Didaktik der Kindheitspädagogik PDF
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Summary
This document is study notes for a course on the pedagogy of early childhood. It covers topics such as early childhood education, different approaches to early childhood education, and the role of educators in children's development. Some pedagogical approaches are discussed in different lessons like Froebel, Waldorf, Freinet, Montessori. The notes also discuss the importance of play, environment, and observation in early childhood education. The study material follows a structured format with chapters, sections and sub-sections that will help learners to navigate through the content.
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DIDAKTIK DER KINDHEITSPÄDAGOGIK DLBKPDDK01 DIDAKTIK DER KINDHEITSPÄDAGOGIK IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19...
DIDAKTIK DER KINDHEITSPÄDAGOGIK DLBKPDDK01 DIDAKTIK DER KINDHEITSPÄDAGOGIK IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19 D-86675 Buchdorf [email protected] www.iu.de DLBKPDDK01 Versionsnr.: 001-2023-1012 N.N. © 2023 IU Internationale Hochschule GmbH Dieser Lernskript ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Dieser Lernskript darf in jeglicher Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung der IU Internationale Hochschule GmbH (im Folgenden „IU“) nicht reproduziert und/oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet wer- den. Die Autor:innen/Herausgeber:innen haben sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, die Urheber:innen und Quellen der verwendeten Abbildungen zu bestimmen. Sollte es dennoch zu irrtümlichen Angaben gekommen sein, bitten wir um eine dement- sprechende Nachricht. 2 INHALTSVERZEICHNIS DIDAKTIK DER KINDHEITSPÄDAGOGIK Einleitung Wegweiser durch das Studienskript................................................. 6 Literaturempfehlungen............................................................ 7 Übergeordnete Lernziele.......................................................... 9 Lektion 1 Frühkindliche Bildung 11 1.1 Das Bild vom Kind........................................................... 12 1.2 Merkmale frühkindlicher Bildungsprozesse..................................... 13 1.3 Die Aufgaben der Fachkräfte im kindlichen Bildungsprozess...................... 15 Lektion 2 Klassische Ansätze und Konzepte 19 2.1 Fröbel...................................................................... 20 2.2 Waldorf..................................................................... 23 2.3 Freinet...................................................................... 25 2.4 Montessori.................................................................. 27 Lektion 3 Neuere Ansätze und Konzepte 31 3.1 Situationsansatz............................................................. 32 3.2 Reggio-Ansatz............................................................... 35 3.3 Early Excellence............................................................. 39 3.4 Bewegungskindergärten...................................................... 41 3.5 Waldkindergärten............................................................ 43 3.6 Projektansatz................................................................ 45 3.7 Forschendes Lernen.......................................................... 49 Lektion 4 Spiel und Bildung 53 4.1 Funktionen des Spiels........................................................ 54 4.2 Grammatik des Spielens...................................................... 55 4.3 Entstehung der Wirklichkeit im Spiel........................................... 56 3 Lektion 5 Raumgestaltung und Materialien 59 5.1 Bedeutung von Räumen und Materialien....................................... 60 5.2 Raumgestaltung............................................................. 61 5.3 Materialien.................................................................. 62 Lektion 6 Beobachtung und Dokumentation 65 6.1 Ziele und Funktion........................................................... 66 6.2 Konzepte und Verfahren...................................................... 69 Verzeichnisse Literaturverzeichnis.............................................................. 78 Abbildungsverzeichnis........................................................... 85 4 EINLEITUNG HERZLICH WILLKOMMEN WEGWEISER DURCH DAS STUDIENSKRIPT Dieses Studienskript bildet die Grundlage Ihres Kurses. Ergänzend zum Studienskript ste- hen Ihnen weitere Medien aus unserer Online-Bibliothek sowie Videos zur Verfügung, mit deren Hilfe Sie sich Ihren individuellen Lern-Mix zusammenstellen können. Auf diese Weise können Sie sich den Stoff in Ihrem eigenen Tempo aneignen und dabei auf lerntyp- spezifische Anforderungen Rücksicht nehmen. Die Inhalte sind nach didaktischen Kriterien in Lektionen aufgeteilt, wobei jede Lektion aus mehreren Lernzyklen besteht. Jeder Lernzyklus enthält jeweils nur einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt. So können Sie neuen Lernstoff schnell und effektiv zu Ihrem bereits vorhandenen Wissen hinzufügen. In der IU Learn App befinden sich am Ende eines jeden Lernzyklus die Interactive Quizzes. Mithilfe dieser Fragen können Sie eigenständig und ohne jeden Druck überprüfen, ob Sie die neuen Inhalte schon verinnerlicht haben. Sobald Sie eine Lektion komplett bearbeitet haben, können Sie Ihr Wissen auf der Lern- plattform unter Beweis stellen. Über automatisch auswertbare Fragen erhalten Sie ein direktes Feedback zu Ihren Lernfortschritten. Die Wissenskontrolle gilt als bestanden, wenn Sie mindestens 80 % der Fragen richtig beantwortet haben. Sollte das einmal nicht auf Anhieb klappen, können Sie die Tests beliebig oft wiederholen. Wenn Sie die Wissenskontrolle für sämtliche Lektionen gemeistert haben, führen Sie bitte die abschließende Evaluierung des Kurses durch. Die IU Internationale Hochschule ist bestrebt, in ihren Skripten eine gendersensible und inklusive Sprache zu verwenden. Wir möchten jedoch hervorheben, dass auch in den Skripten, in denen das generische Maskulinum verwendet wird, immer Frauen und Män- ner, Inter- und Trans-Personen gemeint sind sowie auch jene, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder können. 6 LITERATUREMPFEHLUNGEN ALGEMEIN Braches-Chyrek, R. et al. (Hrsg.) (2014): Handbuch Frühe Kindheit. Budrich, Opladen. Rißmann, M. (Hrsg.) (2018): Didaktik der Kindheitspädagogik. 2. Auflage, Carl Link, Köln. Schäfer, G. E. (2014): Was ist frühkindliche Bildung? Kindlicher Anfängergeist in einer Kultur des Lernens. 2. Auflage, Beltz Juventa, Weinheim. LEKTION 1 Mienert, M./Vorholz, H. (2007): Umsetzung der neuen Bildungsstandards in Kindertagesstät- ten – Chancen und Schwierigkeiten für Erzieherinnen. In: Bildungsforschung, 4. Jg., Heft 1. Stamm, M. (2010): Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Haupt, Bern/Stuttgart/ Wien. S. 17–24. LEKTION 2 Grell, F. (2018): Klassische frühpädagogische Ansätze. In: Schmidt, T. (Hrsg.): Handbuch empirische Forschung in der Pädagogik der frühen Kindheit. Waxmann, Münster, S. 121–140. LEKTION 3 Drieschner, E. (2018): Neuere frühpädagogische Ansätze. In: Schmidt, T. (Hrsg.): Handbuch empirische Forschung in der Pädagogik der frühen Kindheit. Waxmann, Münster, S. 141–156. LEKTION 4 Ailwood, J. (2018): Spiel. In: Krönig, F. K. (Hrsg.): Kritisches Glossar Kindheitspädagogik. Beltz, Weinheim, S. 195–203. Höke, J. (2012): Die Bedeutung des Spiels für die kognitive Entwicklung. (Im Internet verfüg- bar). 7 LEKTION 5 Koch, S./Schulz, M. (2019): Bildungslandschaften: Zur Verräumlichung früher Bildung. In: Dietrich, C./Stenger, U./Stieve, C.: Theoretische Zugänge zur Pädagogik der frühen Kindheit. Eine kritische Vergewisserung. Beltz, Weinheim, S. 384–398. LEKTION 6 Flender, J./Wolf, S. M. (2012): Entwicklungsbeobachtung und -dokumentation in der Arbeit mit Kindern in den ersten drei Lebensjahren. (Im Internet verfügbar). Koch, S./Schulz, M. (2018): Beobachtung. In: Krönig, F. K. (Hrsg.): Kritisches Glossar Kind- heitspädagogik. Beltz, Weinheim, S. 32–39. 8 ÜBERGEORDNETE LERNZIELE Im Kurs Didaktik der Kindheitspädagogik erhalten Sie Einblick in grundlegende Aspekte frühkindlicher Bildungsprozesse und reflektieren dabei die besondere Rolle und die Ein- flussmöglichkeiten der pädagogischen Fachkräfte. Neben klassischen Konzepten der Kindheitspädagogik lernen Sie die neueren Ansätze auf diesem Gebiet kennen und wer- den dazu angeregt, sich kritisch mit diesen auseinanderzusetzen. Im Weiteren finden Spiel, Raum und Material als wichtige Faktoren im kindlichen Bil- dungsprozess und deren Stellenwert in einzelnen Konzepten besondere Berücksichtigung. Abschließend befassen Sie sich mit Beobachtung und Dokumentation kindlicher Entwick- lungsprozesse mit Blick auf die Förderung der Kinder, aber auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit im pädagogischen Team sowie mit weiteren Bezugspersonen. 9 LEKTION 1 FRÜHKINDLICHE BILDUNG LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – von welchem Bild des Kindes frühkindliche Bildungsbestrebungen ausgehen. – welche Faktoren im frühkindlichen Bildungsprozess eine Rolle spielen. – welche Aufgaben die Fachkräfte im kindlichen Bildungsprozess wahrnehmen. 1. FRÜHKINDLICHE BILDUNG Einführung Nach dem unterdurchschnittlichen Abschneiden deutscher Schüler beim PISA-Test im Jahre 2000 wurde gesellschaftspolitisch nach geeigneten Stellschrauben gesucht, das Leistungsniveau der nachwachsenden Generationen wieder anzuheben. Das Augenmerk lag dabei vor allem auf den Kindertageseinrichtungen, da in zahlreichen Studien und Untersuchungen nachgewiesen werden konnte, dass „u. a. die Schaffung adäquater sprachlicher Voraussetzungen im Vorschulalter für den schulischen Erfolg eine wesentli- che Determinante darstellt“ (Aktionsrat Bildung 2012, S. 7). Es wurden zahlreiche bil- dungspolitische Offensiven zu diesem Thema wie das Bundesprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ zur Deckung sprachlichen Förderbedarfs in den Kitas gestartet und deutschlandweit in Kindertageseinrichtungen etabliert. Programme dieser Art folgen dabei aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die nicht nur dem Kind sowie den frühpädagogischen Fachkräften neue Kompetenzen zusprechen, sondern auch den Bildungsbegriff für den frühkindlichen Bereich teilweise neu definieren. 