, verwies Semper auf die etymologischen Beziehungen zwischen Wand und Gewand und Decke (als Zimmerdecke, Tischdecke oder Bettdecke), in denen er ein Indiz sah, daß Textilien und Bauelemente einen gemeinsamen Ursprung haben.254 „Dach“ leitet sich von tegere ab, das heißt „bedecken“, im Lateinischen toga, welche auch ein Kleidungsstück war. Die „Wand“ entwickelte sich aus dem „Winden“, „Umwickeln“. In etymologischer Hinsicht lassen sich auch enge Beziehungen zwischen „Haus“, „Hut“, „Hütte“ und „Haut“ aufzeigen.255 Interessanterweise erscheint die Verbindung des Textilen mit der Archi- tektur nicht nur in der griechisch-lateinischen oder europäischen Tra- dition. Zum Beispiel behauptet Denise Arnold in ihrer Studie über die Aymara-Siedlungen der Qaqachaka ayullu, daß die Indianer in den Anden ihr Haus sowohl als „Nest“, „Weberei“ als auch „Bündel“ (tejido oder atado) bezeichnen. Nach Arnold beschreiben die Frauen der Qaqachaka den Einfluß und die Macht des Hauses als das „Gewebe der Mutter aus konzentrischen Hüllen, die völlig dem weiblichen Geschlecht zuge- ordnet sind“. Des weiteren stellt Arnold die These auf, daß die Frauen etwas beschwören, was sie als „Diskurs der Nähte“ bezeichnet, indem sie Macht an den Nahtstellen verschiedener aneinandergenähter Stoff- ⇠ Raum, Macht & Differenz teile sehen.256 Kombiniert man die Theorien von Semper und Freud, hat sich also die Architektur aus der weibli- chen Textilkunst des Webens entwickelt und stellt quasi als eine Art Kleidung die zweite Leibeshülle des Menschen dar. Viele bauliche Zeugnisse der Ver- gangenheit, archaische Bauten, die aus Flechtwerken bestehen, Zelte, Hütten, Baldachine etc., berühren Grenzgebiete, die sich nicht mehr eindeutig der einen oder anderen Gattung zuordnen lassen. Sempers Idee der Maske kann auch als extreme Aus- legung von Karl Böttichers Theorie der Kernform und Kunstform gesehen werden, bei der die Kern- form das funktional und struktural Notwendige beinhaltet (und damit nicht-künstlerische Elemente) und nur die überflüssige Kunstform die kulturelle Leistung im Sinne von Kants Interesse- und Zwecklosigkeit darstellt. Die architektonischen Konsequenzen von Sempers Auslegung der Kunstform als Textilmaske wurden unter anderem von Otto Wagner und seinen Schülern, besonders von Josef Hoffmann und Josip Plecnik, gezogen. Die Fassade von Wagners Majolikahaus zeigt ein textilartiges, „supergrafisches“ Muster, das unabhängig von den Fensteröffnungen existiert. Seine Postsparkasse und die Pumpenstation am Donaukanal sind ebenfalls mit verschiedenen zweidimensionalen Muster dekoriert, die zwar geometrischer organisiert sind, aber ebenfalls wie „gewebt“ wirken. Das Textilthema wird noch deutlicher an den Ecklösungen in der Eingangshalle der Postsparkasse eingesetzt oder an der Fassade von Wagners Haus in der Neustiftgasse, das eine sehr grafische Auslegung des „Diskurses der Nähte“ darstellt: Wo sich hier zwei weiße Wandflä- chen treffen, werden sie an der Nahtstelle durch einen ornamentierten Saum eingefaßt. Diese unmittelbaren Hinweise auf die Textilkunst sind besonders des- halb interessant, weil sie traditionellerweise als weibliche Kunstrich- tung gilt und damit einen Gegenpol zu maskulin konnotierten künst- lerischen Techniken und Qualitäten darstellt, wie sie zum Beispiel von Adolf Loos propagiert wurden. Im Gegensatz zu Wagner und seinen Nachfolgern betonte Loos den Raum und deklarierte seinen dreidimen- sionalen Raumplan als kopernikanische Revolution in der Architektur. In „Ornament und Verbrechen“ wetterte Loos heftig gegen textile Qualitäten oder Tätowierungen von Oberflächen, wie sie bei Wagner oder den Entwürfen von Josef Hoffmann auftraten. Die Interpretati- Gender in der Architekturtheorie ⇠ on dekorierter Fassaden und floraler Motive als „feminin“ und ungeschmückter Flächen und geo- metrischer Motive als „maskulin“ war zu dieser Zeit weit verbreitet. Von zeitgenössischen Kritikern wurden die Ornamente der unteren Geschosse des Carson, Pirie & Scott-Warenhauses von