Vorlesung Reformationsgeschichte WS 2024/25 Vorlesung 1 PDF
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Freie Universität Berlin
Andreas Lindner
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Summary
This document is a lecture on the Reformation, covering its origins, key figures, and impact. The lecture details the context and reasons for the Reformation from the perspective of various groups involved and offers key definitions. Various types of Reformation are discussed, including the Lutheran and Calvinist Reformations.
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Andreas Lindner Vorlesung Reformationsgeschichte WS 2024/25 Vorlesung 1 1. Zum Begriff „Reformation“ Der Begriff „Reformation“ ist sachlich von dem Verständnis der Anhänger Luthers und der anderen Kirchenkritiker („Reformatoren“) des beginnenden 16. Jahrhunderts abgeleitet, die im Wirken dieser Män...
Andreas Lindner Vorlesung Reformationsgeschichte WS 2024/25 Vorlesung 1 1. Zum Begriff „Reformation“ Der Begriff „Reformation“ ist sachlich von dem Verständnis der Anhänger Luthers und der anderen Kirchenkritiker („Reformatoren“) des beginnenden 16. Jahrhunderts abgeleitet, die im Wirken dieser Männer den Versuch zur Einlösung der schon gut 100 Jahre lang geforderten „Reform der Kirche an Haupt und Gliedern“ sahen. Es ist also die Sprache der evangelischen Seite, denn das objektive Ergebnis war eine Spaltung des Glaubensverständnisses und infolgedessen der Kirche des lateinischen Christentums. Luther hatte das nicht gewollt, sondern eine wirkliche Reformation dieser Kirche. Angesichts des Gegendrucks, der von Papsttum und Kaisertum in den Jahrzehnten von 1518 bis 1555 ausgeübt wurde, konnten sich die Evangelischen am vorläufigen Ende dieses konfliktreichen Prozesses auf Grund der Tatsache, dass sie sich behauptet hatten, als Sieger fühlen. Die Lutheraner hatten mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 eine vorläufige Akzeptanz erlangt. Die calvinistisch orientierten Reformierten, für die diese Anerkennung nicht galt, existierten faktisch, hatten einen starken Rückhalt in den calvinistisch gewordenen gesellschaftlichen Eliten westeuropäischer Staaten und entwickelten zwischen 1555 und 1618 eine weitaus größere Dynamik als die lutherisch gewordenen Territorien. Dieser Prozess, in dem eine Reihe lutherischer Territorien bzw. Dynastien ihr Bekenntnis zum Calvinismus wechselten, wird als „Zweite Reformation“ bezeichnet. Der Calvinismus grenzte sich mental, theologisch und liturgisch sehr viel schärfer vom alten Kirchenwesen ab als das Luthertum. Die Kluft zwischen Calvinisten und Lutheranern war bis ins 19. Jahrhundert oft größer als die zwischen Lutheranern und Katholiken. Die Römisch-Katholische Kirche, die dem Begriff nach ebenso wie die lutherischen und calvinistischen Landeskirchen erst im Gefolge der Reformation entstand, befand sich insofern in der Defensive, als sie die Kirchenspaltung nicht verhindern und die „lutterische secte“ (Herzog Georg von Sachsen) nicht ausrotten konnte. Für ihre Bemühungen wurde die Bezeichnung „Gegenreformation“ geprägt, die sich schon sprachlich aber natürlich auch inhaltlich aus dem Bezug auf die Reformation erklärt. Nicht zufällig ist „Gegenreformation“ eine Begriffsbildung der evangelischen Geschichtsschreibung. Erstmals gebraucht wurde sie 1776 von dem Göttinger Juristen Stephan Pütter als Bezeichnung der gewaltsamen Rückführung evangelisch gewordener Gebiete zur katholischen Religionsausübung. Leopold von Ranke benutzte den Ausdruck am Ende seiner „Geschichte Deutschlands im Zeitalter der Reformation“ 1847 als Epochenbegriff. Diese Entwicklung hatte eine gewisse Logik, denn aus der Reformation heraus begründet sich zumindest die Kirchengeschichtsschreibung und das Geschichtsbild der Protestanten, während sie in katholischer Sicht lange Zeit als der größte Betriebsunfall angesehen wurde. Nicht ohne gravierende Verluste für die Kirche aber doch irgendwie glücklich eingedämmt und abgehakt. Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die im modernen Sinne wissenschaftliche Luther- und Reformationsforschung zu entwickeln begann, kam es daher katholischerseits zunächst zu einer aggressiv-polemischen Geschichtsaufarbeitung, die in Luther einen seelisch Kranken bzw. charakterlich schwachen Menschen sah und in der Reformation das Einfallstor für alle „Sündenfälle“ der Moderne. Im 20. Jahrhundert kam es im Bemühen um historische Objektivität zu einer begrenzten Annäherung der Geschichtsbilder. Statt des Begriffs „Gegenreformation“ führte die katholische Kirchengeschichtsschreibung „Katholische Reform“ ein (Joseph Lortz: Die Reformation in Deutschland, 2 Bde. 1939). Es entbehrt nicht einer gewissen Symbolik, dass der vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierte Profanhistoriker für Mittlere und Neue Geschichte Ernst Walter Zeeden (1916-2011) 1958 die Bezeichnung „konfessionelles Zeitalter“ aufbrachte. Diese dient seit den 70er Jahren bis heute zusammen mit der Theorie der „Konfessionalisierung“ zur Kennzeichnung der Entwicklung ab 1540 als Forschungsparadigma. Erst mit dem Zeitalter der Ökumene und bis zu einem bestimmten Grad der Entkonfessionalisierung der Geschichtsbilder unter dem Druck der säkularen Geschichtswissenschaft hat sich die Begrifflichkeit neutralisiert. Wenn man die Reformation nicht aus der einen Perspektive als den Aufgang des Lichts des Evangeliums aus der Finsternis der mittelalterlichen Papstkirche betrachtet und aus der anderen Perspektive nicht als den Anschlag des Teufels auf die eine rechtmäßige Kirche, dann entsteht der Raum, sie als den entscheidenden Initiationsimpuls für den Prozess der Konfessionalisierung und damit einer inneren Pluralisierung des lateinischen Christentums zu begreifen. Bezogen auf die deutsche Geschichte bilden die Jahre von 1540 bis 1648 den Kernzeitraum für dieses „Zeitalter der Konfessionalisierung“. Der Prozess ist aber ein europäisches Phänomen mit differenzierten Ausgängen. In Italien, Portugal und Spanien konnte die Kirche den Prozess der Konfessionalisierung weitgehend verhindern. In den skandinavischen Ländern führte er zur vollständigen Protestantisierung und lutherischen Staatskirchen. In England, Frankreich, den Niederlanden, den habsburgisch-österreichischen Erblanden und Polen wurde das Verhältnis der Konfessionen häufig in blutigen Religionskriegen, die untrennbar mit politischen Machtinteressen verflochten waren, ausgekämpft. Es begann 1562 in Frankreich mit dem Blutbad von Vassy – einem Massaker an Hugenotten - und endete mit der Glorious Revolution in England 1688 und der Unterwerfung des katholischen Irlands durch die englische Krone 1692. 4. Zum Wesen der Reformation Ihrem äußerlichen Wesen nach ist die Reformation die Bündelung mehrerer spätmittelalterlicher Emanzipationsbewegungen die in ihr zusammenfließen, weil sie aus Luthers und wenig später auch Zwinglis Auftreten verstärkende Impulse für ihre eigene Dynamik gewinnen konnten. Das betrifft zum einen die Bemühungen vor allem der größeren Städte, sich von ihren Bischöfen als Stadtherren zu befreien, zum zweiten den Kampf der Bauern um materielle und soziale Rechte gegenüber ihren Grundherren und zum dritten den Kampf der sich herausbildenden Nationen, in Deutschland auch einzelner Territorien um mehr Unabhängigkeit gegenüber der römischen Universalkirche. Luthers ursprüngliche Handlungsintention hatte mit keiner dieser drei Ebenen zu tun. Er wurde allerdings sehr bald in diese Prozesse hineingezogen, da er ungewollt zum Hoffnungsträger verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen avancierte. Bereits seine große Reformschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ thematisiert 1520 mit ihrer Forderung nach einem Nationalkonzil das Verhältnis des Reichs und der Nation zur Universalkirche. Vier Jahre später musste er sich im Bauernkrieg mit einer Reihe von Schriften positionieren. Ursprünglich war es Luther aus seelsorgerlichen Erwägungen um Klarstellungen der Praxis des Ablasshandels gegangen. Er wollte seine Gemeindeglieder vor einem missbräuchlichen Umgang