1.1 Das Bild vom Kind Die Sichtweise auf das Kind in seinen ersten Lebensjahren hat sich in den vergangenen Jahrzehnten drastisch verändert. Glaubte man noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, dass Kinder als unfertige Wesen auf die Welt kommen und in der ersten Lebenszeit gänz- lich von äußeren Einflüssen unberührt bleiben, wird nach den neuesten Erkenntnissen der Säuglingsforschung davon ausgegangen, „dass schon drei Monate alte Säuglinge Vermu- tungen über kausale Zusammenhänge zwischen Ereignissen haben und Kategorien bil- den“ (Behr 2010, S. 11). Säuglinge gelten, sobald sie zur Welt kommen, folglich nicht län- ger als unbeschriebenes Blatt, sondern vielmehr als kompetente Lebewesen, die ihre Umgebung aktiv erkunden und mit ihrer Umwelt in Kontakt bzw. Austausch treten (Bayeri- sches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen 2016, S. 11). Ein erster Schritt in Richtung der Herausbildung eines frühkindlichen Bildungsgedankens erfolgte bereits mit der Bildungsreform in den 1970er-Jahren, hervorgerufen durch den Sputnikschock „Sputnikschock“ und verbunden mit dem wachsenden Bewusstsein für soziale Unge- Der Sputnikschock rechtigkeiten im Bildungssektor sowie mit den bildungspolitischen Erfordernissen des bezeichnet die gesell- schaftlich-politische rasanten Wirtschaftswachstums (Stamm 2010, S. 240). Erste Curricula für den vorschuli- Reaktion der USA und schen Bereich entstanden, die sich jedoch nach wie vor an einem Allgemeinbild des Kin- Westeuropas auf den des orientierten und die kindliche Individualität weiterhin zum Großteil außen vor ließen Start des ersten Erdsatel- liten 1957 durch die Sow- (Schäfer 2014, S. 16). Erst im weiteren Verlauf der folgenden Jahrzehnte wurde das Kind jetunion, was zu einer immer mehr als „Akteur seiner Entwicklung“ (ebd., S. 24) in den Mittelpunkt der Bildungs- Reihe von Bildungsinves- diskussion gestellt und erste Konzepte einer kindorientierten Pädagogik wurden entwi- titionen führte. ckelt. 12 Diese Konzepte basieren grundsätzlich auf der Annahme, dass sich das Kind als soziales Individuum aktiv in die eigenen Bildungs- und Entwicklungsprozesse einbringt und seine Bedürfnisse gemäß seinem Entwicklungsstand äußert. Es ist von Geburt an bestrebt, die Welt zu verstehen, sich seine Wirklichkeit eigeninitiativ anzueignen sowie Sozialkontakte und Beziehungen zu den Mitmenschen in seiner Umgebung aufzubauen (Kasüschke/Fröh- lich-Gildhoff 2008, S. 10; Kasüschke 2018, S. 2). Die Wahrnehmung und das Begreifen erfol- gen dabei unter Einsatz aller kindlicher Sinne (Schäfer 2001, S. 17; Schelle 2011, S. 17). Kinder unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer eigenen Persönlichkeit sowie Individuali- tät voneinander und bringen damit eine Vielzahl unterschiedlicher Potenziale und Kompe- tenzen in den Bildungsprozess ein (Neuß 2016, S. 133; Schäfer 2014, S. 21). Die Erkennung bzw. Anerkennung dieser kindlichen Potenziale stellt in Anbetracht der sich daraus ergeb- enden individuellen Denk- und Handlungsstrukturen zeitgleich das Fundament für alle weiteren frühkindlichen Bildungsprozesse dar (Schäfer 2014, S. 21). Lernen bzw. Bildung wird folglich zum Grundbedürfnis des Kindes, dem es durch seine Neugierde sowie seinen Drang nach Erforschung und Erkundung seiner Umgebung Ausdruck verleiht (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen 2016, S. 11). 1.2 Merkmale frühkindlicher Bildungsprozesse Dieses Bild vom Kind, das sozial eingebunden ist, individuell ausgeprägte Kompetenzen in die Bildungsprozesse einbringt und diese eigenständig mitgestaltet, basiert nicht nur auf bloßen Annahmen, sondern findet seine Fundierung in wissenschaftlichen Auseinander- setzungen unterschiedlichster Fachdisziplinen wie der Pädagogik, Psychologie und den Neurowissenschaften (u. a. Schäfer 2018, S. 458). Ein allgemeingültiges Bildungsverständ- nis ist in der Fachliteratur jedoch nicht zu finden. Vielmehr liegen unterschiedliche Defini- tionsansätze vor, die versuchen, sich einem frühkindlichen Bildungsbegriff aus unter- schiedlichen Blickwinkeln zu nähern. In der Zusammenschau lassen sich demnach „nur“ zentrale Faktoren herausarbeiten, die für das Verständnis frühkindlicher Bildungsprozesse relevant sind und einen bestmöglichen Konsens der unterschiedlichen Auffassungen bil- den. Grundsätzlich steht im Mittelpunkt frühkindlicher Bildungsbestrebungen ein „ganzheitli- cher Prozess der Selbstwerdung“ (Kasüschke/Fröhlich-Gildhoff 2008, S. 83), der nicht nur die physische und psychische Organisation des Denkens betrifft, sondern immer dort stattfindet, wo sich Kinder mit all ihren spezifischen intellektuellen und emotionalen Potenzialen mit unterschiedlichsten Themen auseinandersetzen. Bildung wird in diesem Zusammenhang zu einer „Aneignungstätigkeit“ (Liegle 2014, S. 37), die durch vorherr- Aneignungstätigkeit schende Umweltreize in Kombination mit der konstitutionellen Fähigkeit des Kindes, sich Meint den kindlichen Pro- zess des „Sich-zu-eigen- Dinge und Sachverhalte zu eigen zu machen, unterstützt wird. Diese Sichtweise lässt sich Machens", in welchem durch den Gesichtspunkt präzisieren, dass sich Bildung anteilig aus den Lern- und Ent- das Kind sich ein Bild von wicklungsprozessen ergibt, die einen Beitrag zur Ausbildung und Erweiterung der Hand- der Welt und sich selbst im Verhältnis zur Welt lungs- und Denkfähigkeit des Kindes gegenüber sich selbst sowie seiner sozialen und macht. gegenständlichen Umwelt leisten (Viernickel/Stenger 2018, S. 383). Frühkindliche Bildung 13 ist nach Neuß damit sowohl Werkzeug zur Förderung innerer Kräfte als auch Motor zur Lernmethodische Ausbildung bzw. Stärkung lernmethodischer Kompetenzen (Neuß 2016, S. 134). Bil- Kompetenzen dungsprozesse werden also – anknüpfend an die entwicklungspsychologischen Ausfüh- Die Fähigkeit, bewusst zu erkennen, wie Wissen rungen Piagets – zu einer aktiven Konstruktionsleistung des Kindes, das sich in kontinuier- erworben und dieses licher Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der Umwelt seine Welt selbst erschafft nach Bedarf eingesetzt (Mähler 2014, S. 132). Schäfer definiert die frühkindlichen Bildungsprozesse deshalb werden kann („Lernen zu lernen“). anhand der Voraussetzungen, die für die kindliche Entwicklung entscheidend sind und eine „Kultur des Lernens“ (Schäfer 2014, S. 87) in frühkindlichen Bildungseinrichtungen ausmachen (vgl. Schäfer 2018, S. 458f.; Schäfer 2014, S. 87f.): 1. Bildung setzt das selbstständige kindliche Mitwirken voraus, da daraus erst eine Ver- knüpfung von neu erlerntem Wissen und bereits gemachten Erfahrungen verwirklicht werden kann („Selbstbildungspotenziale“). 2. Bildung ist abhängig von zwischenmenschlicher Kommunikation und damit vom sozi- alen Kontext, der den individuellen Erfahrungshorizont begrenzen oder erweitern kann („kommunikative Potenziale“). Eine kindliche Erfahrung, wie z. B. ein Waldspa- ziergang mit dem Entdecken der Natur, gewinnt somit beispielsweise an Bedeutung, wenn diese mit einer erwachsenen Bezugsperson glaubhaft geteilt wird. 3. Bildung ist abhängig vom Inhalt und der Qualität der jeweiligen Sache, mit dem sich das Kind auseinandersetzt, um neue Denk- und Handlungsstrukturen hervorbringen zu können („Sachpotenziale“). Ein elektronisches Spielzeug, das beispielsweise nur akustische Signale von sich gibt, wird voraussichtlich weniger Mehrwert bieten, als Bausteine unterschiedlicher Farbgebung, aus denen sich unzählige Formen erschaf- fen lassen. 4. Bildung ist abhängig von institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen („Strukturpotenziale“). So bieten schulische Strukturen andere Handlungs- und Erfah- rungsmöglichkeiten, als beispielsweise ein Waldkindergarten. Nach Schäfer sind diese Potenziale aber nicht einzeln zu betrachten, sondern vielmehr in einen Gesamtkontext einzubetten. Frühkindliche Bildungsprozesse ergeben sich zusam- mengefasst im Rahmen einer selbsttätigen und selbstverwirklichenden Auseinanderset- zung mit den das Kind umgebenden kulturellen und sozialen Gegebenheiten, die durch das Zusammenwirken von Umwelt und Individuum, „Handeln und Denken, […] Können, Wissen und Ästhetik“ (Schäfer 2014, S. 14) integrieren. Für Viernickel und Stenger ist insbesondere die soziale Dimension des Bildungsprozesses Grundvoraussetzung dafür, dass Kinder mit ihrer Umwelt in Kontakt treten und sie diese bewusst handelnd erkunden können (Viernickel/Stenger 2018, S. 383). In Anbetracht des Erziehungs- und Betreuungsauftrags, den vorschulische Institutionen neben dem unter § 22 Absatz 3 des achten Sozialgesetzbuches definierten Bildungsauftrag zusätzlich wahr- nehmen, wird der soziale Aspekt besonders deutlich. Denn Betreuung als „umfassende Sorge für das leibliche und seelische Wohl und das Wohlbefinden der Kinder, Zeit für Kin- der, Aufmerksamkeit auf ihre Signale und Bedürfnisse, Zuwendung und Anerkennung“ (Liegle 2014, S. 34f.) spiegelt die Angewiesenheit des Kindes auf eine wechselseitige Bin- dung und ein „antwortende(s) Handeln“ (Liegle 2014, S. 35) seiner Bezugs- und Vertrau- enspersonen im Bildungsprozess wider. In engem Verhältnis dazu steht die „Erziehung“, die Liegle als ein „soziales Geschehen“ (Liegle 2014, S. 34) betrachtet, in dem das Kind zur Selbsttätigkeit aufgefordert wird. Anders als im Kontext einer reinen Bildung, die durch die 14 unterstützende bzw. vermittelnde Umwelt hervorgebracht werden muss, ist die Erziehung zugleich auf die Vermittlung durch eine erziehende Person sowie auf die grundsätzliche Aneignungsbereitschaft und -fähigkeit des Kindes angewiesen: Erziehung beschreibt den Versuch einer Person (z. B. einer Erzieherin), einer anderen Person (z. B. einem Kind) etwas (z. B. Wissen über die Wachstumsprozesse einer Pflanze) zu vermitteln. Am prägnantesten trifft diese Kurzdefinition auf ‚Unterricht‘ – eine der wichtigsten Formen der pro- fessionellen Erziehung – zu. Der Versuch, einer Person etwas zu ‚vermitteln‘, kann jedoch […] nur dann gelingen, wenn er auf die Bereitschaft und Fähigkeit dieser Person trifft, sich die Sache, um die es geht, anzueignen (ebd.). 