Menschenrechtsbildung mit Kindern PDF
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Hochschule Esslingen
Barbara Weber
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This document is an academic discussion about human rights education with children. It delves into the philosophical and practical aspects of teaching human rights to children, highlighting the importance of practical application and student-centered learning. The author, Barbara Weber, emphasizes the role of schools as "embryonic democracies" and advocates for an experiential approach to human rights education.
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„Cirque du Soleil“ – Menschenrechtsbildung mit Kindern Ein Gespräch mit Barbara Weber Barbara Weber Barbara Weber vertritt im Diskurs um Menschenrechtsbildung einen radikalen und inspirierenden Ansatz: Menschenrechtsbildung beginnt in der Schule und zwar nicht als Unterrichtsfach, sondern als gele...
„Cirque du Soleil“ – Menschenrechtsbildung mit Kindern Ein Gespräch mit Barbara Weber Barbara Weber Barbara Weber vertritt im Diskurs um Menschenrechtsbildung einen radikalen und inspirierenden Ansatz: Menschenrechtsbildung beginnt in der Schule und zwar nicht als Unterrichtsfach, sondern als gelebte Praxis. Schulklassen sind „em- bryonale Orte der Demokratie“ im Sinne John Deweys (1964 ): Demokratie ist mehr als nur eine Regierungsform. Es ist eine Form des Zusammenlebens, des Denkens und Handelns. Sie muss erlernt und kultiviert werden. Diesen Ansatz entwickelte sie auf der Basis philosophischer Überlegungen, wie z. B. der Phänomenologie, Hermeneutik, Theorien der Frankfurter Schule sowie des Neo- Pragmatismus. Sie diskutiert grundlegende Fragen der Menschenrechtsbildung, die für diesen Band interessant und inspirierend erscheinen. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit analysiert sie auf der Basis von empirischen Forschungsprojekten und eigener pädagogischer Praxis, wie Kinder in philoso- phischen und politischen Fragen wie z. B. Natur und Umwelt, Menschen- und Kinderrechte, Anerkennung, Pluralität und Globalisierung ihre Welt entwerfen und wie gemeinsam mit ihnen diese Entwürfe angefragt, hinterfragt und mit revi- diert werden können (Weber 2013). Sie hat dazu auch eine Reihe internationaler und transkultureller Forschungsprojekte initiiert, darunter das israelisch-deutsche Projekt über Erzählungen, Träume und Vorstellungen von der Zukunft von Jugendlichen (Herb et al. 2013). Hierbei geht es darum, philosophische Dialoge zu politisch zentralen Fragen transnational zu ermöglichen. B. Weber (B) Universität von British Columbia, Vancouver, Kanada E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien 233 Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 S. Bliemetsrieder und G. Fischer (Hrsg.), Erinnern, Bildung, Menschenrechte, Soziale Arbeit in Theorie und Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35870-9_13 234 B. Weber Im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes mit dem Titel „Menschenrechte und Menschenrechtsbildung in der Sozialen Arbeit“ an der Hochschule Esslin- gen stand Barbara Weber den Studierenden des Seminars für ein Onlineinterview zur Thematik „Philosophieren mit Kindern über Menschenrechte“ zur Verfügung. Das hier abgedruckte Gespräch wurde für die Themenstellung dieses Bands über- arbeitet. Im Fokus stehen grundlegende Fragen zu Menschenrechtsbildung mit Kindern und die diesem Zugang zugrunde liegenden philosophischen Gedanken. Die überarbeitete Fassung wurde mit Barbara Weber validiert. Frage: Wie und warum sollte man Schüler:innen für Menschenrechte sensibilisie- ren? Barbara Weber: Ich würde gerne mit dem nordamerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey beginnen. John Dewey entwarf in seinem Werk „Demo- kratie und Erziehung“ Schulen als embryonale Orte der Demokratie („embryonic society“). Das heißt Demokratiebildung muss in der Schule beginnen, weil Demokratie einer ständigen Einübung und Kultivierung bedarf. Demokratie kann verstanden werden als eine Idee, der sich Menschen in ihrem Lebenslauf langsam annähern. Ein solcher Demokratisierungsprozess kann nicht regulativ von außen später verordnet werden. Demokratie ist eine Weise des Zusammenlebens und muss ein Teil der eigenen Identität sein. „Die oberflächliche Erklärung besteht darin, dass eine auf dem allgemeinen Wahl- recht beruhende Regierung nicht erfolgreich sein kann, ohne dass diejenigen, die ihre Regierenden wählen und ihnen gehorchen, erzogen worden sind. (…) Aber es gibt eine tiefergehende Erklärung. Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.“ (Dewey 1964, S. 120f.) Ich erlebte immer wieder, dass Kinder an diesem Prozess Freude haben. Sie merken sehr schnell, ob Entscheidungen „für sie“ oder „ohne sie“ getroffen werden. Schule und Schulklassen können als eine „Mini-Demokratie“, eine „mini-community“, verstanden werden. In einer solchen „Mini-Demokratie“ sind die Kinder immer schon Teil kontinuierlicher Neuerfindung demokratischer Kultur. Demokratie kann demnach nicht vollständig stellvertretend für sie durch- geführt werden. Sonst würde Demokratie als essentialistische Idee verstanden, deren Strukturen sich Kinder nur aneignen müssten. Alle idealistischen Konzepte wie „Gerechtigkeit“, „Gleichheit“, „Freiheit“, „Solidarität“ und eben auch „De- mokratie“ werden grausam, wenn sie essentialistisch entworfen und damit als scheinbar Bestehendes vorgegeben werden. Ein solches Vorgeben läuft Gefahr, die Idee Demokratie über das Wohl des einzelnen Menschen zu stellen. Das „Cirque du Soleil“ – Menschenrechtsbildung mit Kindern 235 hätte eine Form der Erziehung und Bildung zur Folge, die selbst essentialis- tisch, d. h. gewalttätig von außen her stattfindet und ohne die Besonderheit jedes einzelnen Menschen wertzuschätzen. Die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes (das eigentliche Potential des Kindes) ist dann wie „abgeschnitten“. Denn: das einfache Hinnehmen von gegebenen Normativen führt zwangsläufig zur Festle- gung und nicht zur Auseinandersetzung oder kreativ-hermeneutischen Aneignung. Aufgabe des Philosophierens ist es, diese zum Teil auch verborgenen oder unbe- wussten Normativitäten ins Bewusstsein zu rufen, sie zu reflektieren, evaluieren, transformieren oder zu verwerfen. Mit der Pluralität, welche Kinder bereits in der Grundschule erleben, stellen sie gleichzeitig auch Fragen über Menschenrechte. Gerade in pluralen Gesell- schaften brauchen Kinder Möglichkeiten, eigene Ideen davon zu entwickeln, wer sie in dieser Gesellschaft sein und wie sie sich einfinden möchten. Die Schule – insbesondere die Grundschule – stellt in diesem Sinne einen interessanten Ort dar, dies zu erproben. Hier können sich die Kinder auch exponieren und revidie- ren, ohne gleich mit Repressionen belegt oder ausgeschlossen zu werden. Kinder können eingeladen werden, immer wieder gemeinsam neu zu beginnen, immer wieder einen neuen Anfang zu wagen – ganz im Sinne Hannah Arendts. „Because they are initium, newcomers and beginners by virtue of birth, men take initiative, are prompted into action.“ (Arendt 1967, S. 177) Ich denke – auch aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive heraus –, je früher ein solches Denken und solche Praxen möglich werden, desto besser ist es für den einzelnen und für die Gemeinschaft. Wenn wir Kindern begegnen, die als Personen, in ihre Zeit geworfen, mit ihrer vollen Potentialität auf uns als Lehrer:innen zukommen, benötigen wir große Sensibilität, Offenheit und Geduld. Ich möchte es mal mit den kanadischen Tra- pezartisten des „Cirque du Soleil“ vergleichen, welche durch die Luft fliegen und sich wechselseitig wieder auffangen, um wieder loszuspringen. Lehrer:innen sollen fragen – um in diesem Bild zu bleiben – von woher kommt jemand auf mich zu, z. B. mit welchem familiären Hintergrund, mit welchen Fragen, mit welchen originellen Ideen, Wahrnehmungen und Talenten usw., wie (emp)fange ich ihn und wie ermögliche ich sein Weiterspringen in die Zukunft mit größerer Kraft. Und das gilt gerade in pluralen Gesellschaften, die sich als demokratisch begreifen. Dabei ist die Frage, wie alle Kinder in einer demokratischen Gesell- schaft ihre Potentialität entfalten können. Das ist nicht einfach, aber eine wichtige Vision für Schule und Gesellschaft zugleich. 236 B. Weber Frage: In Ihren Auseinandersetzungen beziehen Sie sich auf Hannah Arendt. Sie postuliert das Recht der Kinder auf ihre eigene Zukunft und sieht das Politische in den Kindern selbst. Sehen Sie dieses politische Potential bei Kindern? Barbara Weber: Auf jeden Fall. Es ist zunächst aber zu bedenken, dass Arendt nicht so viel über Kinder an sich spricht.1 Der Gedanke in ihrem Buch „Vita Acti- va“ jedoch, dass jeder Mensch einen neuen Anfang in die Welt bringe und dass dieser Anfang etwas Ethisches und somit eine ethische Forderung mit sich bringt, ist bedenkenswert. Es bedeutet, dass wir diesen Neuanfang, welchen Kinder mit sich bringen, nicht zerstören, sondern kultivieren müssen, um auf diese Weise Neuanfänge in einer Gesellschaft Raum zu geben. Z. B. basiert die Möglichkeit, einen Neuanfang zwischen Deutschland