Sullivan in Chicago als „feminin“ interpretiert und sogar noch in den 1960er Jahren als „feminin“ gegenüber den schlichteren, „kräftigen zellenförmigen“, „mas- kulinen“ oberen Stockwerken herausgestellt. Eine ganz ähnliche Auffassung hatte Sullivan selber vertreten, denn seine Ornamentik war durch die Lehren Swedenborgs beeinflußt.257 Loos’ Position, die Architektur als maskuline Raumkunst zu sehen, konnte sich als orthodoxe modernistische Auffassung in der Architektur durch- setzen. Der moderne Stil war durch Ornamentlosigkeit charakterisiert und befürwortete die Ehrlichkeit von Material und Struktur als Suche nach einem zeitlosen, objektiv wahren Ausdruck. Auch Le Corbusier verwies auf Parallelen zwischen der modernen Architektur und zeit- genössischer Herrenkleidung. Zu seinem Habitus gehörten das Tragen eines Anzugs von der Stange und seine prägnante Hornbrille, um sich äußerlich als Massenprodukt des Industriezeitalters zu präsentieren.258 Er hob gerne hervor, daß die Herrenkleidung der erste Bereich sei, in dem man sich vom Ornament zugunsten einer einfachen, funktionalen Gestaltung gelöst hatte. Eine weiße, ornamentlose, hygienische Wand wurde von ihm mit dem weißen Oberhemd des Mannes assoziiert. Wie Mark Wigley feststellte, wurden diese Qualitäten traditionell als mas- kulin gewertet und ihre Oppositionen als feminin.259 Bevor die modernistische Bevorzugung des Raumes als maskulin erklärt werden kann, muß ein Gegenargument kurz betrachtet wer- den. Aus einer Perspektive im Sinne Freuds oder Jungs könnte man argumentieren, daß die Betonung der Innenräume feminine Qualitäten oder Archetypen reproduziert, eine Position, die, wie bereits erwähnt, von Olivier Marc vertreten wird. Daraus ließe sich folgern, daß die moderne Raumkunst feminine Werte eher zelebriert als abwertet. Diese Interpretation ist vielleicht etwas zu nachgiebig, denn mit dem glei- chen Interpretationsmodell ließe sich behaupten, daß die Konstruktion von Innenräumen im Grunde der Simulation der Feminität oder der Substitution der archetypischen Mutter mit etwas Künstlichem dient. Damit würde die Theorie der „Architektur als Raumkunst“ die Frauen scheinbar völlig überflüssig machen, denn es gäbe ja Ersatzbefriedigun- ⇠ Raum, Macht & Differenz gen. Tatsächlich war für Sigmund Freud das Wohnhaus nach eigenen Worten „ein Ersatz für den Mutterleib, die erste, wahrscheinlich noch immer ersehnte Behausung, in der man sich sicher war und sich so wohl fühlte“.260 Anstelle dieses Problem durch psychoanalytisch inspirierte Texte lösen zu wollen ist es wohl sinnvoller, die zuvor diskutierten bekannten empirischen Studien heranzuziehen, gemäß denen Frauen im klini- schen Kontext durchschnittlich eine geringere räumliche Vorstellungs- kraft als Männer besitzen. Ob diese Experimente irgendeine Bedeutung für die Kreation von Architektur besitzen, ist allerdings eine andere Frage. Fall es der Fall wäre, ließe sich festhalten, daß die Auffassung von Architektur als Raumkunst nicht nur die spezifischen Fähigkeiten der Jugendstilarchitekten (Malerei) abwertete, sondern auch die der weiblichen Architekten. Helmut Schramm Während sich in der Debatte rund um das Wohnen die Bilder des Einfamilienhauses und seines Antipoden, des Wohnhoch- hauses, breit machen, verliert man nur allzu leicht eine tradi- tionell starke Alternative aus dem Auge: das Hof- und Reihen- haus. Einleitend wird die Geschichte dieser Gebäudetypen abgehan- delt. Die Kernstücke sind eine akribische typologische Analyse, sowie eine Sammlung neuer Strategien die aufzeigen, wie man mit dem Hof- und Reihenhaus komplexen Anforderungen des Städtebaus und neuen Formen des Wohnbedarfs auf flexible Art gerecht werden kann. Grundrissanalysen, Qualitätskriterien und städtebauliche Konzepte sowie ein umfangreicher Beispielteil realisierter Bauten bedeutender Architektinnen und Architekten ergänzen dieses einmalige Werk. Low Rise - High Density Helmut Schramm Low Rise - High Density Horizontale Verdichtungsformen im Wohnbau 2. Auflage 