1.3 Die Aufgaben der Fachkräfte im kindlichen Bildungsprozess Aus der sich wechselseitig bedingenden Trias aus Bildung, Erziehung und Betreuung las- sen sich Konkretisierungen für einen allgemeinen Bildungsauftrag ableiten: Aufgabe ist es, ein Sozial- und Umweltgefüge zu schaffen, das dem Kind zum einen wechselseitige Bezie- hungen ermöglicht und ihm zum anderen geeignete Situationen zur Verfügung stellt, die eine selbsttätige und selbstbestimmte Aneignung der (kulturellen) Welt gewährleisten kann. „Die Planung, Gestaltung und Reflexion dieser Aufgaben wird als Didaktik in der frühkindlichen Bildung bezeichnet“ (Kasüschke 2018, S. 2), wobei Schelle feststellt, dass es im wissenschaftlichen Diskurs kein Übereinkommen darüber gibt, wie eine frühpädago- gische Didaktik im Detail auszusehen hat (Schelle 2011, S. 10). Bei einer frühkindlichen Didaktik Didaktik gehe es vielmehr um eine pädagogische Grundhaltung, die die „Art und Weise, Als Didaktik bezeichnet man die Kunst bzw. Wis- wie die Lernprozesse gestaltet und organisiert werden sollen, ein bestimmtes Weltbild senschaft des Lehrens sowie pädagogische Leitorientierungen [implizieren]“ (ebd.). Es geht also um Prinzipien und Lernens. Sie gilt als zur Lernprozessgestaltung, die es der Fachkraft ermöglichen, sich anhand von Leitideen eine der zentralen Diszip- linen der Pädagogik. beispielsweise in das kindliche Denken hineinzuversetzen, Lernfortschritte nachzuvollzie- hen, Leistungen zu honorieren und weiterführende Möglichkeiten zu eröffnen, dass Kinder sich frei ausprobieren können. Aber auch Wissen über das methodische Vorgehen stellt in Kombination mit der Kenntnis unterschiedlicher pädagogischer Konzeptionen und deren inhaltlicher Ausrichtung eine mögliche Interpretation einer frühpädagogischen Didaktik dar (ebd.). Es handelt sich von diesem Blickpunkt aus also mehr um eine theoretische Ebene, die Aufschluss über die unterschiedlichen Aufgabenbereiche der frühpädagogi- schen Fachkraft gibt und von Basisannahmen in Bezug auf das kindliche Lernen abhängt (Westerholt/Neuß 2016, S. 162). Eine Didaktik kann aber neben der Schwerpunktlegung auf die Reflexion der Gestaltung von Interaktionsprozessen zur Schaffung eines lernförder- lichen Rahmens auch als Anleitung zur strukturierten Planung fungieren, die es der Fach- kraft ermöglicht, altersadäquate Ziele zu stecken, Inhalte aufzuarbeiten, das methodische Vorgehen zu planen und entsprechende Medien und Materialien dafür einzusetzen (Schelle 2011, S. 11f.). Die Planung sollte sich dabei aber an Leitlinien wie „Selbsttätigkeit, Anschaulichkeit, Lebensnähe, Ganzheitlichkeit, Entwicklungsbezug, Ressourcenorientie- rung, Situationsorientierung [und] spielerische[m] Lernen“ (Westerholt/Neuß 2016, S. 161) orientieren und die entwicklungsbedingten Fähigkeiten berücksichtigen. 15 Im Mittelpunkt gleich welcher inhaltlich-didaktischen Schwerpunktsetzung steht jedoch die frühpädagogische Fachkraft, die in ihrer Tätigkeit einem gewissen fachlichen Rollen- verständnis unterliegt, dessen Grundpfeiler Schäfer wie folgt zusammenfasst: Eine sensible, fachlich geschulte Wahrnehmungsfähigkeit vor dem Hintergrund eines zeitgemä- ßen Fachwissens, eine zuverlässige und interessierte Beziehung zum Kind sowie die kontinuierli- che Überprüfung des jeweiligen situativen pädagogischen Handelns bieten dem Kind einen geeigneten Rahmen zur Entfaltung seiner Selbstbildungspotenziale (Schäfer 2005, S. 185). Diese Aussage impliziert neben einer professionellen Haltung, „die von Wertschätzung und Selbstreflexion geprägt ist“ (Wüst/Wüst 2016, S. 169), insbesondere die Notwendigkeit einer kompetenten, fachlich gestützten Begleitung kindlicher Bildungs- und Entwick- lungsprozesse, die die kindliche Selbsttätigkeit und Selbstverwirklichung zu jeder Zeit im Blick behält. Die Fachkraft wird damit zum „Ko-Konstrukteur“ (Viernickel/Stenger 2018, S. 386; Kasüschke/Fröhlich-Gildhoff 2008, S. 113), der als Teil der „Vorbildfunktion“ (Schelle 2011, S. 17; Kasüschke/Fröhlich-Gildhoff 2008, S. 115; Wüst/Wüst 2016, S. 169) den Kindern Möglichkeiten eröffnet, sich ihre Umwelt eigenständig durch Nachahmung und Selbster- kundung begreifbar zu machen. Beispielweise machen Kinder im Herbst einen Ausflug durch den Wald, um die unterschiedlich farbigen Blätter aufzusammeln. Diese werden im Anschluss nach Größe und Farbe sortiert oder in ein Kunstwerk verwandelt. Die Fachkraft bleibt hierbei als „Beobachter“ im Hintergrund, steht als Sicherheit gebende Bezugsper- son zur Verfügung und unterstützt nur bei Bedarf. Um dies zu erreichen, ist es an der Fachkraft, passende Lernumgebungen auszusuchen oder die Umgebung so einzurichten und zu gestalten, dass dem Kind immer wieder neuar- tige Gegenstände und Materialien zur Verfügung stehen und es im Rahmen einer angeneh- men Atmosphäre und in Verbindung mit einer nachvollziehbaren Alltagsstruktur (Schäfer 2011, S. 270) selbstständig Lernerfahrungen machen kann (Kasüschke 2018, S. 4f.). Dies kann beispielweise durch die Zurverfügungstellung vielfältiger Spiel- und Gestaltungsma- terialien wie Bauklötzen, Naturmaterialien oder Malutensilien erreicht werden. Zu der Förderung einer eigenständigen Aneignung und Verarbeitung der kindlichen Ästhetische Erfahrungen Umwelt sind nach Schäfer zudem ästhetische Erfahrungen von besonderer Bedeutung, Erste kindliche Eindrücke, die das Kind unter Einsatz all seiner Sinne sammeln kann (Schäfer 2005, S. 63ff.). Die Fach- die anhand interaktiver Beschäftigung mit Gegen- kraft muss deshalb die Charakteristika ästhetischer Prozesse der Kinder, d. h. Vorgänge zur ständen durch sinnliche „Differenzierung von Wahrnehmungen“ (Schäfer 2005, S. 263), erkennen, deren Hand- Wahrnehmung und Emp- lungsmuster fördern und die entsprechenden Attribute herausfordern (Schelle 2011, S. findungen entstehen. 19). Demnach muss die Fachkraft das Kind an unterschiedliche Werkstoffe, wie z. B. Sand oder Lehm, an Werkzeuge, z. B. Pinsel oder Hammer, sowie an andere Arbeitsmaterialien und -instrumente heranführen. Wird im Kontext einer modernen frühkindlichen Bildung zwar eher ein Bild vom Kind als einem individuell lernenden Individuum gezeichnet, schließt dies Bildungsprozesse in Gruppen aber keinesfalls aus. Vielmehr werden in der Zusammenarbeit und Beschäftigung mit anderen die Kompetenzen des einzelnen Kindes durch die Kompetenzen anderer Kin- der erweitert (Schäfer 2014, S. 272). Aufgabe der Fachkraft ist es deshalb, „Kindern die Denkweise anderer Kinder zugänglich zu machen und somit zugleich die ihnen selbstvers- tändliche Art zu denken und die ihnen eigene Vorgehensweise zu relativieren“ (Schelle 16 2011, S. 20). Kinder sollen sich als Teil einer Sozialgemeinschaft mit ihren Regeln und Prak- tiken selbst erleben (Viernickel/Stenger 2018, S. 399). Einen guten Zugang zu Gruppenakti- vitäten bieten dabei (frei-)spielerische Aktivitäten, wie Rollen- oder Bewegungsspiele, die durch die Fachkraft beobachtet, begleitet, gefördert und intensiviert werden (Schelle 2011, S. 19; Liegle 2014, S. 35) und die ein aktives, selbstständiges sowie handlungsorien- tiertes Lernen ermöglichen sollen (Kasüschke 2018, S. 4). Dieses Vorgehen bedarf zeit- gleich einer systematischen Beobachtung des Kindes, um Hinweise und Signale zu erken- nen, zu interpretieren und somit seine Interessen und seinen Entwicklungsstand zu erfassen (Viernickel/Stenger 2018, S. 387). Schäfer bezeichnet diesen Vorgang als ein „Wahrnehmendes Beobachten“ (Schäfer 2014, S. 271), das die „Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen und das, was sie an Erfahrungen, Erlebnissen und Erkenntnis- sen auf beiden Seiten hervorruft“ (ebd.), zum Ziel hat. Beziehung und Bindung zwischen der Fachkraft und dem Kind bilden die Grundlage früh- kindlicher Bildungsarbeit. Sie gilt „als eine der wichtigsten Voraussetzungen für den akti- ven Aufbau des ‚Subjekt-Welt-Bezugs‘“ (Schelle 2011, S. 21) und ist damit entscheidend dafür, dass (Selbst-)Bildungsprozesse überhaupt stattfinden. In frühkindlichen Betreuung- seinrichtungen ist deshalb die Schaffung einer positiven und gefühlvollen Beziehung zum Kind primäre Aufgabe der Fachkraft (Viernickel/Stenger 2018, S. 385). Die Beziehung zur Fachkraft sollte deshalb in allen Situationen sicher und konstant sein, z. B. wird das Kind sowohl in positiven als auch in vermeintlich negativen Situationen in den Arm genommen, wobei darauf zu achten ist, dass das Verhalten den individuellen kindlichen Bedürfnissen angepasst wird, da nicht jedes Kind es gerne hat, körperlich berührt zu werden. Entschei- dend für die Bindungssicherheit ist neben der Konstanz auch die Häufigkeit der Bezie- hungsgestaltung. Kasüschke und Fröhlich-Gildhoff bezeichnen diesen Prozess als eine „Ko-Regulation“ (Kasüschke/Fröhlich-Gildhoff 2008, S. 111), da das Kind auf eine enge Begleitung der Bezugsperson angewiesen ist, um Erfahrungen der Selbstwirksamkeit Selbstwirksamkeit machen zu können. Beziehungen haben neben dem Bindungsaspekt aber auch einen Dies bezeichnet die Über- zeugung einer Person, „Loslösungsaspekt“ (Schäfer 2014, S. 268), da ein kindliches Selbsterkunden der Umwelt auch schwierige Problem- auch eine Lockerung der Beziehungen sowie Zutrauen in die kindlichen Fähigkeiten bein- stellungen und Aufgaben haltet. eigenständig bewältigen zu können. Die pädagogische Fachkraft baut aber nicht nur Beziehungen zum Kind auf, sondern stellt auch Verbindungen zum Sozialumfeld des Kindes her. Dazu zählen insbesondere die Eltern, die von den Beobachtungen und der Interpretation der Fachkraft profitieren und bei (erzieherischen) Schwierigkeiten an öffentliche Stellen vermittelt werden sollen (Schä- fer 2014, S. 273). ZUSAMMENFASSUNG Kinder verfügen als „kompetente Lebewesen“ bereits ab der Geburt über individuell ausgeprägte Potenziale und Fähigkeiten, die sie in den Bildungsprozess einbringen und diesen dadurch aktiv mitgestalten. 17 Bildung wird demnach zur aktiven Konstruktionsleistung des Kindes, das sich in Auseinandersetzung mit seiner ihn umgebenden kulturellen und sozialen Umwelt seine Welt eigenständig erschafft. Schäfer legt die- sem Verständnis vier Potenziale zugrunde, die sich über die kindliche Fähigkeit zur Selbstbildung und zum kommunikativen Austausch in Ver- bindung mit der inhaltlichen Qualität des Beschäftigungsgegenstandes und mit den allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erstrecken. Je höher die Selbstbildungs-, Kommunikations-, Sach- und Strukturpotenziale, desto erfolgreicher kann frühkindliche Bildung also sein. Hauptaufgabe der Fachkraft ist es, ein Sozial- und Umweltgefüge für das Kind zu schaffen, das wechselseitige Beziehungen ermöglicht und geeig- nete Situationen zur Verfügung stellt, die eine selbsttätige und selbst- bestimmte Aneignung der Welt gewährleisten können. 