und Israel zu wagen, auf der Potentiali- tät, welche die nächste Generation mit sich bringt. Es geht Arendt darum, eine Zukunft und Gesellschaft in Freiheit zu ermöglichen. Hannah Arendt nennt das Moment des In-die-Welt-Kommens „Gebürtlichkeit“ („Natalität“ und „initium“). Dieser in ihrem Werk „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“ entwickelte Gedanke geht davon aus, dass Handeln, in die Offenheit der Zukunft hinein, weltverändernd ist. Die politische Tat liegt für sie darin, dass der- jenige aber nicht wissen kann, wie sein Handeln ausgehen wird. Und so ist ein Kind, das einen neuen Anfang ermöglicht, in sich bereits eine politische Tat, ein politisches Sein. Denn es bringt diese Zukunft oder diesen Neuanfang in die Welt. Kinder können neue Gedanken entwickeln, sie sind politische und politisierende Subjekte. Deswegen argumentiere ich, dass der Wille des Kindes nicht gebrochen werden darf, sondern Kinder eingeladen werden müssen, dieser Neuanfang sein zu dürfen und sich dabei als ein agierendes und gestaltendes Subjekt zu erleben. Erzieher:innen sollten daher ganz sensibel sein, diesen Neuanfang nicht zu zer- stören. Das darf aber wiederum nicht essentialistisch interpretiert werden. Es geht vielmehr darum, die Möglichkeit, etwas Neues, etwas Anderes zu denken, nicht zu zerstören, sondern einen intergenerationalen Dialog zu ermöglichen mit Ver- gangenem, mit der Gegenwart und mit der potentiellen Zukunft. Kinder brauchen dazu Möglichkeitsräume. Frage: Was ist Ihrer Erfahrung nach ein gutes Alter, um mit Menschenrechtsbildung und dem Philosophieren über Menschenrechte zu beginnen? Barbara Weber: Meine Forschungsgruppe hat mit Kindern im Alter von vier und fünf Jahren philosophiert. Dabei ging es zunächst einmal um ganz einfache Dinge wie „Was heißt es, stark zu sein?“ oder „Wie können wir fair ein begehrtes 1In Arendts Aufsatz über „The Crisis of Education“ (1954) äußert sich Arendt eher kritisch über die Fähigkeit von Kindern, am politischen Geschehen teilzunehmen. „Cirque du Soleil“ – Menschenrechtsbildung mit Kindern 237 Spielzeug teilen?“ Menschenrechtsbildung bedeutet ja nicht, mit dem Auftrag in eine Situation hineinzugehen, alle Fragen über Menschenrechte zu beantworten. Ziel ist die Sensibilisierung für und das Aufgreifen von alltäglichen Situatio- nen, welche menschenrechtsrelevante Fragen aufwerfen: die menschenrechtlich immer relevanten, unmittelbaren gemeinsamen Begegnungen und der Umgang in der alltäglichen Lebenswelt. Z. B. die ökonomische Frage nach der gerech- ten Verteilung eines Kuchens ist bereits eine Frage der Gerechtigkeit: Sollen alle gleich viel bekommen? Sollen größere und ältere Kinder mehr bekommen? Soll ein hungriges Kind mehr bekommen oder das Geburtstagskind? Je jünger Kinder sind, umso konkreter sollen diese Fragen gestellt werden. Wenn Sie mit vier- bis fünfjährigen Kindern philosophieren, müssen Sie damit rechnen, dass die Kinder dabei zugleich Purzelbäume schlagen und ihrer inne- ren Unruhe körperlich Ausdruck verleihen. Wichtig wäre es, die Gruppen dann zu verkleinern, etwas zum Malen anzubieten, Knetmasse für die Hände, etc. Bedeut- sam ist, dass Kinder in ein Nachdenken hineingezogen werden, das danach fragt, was ihnen selbst wirklich wichtig ist und was zugleich jedem Menschen zuste- hen müsste, ohne dabei kulturell unterschiedliche Praxen zum Abzug bringen zu müssen. Gerade in der Schule scheint das eine wichtige Erfahrung zu sein. Ab dem Grundschulalter können Kinder über Menschenrechtsfragen bereits abstrak- ter nachdenken. Dabei werden alltägliche Fragen der Kinder aufgegriffen: Was ist mir in meinem Leben wichtig? Was bedeutet mir der Andere? Was steht allen Menschen zu oder müsste allen Menschen zustehen? Was verbindet alle Menschen und worin unterscheiden sich Menschen? Die Sensibilisierung für das Anderssein und Andersdenken ist enorm wichtig. Frage: Welche Themen waren den Kindern dabei wichtig? Barbara Weber: Liebe scheint ein wichtiges Thema zu sein – die Kinder malten häufig Herzen oder fragen, wie Liebe möglich ist, wenn wir doch sterblich sind. Sollen wir das Wagnis der Liebe eingehen? Viele Kinder in der Grundschule haben Erfahrungen mit Verlust, z. B. eines Haustiers oder der (Ur-)Großeltern. Wichtig war es zudem, dass ich Spielzeug dabeihatte. Dabei waren Spielsa- chen wie „Transformer“ bedeutsam für die Kinder. Transformer symbolisieren einerseits die Metamorphose, welche Kinder durch ihre körperliche Entwicklung durchleben, als auch den Wunsch, stark zu sein und etwas bewirken zu kön- nen. Jedes Spielzeug hat eine wichtige Bedeutung und erzählt uns, was Kinder beschäftigt. Und es zeigte sich auch, dass Kinder ihre Spielsachen immer wieder neu interpretierten. Die unterschiedlichen Interpretationen des Spielzeugs und ihre Unterscheidungspraxen und Kontextualisierungen fand ich sehr beeindruckend. 