978-3-211-75793-2 springer.at Helmut Schramm Low Rise - High Density Horizontale Verdichtungsformen im Wohnbau zweite, überarbeitete und ergänzte Auflage 3 a.o.Univ.Prof.DI.Dr. Helmut Schramm, Technische Universität Wien, Österreich Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. zweite, überarbeitete und ergänzte Ausgabe © 2008 Springer-Verlag / Wien Printed in Austria SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science and Business Media springer.com Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Eine Haftung der Autoren oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. Die Urheberrechte der Abbildungen konnten nicht in jedem Fall zweifelsfrei geklärt werden. Der Autor ersucht daher um Kontaktaufnahme. Graphisches Konzept: Helmut Schramm Umschlagbild: Skizze Helmut Schramm Druck: Theiss GmbH., St.Stefan im Lavanttal Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier - TCF SPIN: 12098545 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Mit zahlreichen Abbildungen ISBN 978-3-221-75793-2 SpringerWienNewYork Dieses Buch4ist seit 2015 über den Birkhäuser Verlag erhältlich, ISBN 978-3-90043-176-4 Inhalt 5 Vorwort 9 Einführung 11 1. Die Geschichte der horizontalen Verdichtung im Wohnbau bis 1934 1.1. Flächige Verdichtung Die Geschichte des Hofhauses 15 1.2. Lineare Verdichtung Die Geschichte des Reihenhauses 19 2. Die Entwicklung nach 1945 2.1. Roland Rainer und die Bedeutung von Puchenau I 37 2.2. Atelier 5 und die Bedeutung von Halen 41 3. Typologie 45 3.1. Hofhaustypologie 47 3.2. Reihenhaustypologie 58 4. Qualitätskriterien Flexibilität und Variabilität 69 Wegführung 71 Raumgefüge 72 Privatheit der Freibereiche 75 Hof- und Reihenhaus mit integrierter Garage 76 Niedrigenergiekonzepte 79 5. Städtebauliche Konzepte Wien 83 Amsterdam 87 Fukuoka 88 Re: American Dream 89 New Urbanism 90 6. Neue Strategien 93 Strategische Planungsprozesse 94 Landschaft 95 Artifizielle Landschaft 97 Natur 101 Extreme Verdichtung 102 Gebäudetypologie 107 6 7. StudentInnenarbeiten 110 8. Beispielsammlung 116 Le Corbusier, Mart Stam, J.J.P. Oud: Weißenhofsiedlung Stuttgart (D) 118 Adolf Loos, Gerrit Rietveld, Anton Brenner, André Lurcat: Werkbundsiedlung Wien (A) 122 Arne Jacobsen: Hofhäuser, Klampenborg (DK) 126 Roland Rainer: Gartenstadt Puchenau (A) 128 Alvaro Siza: Quinta da Malagueira, Evora (P) 130 Lang + Schwärzler: Atriumhäuser, Bregenz (A) 132 Carl Pruscha: Hofhäuser Traviatagasse, Wien 23 (A) 134 Rem Koolhaas: Nexus World, Fukuoka (J) 136 Adolf Krischanitz: Haus S., Friedrichshof bei Zurndorf (A) 138 West 8, Neutelings Riedijk Architecten, MVRDV, Atelier Zeinstra Van der Pol, Claus & Kaan: Borneo Sporenburg, Amsterdam (NL) 140 Walter Stelzhammer: Wohnarche Atzgersdorf, Wien 23 (A) 144 Pentaplan: Wohnanlage Teichhofweg, Graz (A) 146 Franz E.Kneissl: Siedlung Simmeringer Haide, Wien 11 (A) 148 Georg Schwalm-Theiss: Siedlung Kabelwerk, Wien 12 (A) 150 Walter Stelzhammer: Hofhäuser, Langenlois, N.Ö. (A) 152 Atelier 5: Siedlung Halen, Herrenschwanden (CH) 154 Walter Stelzhammer: Siedlung Mühlgrundweg, Wien 22 (A) 156 Rüdiger Lainer: Reihenhäuser Siegesplatz, Wien 22 (A) 158 Herzog & de Meuron, Adolf Krischanitz, Otto Steidle: Siedlung Pilotengasse, Wien 22 (A) 160 Margarethe Cufer, Walter Gruss, Johann Schandl Siedlung Othellogasse, Wien 23 (A) 164 Raimund Abraham: Siedlung Traviatagasse, Wien 23 (A) 168 Nicholas Grimshaw: Reihenhäuser Grand Union Walk, London (GB) 170 Neutelings Riedijk Architecten: Seeuferbebauung Huizen (NL) 172 De Architectengroep Loerakker Rijnboutt Ruijssnaars Hendriks Van Gameren Mastenbroek & MVRDV: Doppelhaus , Utrecht (NL) 174 Abbildungshinweise, Literatur- und ArchitektInnenverzeichnis 176 7 Vorwort Die ”Horizontalen Verdichtungsformen im Wohnbau” be- gannen mich bereits während meines Studiums der Archi- tektur an der TU Wien zu interessieren. Die Notwendigkeit von Strategien gegen das unaufhaltsame Wuchern der Ein- familienhäuser, die Faszination, die dichte urbane Stadt- gefüge ausüben, die sich dauernd ändernden