18 LEKTION 2 KLASSISCHE ANSÄTZE UND KONZEPTE LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – was die Fröbel-Pädagogik beinhaltet. – was der Begriff „Waldorf-Pädagogik“ bedeutet. – welches pädagogische Konzept Freinet ausgearbeitet hat. – was unter der Montessori-Pädagogik zu verstehen ist. 2. KLASSISCHE ANSÄTZE UND KONZEPTE Einführung Die Definition des Bildungsbegriffs im Kontext frühkindlicher Entwicklung und Förderung spielt eine zentrale Rolle für die Herausbildung didaktischer Konzepte in der Frühpädago- gik. Dabei war und ist der Begriff der „Bildung“ einer stetigen Weiterentwicklung unter- worfen und abhängig von soziokulturellen Zusammenhängen und Veränderungen. Nach Schäfer lassen sich dennoch zentrale Merkmale eines allgemeingültigen Bildungsbegriffs definieren, die sowohl früher als auch heute als zentral gelten, wie die Selbstverwirkli- chung des Menschen im Bildungsprozess, die Auseinandersetzung mit der ihn umgeben- den kulturellen Welt sowie die Vereinigung von „Handeln und Denken, Wissenschaft und Kunst oder Können, Wissen und Ästhetik“ (Schäfer 2014, S. 13f.). Doch nicht nur heute, sondern bereits mit Ende des 18. Jahrhunderts sind erste didakti- sche Ansätze und Konzepte für institutionelle Bildungs- und Erziehungseinrichtungen ent- wickelt worden, die sich zumeist auf ein ganz eigenes Bild vom Kind sowie unterschiedli- che Vorstellungen von Bildung und Erziehung stützen. Besonders die Ausarbeitungen von Fröbel, Steiner, Montessori und Freinet gelten als Klassiker der Pädagogik und prägen die Konzeptionen frühkindlicher Bildungs- und Erziehungseinrichtungen bis heute. 2.1 Fröbel Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung stellen nicht nur zentrale Gedanken eines modernen (früh-)pädagogischen Bildungsbegriffs dar, sondern fanden ihren Ursprung bereits im frühen 19. Jahrhundert. Friedrich Fröbel (1782–1852), eine Art Pionier des früh- kindlichen Bildungsgedankens, stellte mit seiner vorschulischen Betreuungsinstitution, dem „Kindergarten“, erstmals die klare Forderung auf, den sozialpädagogischen Aspekt einer reinen Kinderbetreuung mit dem Konzept einer Elementarbildung zu vereinen (Brunner 2018, S. 58). Wenngleich Schäfer seine didaktischen Vorstellungen als teilweise „widersprüchlich“ (Schäfer 2014, S. 14) betrachtet, löste Fröbel zur damaligen Zeit mit der Forderung der Integration seines Kindergartens in das Bildungssystem eine weit über die nationalen Grenzen hinausgehende Bewegung aus, deren Auswirkungen bis heute spür- bar sind. Erziehung und Menschenbild: „Sphärentheorie“ Das Verständnis von Erziehung fußt bei Fröbel auf der Gewissheit, dass es als Grundvo- raussetzung und Einheit aller Dinge einen Gott gibt. Der Mensch ist Schöpfung Gottes, des- sen Erziehung nur dann wirksam und produktiv sein kann, wenn sie auf der Religion, defi- niert als Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch, begründet ist. Fröbels Erziehungstheorie stellt also eine Art „Einheitsphilosophie“ dar, die den Menschen und die Natur, die ihn umgibt, als Teil einer transzendenten Schöpfung betrachtet. Das Zentrum der Schöpfung bezeichnet Fröbel dabei als „sphärisch“ (göttlich) (Heiland 2018, S. 136). 20 Fröbel entwirft damit ein Bild des Menschen, dessen Bestreben es ist, seine göttliche Natur Sphärisch auszubilden bzw. die höchstmögliche Einheit mit Gott zu entwickeln. Aus der Annahme Die Sphärentheorie beschreibt das menschli- heraus, dass alles aus einer Einheit mit Gott heraus entsteht und Gott schöpferisch tätig che Streben nach dem ist, ist auch der Mensch bzw. das Kind erschaffend tätig. Erziehung muss aus seiner Sicht Dreiklang zwischen deshalb genau dort ansetzen und mehrdimensional ausgerichtet sein, um die Gesamtheit Mensch, Natur und Gott. allen Seins erfassen zu können. Zudem muss sie Anregungen schaffen, damit sich der Mensch zu einem sich selbst bewusst werdenden und eigenständig denkenden Indivi- duum entwickeln kann (Neumann 2015, S. 387). Dieser Denkweise legt Fröbel in seinem Werk „Menschenerziehung“ (1826) die Annahme zugrunde, dass das Kind, sobald es zur Welt kommt, ein eigenes Streben nach Erziehung und Bildung mit sich bringt. Er betrach- tet den Menschen also allgemein als bildbares Wesen, das von Natur aus zu Bewusstsein, Vernunft und Selbstbewusstsein strebt (Heiland 2018, S. 133ff.). Bildungsprozesse entste- hen laut Fröbel beim Kind dann, wenn es sich eigenständig und zielgerichtet mit den Gegenständen in seiner Umgebung beschäftigt. Die vom Kind eigens gesteuerte Selbstbil- dung unterliegt dabei einem Prozess der Wechselwirkung zwischen der Äußerung innerer Vorgänge sowie der Verinnerlichung äußerer Gegebenheiten (Franke-Meyer 2014, S. 243). Methodisch-didaktischer Ansatz Nach Fröbel finden die inneren und äußeren Vorgänge des Kindes im Spiel Ausdruck, da die Umgebung im Spiel erfahren und das Erlebte im Spiel dargestellt wird. Durch eine spiel- bzw. lernförderliche Umgebung werde die Bestimmung des Menschen und das höchste Erziehungsziel der Vereinigung des Körpers, der Seele und des Geistes, die sog. „Lebenseinigung“, in Gang gesetzt (Franke-Meyer 2014, S. 235). Grundsätzlich liegt Fröbels didaktischen Vorstellungen damit, betrachtet man sie aus der heutigen Zeit heraus, ein spielpädagogischer Ansatz zugrunde: Das aktive und neugierige Kind, das die Welt um sich herum erkunden und entdecken will, vollzieht seine notwendigen Erziehungsschritte dadurch, dass es sich mit seiner Umwelt spielerisch auseinandersetzt. Um das kindliche Spiel zu unterstützen, entwickelte Fröbel seine „Spielgaben“, bei deren Entwicklung er ebenfalls seine Sphärentheorie zugrunde legte. So sollten die Spielgaben teilbar, aber auch wieder zu vereinen sein, gemäß dem strukturellen Prinzip des „Entge- gengesetzt-Gleichen“ (Heiland 2018, S. 134). Die Reihenfolge sah er dabei als vorgege- Entgegengesetzt- ben, da sie sich vom Leichten zum Schweren und vom Bekannten zum Unbekannten auf- Gleiches das In-Beziehung-Setzen bauen sollten. Es sind insgesamt sechs Spielgaben von Fröbel entwickelt worden: von scheinbaren Gegen- sätzen Die erste Spielgabe besteht aus einem weichen Stoffball, von dem eine Schlaufe abgeht. Dieser soll beispielsweise die Motorik des Kindes fördern, indem es lernt, diesen zu greifen (Heiland 2018 S. 140). Die zweite Spielgabe ersetzt die erste durch eine Holzkugel in Verbindung mit einem Holz- würfel und einer Holzwalze, die über eine Schnur an einem Holzrahmen festgebunden sind. Das Kind soll damit neue Erfahrungen machen, z. B. dass eine Kugel rollt, eine Holz- walze steht und rollt und der Würfel immer fest an seinem Ort stehen bleibt (ebd.). Die übrigen Spielgaben ergeben im Gesamtbild jeweils einen großen Holzwürfel. Dabei lässt sich dieser bei der dritten Spielgabe aus acht gleich großen Holzwürfeln, bei der vier- ten aus acht quaderförmigen, bei der fünften aus 21 gleich großen Holzwürfeln, sechs gro- 21 ßen und zwölf kleinen Dreiecken und bei der sechsten Spielgabe schließlich aus 36 Holz- bausteinen unterschiedlichster Form zusammensetzen. Die drei Spielgaben sind untereinander kombinierbar und ermöglichen dem Kind, Dinge aus seiner Umgebung, sog. „Lebensformen“, wie beispielsweise ein Haus, nachzubilden (Heiland 2018, S. 140f.). Die Spielgaben bauen insgesamt aufeinander auf. Jede Spielgabe, bis auf die erste, bein- haltet jeweils einen Teil der vorherigen, wie z. B. den Holzwürfel. Sie sollen dem Kind beim eigenständigen Lernen Unterstützung leisten. Bedeutung und Rolle der Erwachsenen Für Fröbel war also eine elementare Bildung von Geburt an essenziell für die kindliche Ent- wicklung. Neben der Beschäftigung mit den natürlichen Dingen stellte er eine ganzheitli- che Entwicklung in den Vordergrund (Heiland 2018, S. 137). Diese Ganzheitlichkeit sollte durch das wechselseitige Einwirken der Erwachsenen im Umgang mit den Kindern erreicht werden, wobei er belehrende und vorschreibende Handlungen ausschloss. Viel- mehr sah er hinweisende und verdeutlichende Aktionen seitens der Erwachsenen und Spielpflege damit eine Rahmung des Spiels als hilfreich, das Fröbel selbst als „Spielpflege“ bezeich- Die Spielpflege in der nete (Heiland 2018, S. 146). Dadurch sollte das Kind während der eigenständigen Erkun- Theorie Fröbels bezeich- net die das Spiel von Kin- dung der Welt seine individuellen Vorstellungen formen und weiterentwickeln. Besonders dern begleitende Tätig- im Hinblick auf die dritte bis sechste Spielgabe sah Fröbel die besondere Rolle der keit der Pädagogen. Erwachsenen: Vermittelt durch das Mitspielen des Erwachsenen und dessen Deutung, Hinweise und Forderun- gen baut sich das Kind allmählich eine Einsicht in den systematischen Zusammenhang der Bau- formen auf, der sich dann das von der verinnerlichten Einsicht in den Gesamtzusammenhang bestimmte, scheinbar ‚freie‘, als nicht von außen gelenkte und beeinflusste Spiel anschließt (Hei- land 2018, S. 147). Um eine bewusste und zielgerichtete Erziehung durch die Erwachsenen zu gewährleisten, entwickelte Fröbel ein institutionelles Konzept zur Betreuung von Kindern, den „Kinder- garten“. Darin sollte eine lernförderliche Umgebung für Kinder geschaffen werden, u. a. durch die Verwendung seiner Spielgaben. Aber auch ein sinnvoller Umgang mit der Natur, beispielsweise realisiert durch Gartenarbeit, war zentraler Bestandteil seiner pädagogi- schen Vorstellungen. Ziel der Beschäftigung der Kinder war im Besonderen die Vorberei- tung auf die Schule und die weiteren Lebensabschnitte. Aber der Kindergarten sollte auch eine Form der „Ausbildungsstätte für junge Männer und Frauen, in der sie für Erziehungs- aufgaben ausgebildet werden“ (Aden-Grossmann 2014, S. 235), darstellen. Fröbel entwickelte zudem mit seinen „Mutter- und Koseliedern“ in einem späten Werk ein Familienbuch, das die ganze Familie anhand von Bildern, Erläuterungen, Melodien und Gedichten zum gemeinsamen Spiel anregen sollte. Es war dabei aber nicht sein Anliegen, Erziehungsregeln zu vermitteln, sondern vielmehr „die Einheit von Bild, Text und Musik zu verwirklichen“ (Konrad 2006, S. 8). 