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Universität Duisburg-Essen

2023

Prof. Dr. Wolfgang Hamann

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economics law private law economics lecture notes

Summary

This document is a lecture script for the subject "Rechtswissenschaft für Ökonomen" (law for economists). The script covers various topics including the structure of the course, relevant materials, the examination, the subject matter and meaning of economic private law (WPR), legal entities (legal subjects) and legal objects. The author, Prof. Dr. Wolfgang Hamann, is from Univers. Duisburg-Essen. The course is for the winter semester 2022/2023.

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1 Skript zur Vorlesung Rechtswissenschaft für Ökonomen Prof. Dr. Wolfgang Hamann Bitte beachten Sie unbedingt folgende Hinweise: Bilder und Texte der Veranstaltungsfolien und -unterlagen sowie das ge- sprochene Wort...

1 Skript zur Vorlesung Rechtswissenschaft für Ökonomen Prof. Dr. Wolfgang Hamann Bitte beachten Sie unbedingt folgende Hinweise: Bilder und Texte der Veranstaltungsfolien und -unterlagen sowie das ge- sprochene Wort innerhalb der Veranstaltung und Lehr-Lern-Videos dienen allein dem Selbst- bzw. Gruppenstudium. Jede weiterführende Nutzung ist den Teilnehmenden der Moodle-Kurse untersagt, z.B. Verbreitung an an- dere Studierende, in sozialen Netzwerken, dem Internet! Darüber hinaus ist ein studentischer Mitschnitt von Webkonferenzen im Rahmen der Lehre nicht erlaubt. - Bei Verstößen muss mit Ahndung, in schweren Fällen bis hin zur Exmatrikulation gerechnet werden! Gendererklärung: Im Interesse der besseren Lesbarkeit wird allein die männliche Geschlechts- form als generisches Maskulinum verwendet. Erfasst sind jeweils auch das weibliche und das diverse Geschlecht. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 2 Einige Worte vorab …. Aufbau der VO Das Modul umfasst 4 Semesterwochenstunden (SWS) [3 SWS Vorlesung + 1 SWS integrierte Übung]. Zusätzlich wird eine freiwillige Übung angeboten, in der insbesondere die Falllö- sungstechnik, die Studierende erfahrungsgemäß vor Probleme stellt, eingeübt wird. Dazu gibt es drei Übungsgruppen. Informieren Sie sich über die Zeiten auf der Home- page des Lehrstuhls. Arbeitsmaterialien Sie benötigen unbedingt die Gesetzestextausgabe „Aktuelle Wirtschaftsgesetze“, Aus- gabe 2022. Die in dieser Lehrveranstaltung gezeigten Übersichten werden in einen elektroni- schen Semesterapparat der Universitätsbibliothek eingestellt (Nr. 675). Zugang erhal- ten Sie über ein Passwort. Außerdem stelle ich vorlesungsbegleitend ein Vorlesungsmanuskript zur Verfügung, das nach jeder Lehrveranstaltung in den SemApp eingestellt und so fortlaufend ergänzt wird. Weitere Literaturhinweise finden Sie auf der Übersicht 1. Prüfungsklausur Die Prüfungsklausur besteht aus zwei Teilen: - Falllösung im Gutachtenstil (60%) + - 10 Fragen zum Vorlesungsstoff (40%). Zugelassen während der Klausurprüfung sind ausschließlich unkommentierte Geset- zestexte. Zugelassen sind nur Unterstreichungen oder farbliche Markierungen, also keine Wörter, Buchstaben, Zahlen oder sonstige Zeichen, keine eingeklebten Post-Its! Näheres dazu finden Sie auf meiner Homepage. Wer sich an diese Regel nicht hält, begeht einen Täuschungsversuch und ist durchgefallen! ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 3 §1 Gegenstand und Bedeutung des Wirtschaftsprivatrechts S.3-5 Zunächst ein Überblick über unser Rechtssystem. Unsere Volkswirtschaft funktioniert nicht einfach so, sondern sie spielt sich im Rahmen der in Deutschland geltenden Wirtschaftsverfassung ab: Þ Gesamtheit aller Rechtsnormen, die das Funktionieren der Volkswirt- schaft regeln. Bestandteil dieser Wirtschaftsverfassung ist das Wirtschaftsrecht. Das Wirtschafts- recht enthält die verbindlichen Regeln und Rahmenbedingungen, die von allen Akteu- ren der Wirtschaft beachtet werden müssen. Auch im Wirtschaftsrecht unterscheidet man – wie allgemein – zwischen Privat- oder Zivilrecht (lat.: „ius civilis“) und Öffentlichem Recht. Öffentliches Recht Þ derjenige Teil der Rechtsordnung, der die Beziehungen von Staaten un- tereinander, die Organisation des Staates sowie das Verhältnis zwischen Staat und Bürger regelt. Öffentliches Recht umfasst insbesondere: Völker- und Europarecht (Verhältnis der Staaten untereinander) Verfassungsrecht - Staatsorganisationsrecht (Staatsorgane, Gesetzgebung, Gerichtsbarkei- ten, Finanzverfassung) - Grundfreiheiten der Bürger im Verhältnis zum Staat (Grundrechte) Verwaltungsrecht (Steuerung von Abläufen der Verwaltung) Strafrecht (staatliches Strafmonopol). Soweit das Verhältnis Bürger - Staat betroffen ist, ist ein Über-/Unterordnungsver- hältnis kennzeichnend (Subordinationsverhältnis). Beispiele: Steuerbescheid, Bußgeldbescheid, Bescheid über Anrechnung/Nichtanrech- nung anderweitig erbrachter Prüfungsleistungen durch den Prüfungsaus- schuss. Privatrecht Þ derjenige Teil der Rechtsordnung, der die Rechtsbeziehungen der Ein- zelnen zueinander regelt, und zwar auf der Basis von Gleichordnung. Das Privatrecht umfasst insbesondere Bürgerliche Recht nach dem BGB sonstiges Privatrecht außerhalb des BGB; für das Wirtschaftsprivatrecht rele- vant sind insbesondere: - Handelsrecht ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 4 - Gesellschaftsrecht. Ferner: - Arbeitsrecht - Vertriebs- und Wettbewerbsrecht - Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht - Insolvenzrecht - IT-Recht. Zu all diesen Bereichen bietet der Lehrstuhl Wahlpflichtmodule im Vertiefungsbereich an (à Übersicht 3). Gegenstand des Moduls ReWiÖk ist allein das Wirtschaftsprivatrecht (WPR), also der wirtschaftsrechtlich relevanten Teil des Privatrechts. Beispiel: Die Kommilitonen A und B wollen nach bestandener BA-Prüfung ein Unterneh- men für den Vertrieb und Service von Computerhard- und -software gründen. A und B müssen ein Ladenlokal mieten à Abschluss eines Mietvertrags, § 535 ff. BGB. Einkauf und Verkauf von Ware à Kaufrecht, §§ 433 ff. BGB. Da sie nicht nur Computer- und Zubehör verkaufen sondern auch Software für ihre Kunden bedarfsgerecht entwickeln und einrichten wollen à Werkvertrag, §§ 633 ff. BGB. A und B verfügen nach ihrem Studium über keine ausreichenden liquiden Mittel, um das alles zu finanzieren. Sie benötigen einen Kredit. Geld gibt es bei Banken à Dar- lehensvertrag = Kredit à §§ 488 ff. BGB. A und B betreiben aber nicht nur öff.