Anforderun- gen an eine Wohnung, aber auch die Tatsache, hier mit einem ganz alltäglichen Problem zu tun zu haben, übten und üben weiterhin eine gewisse Faszination auf mich aus. Waren während meines Studiums die Begriffe Quartier und Nachbarschaft eng mit dem Thema der „horizontalen Ver- dichtung“ verbunden, so stehen heute die neuen, urbanen Herausforderungen im Mittelpunkt des Interesses. Urbani- tät als positiv besetzter Begriff in der Wohnbaudiskussion, Landschaft als manipulierbares Element des Städtebaus und die Individualität des dynamischen Stadtbewohners als Me- tapher für eine neue Form von Gesellschaft. Da diese Publikation auch die Vorlesung ”Horizontale Ver- dichtungsformen im Wohnbau”, die ich an der TU Wien abhalte, begleiten soll, sind einige Passagen (z.B. die Ge- schichte des Deutschen Werkbunds) ziemlich genau ge- halten, während andere Bereiche (z.B. Bauphysik usw.) sehr kurz abgehandelt werden. Einige Momente der Architektur- geschichte erscheinen mir in diesem Zusammenhang Wert, ausführlich erörtert zu werden, wogegen bauphysikalische und ähnliche Bereiche in anderen Publikationen ( z.B. Martin Treberspurg: Neues Bauen mit der Sonne) fundiert behan- delt werden. Eine alle Themenbereiche der Architektur betreffende Ab- handlung der ”Horizontalen Verdichtungsformen im Wohn- bau” ist Ziel meiner weiteren Forschung, würde aber den vorgegebenen Rahmen dieser Publikation sprengen. Helmut Schramm 9 Abb.1 10 Einführung Das freistehende Einfamilienhaus zählt wahrscheinlich nicht nur in Österreich am Beginn des 21. Jahrhunderts zur begehrtesten Wohnform. Die Motive dafür sind vielfältig. Der Besitz eines eigenen Hauses, die Selbstverwirklichung bei Planung und Einrichtung und ein großer, privater Garten, der auch Distanz zu den Nachbarn schafft, sind die Motive, die am häufigsten angegeben werden. Die aus der Verwirk- lichung dieser Wünsche resultierende Zersiedlung der Land- schaft wird seit den 60er Jahren wahrgenommen, untersucht und erfolglos bekämpft. Die Zersiedelung führt nicht nur zu einem enormen Ver- brauch des beschränkt vorhandenen und somit kostbaren Guts Landschaft, sondern bereitet den Kommunen darüber hinaus hohe Kosten, da die Aufschließung der Einfamilien- hausgebiete mit Straßen, Kanal, Strom, Gas und - nicht zu vergessen - mit öffentlichen Verkehrsmitteln, unverant- wortlich aufwendig ist. Eine wesentlich dichtere Bebauung mit ähnlichen oder größeren Qualitäten wie die des Ein- familienhauses sollte das Ziel im Kampf gegen die Zer- siedlung sein und dieses ist mit den Mitteln der horizon- talen Verdichtungsformen zu erreichen. Darüber hinaus sind die horizontalen Verdichtungsformen im Wohnbau im urbanen Bereich eine Alternative zu den vertikalen Verdich- tungsformen. Bevor näher auf den Begriff der „Horizontale Verdichtungs- formen im Wohnbau“ eingegangen wird, erscheint es sinn- voll, diesen Begriff zu definieren: Alle Wohneinheiten werden nebeneinander angeordnet. Daraus folgt, dass sich übereinander nur Räume des glei- chen Wohnungsverbandes befinden. Auf einer Parzelle be- findet sich daher nur eine Wohneinheit. Den horizontalen Verdichtungsformen im Wohnbau liegt, wie bereits im Titel enthalten, das Bedürfnis nach Verdich- tung zu Grunde. Der Verdichtungsgrad wird über die Ge- schoßflächenzahl definiert und durch das Verhältnis von Geschoßfläche zu Grundstücksfläche ausgedrückt. GFZ = Geschoßfläche / Grundstücksfläche Ein Beispiel: Ein Einfamilienhaus mit 130 m2 Nutzfläche auf 650 m2 Grundstücksfläche hat eine GFZ von 0,2. 