22 2.2 Waldorf Welch entscheidende Rolle das Menschenbild für die Entwicklung (früh-)pädagogischer Konzepte spielt, zeigt ein weiteres Beispiel der Geschichte, das noch heute aktuell ist. Legte Friedrich Fröbel seiner Sphärentheorie eine christliche Weltanschauung zugrunde, entwickelte der Naturwissenschaftler und Philosoph Rudolf Steiner (1861–1925) seine ganz eigene, auf spirituellen und esoterischen Vorstellungen basierende Weltanschauung, die „Anthroposophie“. Grundlage dieses Weltverständnisses ist die „Dreigliederung des Anthroposophie Menschen“ in Leib, Seele und Geist. Demnach ist eine gedeihliche, menschliche Entwick- Eine von Rudolf Steiner entwickelte Weltanschau- lung nur dann möglich, ung; der aus dem Altgrie- chischen hergeleitete wenn die Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens, die ihren Sitz im Kopf (Nerven-Sinnes-Sys- Begriff bedeutet so viel wie „die Weisheit vom tem), im Rumpf (Herz-Kreislauf-System) und in den Gliedern (Stoffwechsel-Gliedmaßen-System) Menschen“. haben, sowohl entwicklungsgemäß als auch ‚ganzheitlich‘ angesprochen werden (Ullrich 2018, S. 175). Laut Steiner setzt sich der Mensch zudem aus vier „Wesensgliedern“ zusammen, die jeweils von unterschiedlichen Erkenntnisstufen abhängig sind (Saßmannshausen 2018, S. 15). Der „physische Leib“ ist als der menschliche Körper zu begreifen, der den naturwis- senschaftlichen Gesetzmäßigkeiten ausgesetzt und über diese auch zugänglich ist. Er ist bloße Hülle und Träger der anderen Wesensglieder. Der „Ätherleib“, der sich in der nächst- höheren Erkenntnisstufe befindet, ist der Garant für die lebenserhaltenden Prozesse im Körper und „Träger der beständigen seelischen Antriebe: der Gewohnheiten, des Gedächt- nisses, des Temperaments, des Gewissens, […] des Charakters insgesamt“ (Ullrich 2015, S. 106). Um nicht in einem Zustand der Bewusstlosigkeit zu verharren, stattet der „Astralleib“ den Menschen mit Gefühlen und anderen Sinnesempfindungen wie Lust und Schmerz aus. Der „Ich-Leib“ bzw. das „Ich“ hingegen ist als höchste Entwicklungsstufe als der indi- viduelle Wesenskern des Menschen zu sehen, „der Zenit der menschlichen Seele, Träger des Selbstbewusstseins, der Individualität und der Moralität“ (ebd.), der, je stärker er die anderen Wesensglieder durchdringt, entscheidend für den Reifeumfang der Persönlichkeit ist (Saßmannshausen 2018, S. 158). Mit Fortschreiten des Alters eines Menschen entfalten sich die vier Wesensglieder und laut Steiner ist es Aufgabe der Erziehung und Bildung, das „Ich“ herauszubilden und in den anderen drei Wesensgliedern zu fixieren (ebd., S. 159). Die Entwicklungsstufen der Wesensglieder unterteilt Steiner in drei Sieben-Jahres-Zyklen, die sog. „Jahrsiebte“. Der erste Zyklus, der sich von der Geburt bis zum siebten Lebensjahr erstreckt, ist vom Glauben des Kindes an eine durchweg gute Welt, durch Imitation seiner Bezugspersonen und die sinnliche Wahrnehmung seiner Umwelt geprägt. Im Alter vom siebten bis zum 14. Lebensjahr prägen sich das kindliche Gedächtnis und Temperament aus. Nachfolge und Autorität spielen in dieser Entwicklungsphase eine entscheidende Rolle. In der letzten Entwicklungsstufe, im Alter von 14 bis 21 Jahren, entfaltet sich der Astralleib dann gänzlich. Das abstrakte Denken und die eigene, freie Urteilsfähigkeit wer- den ausgebildet (Ullrich 2015, S. 120ff.). 23 Methodisch-didaktischer Ansatz und Bedeutung der Fachkraft Steiner geht in seinen Vorstellungen davon aus, dass nach Geburt des Kindes zunächst der physische Leib zum Vorschein kommt, der ätherische und astralische Leib sowie das Ich hingegen zunächst verborgen bleiben (Saßmannshausen 2018, S. 159). Für das Kind ist es deshalb schädlich, in dieser Phase von außen bereits Erwartungen an den Ätherleib zu stellen, da dieser zunächst für die Ausbildung der inneren Organe zuständig und das Gedächtnis beispielsweise noch nicht voll ausgebildet ist. Saßmannshausen verdeutlicht dies an einem Beispiel: Wird dem Kind eine Frage zur Erinnerung an die Erlebnisse im Kin- dergarten gestellt, wird mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gar keine oder nur eine der Fan- tasie entsprungene Antwort zu erwarten sein, da „das Gedächtnis des Kindes und damit seine Vorstellungsbildung […] weitgehend an den sinnlichen Umraum gebunden [ist] (Lokalgedächtnis)“ (Saßmannshausen 2018, S. 159). Aus anthroposophischer Sicht sind eine Wissensbildung und folglich eine Wissensvermittlung im Hinblick auf die kindliche Entwicklung gar nicht erst möglich. Das Kind lernt lediglich durch Nachahmung der Erwachsenen in seiner Umgebung, weshalb den Aktionen und dem Handeln der Fach- kräfte im Kindergarten besondere Bedeutung zugemessen wird (Franke-Meyer 2014, S. 245). Die Erzieher sind damit „Vorbild“ und angehalten, den Kindern ein vielfältiges Ange- bot an unterschiedlichsten Tätigkeiten „vorzuleben“, wobei ihnen zudem eine mütterliche Rolle beigemessen wird: „Der Waldorfkindergarten ähnelt einem vormodernen Haushalt, in welchem die Erzieherin wie die Mutter einer großen Familie kocht, bäckt, wäscht, bügelt, näht und putzt“ (Ullrich 2018, S. 177). Die Erfahrungen, die das Kind innerhalb des Waldorfkindergartens macht, sind zu einem großen Teil verbunden mit den freien Aktivitä- ten des Kindes. Das Kind beschäftigt sich ohne konkrete Vorgaben mit den Dingen in sei- ner Umgebung, wobei die räumliche Ausrichtung des Kindergartens sowie die vorhande- nen Spielmaterialien stets naturverbunden sind (Saßmannshausen 2018, S. 167f.). Das „phantasievolle Nachahmungsspiel“ ist damit wesentlicher Teil der Waldorfpädagogik und deren Gewährleistung hauptsächliche Aufgabe der Erzieher (Franke-Meyer 2014, S. 245). Rhythmisierung Neben dem Grundsatz „Nachahmung und Vorbild“ spielt auch die Rhythmisierung des im Rahmen der Waldorf- Tagesablaufs eine entscheidende Rolle in der Waldorfpädagogik. Da das Kind noch gänz- pädagogik die strikte Wie- derholung vorhandener lich von seiner Umgebung und den dort umsetzbaren Erfahrungen abhängig ist, wird ein Abläufe wiederkehrender und sich stetig wiederholender Tätigkeitsverlauf vorgegeben. Der zeitli- che Ablauf richtet sich dabei insbesondere nach den Rhythmen des Tages, der Woche, der Monate und der Jahreszeiten (Ullrich 2011, S. 226). Die naturalistische Betrachtungsweise der Waldorfpädagogik erscheint, insbesondere im Hinblick auf aktuelle frühpädagogische Wissenschafts- und Forschungserkenntnisse und den pluralistischen Blick auf das Kind, nur noch wenig zeitgemäß (Ullrich 2018, S. 178f.). Die Interpretation der Ausführungen Steiners ist unter Berücksichtigung des heutigen Bil- des vom Kind und unter Vernachlässigung anthroposophischer und esoterisch-spiritueller Grundsätze nur schwer möglich. Dennoch spielt das waldorfpädagogische Konzept auch heute noch eine zentrale Rolle: Nach Ullrich gab es im Jahr 2015 alleine in Deutschland 548 frühpädagogische Einrichtungen, rund 2000 weltweilt. Aber auch die Neugründungen der Waldorfschulen steigt weiterhin kontinuierlich an. So gibt es in Deutschland bereits 232 Schulen mit einem anthroposophischen Leitkonzept (Ullrich 2015, S. 7). Gerade die 24 Besinnnung auf Ruhe und Struktur, das Zeitlassen, die Berücksichtigung der kindlichen Individualität und das ästhetische, naturverbundene Umgebungskonzept scheinen hier, im Kontext einer schnelllebigen Gesellschaft, zum Tragen zu kommen. 2.3 Freinet Sind in Steiners Werken das Menschenbild und dessen Bedeutung für die kindliche Bil- dung und Erziehung detailliert aufgezeigt und beschrieben, verhält es sich mit den von Célestin Freinet (1896–1966) verfassten Schriften etwas anders. Der Reformpädagoge, der während seines Lebens selbst praktisch mit Kindern zusammenarbeitete, erstellte zwar zahlreiche Beschreibungen und Dokumentationen zu seinen pädagogischen Vorstellun- gen, Beobachtungen und Prinzipien, eine systematische Darlegung blieb jedoch zeitle- bens aus. Laut Henneberg, Klein und Vogt (2018, S. 250) gibt es „die“ Freinet-Pädagogik deshalb in ihrer eigentlichen Form so nicht. Vielmehr handelt es sich bei dieser um eine Bewegung, die von unterschiedlichen Darlegungen und Interpretationen abhängig war und ist. Da sich seine Skizzierungen überwiegend auf die Schulpädagogik beziehen, war eine gesonderte Übertragung insbesondere auf den frühkindlichen Bereich vonnöten. Bild vom Kind Trotz der eher skizzenhaften Darstellungen seiner Pädagogik zeichnete Freinet bei den Vorstellungen zur Rolle des Kindes in seiner eigenen Entwicklung ein relativ deutliches Bild. Entgegen der zur damaligen Zeit prominenten Auslegung, das Kind sei lediglich Gegenstand erwachsener Erziehungs- und Bildungsintentionen und damit von außen formbar, stellte Freinet das Kind als selbstständiges Individuum mit eigenen Interessen, Zielsetzungen und Rechten dar, das sich im Rahmen seiner Entwicklung selbst formt (Kraft 2019, S. 12f.). Anregungen zur eigenständigen Entwicklung bieten dabei die zur Verfügung gestellten äußeren Bedingungen, die jedoch nicht alleine entscheidend für das Verhalten des Kindes sind, sondern vom subjektiven Empfinden des Kindes geprägt werden. Folglich werden dem Kind Fähigkeiten unterstellt, die es aufgrund seiner Disposition bzw. seiner bereits gemachten Erfahrungen und Prägungen in den Bildungsprozess mit einbringt. Demnach sind Kinder stets bestrebt, die Welt um sich herum zu entdecken und sich mit dieser auf Handlungsebene auseinanderzusetzen. Sie entwickeln dabei eigene Hand- lungsweisen und Lösungsideen. Daraus resultierend wird dem Kind eine große Eigenmoti- vation und die Fähigkeit unterstellt, ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein zu ent- wickeln unter der Voraussetzung, dass ihm eigenständige Handlungsspielräume eingeräumt werden (Henneberg/Klein/Vogt 2018, S. 251f.). In Bezug auf das kindliche Ler- nen bedeutet dies, dass das Kind selbst bestrebt ist, sich Wissen anzueignen. Im Mittel- punkt steht dabei die Exploration seiner Umgebung, die wiederum zahlreiche neue Hand- Exploration lungs- und Entdeckungsmöglichkeiten aufwirft. Lernen wird dadurch allgegenwärtig und die Erforschung und Erkundung der Umwelt zum ständigen Teil des kindlichen Lebens. durch das Kind 25 Methodisch-didaktischer Ansatz und Rolle der Fachkraft Nach Freinet ist es deshalb entscheidend, dass sich der Lerngegenstand an Dingen des all- täglichen Lebens orientiert, mit denen das Kind selbst auch in Berührung kommt. Seiner Ansicht nach bedarf es keiner künstlich herbeigeführten Beispielbezüge, da bereits alles Relevante für den Lernprozess im Leben des Kindes zu finden ist. „Entdeckendes Lernen“ bzw. „tastendes Versuchen“ (u. a. Henneberg/Klein/Vogt 2018, S. 