-rechtl. Sinn ein Gewerbe, sondern auch zivilrecht- lich, nämlich ein Handelsgewerbe. Sie sind Kaufleute i.S.d. Handeslrechts, für sie gilt das Kaufmannsrecht des HGB à Modul Handelsrecht. Da A und B gemeinsam aktiv werden wollen, benötigen sie eine entsprechende Orga- nisation, nämlich eine Gesellschaft (OHG, KG, GmbH oder eine UG haftungsbe- schränkt à Modul Gesellschaftsrecht. Außerdem sollen Mitarbeiter eingestellt werden à Module ArbR I, II. Des Weiteren müssen sie kräftig für ihr Unternehmen werben. Sie denken sich einen Werbeslogan aus, den sie als Marke rechtlich schützen lassen wollen à Markenrecht à Modul gewerblicher Rechtsschutz. Bestimmte Werbe- und Vertriebsmethoden sind unlauter und können daher von Wett- bewerbern gerichtlich unterbunden werden, z.B. eine herabsetzende vergleichende oder irreführende Werbung à UWG à Modul Vertrieb und Wettbewerb. Außerdem müssen sie sich bei der Entwicklung und Vermarktung der Software an das IT-Recht halten à Modul IT-Recht. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 5 Am Ende nützen alle Bemühungen nicht, A und B können die laufenden Kosten nicht mehr begleichen. Sie müssen Insolvenz anmelden à Modul Insolvenzrecht. à Wir sehen anhand dieses simplen Beispiels, wie vielschichtig Wirtschaftsrecht ist. Hinweis: (nur) als BWL-Studierende/er kann man einen Schwerpunkt im Bereich des Wirtschaftsrechts setzen à Profil Wirtschaftsrecht und sich das im Diploma Supple- ment bescheinigen lassen. Nähere Informationen finden Sie im Modulhandbuch (MHB). C. Bedeutung von Rechtskenntnissen für angehende Ökonomen Gleich in welchem Bereich Sie später einmal tätig sein werden, als Ökonom sollten Sie über ein gutes rechtliches Basiswissen verfügen. Satz: „Das macht mein Rechtsanwalt, Steuerberater etc.“ darf nicht dazu verleiten, auf Eigenkenntnis zu verzichten. Negative Folge: Man macht sich abhängig. Für Spezial- fragen benötigt man sicherlich Experten. Aber die Lenkungs- und Steuerungsfunk- tion darf man nicht aus der Hand geben, dann hat man als Unternehmer abgedankt! Außerdem: Eine kritische Begleitung von Beratern zahlt sich in der Qualität der Bera- tung aus! Ziel dieses Moduls ist es nicht, Sie zu Juristen auszubilden. Aber Sie sollen sensibili- siert werden für rechtlich relevante Problemlagen. Sie sollen in die Lage versetzt wer- den, rechtliche Fragestellungen bei Wirtschaftsvorgängen zu erkennen und struktu- riert, also zielorientiert anzugehen. Denn: Wer weiß, dass er sich in eine rechtlich nicht eindeutige Situation begibt, hat viel gewonnen. Man kann vorab eine Klärung herbei- führen und dadurch viel Geld sparen. Den Inhalt der Lehrveranstaltung ersehen aus der Übersicht 4 „Gliederung“. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 6 §2 Rechtssubjekte und Rechtsobjekte S.5-20 A. Rechtssubjekte à Übersicht 5 „Rechtssubjekte“ Zunächst einmal wollen wir uns klar machen, mit welchen Akteuren wir es im WPR zu tun haben. Diese Akteure nennt man Rechtssubjekte. I. Begriff Rechtssubjekte = Träger von Rechten und Pflichten. II. Einzelne Rechtssubjekte (Überblick) 1. Natürliche Personen Natürliche Personen sind Menschen; Tiere genießen einen Sonderstatus à § 90a BGB. 2. Juristische Personen Jur. Pers. sind Gedankengebilde, die nicht real, wohl aber rechtlich existieren. Als bloße Gedankengebilde können sie nicht selbst handeln. Beispiele: Jur. Pers. des Privatrechts: Gesellschaften wie GmbH, AG, ferner der rechtsfähige Verein (e.V., §§ 21 ff., 55 ff. BGB), die rechtsfähige Stiftung (§§ 80 ff. BGB), die eingetragene Genossen- schaft. Juristische Personen des öff. Rechts: Körperschaften (Bund, Länder, Städte; auch die Universität), Anstalten (Bunde- sagentur für Arbeit), Stiftungen (Stiftung preußischer Kulturbesitz). 3. Nichtrechtsfähige Personenverbände Sie sind weder natürliche noch juristische Personen. Es handelt sich um Zusammen- schlüsse von Rechtssubjekten - also natürlichen und/oder juristischen - Personen, die – im Unterschied zu natürlichen und juristischen Personen - keine eigene Rechtsper- sönlichkeit haben. Beispiele: - nicht rechtsfähiger Verein (§ 54 BGB) - Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB - Personenhandelsgesellschaften des HGB: OHG (§§ 105 ff. HGB) und KG (§§ 161 ff. HGB) - Partnerschaftsgesellschaft nach dem PartnerschaftsgesellschaftsG für Freibe- rufler (vgl. § 2 Abs. 1 PartGG). ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 7 III. Natürliche Personen à Übersicht 6 „Natürliche Personen“ Wir wollen uns einmal genauer mit den natürlichen Personen beschäftigen. Menschen zeichnen sich durch drei Grundeigenschaften aus: Rechtsfähigkeit Handlungsfähigkeit Geschäftsfähigkeit a) Rechtsfähigkeit Þ Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten sein zu können. Beispiel: Witwe W möchte ihrem geliebten Pudel „Prinz“ testamentarisch ihr gesamtes Ver- mögen hinterlassen. Geht das? Erbe kann nur eine Person werden, aber kein - noch so intelligentes - Tier; ein Tier ist nur eine besondere Art von Sache (§ 90a BGB). Setzt W gleichwohl Prinz als testa- mentarischen Erben ein, ist das Testament ungültig. Die Rechtsfähigkeit eines Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt (= Durch- trennen der Nabelschnur), § 1 BGB. Also: Jeder Mensch, egal wie alt, egal ob körperlich oder geistig normal entwickelt oder schwerstbehindert, ist rechtsfähig. Die Rechtsfähigkeit knüpft unmittelbar an die menschliche Existenz an. Erbfähig ist man schon früher (§ 1923 Abs. 2 BGB): Wer im Zeitpunkt des Erbfalls (= Tod des Erblassers) bereits gezeugt ist (= Einnisten des Spermiums in der weiblichen Eizelle à nasciturus), gilt als erbfähig und erbt, wenn er denn lebend geboren wird. Die Rechtsfähigkeit endet mit dem Tod; das ist der Hirntod. b) Handlungsfähigkeit Þ Fähigkeit, sein Verhalten bewusst zu steuern und nicht nur instinktiv oder reflexartig zu reagieren wie Pflanzen. Bei Tieren weiß man noch nicht so genau, ob und inwieweit ein Bewusstsein ausge- bildet ist. c) Geschäftsfähigkeit Þ Fähigkeit, selbst rechtlich wirksam handeln zu können, insbesondere Willenserklärungen (= Baustein der Rechtsgeschäftslehre) abgeben zu können. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 8 Willenserklärungen (WiE) = Mittel zur Gestaltung der Rechtslage. Mittels WiE kom- men insbesondere Verträge zustande und werden Verträge beendet (z.B. durch Kün- digung); man erwirbt oder veräußert Eigentum an beweglichen oder unbeweglichen Sachen und man erwirbt Forderungen oder tritt sie ab. Im Unterschied zur Rechtsfähigkeit ist nicht jeder Mensch geschäftsfähig. Das Ge- setz unterscheidet in den §§ 104 ff. BGB folgende Fälle: à Übersicht 7 „Geschäftsfähigkeit“ aa) Grundregel: Unterscheidung nach Alter (1) Geschäftsunfähige (§ 104 BGB) = Minderjährige, die das 7. Lebensjahr nicht vollendet haben (Nr. 1), also höchstens 6 Jahre alt sind. (2) Beschränkt Geschäftsfähige (§ 106 BGB) = Minderjährige, die das 7. Lebensjahr vollendet haben, aber noch nicht volljährig sind. Minderjährige sind alle Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben; beschränkte Geschäftsfähigkeit ist also eine Teilmenge der Minderjährigen. (3) Volljährige (§ 2 BGB) Volljährig ist man mit