238 B. Weber Es ist eine Welt, in welche man bereit sein muss einzutauchen. Das habe ich von meiner hochgeschätzten Doktormutter Prof. Dr. Bäuml-Rossnagl gelernt. Frage: Auf welche philosophischen Ansätze beziehen Sie sich in Ihrer Ausarbeitung? Barbara Weber: Ich habe mich intensiv mit dem deutschen Philosophen Jürgen Habermas sowie dem amerikanischen Neo-Pragmatiker Richard Rorty auseinan- dergesetzt und dabei versucht, zwischen den beiden einen Dialog zu entwerfen. Was mich besonders interessierte, war das Verhältnis von Vernunft und Mitge- fühl: Müssen Menschen zunächst versuchen einander zu verstehen, wie Habermas dies in seiner kommunikativen Vernunft erarbeitet, um dann so etwas wie Mit- gefühl für den Anderen entwickeln zu können? Oder brauchen Menschen, mit Rortys Worten, zunächst Mitgefühl, um bereit zu sein, sich vernünftig über Pro- bleme verständigen zu können? Vernunft und Mitgefühl stehen häufig dichotom gegenüber und wirken unvereinbar. Ich denke, es braucht einen Perspektiven- wechsel der Verknüpfung der Vernunft im Sinne von Jürgen Habermas und des Mitgefühls im Sinne von Richard Rorty. Entwicklungspsychologisch beginnt das Erlernen von Mitgefühl bereits wenige Wochen nach der Geburt (Stern 1977; Spitz 1965), wenn Eltern auf den Säugling reagieren. Mutter und Kind sind zu Beginn noch ganz eng miteinander verbunden – Winnicott (1997) spricht hier von der „normalen Krankheit“, eine Art Symbiose von Mutter und Kind. Beim engen körperlichen Kontakt oder Stil- len spiegelt die Mutter die Emotionen des Kindes. Das Kind sieht seine eigene Trauer, seine Freude, seine Angst in der Mimik der Mutter und „begreift“ sich selbst durch den Anderen. Mit zunehmendem Alter lernt das Kind zwischen sich und dem Anderen zu unterscheiden; es entwickelt die Fähigkeit, sowohl kognitiv nachzuempfinden (Perspektivenwechsel) als auch ethisches Mitgefühl zu emp- finden (die emotionale Aufforderung, dem Anderen helfen zu wollen). Je mehr ein Mensch seine eigenen Gefühle erforscht und kennt, desto mehr ist auch die Einfühlung in den Anderen möglich. Natürlich können wir nie genau wissen, was der Andere empfindet. Jede Einfühlung in das Sein des Anderen ist in eins Verstehen, Missverstehen und Neuinterpretation einer Situation. Verstehen ist ein dynamischer und komplexer Prozess gegenseitiger Sinngenese. Auch wenn Rorty und Habermas inspirierend für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Verstand und Mitgefühl sind, vernachlässigen beide die kör- perliche Bedingtheit des Menschen. Dieser blinde Fleck in der Philosophie der Menschenrechte bringt große Probleme für menschenrechtliche Fragen mit sich und wirkt sich auch auf eine praktische Menschenrechtsbildung aus. Einerseits ist es unsere Körperlichkeit, welche uns vereinigt: Wir alle sind durch unsere Körperlichkeit in eine physische Welt eingetaucht, welche wir durch unseren „Cirque du Soleil“ – Menschenrechtsbildung mit Kindern 239 Körper wahrnehmen und manipulieren können. Eine gemeinsame und geteilte, sinnlich wahrnehmbare Welt entsteht. Als körperliche Wesen sind wir verletzlich und sterblich. Zugleich fungiert der Körper als fundmentale Trennung zwischen mir und dem Anderen und Differenz entsteht: wo ich stehe, kann kein anderer ste- hen; was ich denke, bleibt dem Anderen verborgen, was ich konsumiere, kann der Andere nicht haben etc. Diese Vernetzung von Ähnlichkeit und Differenz ist in die Grammatik der Körperlichkeit eingraviert. Gerade die Leib-Phänomenologie – und dabei beziehe ich mich vor allem auf die französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty und Emmanuel Lévinas – sieht den Körper als Folie und Raum des politischen Geschehens, durch den erst das Gefühl der Anders- heit des Anderen, der Reziprozität, der Empathie und Sympathie, des Mitfühlens und der reflexiven Solidarität entsteht. Der politische Raum entfaltet sich aus der Ontologie des leiblichen In-der-Welt-Seins. Nur ein sterbliches Wesen, d. h. endliches Wesen kann für den Anderen Verantwortung übernehmen, weil nur ein solches Wesen durch die Verletzlichkeit, Sterblichkeit und Andersheit des Anderen angesprochen (d. h. betroffen) wird. Dieses Vermögen, für den Anderen Verantwortung zu übernehmen, ist die einzige Möglichkeit, den Menschen aus seiner Einsamkeit des organischen