258) – beide Begriffe spiegeln Freinets Vorstellung von Lernen als Verkettung unterschiedlicher, voneinander abhängiger, experimenteller Versuche wider – wird in diesem Kontext überhaupt erst uneingeschränkt möglich. Der Lernprozess ergibt sich also daraus, dass das Kind sich zunächst mit einem ihm bereits bekannten Gegenstand beschäftigt und dabei auf etwas Unbekanntes stößt. Daraufhin beginnt das Kind, erste Hypothesen über dessen unbe- kannte Funktionsweise zu bilden, um kurze Zeit später mit dem Experimentieren und Aus- probieren zu beginnen. Im weiteren Prozess werden womöglich neue Fragestellungen auf- geworfen, jedoch steht am Ende in jedem Fall eine Erkenntnis, die das Kind im letzten Schritt mit den Menschen in seiner Umgebung teilen wird (Henneberg/Klein/Vogt 2018, S. 258f.). Um seine Erfahrungen und Deutungen uneingeschränkt teilen zu können, wird dem Kind Freier Ausdruck im Rahmen der pädagogischen Prinzipien Freinets Raum zum „freien Ausdruck“ gewährt. für Freinet das Grund- Sich frei ausdrücken zu können, meint, recht jedes Kindes und Hauptaufgabe der Erzie- hung seine Umwelt wahrnehmen und reflektieren, Erfahrungen machen und sich Erfahrungen bewusst machen und verlangt gegenseitiges Zuhören und Achtung vor den anderen. Der freie Ausdruck in all seinen Formen hat so eminente Bedeutung für die geistige, emotionale und sozi- ale Entwicklung von Kindern (Kock 2006, S. 70). Der freie Ausdruck muss dabei aber jederzeit frei von Einmischungen und Beeinflussungen Erwachsener sein. Der persönliche Sinn, nach dem das Kind in seinem Leben strebt, ist zudem für Erwachsene nicht immer zugänglich und nachvollziehbar, jedoch Grundprä- misse des pädagogischen Prinzips. Sinn entsteht erst durch das eigene Handeln und die damit verbundenen Erfahrungen und sollte deshalb von den Erwachsenen besonders geachtet und respektiert werden (Henneberg/Klein/Vogt 2018, S. 259f.). Freinet stellt zudem die „Arbeit“ in den Mittelpunkt seiner didaktischen Vorstellungen. Nicht im Sinne des allgemeinen Bildes von Arbeit als anstrengende, oftmals widersinnige berufliche Tätigkeit, sondern als das angeborene und natürliche kindliche Verlangen nach praktischer Beschäftigung. Er unterscheidet dabei zwei Arten: die „Arbeit mit Spielcharak- ter“ und das „Spiel mit Arbeitscharakter“ (Henneberg/Klein/Vogt 2018, S. 262f.). Ersteres meint Tätigkeiten, die nach außen hin auf den Erwachsenen wie normale Spieltätigkeiten wirken, jedoch eher gewöhnlicher Arbeit ähneln und einen bestimmten Zweck verfolgen, wie z. B. die Straße kehren oder das Umsorgen einer Puppe. Als Spiel mit Arbeitscharakter sah er hingegen alle übrigen spielerischen Betätigungen, bei denen das Handeln im Vor- dergrund steht, nicht aber das Endprodukt (ebd.). Neben dem freien Ausdruck spielen in der Didaktik von Freinet Mitbestimmungsrechte der Kinder eine wichtige Rolle (Hennberg/Klein/Vogt 2018, S. 266). Durch das Vertrauen der Erwachsenen in die Fähigkeiten des Kindes und die daraus resultierende Öffnung des 26 kindlichen Handlungsspielraums sowie die kindliche Teilhabe in Entscheidungsprozessen lernt das Kind, in der Gemeinschaft mit anderen zu agieren. Die kindlichen Bezugsperso- nen treffen deshalb keine Entscheidungen unter Ausschluss des Kindes, sondern informie- ren es, nehmen Beschwerden ernst und respektieren Vorschläge und neue Ideen. Wird die Bausteinecke beispielsweise wiederholt nicht von den Kindern aufgeräumt, könnte dies ein Zeichen dafür sein, dass diese nicht mit den Ordnungsregeln zurechtkommen. Um eine Lösung zu finden, geht die Fachkraft deshalb auf die Kinder zu und befragt sie dahin- gehend, ob es einer neuen Ordnung bedarf (ebd.). Indem Kinder auf diese Weise Partizipa- tion und Gemeinschaft erleben, lernen sie soziale Verhaltensweisen (u. a. Kraft 2019, S. 17f.; Henneberg/Klein/Vogt 2018, S. 264ff.). Für die Fachkraft ergibt sich aus der didaktischen Ausrichtung ein hohes Verantwortungs- potenzial, das eine zurückhaltende und vertrauensvolle Haltung gegenüber dem Kind voraussetzt. Henneberg, Klein und Vogt beschreiben die pädagogische Vorgehensweise als „kindzentriert“ (Henneberg/Klein/Vogt 2018, S. 271), also als aktive Teilnahme am Kindzentriert kindlichen Lernprozess, jedoch ohne direkte Anleitung, Vorgaben oder Belehrungen. Das Die Bildungsprozesse fol- gen den subjektiven Inte- Kind wird als selbstständig agierendes Subjekt mit individuellen Wünschen, Interessen ressen und Wegen der und eigenem Lerntempo verstanden, das im Mittelpunkt des erzieherischen Prozesses Kinder. steht. Um dem Kind einen (weit gefassten) Rahmen zu geben und es in diesem Prozess zu begleiten, tritt die Fachkraft in den Dialog mit dem Kind, jedoch ohne ihre eigenen Mein- ungen und Vorstellungen einseitig einzubringen. Stattdessen werden die des Kindes bekräftigt und gegebenenfalls gemeinsam weitergeführt (ebd., S. 272ff.). Entdeckt ein Kind beispielsweise ein kleines Mauseloch im Garten und berichtet es der Fachkraft von seiner Entdeckung, tritt diese in den Dialog und überlegt gemeinsam mit dem Kind, wie sich tiefer hineinsehen lassen könnte, und hilft dann bei der Beschaffung einer Taschen- lampe. 2.4 Montessori Einen weiteren reformpädagogischen Ansatz, der neben der Fröbel-Pädagogik zu den populärsten und erfolgreichsten weltweit zählt, stellt die Montessori-Pädagogik dar. Noch heute ist diese Grundlage pädagogischer Konzepte in unterschiedlichen Einrichtungen für Kinder, ob Kindergarten oder Schule. Die Begründerin, Maria Montessori (1870–1966), stu- dierte Naturwissenschaften und Mathematik, später Medizin. Sie praktizierte als Ärztin in einer Psychiatrie, in der sie mit behinderten und taubstummen Menschen arbeitete. Für ihre Arbeit entwickelte sie das sogenannte „Sinnesmaterial“, das später als Grundlage für den Einsatz im allgemeinpädagogischen Kontext diente. Aufgrund ihrer langen Arbeit mit behinderten Kindern schloss sie ihrem Medizinstudium schließlich noch ein Studium der Erziehungswissenschaften an (Kuhlmann 2013, S. 103). Bild vom Kind Montessori entwarf ihre pädagogische Konzeption auf Basis einer dezidierten Vorstellung über die kindliche Entwicklung. Dabei bezog sie zwar die lebensweltlichen Umstände des Kindes mit ein, das Hauptaugenmerk lag aber auf den entwicklungspsychologischen Grundlagen der kindlichen Entwicklung. Durch die genaue und differenzierte Beobach- 27 tung von Kindern kam sie zur Überzeugung, dass das Kind von Natur aus mit einem „inne- ren Bauplan“ ausgestattet ist, der vorgibt, zu welchem Zeitpunkt welche Entwicklungs- schritte und Lernprozesse ablaufen. Dennoch handele es sich ihrer Ansicht nach dabei nur um naturgegebene Potenziale, deren Ausschöpfung in der kindlichen Verantwortung liege, wodurch das Kind zum „Baumeister seiner selbst“ werde (Schäfer 2018, S. 185). Sensible Phasen Die kindlichen Entwicklungsschritte teilte Montessori in drei „sensible Phasen“ ein (teil- in der Theorie Maria Mon- weise werden vier Phasen beschrieben, wobei für die vierte Phase nur wenige Hinweise tessoris die besondere Empfänglichkeit für den zur menschlichen Entwicklung zu finden sind), von denen sie der ersten, die sich auf das Erwerb bestimmter Fähig- Alter von null bis sechs Jahren erstrecke, besondere Bedeutung zumaß. In den ersten keiten in Abhängigkeit Lebensjahren verfüge das Kind über eine sich seinem eigenen Bewusstsein entziehende vom Alter des Kindes Wahrnehmungsform, die Montessori als den „absorbierenden Geist“ bezeichnete. Die erste Phase bilde dabei die Grundlage für die weiteren Entwicklungsschritte und sei im Besonderen geprägt von der beginnenden Einheit von Körper und Geist, der Ausbildung und Verfeinerung der Sinne, dem Anfang der bewussten motorischen Körpersteuerung sowie dem Spracherwerb (Schäfer 2018, S. 186f.). In den weiteren Phasen bilden die Kin- der ihre Intelligenz durch den Drang nach Wissensanwendung und Ursache-Wirkung-Expe- rimenten (sechs bis zwölf Jahre) sowie ihr gesellschaftliches Rollenverständnis (12 bis 18 Jahre) aus (Schäfer 2018, S. 188f.). Methodisch-didaktischer Ansatz und Rolle der Fachkraft Für Montessori ist Erziehung ein Dialog zwischen Erwachsenem und Kind, die sich mittels ihrer Interaktion wechselseitig beeinflussen. Erziehung sei aber nicht in der Lage, die kind- liche Entwicklung positiv zu beeinflussen, da die Inhalte, die ein Kind lernt oder nicht, von ihm und seiner eigenen Disposition abhängig seien. Erziehung könne im Sinne der Bildung also nur förderlich sein, wenn sie (entwicklungs-)förderliche pädagogische Mittel zur Ver- fügung stelle, um die Selbstbildungsprozesse anzuregen. Ein Leitsatz, den Montessori for- mulierte, lautete deshalb: „Hilf mir, es selbst zu tun“ (Schäfer 2018, S. 189). Montessori ging davon aus, dass Kinder aufgrund ihrer inneren Veranlagung dazu fähig sind, sich tief versunken auf eine einzelne Tätigkeit zu fokussieren. Dieses Phänomen nannte sie deshalb „Polarisation der Aufmerksamkeit“. Um die selbstständige Arbeit und damit die kindlichen Selbstbildungsprozesse anzuregen, entwickelte Montessori eigene Sinnesmaterialien didaktische Spielmaterialien, die sie als „Sinnesmaterialien“ bezeichnete. Ziel dieser war Sie sollen im Konzept es, dass Kinder Gegenstände mit all ihren möglichen Eigenschaften kennenlernen konn- Maria Montessoris ganz- heitliches Lernen ermög- ten, um ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erweitern. Für ihr Material formulierte Mon- lichen, da sie die fünf tessori feste Prinzipien: Haupt-Sinne (Tasten, Rie- chen, Sehen, Hören und Schmecken) von Kindern 1. Es ist qualitativ hochwertig verarbeitet und ist für kleinere Kinderhände geeignet. ansprechen. 2. Es verfolgt immer nur ein didaktisches Lernziel, wobei mehrere kindliche Entwick- lungsbereiche (Motorik, Kognition etc.) gefördert werden sollen. 3. Es soll sinnlich erfahrbar sein und insbesondere einen spezifischen Sinn ansprechen. 4. Es orientiert sich an den entwicklungsbedingten Interessen des Kindes, um die Auf- merksamkeit möglichst lange aufrechterhalten zu können. 5. Es ermöglicht eine eigenständige Fehlerkontrolle. 28 6. Es soll die Kinder animieren, Ordnung zu schaffen (z. B. Sortierung nach Größe etc.). 