11 Einführung Der Grad der Verdichtung richtet sich hauptsächlich nach städtebaulichen und kommerziellen Interessen und wird in schwache (GFZ 0,3-0,5), mittlere (GFZ 0,5-1,0) und starke Ver- dichtung (GFZ > 1,0) unterschieden, wobei die schwache Verdichtung eine Antwort auf die Zersiedelung im ländli- chen und kleinstädtischen Bereich, die starke Verdichtung hingegen einen Gegenpol zu städtischen Bebauungsmodel- len wie Blockrandbebauung und Zeilenbebauung darstel- len soll. Prinzipiell unterscheiden wir zwei verschiedene Arten von Verdichtung: die lineare Struktur (Reihenhaus) und die flä- chige Struktur (Hofhaus). Vor einer zu scharfen Abgrenzung zwischen den Kategorien muss jedoch gewarnt werden, da es natürlich auch gereihte Hofhäuser und flächige Struktu- ren mit Reihenhäusern gibt. Ziele Das Ziele dieser Publikation ist es, ein Grundwissen zu ver- mitteln, welches eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema horizontale Verdichtungsformen im Wohnbau er- möglichen soll. Die Beschäftigung mit der Geschichte des Hof- und Rei- henhauses soll einerseits die Wurzeln dieser Gebäudetypen und deren Siedlungsformen aufzeigen und andererseits durch die Beobachtung der kontinuierlich stattfindenden Veränderungen die darin liegende Logik besser verständlich machen. Roland Rainer und das Atelier 5 werden wegen ihrer Vor- reiterrolle im Siedlungs- und Wohnungsbau ausführlicher behandelt. Die Siedlungen Puchenau und Halen zählen auch heute noch zu interessanten Beispielen, die noch lange ein Vorbild für die Bauaufgabe Hof- bzw. Reihenhaus abgeben werden. Die Beschäftigung mit der Gebäudetypologie stellt einen wichtigen Abschnitt dar. Durch die beinahe akribische Ana- lyse der einzelnen Typen soll ein Basiswissen erarbeitet wer- den, ohne den eine innovative Auseinandersetzung mit die- sem Thema nicht angebracht erscheint. Ein Basiswissen ist auch notwendig, um auf die Aspekte der Qualitätskriterien eingehen zu können. Die Bereiche Flexi- 12 Einführung bilität und Variabilität sowie die Qualität der Wegführung und des Raumgefüges gehören genauso dazu wie die Frage der Privatheit von Freibereichen und die Energiekonzepte. Die horizontalen Verdichtungsformen im Wohnbau defi- nieren sich nicht nur über die Gebäudetypologie, sondern auch durch Siedlungs- und Stadtentwicklungskonzepte. Ein Vergleich verschiedener Siedlungen in Wien, die alle an der Peripherie liegen, zeigen die unterschiedlichen städtebauli- chen Konzepte auf und geben den Anlass, generell das The- ma der Perpherie zu erörtern. Der Blick nach Amerika und auf die Strömung des „New Urbanism“ soll auf die unter- schiedlichen Entwicklungen aufmerksam machen und die möglichen Auswirkungen auf die europäischen Städte aus- loten. Neue Strategien werden notwendig sein, um den komple- xen Anforderungen am Beginn des 21.Jahrhunderts gerecht zu werden. Dabei werden Begriffe wie Landschaft und Na- tur sich genauso einer Neuinterpretation stellen müssen wie die Gebäude- oder Grundrisstypologie. Planungsprozes- se werden aufgrund von neuen Technologien und vielleicht völlig anderen Rahmenbedingungen besser auf eine schnell- lebige Zeit reagieren müssen. Das „einfache“ Thema der horizontalen Verdichtungsformen im Wohnbau erscheint nach einer genaueren Betrachtung wesentlich komplexer als anfangs vermutet. Diese Publika- tion soll nicht nur Lösungen aufzeigen, sondern auch zu neuen Fragestellungen anregen. 13 Die Faszination, die Luftaufnahmen traditioneller persischer Städte nicht nur auf Architekten ausüben, “beruht weder nur auf der zeitgemäßen Neigung zur Nostalgie, noch auf kulturhistorischem Interesse allein. Man spürt vielmehr, dass hier auf einfachste Weise erreicht ist, was wir gegenwärtig mit einem ganzen Arsenal wirtschaftlicher, technischer und wissenschaftlicher Mittel nicht erreichen:” “...dass Ruhe, Räumlichkeit, Geborgenheit und menschliches Maß selbstverständlich sind” 1). Roland Rainer 1) Roland Rainer: Anonymes Bauen Abb.2 Kerman, Iran im Iran. S.21 14 1. Die Geschichte der horizontalen Verdichtung im Wohnbau bis 1934 Flächige Verdichtung: Die Geschichte des Hofhauses Die Hofhäuser dieses Jahrhunderts unterscheiden sich sehr von den antiken Hofhäusern, da sie für kleinere Familien, ein komfortableres Leben und meist unter völlig anderen klimatischen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Rah- menbedingungen gebaut wurden als ihre Vorgänger. Einige – vor allem amerikanische - Architekten sehen gerne einen sehr engen Zusammenhang zwischen den