mit dem Ablass schützen, musste aber erkennen, dass seine Kirchenoberen den Ablasshandel auch in seinen vulgärsten Formen deckten und dass z. B. das Agieren eines Tetzel gewollt war. So nahm eine konfliktreiche Entwicklung ihren Lauf, die innerhalb von vier Jahren völlig eskalierte. Die Kurie machte Luther ab 1520 den Ketzerprozess und Luther erkannte im Papsttum das Wesen des Antichrist, der sich über die Heilige Schrift und über Gott stellt. Diese Vorstellung hat er nicht erfunden. Sie war dem Mittelalter geläufig, bekam aber durch seine Schriften eine irreversible öffentliche Wirkung. Die Kritik am Papsttum, so wie es in dieser Zeit agierte, ist die letzte Konsequenz des inneren Wesens der Reformation. Diesem inneren Wesen nach stellt die Reformation einen radikalen Reduktionsprozess dar. Luthers Rechtfertigungslehre mit ihrem vierfachen „Allein“ – allein die Schrift, in deren Mitte allein Christus zu finden ist, durch den allein die Gnade Gottes vermittelt wird, auf die sich allein der Glaube beziehen kann – ist die Basis dieses Prozesses und zugleich die erste grundlegende Reduktionsstufe. Vor der Autorität der Schrift wird die Lehrautorität der Kirche (Papst und Konzile) hinfällig. Mit der alleinigen Heilsmittlerschaft Christi reduziert sich die Zahl der heilsnotwendigen sieben Sakramente auf die zwei, die allein in unmittelbarem Zusammenhang mit Christus stehen: Taufe und Abendmahl. Mit der Alleinwirksamkeit des auf die Gnade bezogenen Glaubens fällt ein Großteil der oben beschriebenen mittelalterlichen Glaubenspraktiken als Werkgerechtigkeit zur Heilserlangung weg. Gute Werke aus Glaube und Gnade sind jetzt nicht mehr Voraussetzung sondern Folge des Heils. Die gebündelte Wirkung aller vier Allein-Postulate schließlich bedeutet die Abschaffung des Klerikerstandes. Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen tritt an die Stelle des Priestertums als geweihte Kaste. Die Kirche tritt den Gläubigen nicht mehr als Heilsanstalt gegenüber sondern konstituiert sich aus diesen als von Christus geleiteter „Gemeinschaft der Heiligen“ selbst. Das verändert das Wesen des Gottesdienstes, in dem nun nicht mehr die heilvermittelnde Kirche vor Gott das Messopfer darbringt sondern die Gemeinde ihren Glauben artikuliert. Bei alldem ist zu beachten, dass die Reformatoren sich ausdrücklich nicht als Neuerer oder Modernisierer verstanden. Es war geradezu ein ideologischer Grundsatz des Mittelalters, dass Neuerungen gefährlich seien. 1402 hielt der Kanzler der Pariser Universität Johannes Gerson eine Festrede vor Studenten, in der er sie vor Neugier über die Erkenntnisse der Heiligen Schrift hinaus warnte! Exakt so reagierte Luther als er 1539 mit der These des Kopernikus bekannt wurde, die Erde bewege sich um die Sonne. Er unterstellt in einer Tischrede, Kopernikus gehöre zu den Leuten, die ihre Klugheit demonstrieren wollten, indem sie sich nichts gefallen lassen, was schon vorhanden ist, sondern sich etwas Eigenes, also Neues machen müssten. Er Luther glaube der Heiligen Schrift und da habe Josua (Jos 10,12) nun einmal der Sonne befohlen, still zu stehen und nicht der Erde. Folglich konnte Kopernikus nicht Recht haben. „Reformatio“ bedeutet wörtlich „Wiederherstellung“ und so war es gemeint. Es ging Luther und seinen Mitstreitern um die Wiederherstellung des ursprünglichen schriftgemäßen Glaubens und der ursprünglichen Gestalt der Kirche, die nach ihren Begriffen schon vom Frühen Mittelalter an deformiert worden waren. Dabei griff man aus der Tradition alles auf, was die eigene Theologie belegen konnte. Die lutherischen Bekenntnisschriften benutzen massiv Kirchenväterbezüge, um ihre Anbindung an die alte gute Kirche zu demonstrieren. Allerdings kam es doch zu Neuerungen. Die wesentlichste ist die, dass Luther die Reihenfolge der Schriften des Neuen Testaments umstellt, weil er sie nach der Intensität ihres Christusbezugs hierarchisiert. Paulus ist der Kronzeuge und sein Römerbrief das Nadelöhr reformatorischer Theologie. Augustinus als bedeutendster Rezipient des Apostels wird