7. Es soll jeweils nur einmalig in der Einrichtung vorhanden sein, damit Kinder lernen, sich abzusprechen und zu teilen (Kuhlmann 2013, S. 106). Durch die angestrebte Selbsttätigkeit des Kindes in Verbindung mit den zur Verfügung gestellten Materialien nimmt die Fachkraft innerhalb der Montessori-Pädagogik eine eher passive und zurückhaltende Rolle ein. Sie ist Beobachter des Geschehens und geht auf die vom Kind formulierten Bedürfnisse ein, indem sie die vier Prinzipien der „freien Wahl“ stets beachtet: Die freie Wahl des Materials, der Beschäftigungsdauer, des Beschäftigungs- ortes und der Gruppen- oder Einzelarbeit. Weiter bringt die Fachkraft dem Kind eine grundsätzlich positive und einfühlsame Haltung entgegen und führt es auf nur indirektem Wege. Sie gestaltet eine kindgerechte Umgebung, verfügt über sehr gute Kenntnisse des Materials und stellt nach Bedarf auch eigenes her. ZUSAMMENFASSUNG Friedrich Fröbel entwickelte sein pädagogisches Konzept in Ausarbei- tung seiner „Spielgaben“ unter dem Aspekt der Vorstellung vom Men- schen als ein sich über die gesamte Lebensspanne hinweg entwickeln- des Wesen. Rudolf Steiner entwickelte das Konzept der „Waldorfpädagogik“, in des- sen Mittelpunkt der menschliche Geisteszustand mit seinen vier Grund- kräften (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib und das Ich) stand, die sich in drei Sieben-Jahres-Zyklen entwickeln. Ziel und Aufgabe der Erziehung war es, diese Entwicklung zu begleiten. Die Pädagogik Freinets wurde ursprünglich für die Schule entwickelt und später auf den frühkindlichen Bereich übertragen. Sie stellte die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit in den Vordergrund, die durch selbstbestimmtes Handeln vollständig ausgebildet werde. Zentrale Annahme der Montessori-Pädagogik war, dass Bildung vom Kind ausgehe und die Erziehung die Aufgabe habe, entwicklungsförderli- che Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Selbstbildungsprozesse anzuregen. In diesem Rahmen schuf Maria Montessori unterschiedliche Materialien. 29 LEKTION 3 NEUERE ANSÄTZE UND KONZEPTE LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welche neueren Ansätze und Konzepte kindheitspädagogischer Didaktik es gibt und wie sich diese charakterisieren lassen. – was unter dem Situationsansatz verstanden wird. – was der Reggio-Ansatz meint. – welche Bedeutung die „Early Excellence Centre“ für die kindheitspädagogische Didak- tik haben. – was das Besondere an Bewegungskindergärten ist. – was sich hinter der Bezeichnung Waldkindergärten verbirgt. – was unter dem Projektansatz verstanden wird. – was mit „Forschendem Lernen“ explizit gemeint ist. 3. NEUERE ANSÄTZE UND KONZEPTE Einführung Pädagogische Ansätze konkretisieren das pädagogische Handeln in kindheitspädagogi- schen Institutionen. Zum Beispiel geben sie vor, wie und mit welchen Materialien Bil- dungs- und Erziehungsprozesse angeregt werden. Hierbei zeigen sich immer wieder umfassende Überschneidungen, etwa was das Bild vom Kind betrifft, das in allen Ansätzen als aktiv lernendes Subjekt betrachtet wird, aber auch grundlegende Unterschiede zwi- schen den Konzepten. Dementsprechend kann sich das Geschehen in pädagogischen Ein- richtungen mitunter stark voneinander unterscheiden, obwohl zentrale Elemente ähnlich gedacht werden. Zugleich stellen pädagogische Ansätze in der Arbeit von Kindertageseinrichtungen ein zentrales Qualitätsmerkmal dar und gewinnen deshalb kontinuierlich an Bedeutung. Die folgende Lektion greift diesen wichtigen Aspekt der Qualitätsentwicklung auf und widmet sich in differenzierten Porträts den aktuellen Ansätzen, die teilweise auf älteren Konzepten aufbauen. 3.1 Situationsansatz Situationsansatz Den Ausgangspunkt des Situationsansatzes stellt die Lebenswelt der Kinder – man kann ein in den 1980er-Jahren auch sagen: die Situation der Kinder – dar. Da sich diese stets verändert, geht es im Situa- entwickelter didaktischer Ansatz der frühkindlichen tionsansatz darum, die Inhalte, Ziele und Handlungsstrategien des pädagogischen Han- Bildung delns immer wieder zu überprüfen und dementsprechend anzupassen (Lorber 2016, S. 107). Dem Situationsansatz geht es darum, Kinder dazu zu befähigen, ihre Lebenswelt zu ver- stehen und sie selbstbestimmt und verantwortungsvoll zu gestalten. Dies erscheint den Vertretern des Situationsansatzes gerade in einer sich „ständig wandelnden internationa- lisierten Welt“ (Preissing/Heller 2018, S. 205) als entscheidende Kompetenz in der früh- kindlichen Pädagogik. Die Ideen des Situationsansatzes finden sich heute in vielen Kindertageseinrichtungen in Deutschland wieder. Entwickelt wurde der Situationsansatz am Deutschen Jugendinsti- Deutsches Jugendin- tut in den 1980er-Jahren (Zimmer 1995, S. 22). Es folgten verschiedene weitere Strömun- stitut (DJI) gen innerhalb der Überlegungen zum Situationsansatz, aus denen hier der „Situationsori- Das DJI ist ein sozialwis- senschaftliches Institut entierte Ansatz“ als ein prominentes Beispiel in der deutschsprachigen Fachliteratur für Forschung und Ent- herausgegriffen und näher betrachtet werden soll: Dieser wurde Ende der 1990er entwi- wicklung in den Themen- ckelt (Militzer/Demandewitz/Solbach 1999). Als wesentlicher Unterschied ist zu nennen, feldern Kindheit, Jugend und Familie. Es besteht dass der ursprüngliche „Situationsansatz“ sich vorwiegend an der allgemeinen Lebenssi- seit 1963 und hat seinen tuation der Kinder orientiert, der „Situationsorientierte Ansatz“ dagegen primär das kon- Sitz in München. krete Erleben und die Verarbeitung von Erlebnissen jedes einzelnen Kindes in den Mittel- punkt stellt (Schäfer 2014, S. 18). Beispielsweise würde man im Situationsansatz auch 32 Situationen durchspielen, um auf die Zukunft vorzubereiten: „Wie wäre es für Dich, wenn Deine große Schwester aus der Familienwohnung auszieht?“ Im Situationsorientierten Ansatz hingegen werden überwiegend reale Situationen aus der Gegenwart der Kinder bearbeitet, etwa indem ihre Erzählungen aufgegriffen werden. Die Orientierung an der sozialen und kulturellen Lebenswelt der Kinder ist aber allen Spielarten des Situationsansatzes gemein: Das unmittelbare Erleben und Handeln von Kindern wird verknüpft mit wichtigen Wissensbeständen, die in überschaubaren Lebens- und Sinnzusammenhängen erschlossen werden (Preissing/Heller 2018, S. 203). Diese Ver- mittlung von Wissensbeständen steht stets unter dem Postulat, dass sie in direktem Bezug zur Erweiterung der konkreten Handlungsmöglichkeiten der Kinder in ihren gegenwärti- gen und zukünftigen Lebenssituationen stehen. Als Beispiel hierfür könnte man die Ausei- nandersetzung mit dem Thema „Müll“ in der Kindertagesstätte anführen. Hier sollen durch eine Erweiterung des Wissens der Kinder die konkreten Handlungsmöglichkeiten dahingehend erweitert werden, dass die Kinder u. a. in die Lage versetzt werden, Müll zu vermeiden und zu trennen. Hier kommt auch das Bildungsverständnis des Situationsansatzes zum Ausdruck: Das Kind soll die Möglichkeit erhalten, eigenen Gedanken und Problemen nachzugehen – bei- spielsweise durch den Besuch einer Müllentsorgungsanlage, um der Frage nachzugehen, was mit dem Müll der Kindertagesstätte passiert. Die Entwicklung des Bildes von der Welt ist nach Ansicht des Situationsansatzes ein lebenslanger und von Irritationen und Wider- sprüchlichkeiten begleiteter Prozess (Preissing/Heller 2018, S. 206). Deshalb bedarf es – gerade bei Heranwachsenden – Begleitung, Unterstützung und auch Aufforderung. Sich ein Bild von der Welt zu machen, beinhaltet dabei a) sich ein Bild von sich selbst in dieser Welt zu machen, b) sich ein Bild von den anderen in dieser Welt zu machen und c) sich ein Bild von den Phänomenen und Ereignissen in der Welt zu machen (Preissing/ Heller 2018, S. 207). Hieran schließen sich die vier Kompetenzbereiche der Persönlich- keitsentwicklung an, die gleichzeitig das Ziel des pädagogischen Handelns ausmachen: Kompetenzbereiche der Persönlichkeitsent- wicklung Ich-Kompetenz (sich seiner selbst bewusst sein, eigenen Kräften vertrauen, für sich im Situationsansatz als selbst verantwortlich handeln, Unabhängigkeit und Eigeninitiative entwickeln), Ich-Kompetenz, Soziale soziale Kompetenz (soziale Beziehungen aufnehmen und gestalten mit Wertschätzung Kompetenz, Sachkompe- tenz und lernmethodi- und Anerkennung, im Umgang mit anderen verantwortlich handeln, unterschiedliche sche Kompetenz Interessen aushandeln), Sachkompetenz (sich die Welt aneignen, die sachlichen Lebensbereiche erschließen, sich theoretisches und praktisches Wissen und Können – Fähigkeiten und Fertigkeiten – aneignen und dabei urteils- und handlungsfähig werden), lernmethodische Kompetenz (Grundverständnis davon, dass man lernt, was man lernt und wie man lernt; Fähigkeit, sich selbst Wissen und Können anzueignen; Bereitschaft, von anderen zu lernen und sich selbst infrage zu stellen) (Preissing/Heller 2018, S. 209). Dabei ist zu beachten, dass die vier Kompetenzbereiche sowohl in der Lebenspraxis als auch in der Praxis der Bildungseinrichtung nicht einzeln zu betrachten sind: Sie sind nicht voneinander zu trennen und bedingen einander wechselseitig (ebd.). Während des Besu- ches der Müllverwertungsanlage wird Wissen über Mülltrennung erlangt (Sachkompe- tenz). Gleichzeitig erfahren die Kinder etwas über die Auswirkungen ihrer Handlungen und 33 entwickeln ein Verhältnis zur Müllproblematik (Ich-Kompetenz). Zudem entwickeln sich sach- und lernmethodische Kompetenzen, da sich die Kinder das Thema Müll in einem gemeinsamen Prozess aneignen und erfahren, wie und wo man sich Informationen beschaffen kann. Bild vom Kind Wie bereits in den Grundlagen des Situationsansatzes deutlich geworden ist, basiert die- ser auf dem Verständnis von einem eigenaktiven Kind. Das individuelle Lernen steht dabei aber in Verbindung mit den sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten (Schä- fer 2014, S. 18). Subjekt Hier wird auch die Bedeutung des Kindes als Individuum und Subjekt deutlich: Im Situati- Damit wird der Mensch onsansatz erfährt das Kind eine große Wertschätzung in der Art und Weise, wie es wahr- als ein erkennendes, han- delndes Ich beschrieben. nimmt, fühlt, denkt, handelt und seine Umwelt eigenständig interpretiert. Das Kind wird als schöpferisch tätiger Mensch angesehen, der auf Veränderung aus ist (Preissing/Heller 2018, S. 206). Das Kind ist also Mensch im vollumfänglichen Sinne und muss nicht durch Eltern oder pädagogische Begleitung erst zum Menschen werden. Es hat eigene Rechte, die berücksichtigt werden müssen. Dies spiegelt sich auch in den pädagogischen Leitbe- Autonomie griffen