Vollendung des 18 Lebensjahres. bb) Sonderfälle (1) Dauerhaft Geisteskranke Unabhängig vom Alter: Menschen, die nicht nur vorübergehend, also dauerhaft geis- teskrank sind (Nr. 2). Beispiel: Der schizophrene 30-jährige A kauft während einer Phase geistiger Klarheit im Su- permarkt Waren zu einem Preis von 50 € ein. Der Kaufvertrag ist wirksam. A leidet zwar an einer dauerhaften Geisteskrankheit (Schizophrenie), aber er hat in einem „lichten Moment” (sog. „lucida intervalla”) rechts- geschäftlich gehandelt und befand sich daher zum Zeitpunkt des Kaufvertragsab- schlusses nicht einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand. Merke: In „lichten Momenten” können also volljährige, aber an sich gem. § 104 Nr. 2 BGB geschäftsunfähige Personen, wirksam rechtsgeschäftliche Handlungen vorneh- men. Beispiel: ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 9 Student A ist volltrunken, weil er die Recht-Klausur bestanden hat. Er verteilt in diesem Zustand Geld an Passanten. Wirksam? Lösung: § 104 Nr. 2 BGB (-), da A nicht geisteskrank ist mit lichten Momenten. Ein- schlägig ist § 105 Abs. 2 BGB. Im Unterschied zu § 104 Nr. 2 BGB ist A in seinem Normalzustand geistig gesund; hier liegt nur eine ausnahmsweise vorübergehende Störung der Geistestätigkeit vor. Bei § 104 Nr. 2 BGB ist es genau umgekehrt. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 10 (2) Volljährige Geschäftsunfähige, § 105a BGB Wer nicht geschäftsunfähig (§ 104 BGB) oder beschränkt geschäftsfähig (§ 106 BGB) ist, ist geschäftsfähig, also jeder geistig gesunde Volljährige, § 2 BGB. Volljährige Geschäftsunfähige gelten als für bestimmte Geschäfte geschäftsfähig, falls Leistung und ggf. Gegenleistung bewirkt werden (partielle Geschäftsfähigkeit), § 105a S. 1 BGB. Zweck: Förderung der sozialen Integration erwachsener geistig behinderter Men- schen. Fall-Beispiel: Der dauernd geistig behinderte X findet einen 10 EUR-Schein, kauft sogleich am nächsten Kiosk eine Flasche Schnaps und bezahlt sie mit dem gefundenen Geld. Als er in die Psychiatrie zurückkehrt, will sein Betreuer das Geschäft rückgängig machen. Kann er vom Kioskinhaber Rückzahlung der 10 EUR gegen Rückgabe der Flasche Schnaps verlangen? Zwar gilt § 105a S. 1 BGB, aber hier liegt eine Rückausnahme nach § 105a S. 2 BGB vor. Der Kaufvertrag ist unwirksam. cc) Beschränkt Geschäftsfähige (§ 106 BGB) Þ Minderjährige, die das 7. Lebensjahr vollendet haben, aber noch nicht volljährig sind. Für das rechtsgeschäftliche Handeln Minderjähriger gilt: (1) Grundsatz Die Wirksamkeit von WiE hängt von der Einwilligung (= vorherige Zustimmung, § 107 BGB) bzw. der Genehmigung (= nachträgliche Zustimmung, § 108 Abs. 1 BGB) des gesetzlichen Vertreters, also iaR der Eltern, ab. Beispiel: Der 17-jährige K will im Computergeschäft des V ein Notebook für 250 EUR kaufen. Auf die Frage des V, ob die Eltern einverstanden seien, erklärt K wahrheitsgemäß, er habe sie noch nicht gefragt, aber die Zustimmung sei sicher. Als K auch noch eine Anzahlung von 25 EUR anbietet, ist V einverstanden. Als V nach zwei Wochen die Restzahlung immer noch nicht erhalten hat, fragt V, was er nun tun kann. – Hat V gegen K einen Anspruch auf Zahlung des Restkaufpreises? Lösung: Die WiE des K ist schwebend unwirksam wegen § 108 Abs. 1 BGB. § 108 Abs. 2 S. 1 1. HS BGB: V kann die Eltern des K zur Erklärung auffordern; erklä- ren sich die Eltern nicht innerhalb von 2 Wochen, gilt die Genehmigung als verweigert (§ 108 Abs. 2 S. 2 BGB). Der Kaufvertrag ist dann endgültig unwirksam. 1. Abwandlung: ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 11 Wie vor; als K mit dem Notebook nach Hause kommt, sind die Eltern entsetzt und fordern K auf, das Notebook zurückzubringen. K versteckt es jedoch in seinem Zimmer, um abzuwarten, bis sich die Eltern wieder beruhigt haben. Dann ruft V bei den Eltern des K an und fragt, wo das Geld bleibt. Da den Eltern die ganze Sache peinlich ist, erklären sie sich V gegenüber einverstanden. Ist der Kaufvertrag wirk- sam? Problem: Was gilt? Die frühere Zustimmungsverweigerung gegenüber K oder die spä- tere Genehmigung gegenüber V? Lösung: § 108 Abs. 2 S. 1 2. HS BGB: Der Kaufvertrag wirksam. 2. Abwandlung: Wie in der ersten Abwandlung, allerdings wird K noch während er das Notebook versteckt hält, 18 Jahre alt. Lösung: § 108 Abs. 3 BGB. Der Kaufvertrag wird aber nicht automatisch wirksam, sondern K muss noch die Genehmigung erklären. Die Genehmigung kann z.B. schlüssig durch Zahlung der Restsumme geschehen. Genehmigt K nicht, ist der Kaufvertrag endgültig unwirksam. (2) Sonderfälle beschränkt Geschäftsfähiger à Übersicht 8 „Sonderfälle“ (a) Lediglich rechtlicher Vorteil à § 107 BGB Beispiele: - Schenkung, auch wenn z.B. Hausgrundstück mit Hypothek belastet ist. - Erlass einer gegen den MiJä gerichteten Forderung. Der Erlass ist nach § 397 Abs. 1 BGB ein Vertrag. à Der MiJä muss nicht geschützt werden. Nicht mehr so eindeutig: Eltern übertragen ein Hausgrundstück an ihr noch minderjähriges Kind. Das Grundstück ist mit einem lebenslangen Wohnrecht zugunsten der Eltern (Nieß- brauch) belastet. Und weil man ja nie weiß, wie sich das Verhältnis entwickelt, hatten sich die Eltern für bestimmte Fälle auch noch ein Rücktrittsrecht vom Übertragungsvertrag vorbehalten. (1) Belastung mit dem Wohnrecht steht einem lediglich rechtlichen Vorteil nicht ent- gegen. (2) Trotz der sich bei Ausübung des Rücktrittsrechts ergebenden Rückgewährver- pflichtung des Kindes handelt es sich noch um ein lediglich rechtlich vorteilhaf- tes Geschäft. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 12 à Entscheidend ist, ob den Minderjährigen eine Haftung mit seinem persönlichen Ver- mögen treffen kann oder ob eventuelle Verpflichtungen allein den Schenkungsgegen- stand betreffen, ob also die Verpflichtung wertmäßig den Schenkungsgegenstand übersteigen kann. Merke: „lediglich rechtlich vorteilhaft“ ist ein Geschäft auch, wenn es wirtschaftlich neutral ist. Beispiel: Die Großeltern schenken dem Kind eine Eigentumswohnung. Lediglich rechtlich vorteilhaft? Nein; denn der MiJä wird automatisch Mitglied der Wohnungseigentümergemein- schaft; diese treffen laufende Verpflichtungen nach dem WEG; diese sind aus dem sonstigen Vermögen heraus zu erfüllen sind (z.B. Hausverwaltungskosten, Kosten für Instandhaltung und Instandsetzung). Diese Kosten können je nach Zustand der Wohn- anlage und über die Zeit betrachtet den Wert des Wohnungseigentums übersteigen. (b) „Taschengeldgeschäfte“, à § 110 BGB Beispiel: Wöchentlicher/monatlicher Geldbetrag von Eltern zur eigenen Verfügung; kann auch gespart werden, um dann größere Investition zu tätigen, z.B. um ein Fahrrad zu kaufen. Beim Abzahlungsgeschäft, wenn also die Raten fortlaufend mit Taschengeld bezahlt werden sollen besteht ein Genehmigungserfordernis; aber: der Vertrag wird rückwir- kend wirksam, sobald die letzte Rate gezahlt ist. Wichtig: Verpflichtung des MiJä (Zahlung des Kaufpreises) muss tatsächlich mit den ihm überlassenen Mitteln erfüllt werden („bewirkt“). Dass der MiJä zahlen könnte, reicht nicht. (c) Selbständiger Betrieb eines Erwerbsgeschäfts, § 112 Abs. 1 S. 1 BGB Da es sich i.d.R. um eine wirtschaftlich risikoreiche Tätigkeit handelt, reicht die Er- mächtigung durch die Eltern (= beschränkte Generalbevollmächtigung) allein nicht aus. Die Ermächtigung bedarf zusätzlich der Genehmigung des Familiengerichts. Ist das geschehen, darf der MiJä einzelne Geschäfte ohne zusätzliche Einwilli- gung/Genehmigung wirksam abschließen. Beispiel: Der Minderjähriger erhält von Eltern zum 16. Geburtstag einen Kiosk geschenkt, nachdem sich das Familiengericht einverstanden erklärt hat. Möglich sind: Kaufverträge mit Kunden und Lieferanten, eventuell die Einstellung von Personal. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 13 § 112 Abs. 1 BGB verschafft dem Minderjährigen partiell volle Geschäftsfähigkeit. Aus den Geschäften, die von § 112 Abs. 1 BGB erfasst werden, wird der Minderjährige in vollem Umfange berechtigt und verpflichtet. Hinweis: Bestimmte Geschäfte sind in § 112 Abs. 1 S. 2 BGB ausgenommen (z.B. Veräußerung des Erwerbsgeschäfts). (d) Dienst- oder Arbeitsverhältnis, § 113 Abs. 1 BGB = Pendant zu § 112 BGB, Minderjähriger als Arbeitnehmer; hier reicht die Ermächti- gung der Eltern; eine Genehmigung des FamG nicht erforderlich. Beispiele: Vertragsschluss, Kündigung, Aufhebungsvertrag, Lohnzahlungsklage, Kündi- gungsschutzklage. (e) Einseitige Rechtsgeschäfte, § 111 BGB Zusätzlich zu den behandelten Ausnahmefällen sind noch Sonderregeln für einseitige Rechtsgeschäfte (ReGe) zu beachten. Hier gibt es keine Genehmigungsmöglichkeit! Beispiele: Kündigung eines Vertrags, Anfechtung eines Kaufangebots, Aufrechnungserklä- rung. Grund: Einseitige ReGe gestalten die Rechtslage unmittelbar; hier ist dem Erklärungs- empfänger ein Schwebezustand nicht zumutbar. IV. Exkurs: Kaufleute, §§ 1 ff. HGB An dieser Stelle ein erster Exkurs in das Handelsrecht. Auch Kaufleute sind Rechts- subjekte, nämlich solche des Handelsrechts. à Übersicht 9 „Kaufmannsbegriff“ 1. Bedeutung der Kaufmannseigenschaft im Wirtschaftsprivatrecht Kaufleute können sowohl natürliche als auch juristische Personen als auch Personen- gesellschaften sein. Der Kaufmannsbegriff hat ganz erhebliche Bedeutung im Wirtschaftsprivatrecht. An die Kaufmannseigenschaft knüpfen eine ganze Reihe von Sondervorschriften nach dem Handelsgesetzbuch (HGB) an, die für BGB-Rechtssubjekte nicht gelten. Daher wird das HGB auch als „Sonderprivatrecht der Kaufleute“ bezeichnet. Grundgedanke des Kaufmannsrechts: schnelles Recht, Recht für „Profis“; Kaufleute müssen nicht wie BGB-Bürger geschützt werden. Beispiele: Nur der Kaufmann darf für sein Unternehmen eine Fa., also einen speziellen Han- delsnamen, führen; ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 14 nur ein Kaufmann darf Prokura erteilen (§§ 48 ff. HGB), eine über die BGB-Voll- macht (§ 164 Abs. 1 S. 1 BGB) hinausgehende umfassende Vertretungsmacht, § 49 Abs. 1 HGB; besondere Untersuchungs- und Rügepflichten beim beiderseitigen Handelskauf; kommt der Kaufmann diesen nicht nach, gelten Mängel der Kaufsache als geneh- migt (§ 377 HGB); Formfreiheit von Bürgschaftserklärungen, Schuldversprechen und Schuldaner- kenntnissen (§ 350 HGB) im Unterschied zu §§ 766, 780, 781 BGB. 2. Kaufmannsbegriff a) Natürliche Personen = jeder Einzelgewerbetreibende, § 1 Abs. 1 HGB. aa) Istkaufmann, § 1 HGB Wichtig: Kaufmann ist jeder Gewerbetreibende (= Istkaufmann), § 1 Abs. 1 HGB. Zum Gewerbebegriff: à Übersicht 10 „Gewerbe“ (1) Nach außen gerichtete Tätigkeit Reine Ideen oder Planungen reichen nicht. (2) Auf Dauer angelegte Tätigkeit Die Tätigkeit muss auf Dauer angelegt sein. Zwar ist nicht erforderlich, dass die Tätig- keit bereits über längere Zeit tatsächlich ausgeübt wurde. Man stellt hier auf die Ab- sicht des Gewerbetreibenden ab. Beispiel: Nicht genügend ist, dass jemand seinen Keller entrümpeln will und zu diesem Zweck den Plunder einmalig auf einem Trödelmarkt anbietet. (3) Erlaubte Tätigkeit In der Rechtslehre ist umstritten, ob die Tätigkeit erlaubt sein muss. Beispiel: Der arbeitslose A beschließt, seinen Lebensunterhalt zukünftig mit Hehlerei und Ladendiebstählen aufzubessern. 1. Ansicht: (-); derartige Handlungsweisen sollen nicht die Billigung des Rechts finden. 2. Ansicht: (+); für die Beantwortung der Frage, ob eine Tätigkeit gewerbsmäßig be- trieben werde oder nicht, spielt es keine Rolle, ob die Tätigkeit moralisch gut oder schlecht ist. Dieser jur. Meinungsstreit ist nur von theoretischer Bedeutung. In der Praxis ist es kaum denkbar, dass beispielsweise ein Drogenhändler sich mit der Begründung, er betreibe ein Handelsgewerbe nach § 1 HGB, um eine Eintragung in das Handelsregis- ter bemüht. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 15 bb) Kannkaufmann, § 2 HGB Kleingewerbetreibende (à § 1 Abs. 2 HGB) sind von der zwingenden Zuordnung zur Kaufmannschaft ausgenommen. Denn sie sind häufig nicht geschäftserfahren, so dass das Kaufmannsrecht auf sie nicht passt. Sie haben aber die Möglichkeit, durch freiwillige Eintragung einer Firma (Fa.) in das Handelsregister (HaReg) Kaufmannsstatus zu erreichen à § 2 HGB („opt in“). Die Eintragung wirkt in diesem Fall konstitutiv. Die Kaufmannseigenschaft wird erst mit der Eintragung im Handelsregister begründet. Beispiel: A betreibt allein einen kleinen Kiosk. Dagegen wirkt die Eintragung im HaReg bei Istkaufleuten nur deklaratorisch. Denn diese sind bereits kraft Betreibens eines vollkaufmännischen Handelsgewerbes Kauf- leute, eben Ist-Kaufleute. Obwohl die Eintragung beim Istkaufmann nur deklaratorisch wirkt, ist er verpflichtet, die Eintragung in das HaReg herbeizuführen (§ 29 1. HS HGB). Unterlässt er dies, kann ihn das Registergericht dazu zwingen, notfalls mit Verhängung von Zwangsgeld. Exkurs: Handelsregister, §§ 8 ff. HGB Das HaReg ist ein öffentliches Register, das bei den Amtsgerichten geführt wird, und zwar elektronisch (§ 8 Abs. 1 HGB). Jedermann kann Einsicht nehmen (§ 9 HGB). Eingetragen werden die Fa. (§ 29 1. HS HGB) und der Sitz des Unternehmens. Exkurs: Firma, §§ 17 ff. HGB Die Fa. ist der (Handels-)Name des Kaufmanns, § 17 Abs. 1 HGB. Wichtig: Der Kleingewerbetreibende kann einen Löschungsantrag stellen. Mit der Löschung der Firma verliert er seine Kaufmannseigenschaft wieder. Eine Ausnahme gilt, wenn sein Unternehmen gewachsen ist und einen nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert. Dann ist aus dem Kann- ein Istkaufmann geworden. cc) Land- und forstwirtschaftliche Betriebe, § 3 HGB Ähnliches gilt für Land- und forstwirtschaftliche Betriebe, die traditionell eine Sonder- stellung einnehmen = Unterfall des Kannkaufmanns, § 3 Abs. 1 HGB. Unterschied zu § 2 HGB: - Sie erlangen Kaufmannseigenschaft unabhängig von der Betriebsgröße erst mit Eintragung in das HaReg, denn § 1 HGB findet ja gem. § 3 Abs. 1 HGB keine Anwendung. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 16 - Die Eintragung ist stets fakultativ, also im Unterschied zu den Ist-Kaufleuten stets freiwillig, § 3 Abs. 2 HGB; die Eintragung wirkt also immer konstitutiv. Die Löschung ist allerdings nur den allgemeinen Voraussetzungen möglich, § 3 Abs. 2 HGB, also nur falls ein Kleinbetrieb besteht oder der Betrieb eingestellt wird. b) Handelsgesellschaften, § 6 Abs. 1 HGB = Personengesellschaften des Handelsrechts (OHG, KG); sie gelten ebenfalls kraft Gesetzes als Kaufleute, § 6 Abs. 1 HGB. Voraussetzung: Betrieb eines Handelsgewerbes; (-) bei „freien Berufen“, also Gemein- schaftsarztpraxis, Rechtsanwaltskanzlei, Steuerberatersozietät usw. Hinweis: § 1 Abs. 2 PartGG enthält eine Aufzählung der freien Berufe. c) Juristische Personen, § 6 Abs. 2 HGB Vor allem GmbH, AG; sie sind kraft Rechtsform Kaufmann, sog. Formkaufleute, und zwar unabhängig vom Unternehmensgegenstand. Beispiele: - Eine gemeinnützige Unternehmung, z.B. eine Werkstatt für Behinderte, wird in Form einer GmbH betrieben. Es wird kein Gewerbe ausgeübt, gleichwohl gilt für die GmbH zwingend Kaufmannsrecht. - Eine Steuerberatersozietät betreibt ihren freien Beruf als GmbH. d) Kaufmann kraft Eintragung, sog. „Fiktivkaufmann“, § 5 HGB Fraglich ist, ob es für den Fiktivkaufmann überhaupt noch einen Anwendungsfall gibt. Da jeder Gewerbetreibende, der im HaReg eingetragen ist, bereits gem. § 2 HGB Kaufmann ist und sein Gewerbe deshalb als Handelsgewerbe gilt, bedarf es keiner zusätzlichen Fiktion des Betreibens eines Handelsgewerbes mehr. Die Fiktion des § 5 HGB ist überflüssig. e) Scheinkaufmann Gesetzlich nicht geregelt; erfasst zwei Fallgestaltungen: Jemand tritt nur wie ein Kaufmann auf, (1) obwohl er nur ein Kleingewerbe betreibt und keine Fa. eingetragen ist, (2) obwohl er nicht einmal ein Gewerbe betreibt Beispiel: Auftreten als Kaufmann unter einer Fa. auf dem Trödelmarkt, obwohl es sich um eine einmalige Entrümpelungsaktion handelt. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 17 Hier fehlt es an einer auf Dauer angelegten Tätigkeit, so dass kein Gewerbe betrieben wird. Der als Kaufmann Auftretende muss sich gegenüber seinen Kunden aber so be- handeln lassen, als wäre er Kaufmann à Schutz des Geschäftsverkehrs. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 18 B. Rechtsobjekte I. Begriff und Überblick à Übersicht 11 „Rechtsobjekte“ Þ Gegenstände (Objekte) des Rechtsverkehrs ohne eigene Rechtssub- jektsqualität; = jeder Gegenstand, auf das sich die rechtliche Herrschafts- macht eines Rechtssubjekts erstrecken kann. II. Sachen, §§ 90 ff. BGB Bei Sachen gibt es verschiedene Klassifizierungen, die in bestimmten Konstellationen rechtlich bedeutsam sein können: à Übersicht 12 „Sachen“ 1. Bewegliche Sachen (Mobilien) - unbewegliche Sachen (Immobilien) Bei den beweglichen Sachen unterscheidet man: 2. Vertretbare - unvertretbare Sachen, § 91 BGB Beispiele für vertretbare Sachen: Kartoffeln, Eier, Mehl, Dachziegel etc. Beispiele für unvertretbare Sachen: Originalgemälde, maßgeschneiderter Anzug à Unikate. 3. Verbrauchbare - nicht verbrauchbare Sachen, § 92 BGB Verbrauchbare Sachen sind bewegliche Sachen, deren bestimmungsgemäßer Ge- brauch der Verbrauch oder die Veräußerung ist Beispiel für Variante „Verbrauch“: Nahrungsmittel, Benzin. Beispiel für Variante „Veräußerung“: Warenlager eines Kaufmanns, § 92 Abs. 2 BGB. Nicht verbrauchbare Sache sind weder zum Verbrauch noch zur Veräußerung be- stimmt. Beispiel: Private Münz- oder Briefmarkensammlung; Auto. 4. Bestandteile, §§ 93 ff. BGB Unterscheidung in wesentliche Bestandteile – nicht wesentliche Bestandteile, §§ 93 ff. BGB. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 19 Wichtig: wesentliche Bestandteile sind nicht sonderrechtsfähig, sondern teilen das Schicksal der Hauptsache, à § 93 BGB. Beispiele: Wesentliche Bestandteile eines Grundstücks sind etwa die Gebäude, § 94 Abs. 1 S. 1 BGB; man „kauft“ also im Rechtssinne kein Haus, sondern das mit einem Haus bebaute Grundstück. Das Haus als solches kann nicht verkauft werden. Es ist kein eigenständiges Rechtsobjekt. Wer ein Hausgrundstück erwirbt, der wird auch Eigentümer der Heizungsanlage, vgl. § 94 Abs. 2 BGB. Wer einen bestellten Acker erwirbt, der erwirbt zugleich das Eigentum an dem in den Ackerboden eingebrachten Saatgut (§ 94 Abs.1 S. 2 BGB) oder die auf einer Wiesengrundstück befindlichen Obstbäume. 5. Zubehör, §§ 97, 98 BGB Zubehör ist kein Bestandteil, sondern es besteht lediglich räumlicher Bezug; § 98 BGB enthält Konkretisierungen. Beispiele: Auslieferungsfahrzeug einer Wäscherei. Der Motor eines Autos ist kein wesentlicher Bestandteil i.S.v. § 93 BGB, sondern nur Zubehör, da Motoren austauschbar sind. 6. Früchte/Nutzungen, §§ 99, 100 BGB Darüber hinaus regelt das BGB in den §§ 99 ff. BGB die Begriffe Früchte und Nutzun- gen einer Sache. Früchte i.e.S. (§ 99 BGB) = Erzeugnisse der Sache selbst Beispiel: Obst eine Frucht des Obstbaums; Getreide aus dem eingebrachten Saatgut; Milch der Kuh. Nutzungen werden aus dem Gebrauch der Sache gewonnen, § 100 BGB Beispiel: Miete aus Vermietung eines Autos; Darlehenszinsen aus der Zurverfügungstellung von Geld. III. Rechte Rechtsobjekte, also Gegenstände des Rechtsverkehrs, sind ferner Rechte. Man unterscheidet: absolute Rechte und relative Rechte. 1. Absolute Rechte ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 20 à Sie wirken gegenüber jedermann. Beispiele: - Eigentum = rechtliche Herrschaftsmacht einer Person über eine Sache à § 903 S. 1 BGB; - Besitz = tatsächliche Herrschaftsmacht einer Person über eine Sache à § 854 Abs. 1 BGB; - Immaterialgüterrechte: Namensrecht, § 12 BGB, Patentrechte (PatG), Urheber- rechte (UrhG). Fallbeispiel: - Skizze - Dem A wird das gerade erworbene Fahrrad von D gestohlen; er kann von D Her- ausgabe verlangen aufgrund seines Eigentumsrechts à § 985 BGB = sog. dingli- cher Herausgabeanspruch, da er unmittelbar aus dem dinglichen Eigentumsrecht folgt. 