mit seiner Anthropologie zum Vater des lutherischen Menschenbilds vom Gerechten und Sünder zugleich. In ihrer Quellenorientierung ist die Reformation eine Schwester des Humanismus mit seinem „Ad fontes“ – Prinzip. Zurück zu den originalsprachlichen Quellen – das waren in diesem Fall die hebräischen und griechischen Schriften Alten und Neuen Testaments mit Paulus an der Spitze. Trotz der gewaltigen Umwälzungen in ihrem Gefolge, darf man sich die Reformation im Sinne Luthers schließlich nicht als bruchartiges Ereignis oder radikalen Schnitt vorstellen. Sie erfolgte fließend und es bedurfte jahrzehntelanger Visitationen bis auf dem alten Grund und teilweise mit dem alten Personal neue evangelische Landeskirchen organisiert und aufgebaut waren. Natürlich gab es auch radikale Maßnahmen wie in Zürich 1523 oder Nürnberg 1524, wo nach öffentlicher Disputation zur abschließenden Klärung aller Fragen die Geistlichen, die altgläubig bleiben wollten und sich Reformen verweigerten, ausgewiesen wurden. Das war eine Vorgehensweise, die Luther möglich schien, weil ihr eine Entscheidung der Gemeinde zugrunde lag. Was er ablehnte, war die Anwendung von Gewalt, wie sie in Bilderstürmen oder im Bauernkrieg erfolgte, weil man mit zerstörerischen und mörderischen Werken die Sache des Evangeliums nicht betreiben kann und im Zweifelsfall eher selbst zum Martyrium bereit sein sollte. Er hat sich auch 1525 nicht vorbehaltlos auf die Seite der Fürsten gestellt, sondern ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass die aufrührerischen Bauern Gottes Strafe für ihr gottloses Handeln seien. Von der Notwendigkeit eines militärischen Bündnisses der Protestanten, verwirklicht im Schmalkaldischen Bund von 1531, musste Luther mühsam überzeugt werden, denn es war gegen seine Grundsätze. Er hat dann allerdings dem Landesherrn das Recht zugestanden, den Glauben seiner Untertanen zu beschützen und sei es auch gegen den Kaiser. Denn auch der den rechten Glauben bedrohende Kaiser war ein Werkzeug des Antichrist. Luther hatte auch einen kritischen Blick dafür, dass die Wettiner und andere Fürsten die Reformation nutzten, um ihre Machtinteressen durchzusetzen, besonders durch die Einziehung von Bistümern. So große seine moralische Autorität im evangelischen Lager auch war, hatte er hier keine Chancen realer Einflussnahme. Fließend waren ebenfalls die Übergänge in der Frömmigkeitspraxis. So hat Luthers Wirken zwar zum großflächigen Zusammenbruch des monastischen Lebens im Norden und Osten des Reichs geführt aber die monastische Spiritualiät, von der er ja selbst geprägt war, gehört zum Erbgut der Reformation (Dorothea Wendebourg: Der gewesene Mönch Martin Luther. Sein Erbe für die evangelische Kierche heute, 2005). Die Verinnerlichung und Radikalisierung des Glaubens, wie er im Kloster gelebt worden war – das ganze Leben soll eine Buße sein (erste der 95 Thesen) – wurde jetzt in die Spiritualität des evangelischen Familienlebens transponiert. Dieses Leben sollte täglich mit einer Andacht beginnen und schließen und seinen Ausdruck vor allem im Psalmengebet und Liedern finden. Das war auch das Grundgerüst des klösterlichen Stundengebets und der Familienvater ist seiner Hausgemeinde eine Art Abt – geistlicher Vater. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wandlung des Begriffs „Beruf“. Mit seiner Übersetzung von 1 Kor 7,20 führt Luther das Wort „Beruf“ in die Alltagssprache ein: „Ein jglicher bleibe jnn dem ruff / darinnen er beruffen ist.“ (1534). In seiner Fundamentalkritik am Mönchtum entreißt er diesem das Monopol einer göttlichen Berufung und heiligt zugleich die alltägliche Daseinsbewältigung aller Menschen. Jede dieser der Daseinsbewältigung dienende Tätigkeit wird jetzt reflektiert als je persönliche Beauftragung, Berufung durch Gott. Im Ergebnis ist die Arbeit jeder Dienstmagd in ihrem Beruf nun genauso viel wert wie die Arbeit des Kaisers in seinem Beruf. Es kommt zur Ausprägung einer protestantischen Pflicht- und Berufsethik (Predigt Luthers zur Einweihung der Schlosskirche in Torgau 1544).