wider, die Autonomie, Mit- und Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Unabhängig- Zustand bzw. idealisiertes keit, Verbundenheit, Zugehörigkeit und Solidarität enthalten (Lorber 2016, S. 107). Die Ver- Ziel der Selbstbestim- mung, Entscheidungs- knüpfung von Rechten und der Individualität des Kindes wird auch im folgenden Credo und Handlungsfreiheit des Situationsansatzes deutlich: „In ihren Rechten sind alle Kinder gleich – in seiner Ent- wicklung ist jedes Kind besonders“ (Preissing/Heller 2018, S. 205). Kinder werden also nicht als Objekte der Vermittlung von Wissen und Können angesehen, sondern entschei- den selbst, ob sie lernen möchten: Nur wenn Interesse und inneres Erleben angesprochen werden, sind Kinder lern- und wissbegierig. Rolle der pädagogischen Fachkraft Vorrangige Aufgabe der Erwachsenen innerhalb des Situationsansatzes ist es, das indivi- duelle Kind zu unterstützen. Lernen und Leben finden aber auch in sozialen Bezügen des Alltages statt. Diesen beiden Postulaten können pädagogische Fachkräfte vorrangig dadurch gerecht werden, dass sie verlässliche Beziehungen und ein anregungsreiches Umfeld schaffen (Lorber 2016, S. 108). Das Umfeld spielt auch insofern eine Rolle, als Einflüsse aus dem Alltag der Kinder mit auf- genommen werden. Alle Bereiche und Gefühle des menschlichen Lebens werden auch in der Einrichtung durchlebt, ob es sich um Freude, Trauer, Langeweile, Aktivität, Gemein- schaft oder Alleinsein handelt. Es bedarf also einer offenen, flexiblen und differenzierten Planung des Alltages in der Ein- richtung und dem Bereitstellen von Gruppen- und Raumstrukturen, die dem Streben der Kinder nach Autonomie und selbstbestimmtem Tätigsein Rechnung tragen (Preissing/ Heller 2018, S. 213). Die entscheidenden Begriffe sind hierbei Spiel und Raum: Spiel gilt im Situationsansatz als selbstbestimmtes Lernen, als aktiv gestaltete Wechselbeziehung zwi- 34 schen Kind und Umwelt. Räume dagegen sind Lebensräume, die von Kindern mitgestaltet werden, veränderbar sind und sich auf ihre Nutzer einstellen sollten – nicht umgekehrt (Lorber 2016, S. 108). Weiterhin erfordert der Situationsansatz pädagogische Fachkräfte, die sowohl in die Rolle der Lehrenden als auch in die Rolle der Lernenden wechseln können. Durch offenkundige eigene Lernprozesse dienen Fachkräfte dem Kind als Vorbild dafür, wie es selbst lernen könnte – zugleich ist dies ein Beispiel dafür, dass Lernen und Entwicklung nie aufhören (Preissing/Heller 2018, S. 214). Wenn die Fachkraft beispielsweise eine Frage eines Kindes nicht direkt beantworten kann, kann sie das transparent machen („Oh, das ist eine gute Frage, ich weiß die Antwort auch nicht. Wollen wir gemeinsam nachsehen?“), zusammen mit dem Kind die Antwort in einem Buch oder im Internet nachsehen und dem Kind auch gleichzeitig signalisieren, dass sie als Erwachsene gerade etwas Neues gelernt hat. Die pädagogische Fachkraft ist allerdings nicht die einzige Bezugsperson beim Lernpro- zess im Einrichtungskontext für das Kind: Es sollen neben dieser möglichst auch die Eltern und andere Personen aus der Lebenswelt der Kinder im Einrichtungsalltag beteiligt wer- den (Preissing/Heller 2018, S. 203). Beispielsweise könnte man einen nahe gelegenen Bau- ernhof besuchen und den Landwirt als Experten für Feldfrüchte und deren Aufzucht befra- gen – vermutlich haben schon viele Kinder ihn auf seinen Feldern beobachten können. Beziehungen sind für den Lernprozess des Kindes entscheidend: Es benötigt ein spürbares Interesse der Bezugspersonen an seinen Tätigkeiten, Empfindungen und Erkenntnissen. Hier wird erneut deutlich, dass Lernen zwar an die eigenen Interessen der Kinder gebun- den ist, gleichsam aber der soziale Kontext entscheidend und somit eine Verknüpfung die- ser beiden Pole durch die pädagogische Fachkraft erforderlich ist (Schäfer 2014, S. 15). Der pädagogischen Fachkraft kommt auch die Auswahl sogenannter Schlüsselsituationen in Absprache mit Eltern und Kollegen zu: Dabei handelt es sich um besondere Situationen des Kindes, die aufgegriffen und über einen längeren Zeitraum bearbeitet werden sollen (Lorber 2016, S. 108). Beispiele wären hier die Hochzeit einer Tante oder das weggelaufene Haustier. Sie werden ausgewählt nach Kriterien der Betroffenheit der Kinder, einer gewis- sen Bedeutung für das Aufwachsen in der Gesellschaft und der Möglichkeit der Aneignung von neuen Erfahrungen (Zimmer 2000, S. 75). Kritisch wird daran gesehen, dass die Aus- wahl der Schlüsselsituation durch Erwachsene vorgenommen wird und deshalb das Kind zu geringe Berücksichtigung erfährt. Dem kann allerdings durch aktive Teilhabe der Kinder an diesem Prozess begegnet werden (Doye 1995, S. 142). 3.2 Reggio-Ansatz Die Ideen des Reggio-Ansatzes sind mittlerweile in vielen Konzepten von Kindertagesein- richtungen wiederzufinden. Die Begründer dieses Ansatzes sind die Bewohner der Stadt Reggio Emilia in Italien. Die Reggio-Pädagogik bezieht sich auf die in den dortigen 21 kom- munalen Kitas und 13 Krippen entwickelte Konzeption (Lorber 2016, S. 112). Der bekann- teste Vertreter ist Loris Malaguzzi (1920–1994), der ab 1963 die pädagogische Leitung über- nahm (Stenger 2018, S. 224). 35 Ausgangspunkt der Reggio-Pädagogik ist das Zusammenspiel von Individuum und sozi- alem Umfeld: „Jedes Kind ist […] eine Konstruktion (selbst-konstruiert und sozial-konstru- iert), die auf einen spezifischen Kontext und eine Kultur bezogen ist“ (Rinaldi 2001, S. 39). Selbstkonstruktion meint dabei, dass Kinder aktive Konstrukteure ihres eigenen Lernens sind; sie bilden mit Neugier und Forscherdrang eigene Erfahrungen aus und formen sich so ein Bild von der Welt und sich selbst (Schäfer 2014, S. 19). Dies passiert aber nicht los- gelöst von der Welt: Es handelt sich dabei auch um eine soziale Konstruktion, da Kinder bei der Erschaffung von Selbstkonstruktion das soziale und kulturelle Umfeld mit einbe- ziehen. Das Kind wird somit als aktives Subjekt gesehen, das entsprechend seinen indivi- duellen Gaben und Potenzialen und unter Einbezug der sozialen und kulturellen Umwelt sein Wissen und Können ausbildet; forschend und problemlösend von Geburt an, ist es Mitschöpfer seiner Entwicklung (Lorber 2016, S. 112). Das Kind soll dabei allerdings nicht alleine gelassen werden: Malaguzzi setzt das „Recht des Kindes auf Erziehung und Bil- dung“ (ebd.) in das Zentrum seines pädagogischen Handelns. Die Einlösung dieses Rechtes ist aber nicht alleinige Aufgabe der Pädagogen, was eine Besonderheit der Reggio-Pädagogik ausmacht: Kindererziehung wird als gemeinschaftli- che Aufgabe verstanden. Eltern, Pädagogen, Bürger und Politiker sowie alle Personen, die im Kontakt mit den Kindern stehen, sollen gemeinsam Konzepte und Erziehungsziele ent- wickeln und als Gemeinschaft die Verantwortung tragen (Lorber 2016, S. 112). So sind bei- spielsweise auch Hausmeister oder Köche ganz selbstverständlich Teil des Teams in den Einrichtungen und direkte Ansprechpartner für die Kinder. Es handelt sich dabei nicht um einen abgeschlossenen Prozess: Die Reggio-Pädagogik legt Wert auf eine lernende Organisation mit dem Wunsch nach kontinuierlicher Weiterent- wicklung unter aktivem Einbezug aller Beteiligten (Stenger 2018, S. 224). Eine besondere Rolle innerhalb der Reggio-Pädagogik macht auch das Verständnis und Ästhetik die Bedeutung von „Ästhetik“ aus: Es handelt sich dabei um das notwendige Gegenstück ursprünglich die Lehre zur Analyse. von Gesetzmäßigkeit und Harmonie von Natur und Kunst Die ästhetische Betrachtung erhält alle Zusammenhänge, in die ein Verhalten, ein Tun oder Gedanke eingebettet ist. Das analytische Denken muss sie zerlegen, um zu begreifen. Die Ästhe- tik wird damit als Gegenspieler der analytischen Vernunft benötigt (Schäfer 2014, S. 20). Ein Beispiel hierfür ist die ästhetische Präsentation von Arbeitsmaterialien für die Kinder: Durch die klare Ordnung, ansprechende und offene Präsentation wird der unmittelbare Aufforderungscharakter zum Aktivwerden für die Kinder deutlich. Die Schönheit der Prä- sentation enthält zugleich die implizite Aufforderung, mit Materialien und ihren Arrange- ments sorgfältig und behutsam umzugehen. Die in dieser Betrachtungsweise beinhaltete Wertschätzung gegenüber sinnlichen Erfah- rungen spiegelt sich in allen Bereichen der Einrichtung wider, beispielsweise in der Gestal- tung der Räume, Materialangebot, Tagesablauf und Projektarbeit. 36 Bild vom Kind Das Bild vom Kind ist in der Reggio-Pädagogik durch Gleichberechtigung geprägt. Sowohl Kinder als auch Erwachsene befinden sich zu gleichen Teilen in einem kreativen Lernpro- zess: „[…] teachers, parents and children work together each day to build the kind of com- munity in which they want to live“ (Rinaldi 2006, S. 206). So sind auch die Kinder beispiels- weise gefragt, wenn es um die Gestaltung und Ausstattung der einzelnen Räume der Einrichtung, aber auch um Fragen der Dorf- oder Stadtentwicklung geht. Wichtig ist beim Bild vom Kind bei der Reggio-Pädagogik auch die Metapher der „hundert Sprachen des Kindes“ (Schäfer 2014, S. 19). Diese soll verdeutlichen, dass es vielerlei Wei- sen gibt, Welt zu verstehen, zu interpretieren und sich zu Beziehungen und Identitäten auszudrücken (Stenger 2018, S. 225). So wird das Kind als Forscher, Entdecker, Künstler und aktiver Konstrukteur von Wissen und Können sowie seiner eigenen personalen Identi- tät angesehen. Jede Rolle kann andere Ausdrucksmittel des Kindes hervorrufen, kann also „Sprache“ werden: „Gerade in der Vielfalt von Werkzeugen und Ausdrucksmöglichkeiten erschließt sich der Reichtum im Umgang mit der Welt. Und dieser Reichtum ist die Voraus- setzung für die Erfindungen von Variationen des Weltverständnisses“ (Schäfer 2014, S. 19). Über das Bild von den hundert Sprachen des Kindes will die Reggio-Pädagogik verdeutli- chen, dass verschiedene Zugänge, Entdeckungen und Ausdrucksformen des Kindes eine vertiefte Beziehung zur Welt ermöglichen. Beziehung und Dialog mit Gleichaltrigen und Erwachsenen sind dabei ebenfalls von gro- ßer Bedeutung: Kinder können sich in unterschiedlichen „Sprachen“ artikulieren und fin- den Widerhall. Dadurch entsteht auch das eigene Selbst. „Das Ich wird nicht als Einheit gesehen, von dem bestimmte Handlungen ausgehen, sondern als ein Geschehen, das gegen andere gar nicht abgeschlossen ist. Erst aus [den] Austauschprozessen und Bezügen gewinnt es seine I