zeitgenössischen Hofhäusern und den antiken griechischen oder römischen Abb.3 Hofhaus Ur, Irak. 2000 v.Chr. Atriumhäusern bzw. den islamischen Hofhäusern und spa- nischen Patio-Häusern. Ich denke hingegen, dass diese tat- sächlich nur einen geringen unmittelbaren Einfluss auf den Gebäudetyp des zeitgemäßen Hofhauses haben. Trotzdem folgt ein kurzer Abriss der Geschichte des Hofhauses. Das Bedürfnis nach Schutz vor Wetter und Eindringlingen führte bereits bei den frühesten menschlichen Ansiedlun- gen zu Hausformen, bei denen sich verschiedene Räume um einen kleinen Hof gruppierten, der zugleich Erschließ- ungsfläche, Aufenthaltsort und meist auch Kochstelle war. Die frühesten uns bekannten Hofhäuser wurden etwa 3000 v.Chr. errichtet und sind in Indien und China zu finden. Da gerade beim traditionellen, chinesischen Hofhaus die Be- ziehung Haus - Natur eine wichtige Rolle gespielt hat, sto- 2) Roland Rainer: Die Welt als ßen diese Gebäude heute wieder auf reges Interesse2). In Ur, Garten: China Irak wurden um 2000 v.Chr. zweigeschoßige Hofhäuser (Abb.3) mit fast quadratischem Grundriss gebaut. Dieser aus ge- brannten Ziegeln errichtete Bau hatte im Erdgeschoß die öffentlichen Räume und im Obergeschoß die Schlafräume. Dieser Hofhaustyp wurde von den Etruskern und Griechen entscheidend beeinflusst und stellt somit die Grundlage für das römische Atriumhaus dar. Die am besten erhaltenen römischen Wohnhäuser sind in Pompeji zu finden. Seit Jahrhunderten ist das Hofhaus in Asien, Südeuropa, Nordafrika und später auch in Süd- und Mittelamerika der bestimmende Gebäudetyp. Speziell im islamischen Kultur- bereich entsprechen fast alle Gebäude diesem Typus. Eine eindeutige Entwicklung kann jedoch nicht festgestellt wer- den. Diese würde auch nicht dem - eher zyklischen als li- nearen - islamischen Kulutrverlauf entsprechen. Viele, ein- mal entwickelte Grundformen wurden beibehalten und in 15 Die Geschichte des Hofhauses mannigfaltigen Ausführungen immer wieder verwendet. Diese Entwicklungen waren von den archaischen Urformen, die der Religion entspringen, und der Vorbildwirkung der Bauten einzelner Dynastien geprägt.3) Natürlich spielten 3) Stefano Bianca: Hofhaus und Para- diesgarten. S.220 die sich - langfristig - ändernden sozialen Verhaltenswei- sen und die zur Verfügung stehenden Baumaterialien ge- nauso eine bedeutende Rolle. Bei all diesen Hofhaustypen – so unterschiedlich sie in den verschiedenen Ausführun- gen auch sein mögen – steht immer der Hof im Mittelpunkt: die abgeschlossene, nur dem Familienleben dienende Oase. In Mitteleuropa hat das Hofhaus eine vergleichsweise kur- ze Tradition. Erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Abb.4+5 Hugo Häring führte die Auseinandersetzung mit neuen Stadtmodellen Hofhaus, 1928 zur Beschäftigung mit horizontalen Verdichtungsformen und in der weiteren Folge zur Beschäftigung mit dem Gebäudetyp Hofhaus. Ein erstes Konzept stammt von Hugo Häring (Abb.4+5), der bereits 1928 Hofhausstudien machte. Das rechteckige Ge- bäude öffnet sich auf der Südseite großzügig zum Hof, der von der fensterlosen Nordseite des Nebengebäudes begrenzt wird. Eine geschoßhohe Mauer trennt den Hof von der Stra- Abb.6 Ludwig Hilberseimer ße und bildet einen Zugangsbereich, der sich mit einem L-Haus Typ 3, 1931 Glasdach versehen zu einem gedeckten Außenraum um- wandeln kann. Der Gang, über den alle Räume erschlossen werden, besitzt an der Außenmauer bereits die typischen Schrankverbauungen, die den davorliegenden Individualräu- men wertvollen Stauraum bieten. 1930 begann Ludwig Hilberseimer seine L-Haus-Varianten (Abb.6) zu entwickeln. Die Haustypen waren vorerst noch nicht aneinandergebaut, tragen jedoch bereits die charak- teristischen Merkmale der flächigen Verdichtung, wie die konsequente Orientierung der Aufenthaltsräume auf den Abb.7 Ludwig Hilberseimer Hof. Bei diesem Gebäudetyp ist bemerkenswert, dass hier L-Haus Typ E, 1931 zum ersten Mal die Gemeinschaftsräume und die Individual- räume in den beiden Flügeln des Hauses getrennt unterge- bracht wurden. Dies ermöglicht, den unterschiedlichen An- forderungen nach Licht und Sonne gerecht zu werden. Au- ßerdem kann durch die Anordnung von Wohnraum, Küche und Bad in einem Flügel der zweite Flügel später gebaut bzw. ausgebaut werden (Abb.7). 