Seins, also der absoluten körperlichen Abge- trenntheit vom Anderen (Körper können nicht verschmelzen oder eins werden) und damit aus dem Zyklus der Ontologie herauszureißen. Das Antlitz des Ande- ren, das sich mir in seiner Nacktheit und Verletzlichkeit präsentiert, ruft mich auf, noch bevor ich diese Aufgabe bewusst übernehme. In dieser Verantwortung für den Anderen bin ich unvertretbar. Lévinas selbst schreibt: „Dieser Blick, der bittet und fordert – der nur bitten kann, weil er fordert, dem alles mangelt, weil er ein Recht hat auf alles, den man anerkennt, indem man gibt (so wie man die Dinge in Frage stellt, indem man gibt) –, dieser Blick ist nichts anderes als die Epiphanie des Antlitzes als Antlitz. Die Nacktheit des Antlitzes ist Blöße, Mangel. Den Anderen anerkennen heißt, seinen Hunger anerkennen. Den anderen anerken- nen – heißt geben. Aber man gibt dem Meister, dem Herrn, man gibt dem, den man in einer Dimension der Erhabenheit mit ‚Sie anredet.“ (Lévinas 2003, S. 103) Der Andere ruft mich zur Handlung auf und eröffnet mir hierdurch die Chance, tätig zu werden. Der Andere ist aber nicht „unter mir“, sondern ich diene dem Anderen – der Andere ist über mir und im Grunde genommen unerreichbar in seiner „Erhabenheit“. 240 B. Weber Im Zwischenraum der leiblichen Begegnung, der Verletzlichkeit und Ratio- nalität, der Ähnlichkeit und radikalen Verschiedenheit des Anderen entsteht das Politische.2 Für Fragen des interkulturellen Verstehens beziehe ich mich auf den Her- meneutiker Hans-Georg Gadamer. Für ihn heißt Verstehen nicht automatisch, mit etwas einverstanden zu sein. Das heißt man kann die Gefühle oder die Argumentation des Anderen nachvollziehen, jedoch der Schlussfolgerung, Eva- luierung oder Lösung nicht zustimmen. Dennoch ist durch einen solchen Dialog etwas gewonnen, nämlich die Verflüssigung von Vorurteilen oder bislang unhin- terfragten Annahmen. Durch das Verstehen im Dialog wird eine gemeinsame Lebenswelt konstituiert. Fernerhin ist Verstehen nie absolut oder komplett. Die exakte Angst oder Freude des Anderen können wir nicht fühlen. Der Andere bleibt immer auch ein Rätsel. Erst diese Erkenntnis führt zum Respekt vor der Andersheit des Anderen und seiner Nichtfestlegbarkeit. Verstehen ist ein dyna- mischer Prozess des gegenseitigen sich Verständigens auf eine geteilte Welt hin, welcher immer auch Missverstehen sowie eine neue Interpretation des Gesagten beinhaltet. Verstehen ist immer unterwegs. Frage: Sie arbeiten mit der Idee der „Community of Inquiry“. Was ist der Gedanke hinter diesem Konzept? Barbara Weber: Matthew Lipman hat diesen sehr interessanten pädagogischen Ansatz einer „Community of Inquiry“ ins Leben gerufen. Es ist ein dialogisches Unterrichtsmodell, worin Kinder die Gelegenheit haben, miteinander über Fra- gen ihres eigenen Interesses nachzudenken und sich auszutauschen. Sie lernen die Welt aus der Perspektive des Anderen zu sehen, ihre eigenen Vorurteile und Meinungen infrage zu stellen sowie die Gründe ihres Denkens und Fühlens zu erklären. Diese Gesprächssituation ähnelt der Idealen Sprechsituation des Phi- losophen Jürgen Habermas, weil sie non-hierarchisch und frei von Zwang ist sowie auf rationale Rechtfertigungen vertraut. Denken wird als kollaborativer Akt gesehen, nicht als Wettbewerb des „besseren Arguments“. Diese Idee der Kontingenz des Wissens und der Möglichkeit einer intersub- jektiven Verständigung geht wiederum grundlegend auf John Dewey zurück. Für mich war es gewinnbringend, diesen Gedanken mit dem Fünf-Finger-Modell von Ekkehard Martens zu verbinden und damit Lipmans „Community of Inquiry“, welche sich vornehmlich auf die analytische Philosophie sowie den Amerika- nischen Pragmatismus bezieht, methodisch anzureichern. Das Ziel war es, auch 2 Das Problem des Dritten und dadurch des Politischen wird in Lévinas’ Werk stark kritisiert. „Cirque du Soleil“ – Menschenrechtsbildung mit Kindern 241 andere philosophische Ansätze wie die Phänomenologie (was kann ich wahrneh- men? Siehst du, was ich sehe?), die Hermeneutik (was bedeutet das, was ich sehe? Was ist Verstehen?), die Analytik und Logik (Frage nach der Schlüssig- keit der Argumente), die Dialektik (was spricht dafür, was dagegen?) sowie die spekulative Philosophie (was wäre wenn? Wie könnte es anders sein?) in das philosophische Gespräch mit Kindern zu integrieren.3 Mit Blick auf die politi- sche Philosophie und Menschenrechtsdebatte eröffnet eine solche philosophische Methodenvielfalt diverse Themengebiete: Die Phänomenologie kann uns für die Bedeutung des Leibes sensibilisieren, d. h. für