16 Die Geschichte des Hofhauses Mies van der Rohe entwickelte ab 1931 Modelle für eine eingeschoßige, verdichtete Bebauung in geschlossenen Hö- fen, die nicht wie bei Hilberseimer von der Reihung bzw. Addition gleicher Haustypen ausgeht, sondern eine freie Flächenaufteilung der Parzellen und Häuser zum Inhalt hat (Abb.8). Zahl, Größe und Zuschnitt der Höfe richtet sich nach der Größe und den Belichtungsbedürfnissen der einzelnen Häuser. Die geschoßhohen Außenmauern sowie die aus- Abb.8 Mies van der Rohe Gruppe von Hofhäusern, 1934 kragenden Flachdächer betonen die fließenden Übergänge zwischen Innen und Außen und stehen ganz in der Traditi- on der Moderne. Zur selben Zeit beschäftigte sich in Großbritannien Walter Segal mit Hofhäusern. Er entwickelte neben einen über den Innenhof zu betretenden L-Typ 1943 auch die interessante Variante eines zweigeschoßigen L-Typs (Abb.9), der sehr dem Entwurf Hannes Meyers für die Lehrer-Wohnhäuser der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschafts- 4) Duncan Macintosh: The Modern Court- bundes ähnelt 4). Bei Segal ist der in die Tiefe gehende Trakt yard House, S.38 zweigeschoßig, während ein schmaler, eingeschoßiger Trakt zur Straße hin abschließt. Die sich darauf befindende Ter- rasse ist auch direkt vom Hof erreichbar. In Europa verhinderte die politische Entwicklung ab 1934, die viele Architekten zur Emigration zwang, eine Weiter- entwicklung dieses nicht traditionellen Haustyps. Abb.9 Walter Segal Patio House Type 17a, 1943 17 “Unsere Arbeit ist experimentell; aber oft ist das Experi- ment wichtiger als der sichere Weg. Auch wir kennen die Mängel unserer Arbeit, und wir können sagen, daß wir an dieser Arbeit enorm gelernt haben” 5) Ludwig Mies van der Rohe 5) M.v.d. Rohe in einer Rede vor Mitgliedern des Deutschen Werk- bunds am 30.9.1927 Abb.10 Weißenhofsiedlung Stuttgart, 1927 in Stuttgart. 18 1.2. Lineare Verdichtung: Die Geschichte des Reihenhauses Werksiedlungen, Arbeitersiedlungen und die Garten- stadtbewegung Die Geschichte der linearen Verdichtung geht einher mit der Entwicklung des englischen Bürgerhauses und der Ge- schichte der Arbeitersiedlung. Das in der Nähe der Industrie- gebiete gelegene, jedoch emissionsunbelastete Reihenhaus mit Garten sollte dem Arbeiter und seiner Familie nicht nur Unterkunft geben, sondern auch die Selbstversorgung mit landwirtschaftlichen Produkten ermöglichen und den Arbei- ter dadurch enger an den Betrieb binden. Die 1519 errichtete Fuggerei in Augsburg wird in Fachpubli- kationen gerne als erste Werksiedlung bezeichnet. Für die Entwicklung der linearen Reihung sind jedoch erst die Ansätze der Paternalisten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von Bedeutung. In Siedlungen wie Ackroyden, Saltair oder Bournville in Großbritannien bzw. der Werksiedlung Krupp in Essen wurden unterschiedliche Modelle der linearen Ver- dichtung - teilweise auch mit inadäquaten architektoni- schen Mitteln - erprobt. So wurde Saltair im Stil der italieni- 6) R. Gieselmann: Wohnbau, S.60 schen Renaissance errichtet 6). Ebenezer Howard hat 1898 mit seinem Buch “Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform”, das 1902 unter dem Titel 7) Manfred Tafuri, Francesco Dal Co: “Garden Cities of Tomorrow” neu aufgelegt wurde,7) ein neues Architektur der Gegenwart, S.35 gesellschaftspolitisches und urbanes Denken eingeleitet – die Idee der Gartenstadt. Die neu zu schaffenden Garten- städte vereinen die postitiven Aspekte von Stadt und Land. Die Größe einer solchen Gartenstadt soll überschaubar bleiben und ist mit 30.000 Einwohnern begrenzt. Das Gesamtgebiet der Gartenstadt gliedert sich in den nicht ver- größerbaren Stadtbereich und den umliegenden Grüngürtel, der zumeist landwirtschaftlich genützt