seine Verletzlichkeit und das Recht auf Unversehrtheit im politischen Raum. Das hermeneutische Verstehen macht uns auf die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten aufmerksam, den Anderen gänz- lich verstehen zu können. Die Analyse kann den Dingen rational auf den Grund gehen und dabei dialektisch die rationalen Möglichkeiten der Anderen mitein- beziehen. Die philosophische Spekulation kreiert Raum für Träume, Sensibilität und Utopie, die den Rahmen des Möglichen oder Vorstellbaren transzendieren. Frage: Welche Rolle spielen dabei Normen und Werte? Barbara Weber: Ich würde diese Frage entwicklungspsychologisch angehen und mich dabei ebenfalls auf Matthew Lipman beziehen. Sowohl Lipman als auch Martens vertreten ein soziokulturelles Modell im Sinne von Lev Vygotsky. Anders als Jean Piaget, welcher die kindliche Entwicklung als Durchlaufen uni- versaler Stufen beschreibt, konzentriert sich der soziokulturelle Ansatz auf den jeweiligen soziokulturellen und normativen Raum, in welchem Kinder aufwach- sen. Alle Handlungen, alle Worte und Taten, wie Menschen ein Objekt anfassen, was sie beschützen, worauf sie achten (wollen) usw., sind immer schon normativ aufgeladen und mit soziokulturell-historischen Bewertungen versehen. Erziehung bedeutet, sich in diesem Raum bewegen zu lernen. Kinder nehmen manche Werte in sich auf, andere werden hinterfragt oder kreativ uminterpretiert und neue Werte entstehen. Im Philosophieren mit Kindern geht es vor allem darum, diese Normativitäten aufzudecken, herauszuarbeiten, sich ihrer bewusst zu werden. Es wird hinterfragt, ob diese Normativitäten mit guten Gründen und mitfühlend rechtfertigbar sind oder eben nicht. Werte müssen in ihrer Prozesshaftigkeit und relativen Bedeu- tung gesehen werden. Werte existieren ja nicht im luftleeren Raum. Menschen werden im Dialog zwischen den Generationen dazu aufgerufen, ihre Entscheidun- gen immer wieder neu zu evaluieren und zu überdenken. Das heißt, Werte können 3 Siehe hier das ethische Unterrichtsmodell von Prof. Dr. Eva Marsal, Pädagogische Univer- sität Karlsruhe. 242 B. Weber und dürfen nicht einfach hingenommen werden oder Kindern „gelernt“ werden. Hier würde bereits die ethische Grausamkeit beginnen. Habermas spricht in die- sem Zusammenhang auch von der Notwendigkeit einer diskursiven Verflüssigung der Lebensweltstrukturen. Und daher ist es nicht meine Auffassung, dass wir zu bestimmten Werten hin erziehen sollen. Wir können Werte, für die wir als Mensch grundlegend einste- hen, z. B. die Unversehrtheit des Anderen, vorleben oder durch unser Handeln authentisch vertreten. Aber das ist für mich nicht die entscheidende Frage. Nehmen wir deshalb ein Beispiel: Eine Lehrperson soll zu Toleranz erzie- hen. Wenn nun der Wert der „Toleranz“ nicht hinterfragt wird, dann bedeutet es bereits das Ende jedes Dialogs. Vielmehr geht es darum, sich ganz offen den philosophischen und ethischen Fragen zu stellen und dadurch auch die innigs- ten Überzeugungen in die „Schwebe zu bringen“ und zu überdenken – das gilt auch und besonders für die Lehrperson. Die authentische Offenheit, den Gedan- ken des Anderen Raum und Zeit zu geben, das ist der Kern des philosophischen Gesprächs. Dazu braucht es die Bereitschaft, etwas Neues zu lernen, etwas Neues zu denken und dabei im besten Falle mit einer anderen Position oder Einstellung aus der Gesprächssituation herauszugehen. Seine Meinung zu ändern oder zu erweitern, ist eine große Charakterstärke und die Lehrperson sollte das immer wieder den Kindern vorleben. Philosophieren ist keine erwerbbare Argumenta- tionstechnik. Die Kinder merken schließlich, dass auch Erwachsene offen und aushandlungsorientiert sind und die Dinge gemeinsam überdenken. Daran werden sich die Kinder biografisch später noch erinnern. Das heißt: Wir dürfen über die Werte vorab noch nicht entschieden haben. Eine „Community of Inquiry“ möchte prinzipiell immer offen sein. Um auf das Bei- spiel Toleranz zurückzukommen: Toleranz kann ja auch als beleidigend gedeutet werden. Denn Toleranz überwindet keine Abwertungskonstruktionen. Ich tole- riere ja nur das, was ich prinzipiell ablehne. Tolerieren muss sich in Anerkennung wandeln, d. h. dass ich die andere Sicht- oder Lebensweise nicht nur toleriere, sondern als mögliche Weise des In-der-Welt-Seins respektiere und anerkenne. Die unterschiedlichen Wertvorstellungen sind kulturell schon vorhanden. Sie müs- sen aber ständig überdacht werden, hinsichtlich der Frage, ob diese Werte nicht auch implizit Ungerechtigkeit ermöglichen oder andere ausschließen. Nur eine