wird. Der von einem Eisenbahnring umgebene Stadtbereich ist somit exakt de- finiert, der Verdichtungsgrad vorgegeben. Howard gründet 1899 die Garden Cities Association und läßt 1903 von den Architekten Unwin & Parker die erste Gartenstadt Letchworth errichten. Die an gekrümmten Straßen aufgefedelten Einzel- und Reihenhäuser lassen jedoch die abstrakte Klarheit des Howard’schen Grundkonzeptes vermissen. Um 1900 wiesen österreichische und deutsche Städte ein enormes Bevölkerungswachstum auf. Die damit verbundene 19 Die Geschichte des Reihenhauses Wohnungsnot versuchte man durch Stadterweiterungen zu bewältigen. Howards Gartenstadtidee – die Gründung neuer Städte - kam hier nicht zu tragen oder brachte mit Siedlungen wie Hellerau (Architekt Heinrich Tessenow) nur einfache vorstädtische Lösungen hervor. Nach dem Ersten Weltkrieg war der Bedarf an Wohnungen enorm hoch. Die Wohnbautätigkeit wurde hauptsächlich von den Stadtverwaltungen übernommen. So plante die Stadt Wien den großen Wohnungsbedarf mit mächtigen Geschoß- wohnbauten zu bewältigen. Die Bauten des “Roten Wien” lösten diese Aufgaben in bemerkenswerter Weise und fanden auch ihren Platz in der Architekturgeschichte. Parallel zu dieser Entwicklung errichtete die aus der Selbsthilfebe- Abb.11 Adolf Loos wegung entstandene und später genossenschaftlich organi- Haus mit einer Mauer, Wien sierte Wiener Siedlerbewegung eine Unzahl an Kleinsied- 1921 lungen. Sie war eine reale Alternative zum städtischen Woh- nungsbau, da durch die Siedlerbewegung etwa 10% der neu 8) Novy/Förster: entstandenen Wohneinheiten realisiert wurden8). Die Be- Einfach Bauen, S.7 deutung der genossenschaftlichen Organisationsform für das “Siedlungswesen” ist noch immer gegeben, auch wenn sie gerade heute wegen der geänderten Rahmenbedin- gungen nur durch einen Reformprozess aufrecht zu erhalten ist. Der Verdichtungsgrad all dieser Wiener Siedlungen ist relativ gering, denn die Gärten für die Eigenversorgung brauchen ihre Fläche. Innovativ hingegen ist das von Adolf Loos entwickelte Patent “Haus mit einer Mauer” (Abb.11), das billige Bauweise mit höchst möglicher Flexibilität verbindet Abb.12 Großblockbauweise und ansatzweise in der Heubergsiedlung umgesetzt wurde. System Stadtrat May Haustyp 6, Frankfurt (D) 1926 Im Gegensatz zu Wien versuchte die Stadt Frankfurt die Wohnungsnot ausschließlich durch den Siedlungsbau zu bewältigen. Ernst May wurde 1925 Leiter des Hochbau- und Siedlungsamtes und somit hauptverantwortlich für die Er- richtung dieser Siedlungen, die er grünumschlossene “Vor- 9) Kurt Junghanns: stadttrabanten” 9) nannte. May legte das Hauptaugenmerk Das Haus für alle S.125 auf die Mechanisierung der Baustelle (Abb.12) und die Nor- mierung und Typisierung von Bauelementen. Diese umfass- ten Wandelemente und Flachdachkonstruktionen genauso wie Fenster, Türen, Beschläge, Einrichtungsgegenstände oder Küchenelemente. Perfekte Detailierung dieser Elemente und der dazugehörigen Funktionsabläufe führten z.B. zu der von Schütte-Lihotzky entwickelten “Frankfurter Küche”. 20 Die Geschichte des Reihenhauses Arbeitersiedlung Kiefhoek in Rotterdam Die von J.J.P.Oud 1925 geplante und von 1928 - 1930 in Rot- terdam errichtete Siedlung Kiefhoek hatte die “Wohnung für das Existenzminimum” zum Thema. Die Aufgabe, etwa 300 Wohnungen für weniger bemittelte, kinderreiche Fami- lien zu planen, löste Oud mit zweigeschoßigen, nur 4,10 m breiten Reihenhäusern (Abb.13). Der Standardtyp mit 60 m² zeigt ein sehr offenes Erdgeschoß mit einer steilen, gewen- delten Treppe ins Obergeschoß, in dem drei Schlafkammern für bis zu sieben Personen untergebracht waren. Der Begriff Minimum ist wegen der extrem niedrigen Baukosten leider auch für die Ausstattung zutreffend. So gab es für das Haus keine Warmwasserversorgung und bei den Schlafräumen im Obergeschoß keine Waschgelegenheit. Ausstattungen, die in vergleichbaren Siedlungen, wie z.B. Dammerstock, sehrwohl vorhanden waren, in Kiefhoek von Oud

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