dynamische und offene Werteerziehung kann Ungerechtigkeit und Unterdrückung reduzieren. „Cirque du Soleil“ – Menschenrechtsbildung mit Kindern 243 Frage: Was würde das bedeuten in dem Fall, dass im Dialog mit Kindern ihre Werte und Ansichten nicht mit den Wertvorstellungen der Lehrkraft übereinstimmen? Würden die Kinder ihre Position behalten können? Barbara Weber: Ja, aber nur wenn es gute Gründe für die Positionen der Kinder gibt. Im besten Fall entsteht eine Gesellschaft, in der Menschen miteinander spre- chen können. Das bedeutet, als Lehrkraft braucht es auch Neugierde, verstehen zu wollen, warum ein Kind denkt, wie es denkt. Vielleicht hilft hier ein konkretes Beispiel weiter: In einer „Community of Inquiry“, welche ich angeboten habe, waren alle Kinder davon überzeugt, dass die so genannten „Obdachlosen“ aus der Stadt verbannt werden sollten. Sie konnten nicht verstehen, warum die „da so her- umliegen usw.“ Ich war dabei in einer ganz schlechten Sprecher:innenposition, weil alle Kinder ganz klar diese Auffassung vertraten. Ich wollte die Meinung nicht einfach akzeptieren, sondern wollte verstehen, warum denken die Kin- der in dieser Weise darüber? Was sind ihre Gründe? Und da habe ich dann so lange nachgefragt, bis die Kinder sich selbst Fragen stellten. Woher kommt der wohnungslose Mensch? Warum muss er auf der Straße leben? Oder möchte er vielleicht auf der Straße leben? Daraus entwickelte sich ein sehr langes Gespräch. Ich denke, alle Kinder haben neue Einstellungen gewonnen und zu guter Letzt waren sich die Kinder plötzlich nicht mehr sicher, ob sich wohnungslose Men- schen nicht doch auch in der Stadt aufhalten dürften. Die Kinder suchten plötzlich nach neuen Möglichkeiten und Lösungen. Es geht also nicht darum, die Aussagen der Kinder einfach stehen zu lassen. In Folge dieser Erfahrung habe ich dann den Beitrag „Tolerieren heißt beleidigen“ geschrieben. Wenn ich etwas nur toleriere, es aber eigentlich ablehne, bin ich aufgefordert nachzufragen und das Wagnis des Verstehens einzugehen. In diesem Sinne bin ich zwar durchaus Relativistin, aber nicht in dem Sinne, dass es egal wäre, was der Andere denkt oder ich alles tole- riere. Ganz im Gegenteil: es geht darum, Werte und Handlungen in der Relation zu ihrer Umgebung, den Gefühlen und Rechtfertigungen zu verstehen und anzu- erkennen, auch wenn man vielleicht nicht immer „einverstanden“ ist oder selbst so leben und handeln möchte. Hier schließt auch wieder John Dewey an, wenn er davon ausgeht, dass Menschen manchmal gar nicht wissen, was sie denken, bis sie jemand danach fragt. Die Frage „Warum denkst du so?“ fordert den anderen dazu heraus, die Gründe für sein Denken und Handeln zu reflektieren und zu erklären. Der Dialog ist imstande, für unser Denken ein (anderes) Bewusstsein hervorzubringen. Unsere Freiheit wird durch das Erlernen anderer Lebenswei- sen kontinuierlich erweitert. Je mehr mögliche Weisen des „In-der-Welt-Seins“ ich kenne, desto freier kann ich meinen eigenen Lebensweg wählen. Das bedeu- tet, dass die Andersheit des Anderen mich nicht bedroht, sondern aus meiner Einsamkeit des Denkens, Lebens und Handelns herauslockt und befreit. 244 B. Weber Frage: Würden Sie sagen, Menschenrechtsbildung sollte bereits in der Grundschule ein eigenes Unterrichtsfach werden? Barbara Weber: Ein eigenes Fach „Menschenrechtsbildung“ halte ich für schwie- rig. Idealerweise wuerde Menschenrechtsbildung immer dann relevant werden, wenn von den Kindern zu problematisierende Diskurse hervorgebracht werden oder wenn eine Situation entsteht, die bestimmte Fragen aufwirft und somit den Dialog notwendig macht. Es wollen jedoch nicht alle Lehrkräfte so arbeiten. Das ist zunächst auch in gewisser Weise in Ordnung, Sie können ja Lehrer:innen nicht dazu zwingen, mit Kindern zu philosophieren. Es geht also um die Bereit- schaft, spontan mit Kindern über Menschenrechte philosophieren zu wollen, wenn normative Vorstellungen implizit oder explizit gemacht werden sollen. Dieser Zugang lässt sich prinzipiell in jedes Unterrichtsfach integrieren. Sicherlich sind Fächer wie Ethik oder Deutsch dafür gut geeignet. Hier wäre an den Schulen Kreativität gefragt. Ich fände es gut, wenn sich Lehrer:innen bewusst für einen solchen Zugang für ihr Fach entscheiden. Kinder sollten nicht in eine Situation versetzt werden, in der kurz über menschenrechtliche Fragen nachgedacht wird und das dann als abgehakt gilt. Es wäre darüber hinaus wünschenswert, wenn Fragen wie „Was ist Wissen?“ oder „Was ist Denken?“ neu durchdacht wer- den könnten. Oder auch die Frage, was „denken lernen“ eigentlich ausmacht. Idealerweise würde sich dieser reflexive Zugang dann auch auf die Schule aus- wirken und beeinflussen, wie Unterricht verstanden wird. Eine gute Idee wäre es, wenn angehende Lehrer:innen bereits im Studium Erfahrungen mit einem solchen philosophierenden Zugang machen könnten und dabei Resonanz erleben. Frage: Möchten Sie Ihre Zugänge eines Philosophierens mit Kindern über Men- schenrechte noch weiterentwickeln? Barbara Weber: Ich merke, dass mein Denken zunehmend radikaler wird. In meinen bisherigen Auseinandersetzungen war ich noch etwas verhaltener. Diese Radikalität zeigt sich darin, dass ich Programme und jede Art von absoluten Vorschriften ablehne, welche nicht offen sind für weitere Verhandlungen. In mei- nen bisherigen Auseinandersetzungen finden sich immer noch zu stark Aspekte von Rezepten, z. B. „wie etwas unterrichtet werden sollte“. Gerade auch in meiner Arbeit hier an der UBC in Vancouver merke ich, wie stark es auf die Lehrer:innenpersönlichkeit ankommt. Es braucht Authentizität und Sensibilität, Interesse und Mut. Dann bleiben diese Zugänge inspirierend. Es braucht – im Sinne von Emmanuel Lévinas – den Mut, im Moment ganz präsent sein und dar- auf antworten zu können, wie der Andere auf mich zukommt. Am „Cirque du Soleil“ lässt sich das sehen, wie die Luftartist:innen sich durch die Luft bewegen und aufgefangen und weitergeworfen werden. Das geht nur mit einer Sensibilität „Cirque du Soleil“ – Menschenrechtsbildung mit Kindern 245 dafür, wie der Andere auf mich zukommt (d. h. zu versuchen, den Anderen in seiner Andersheit zu verstehen) und wie ich ihn unterstützen kann, sich weiterzu- entwickeln und zu entfalten (sich der Unvertretbarkeit der eigenen Verantwortung nicht zu entziehen). Das lässt sich nicht einfach durch Trainieren bestimmter Muskeln oder Techniken ermöglichen, das lässt sich nicht standardisieren. Das schließt auch an Jacques Rancières (2009) Überlegungen „The Ignorant School- master“ – „Der unwissende Lehrmeister“ – an. Rancière stellt darin fest, dass es bei Bildung nicht nur um Inhalte geht, sondern dass Bildungsprozesse viel- mehr über Inspiration und innere Motivation hergestellt werden. Dass Kinder zum Nachdenken angeregt werden und nichts für sie im Voraus schon entworfen werden muss. Wie können wir auf Kinder, die in ihrer Andersheit auf uns zukom- men, sensibel reagieren? Eine solche Vision käme der etymologischen Bedeutung des Begriffs Schule etwas näher: Das Wort „Schule“ kommt ja ursprünglich aus dem Altgriechischen, „scola“, und bedeutet „Freizeit“. Im Altgriechischen gibt es für das Wort „Zeit“ drei Über- setzungen: „chronos“ (die zählbare, chronologische, produktive Zeit), „kairos“ (der opportune oder günstige Augenblick) und „aion“ (die Ewigkeit im Augen- blick). Der Begriff „scola“ als „Freizeit“ ist im Altgriechischen mit dem Begriff des „aion“ verbunden, d. h. Schule war die Zeit des ewigen Augenblicks und tiefen Nachdenkens über das Dasein, frei von Produktivität oder ökonomischen Pflichten. Heutzutage erleben Schüler:innen die Schule oft gerade nicht mehr als Freizeit, sondern im Sinne von „chronos“ als produktive Zeit, in welcher sie gezwungen sind abzuliefern. Und für „aion“, das gemeinsame Nachdenken, bleibt keine „Zeit“ mehr. Über diese Fragen möchte ich weiter nachdenken: Wie kann die Idee von „aion“, Denken und Sensibilität wieder in die Schule integriert werden, um sowohl der Gegenwärtigkeit als auch der Zukünftigkeit des Kindes Raum zu geben? „Children are not the people of tomorrow, but are people of today. They have a right to be taken seriously, and to be treated with tenderness and respect. They should be allo- wed to grow into whoever they were meant to be. ‚The unknown person‘ inside of them is our hope for the future.“ (Janusz Korczak 1992, S. 34). 246 B. Weber Literatur Arendt, Hannah. 1967. The Human Condition. Chicago: University of Chicago Press. Dewey, John. 1964 Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Braunschweig. Herb, K., J. Glaser, B. Weber, E. Marsal, und T. Dobashi, Hrsg. 2013. Narratives, dreams and imaginations: Israeli and German youth imagine the future. Münster: Lit Verlag. Korczak, Janusz. 1992. When I’m little again and the Child’s Right to Respect. Lanham/Maryland: University Press of America. Lévinas, Emmanuel. 2003. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg i. Br./ München: Karl Alber. Ranciere, Jacques. 2009. Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien: Passagen. Spitz, René A. 1965. 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