2. Relative Rechte = Sie wirken nur zwischen bestimmten Personen, also nicht gegenüber jedermann. Hauptfall: Beziehungen zwischen den Vertragspartnern. Fallbeispiel: E leiht sich von A ein Buch. A hat gegen E einen Herausgabeanspruch aus dem Leihvertrag (= unentgeltliche Gebrauchsüberlassung) gem. § 604 Abs. 1 BGB. Die- ser Herausgabeanspruch besteht aber nur zwischen A und E aufgrund des Leihver- trags, § 598 BGB. Wichtig: Daneben besteht der dingliche Herausgabeanspruch des A gegen den E aus Eigentum gem. § 985 BGB = Anspruchsgrundlagenkonkurrenz! Þ Anspruchsgrundlagenkonkurrenz liegt vor, wenn ein und dasselbe Be- gehren (Anspruch) auf zwei verschiedene Rechtsgrundlagen gestützt werden kann. IV. Tiere, § 90a BGB Tiere sind Sachen sui generis (= eigener Art). Beispiel: Tiere, die im häuslichen Bereich und nicht zu Erwerbszwecken gehalten werden, sind unpfändbar. V. Sonstige Gegenstände Z.B. elektrische Energie. Literatur: Petersen, Personen und Sachen, JURA 2007, S, 763 – 766 ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 21 §3 Rechtsgeschäfte S.21-70 à Übersicht 13 „Rechtsgeschäft – Willenserklärung- Schuldverhältnis“ Rechtsgeschäft (ReGe) ist der Oberbegriff. ReGe können sein: - einzelne Willenerklärungen (WiE) oder - Kombinationen von WiE, insbesondere Verträge. 1) Verträge bestehen i.a.R. aus 2 WiE, die nennt man Angebot und Annahme (vgl. §§ 145, 146 BGB); daher ist ein Vertrag ein zweiseitiges ReGe. Merke: Þ Die WiE ist notwendiger Bestandteil eines jeden ReGe; es gibt kein ReGe ohne WiE. 2) Es gibt auch mehrseitige ReGe; das sind ReGe, die aus mehr als 2 WiE bestehen. Beispiel: Gesellschaftsvertrag zwischen 2 + n Gesellschaftern. 3) Z.T. sind WiE und ReGe identisch; da sie nur aus einer WiE bestehen, nennt man sie einseitige ReGe. Beispiele: Kündigung, Testament, Auslobung (§ 657 BGB), Anfechtung einer WiE. Eine Schenkung ist kein einseitiges Rege, sondern ein Vertag (§ 516 Abs. 1 BGB). Man muss sich eine Schenkung nicht einseitig aufdrängen lassen. 4) Schließlich kann ein ReGe aus WiE + Realakt bestehen. Beispiel: Übertragung des Eigentums an beweglichen Sachen gemäß (gem.) § 929 S. 1 BGB (Einigungsvertrag + Übergabe). 5) Rechtsgeschäft und Schuldverhältnis Die Begriffe sind nicht synonym; ein Schuldverhältnis (SchuldVerh) kann durch ReGe begründet werden, muss es aber nicht. Beispiel: Gesetzliche SchuldVerh’e, die durch rein tatsächliches Verhalten entstehen; ein Auto wird bei einem Unfall beschädigt, der Fahrer verletzt; hier entsteht ein gesetz- liches (sog. deliktisches) SchuldVerh gem. § 823 Abs. 1 BGB (dazu § 8 der VO). A. Willenserklärung à Übersicht 14 „Willenserklärung“ I. Begriff ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 22 Die WiE ist der kleinste Baustein der Rechtsgeschäftslehre. Definition: = Jede Kundgabe eines Willens, die auf unmittelbare Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist. II. Bestandteile einer Willenserklärung Eine WiE besteht aus zwei Grundelementen: - Wille (= inneres/subjektives Element) und - Erklärung (= äußeres/objektives Element). 1. Wille Wille ist als rein subjektiver Tatbestand nach außen nicht wahrnehmbar. Dieser subjektive Tatbestand gliedert sich wiederum in drei Bestandteile auf: Handlungsbewusstsein Erklärungsbewusstsein Geschäftswille a) Handlungsbewusstsein = Bewusstsein, eine bestimmte Handlung vorzunehmen. Es fehlt z.B. bei nicht steuerbaren Reflexen, Handlungen während des Schlafs oder der Hypnose. b) Erklärungsbewusstsein = Bewusstsein, irgendeine rechtserhebliche Erklärung abzugeben. Der Handelnde muss sich also im Klaren darüber sein, dass seine Handlung unmittel- bar Rechtsfolgen nach sich zieht. Beispiel: Vertragsangebot; der Handelnde will sich damit binden (§ 145 BGB). Das Erklärungsbewusstsein fehlt hingegen in folgenden Fällen: aa) Realakte Realakt ist ein rein tatsächliches Handeln eines Menschen, wie z.B. Blumenpflücken, Spazierengehen, Wände mit Farbe besprayen usw. Beispiel: Unternehmer U unterschreibt Einladungskarten zum Fa.-Jubiläum; darunter befin- det sich aber auch ein Auftragsangebot, was U nicht bemerkt. Da U nicht rechtser- heblich handeln wollte, fehlt das Erklärungsbewusstsein. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 23 Realakte können auch rechtserheblich sein, wenn die Blumen z.B. in Nachbars Garten stehen oder die Hauswand einem anderen gehört. Dann entsteht ein gesetzliches Schuldverh mit Schadensersatzpflicht nach Deliktsrecht (§ 823 Abs. 1 BGB). Diese Rechtsfolgen treten aber nicht ein, weil der Handelnde es so will. Im Gegenteil: Die Rechtsfolge kommt ihm höchst ungelegen! Sie tritt aber kraft Gesetzes ein, weil der Gesetzgeber sozialschädliche Handlungsweisen unterbinden und Geschädigte schüt- zen will. bb) Geschäftsähnliche Handlungen Sie sind rechtlich relevant und enthalten im Unterschied zu Realakten bewusste Wil- lenskundgaben; aber diese sind nicht auf unmittelbare Herbeiführung einer Rechts- folge gerichtet, sondern nur mittelbar; daher handelt es sich nicht um WiE. Beispiele: - Mahnung des Gläubigers, § 286 Abs. 1 S. 1 BGB; die Mahnung ist Vorausset- zung für den Verzug des Schuldners; erst dieser löst weitere Folgen aus, z.B. Zahlung von Verzugszinsen; - Abmahnung des Arbeitgebers (ArbGeb); sie berührt den Bestand des Arbeits- verhältnisses (AVH) noch nicht, ist aber Voraussetzung einer nachfolgenden Kündigung wegen einer erneuten Pflichtverletzung. c) Geschäftswille = Bewusstsein bzw. Wille, eine ganz bestimmte Rechtsfolge herbeizuführen. Im Unterschied zum Erklärungsbewusstsein, bei dem sich der Erklärende nur darüber im Klaren sein muss, überhaupt rechtsgeschäftlich zu handeln, muss der Geschäfts- wille auf eine ganz bestimmte Rechtsfolge gerichtet sein. Beispiel: Student S benötigt ein Auto. Beim Gebrauchtwagenhändler H sieht er sich ver- schiedene Fahrzeuge an. Dann sagt er zu H: „Der soll es sein.“ – Damit hat S eine WiE, nämlich ein Kaufangebot, abgegeben. Die Erklärung ist auf den Abschluss eines ganz bestimmten ReGe, KaufV über diesen Gebrauchtwagen, gerichtet; ge- nau diese und nur diese Rechtsfolge will S eintreten lassen. d) Fehlen einzelner Elemente Nicht immer geht es im Geschäftsverkehr reibungslos zu. Unproblematische Fälle: (1) Fehlt bereits das Handlungsbewußtsein, liegt keine WiE vor. (2) Abweichen des eindeutig Erklärten vom Gewollten; es fehlt der konkrete Geschäfts- wille. Beispiel: ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 24 Unternehmer U will ein Auftragsangebot des B ablehnen. In dem Schreiben hat er aber das „nicht“ vor „annehmen“ vergessen. Sein Geschäftswille ist auf „ablehnen“ gerichtet, erklärt wird jedoch „annehmen“. Das Erklärungsbewusstsein ist vorhanden, allerdings fehlt der konkrete Geschäftswille „annehmen“. Für den Empfänger ist das Schreiben allerdings eindeutig: „annehmen“. Maßgeblich ist der Empfängerhorizont: Wie konnte und durfte B das Schreiben des U unter Berücksichtigung der ihm bekannten Begleitumstände verstehen? Hier = „an- nehmen“, also gilt das Erklärte; der Schutz des Geschäftsverkehrs hat Vorrang. (3) Es fehlt das Erlärungsbewusstsein. Beispiel: Der ortsunkundige A will nur seinen Freund in Trier besuchen. Er findet ihn auf einer Weinversteigerung. Um auf sich aufmerksam zu machen, winkt er seinem Freund zu. Das bedeutet in der konkreten Situation aber die Abgabe eines Gebots. A erhält den Zuschlag. Muss er den Wein abnehmen und bezahlen? Ja, falls ein Kaufvertrag (KaufV) iSv. § 433 BGB zustande gekommen ist. A müsste ein Kaufangebot abgegeben haben. Daran könnte es fehlen, weil dem A das Erklärungsbewusstsein fehlte und erst recht der Geschäftswille „kaufen“. Aber: Hier hat der Schutz des Geschäftsverkehrs Vorrang; also gilt das Verhalten des A als Kaufangebot. A muss den Wein abnehmen und bezahlen. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 25 2. Erklärung als äußeres Element einer WiE Die Erklärung ist unproblematisch feststellbar, wenn der Wille mündlich oder schriftlich ausdrücklich formuliert wird. Es gibt aber Sonderfälle: a) Schlüssiges (konkludentes) Verhalten Eine WiE muss nicht ausdrücklich erklärt werden; auch sonstiges menschliches Ver- halten kann auf bewusste Herbeiführung einer bestimmten Rechtsfolge gerichtet sein und somit Erklärungswert haben. Beispiel: Sie wollen auf dem Weg zur Uni eine Zeitschrift kaufen; dem Kioskinhaber legen Sie 2 Euro auf die Theke und nehmen sich ein Exemplar. Der Kioskinhaber legt das Geld in die Kasse, Sie gehen zur Uni. Hier wurde rechtgeschäftlich gehandelt, ohne dass überhaupt irgendetwas gesagt wurde. Das Hinlegen des Geldstückes hat in diesem konkreten Zusammenhang die Bedeutung, sie möchten (irgend-)etwas kaufen (à Erklärungsbewusstsein). Das Er- greifen der Zeitschrift konkretisiert Ihren Kaufwunsch (à Geschäftswille). Das Einle- gen des Geldstücks in die Kasse zeigt, dass der Kioskinhaber einverstanden ist (à Erklärungsbewusstsein u. Geschäftswille). Folglich ist ein Kaufvertrag über die Zeit- schrift zustande gekommen. Wenn menschliches Verhalten in einer konkreten Situation die Bedeutung einer Wil- lenserklärung hat, spricht man von schlüssiger oder konkludenter WiE. b) Schweigen Beispiel: Buchhändler B hat sich über einen Mitarbeiter des Studierendensekretariats gegen Zahlung einer Geldsumme eine Adressendatei über die zum WS neu eingeschrie- bene BWL-Studierenden beschafft. Nun schickt den Studierenden unaufgefordert die neueste Ausgabe von „Aktuelle Wirtschaftsgesetze“ zu. In dem Anschreiben heißt es: „Senden Sie mir das Buch nicht innerhalb einer Woche zurück, gehe ich davon aus, dass Sie das Buch kaufen.“ Auch S erhält ein Buch. S unternimmt nichts, später verlangt B verlangt von S 11,80 Euro. Zu Recht? Nein; denn das Schweigen des S bedeutet keine Annahme des Kaufangebots des B. Lesen Sie § 241a Abs. 1 BGB. Hinweis: S muss das Buch nicht zurückschicken; er muss den B auch nicht zur Rückholung auffordern. Im Gegenteil: S kann das Buch nach eigenem Belieben gebrauchen, z.B. auch an andere verkaufen. Es gibt keinen Schadensersatzanspruch des B. Man macht sich auch nicht strafbar, wenn man den Gegenstand vorsätzlich zerstört. c) Kaufmännischer Geschäftsverkehr Im kaufmännischen Geschäftsverkehr gibt es weitere Besonderheiten: ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 26 Beispiel: S betreibt eine kleine Imbissbude. Wurst und andere Fleischwaren erhält er re- gelmäßig von der Fa. Frisch-Fleisch GmbH. Diese bietet ihm eines Tages per Fax einen Sonderposten 1000 „Echte Thüringer“ an. S reagiert nicht. Eine Woche später liefert die Frisch-Fleisch GmbH die Würste an. Muss S abnehmen und bezahlen? Lesen Sie zunächst § 362 Abs. 1 S. 1 HGB. Liegen die Voraussetzungen von § 362 Abs. 1 HGB vor, ist ein Kaufvertrag zustande gekommen. Vorauss.: S müsste Kaufmann sein. S ist zwar Unternehmer (§ 14 BGB), aber kein Kaufmann iSd. HGB, weil er nur ein Kleingewerbe betreibt und nicht mit einer Fa. im HaReg eingetragen ist. Lösung: Mangels Kaufmannseigenschaft des S kommt § 362 Abs. 1 HGB nicht zur Anwendung; es ist kein KaufV zustande gekommen; S muss nicht abnehmen und be- zahlen. Merke: Schweigen im Rechtsverkehr hat nur dann Erklärungswert, wenn es das Gesetz anordnet (z.B. § 362 Abs. 1 HGB). Literatur: Petersen, Der Tatbestand der Willenserklärung, JURA 2006, S. 178 – 180. III. Wirksamwerden einer WiE à Übersicht 15 „Wirksamwerden einer Willenserklärung“ 1. Grundunterscheidung: Empfangsbedürftige WiE - nicht empfangsbedürf- tige WiE Empfangsbedürftig ist eine WiE, die an eine andere Person gerichtet ist, die also einen bestimmten Adressaten hat. Beispiele: Vertragsangebot/-annahme, Kündigungserklärung. Nicht empfangsbedürftig ist eine WiE, die nicht an einen bestimmten Adressaten ge- richtet. Beispiel: Testament; es muss nur existent sein; Auslobung (§ 657 BGB). 2. Wirksamwerden Hier wird die Unterscheidung relevant: a) Nicht empfangsbedürftige Willenserklärungen ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 27 Da eine WiE auf die willentliche Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist, muss sie für den Rechtsverkehr überhaupt existent sein. Das gilt auch für nicht empfangs- bedürftige WiE. Die WiE muss zumindest nach außen erkennbar/wahrnehmbar sein; der bloße innerer Wille ist – mangels Erklärung - keine WiE. Nicht empfangsbedürftige WiE werden daher bereits mit ihrer Abgabe wirksam. Im „Testament-Fall“: Dieses ist erst rechtlich existent, wenn es vollendet, also un- terschrieben ist. Mit der Vollendung ist die WiE abgegeben. Es reicht also aus, wenn der Testator das Testament in seinen Haussafe einschließt, selbst wenn die- ser für niemanden zugänglich ist. Es muss nach dem Tod nur noch gefunden wer- den. b) Empfangsbedürftige WiE Empfangsbedürftige WiE werden erst mit Zugang beim Empfänger wirksam. Das Ge- setz regelt in § 130 Abs. 1 S. 1 BGB zwar ausdrücklich nur das Zugangserfordernis für empfangsbedürftige WiE unter Abwesenden. Aber auch empfangsbedürftige WiE un- ter Anwesenden müssen zugehen. Hier bedarf es weiterer Differenzierungen: à Übersicht 16 „Zugang empfangsbedürftiger WiE“ aa) Empfangsbedürftige WiE unter Anwesenden Auch eine empfangsbedürftige WiE unter Anwesenden muss zugehen; dabei ist noch- mals zu unterscheiden: (1) Nicht verkörperte (also mündliche) WiE Zugang erfolgt mit der Entäußerung = Wahrnehmung („Wahrnehmungs- oder Verneh- mungstheorie“). (2) Verkörperte WiE Z.B. Übergabe eines Briefs: Hier reicht die Möglichkeit der Kenntnisnahme; also be- reits die Aushändigung des Briefs. Beispiel: Ein ArbGeb will ein Arbeitsverhältnis (AVH) kündigen. Er bestellt den Arbeitneh- mer (AN) in sein Büro und will ihm das Kündigungsschreiben aushändigen. Der AN nimmt das ihm hingehaltene Kündigungsschreiben nicht an; der ArbGeb legt es daraufhin auf den Tisch. Nachdem der AN den Raum verlassen hat, legt der ArbGeb das Kündigungsschreiben in die Personalakte. – Der Zugang ist erfolgt, da Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand. Merke: Eine WiE ist zugegangen, wenn sie derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass die Möglichkeit der Kenntnisnahme besteht und unter norma- len Umständen auch mit der Kenntnisnahme zu rechnen ist; ob der Empfänger die WiE tatsächlich zur Kenntnis nimmt, ist unerheblich. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 28 Hinweis: Das gilt auch im Fall eines Ausländers, der der deutschen Sprache nicht hin- reichend mächtig ist. Es kommt nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfän- gers an, sondern es ist zum Schutz des Rechtsverkehrs eine generalisierende Sicht geboten. bb) Empfangsbedürftige WiE unter Abwesenden (1) Nicht verkörperte WiE Beispiel: Telefonat. Es gilt dasselbe wie bei WiE unter Anwesenden. (2) Verkörperte WiE Hier muss man weiter unterscheiden, ob Zugang bewirkt ist und wann der Zugang eingetreten ist. Beispiele: - Einwurf in den Briefkasten des Empfängers à Zugang (+), da der Brief in den Machtbereich des Empfängers gelangt und – abstrakt gesehen – mit der Kenntnisnahme gerechnet werden kann. - Kein Zugang, wenn ein Bote ein Schreiben über den Gartenzaun wirft, ob- wohl ein Briefkasten vorhanden ist. Die zeitliche Komponente des Zugangs betrifft die Frage, wann der Zugang erfolgt ist. Der genaue Zugangszeitpunkt kann im Einzelfall entscheidende Bedeutung erlangen, wenn für die Abgabe der WiE eine Frist einzuhalten ist. Beispiele: Kündigung von Wohnraum (§ 573c Abs. 1 S. 1 BGB) oder fristlose Kündigung eines AVH (§ 626 Abs. 2 BGB). Beim Einwurf in den Hausbriefkasten ist der Zugang mit der üblichen Leerungszeit bewirkt. Beispiel: Wird eine Kündigungsschreiben um 20.00 Uhr von einem Boten in den Haus- briefkasten eingeworfen wird, geht es nicht mehr am selben Tag zu, wenn die Post üblicherweise zwischen 10.00 Uhr und 13.00 Uhr zugestellt wird. Im Geschäftsverkehr sind die üblichen Geschäfts-/Öffnungszeiten maßgeblich. (a) Zustellung durch einen Briefdienstleister (aa) Einfaches Einschreiben (Übergabeeinschreiben) Zugang mit Übergabe an eine empfangsbereite Person, die zum Hausstand des Emp- fängers gehört (auch Kinder, da Geschäftsfähigkeit nicht erforderlich ist à Empfangs- bote). ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 29 Ein Einschreibebrief ist weder mit Einlegung des Benachrichtigungszettels in Hausbrief- kasten noch mit Ablauf der Lagerfrist von sieben Tagen bei der Poststelle zugegangen. (bb) Eigenhändiges Einschreiben Der Zusteller darf das Einschreiben nur an den bezeichneten Empfänger oder einen von diesem besonders (Empfangs-) Bevollmächtigten aushändigen. (cc) Einschreiben mit Rückschein Der Empfänger bestätigt den Empfang auf der Rückscheinkarte mit Datum und Unter- schrift, die Rückscheinkarte wird an den Absender zurückgeschickt. (dd) Einschreiben Einwurf Der Zusteller wirft das Einschreiben unabhängig von der Anwesenheit des Empfängers in den Hausbriefkasten ein und bestätigt den Einwurf unmittelbar davor noch vor Ort (!) auf einem Identifizierungsaufkleber, der auf den Auslieferungsbeleg geklebt wird. Der Postzusteller fungiert als Bote und erstellt einen urkundlichen Beweis für die Über- gabe/den Einwurf der Postsendung. Wichtig: In allen Fällen ist nicht bewiesen, welcher Inhalt sich in dem Briefumschlag be- fand! (b) Zustellung durch Boten Falls der Empfänger nicht angetroffen wird oder zur Empfangsbescheinigung nicht bereit ist, lässt man das Schreiben beim Empfänger zurück bzw. wirft es in den Hausbriefkas- ten. Zusätzlich wird zur Beweissicherung ein Protokoll über Inhalt des Schreibens und den Zustellvorgang angefertigt. (2) Zugang per Tele-Fax Ein „O.K.-Vermerk“ auf dem Sendebericht liefert noch keinen Beweis dafür, dass das Fax tatsächlich und vollständig angekommen ist, sondern nur dafür, dass die Verbin- dung zustande gekommen ist. (3) Zugang per E-Mail/SMS Handelsübliche E-Mail-Programme bieten die Möglichkeit von Eingangs- und Lesebe- stätigungen. Über deren rechtlichen Beweiswert gibt es noch keine endgültige Klarheit. Man kann aber sagen, dass eine solche Bestätigung zumindest den Anscheinsbeweis für den Zugang einer bestimmten E-Mail liefert. Es gibt technisch die Möglichkeit, dass solche Bestätigungen vom Absender manipu- liert oder selbst hergestellt werden. Dazu bedarf es komplizierter Programme und tech- nischer Vorkenntnisse, die im Normalfall nicht vorhanden sind. Um den Anscheinsbe- weis zu erschüttern, muss der Empfänger Tatsachen vortragen und beweisen, die eine solche Manipulation möglich erscheinen lassen. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 30 (4) Abwesenheitsanzeige Ist jemand vorübergehend nicht erreichbar, besteht die Möglichkeit einer Abwesen- heitsanzeige auf einer Mailbox des Handys oder dem Notebook beim E-Mail-Verkehr. Hinterlässt man auf der Mailbox des Empfängerhandys eine Nachricht, lässt sich der Zugang nicht beweisen, indem man die Absendung der Nachricht beweist. Es sind verschiedene Varianten vorstellbar: - Bei üblichem Text („Ich bin zzt. nicht erreichbar“): Abstrakt gesehen kann bis auf weiteres nicht mit Kenntnisnahme gerechnet werden à (-); denn unklar ist, wann Erreichbarkeit eintritt. - Ich bin bis zum …. telefonisch nicht erreichbar.“ à Nach gewöhnlichem Lauf der Dinge ist hier bis zum angegebenen Datum nicht mit Kenntnisnahme zu rechnen. Dass eine Fernabfragefunktion existiert und benutzt wird, kann nicht unterstellt werden. - „Ich bin für eine Woche telefonisch nicht erreichbar.“ Zugangszeitpunkt unklar, da für den Absender nicht klar ist, wann der Rext gesprochen wurde! Aber Ab- sender kann spätestens nach einer Woche von Zugang ausgehen. Hinweis: Ohne eine solche Abwesenheitsanzeige wird - ähnlich wie beim Briefkasten – im Allgemeinen ein Zugang innerhalb von 24 Stunden angenommen, da man nicht ständig seine Mailbox abfragt. c) Zugangshindernisse Bisweilen haben Adressaten kein Interesse daran, die WiE zu erhalten. Beispiel: Ein AN, der mehrere Tage unentschuldigt der Arbeit fern geblieben ist, geht zutref- fend davon aus, dass ein Einschreiben eine Kündigung enthält. Er öffnet nicht, als der Postbote klingelt. Als er den Benachrichtigungszettel im Briefkasten vorfindet, wirft er ihn weg und holt das Schreiben nicht von der Post ab. à Zugangsvereitelung. AN muss sich so behandeln lassen, als wäre ihm das Kündi- gungsschreiben zugegangen, und zwar zu der Zeit, als es der Postbote übergeben wollte Hinweis: Zugang von WiE gegenüber Minderjährigen à § 131 BGB. IV. Sonstige Wirksamkeitsvoraussetzungen à Übersicht 17 „Formvorschriften“ 1. Formale Anforderungen Grundsätzlich ist eine WiE formfrei (also mündlich) wirksam. Nur ausnahmsweise ist eine bestimmte Form zu beachten. Diese kann sich aus dem Gesetz oder einer Ver- einbarung ergeben (§ 125 S. 2 BGB; „gewillkürte Form“). ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 31 a) Zweck von Formvorschriften Übereilungsschutz Beweissicherung Beratungsfunktion. b) Arten aa) Schriftform (1) Gesetzlich, § 126 Abs. 1 BGB Beispiele: Kündigung eines Arbeitsvertrags, § 623 BGB; Bürgschaftsverpflichtungserklärung, § 766 S. 1 BGB; Schuldanerkenntniserklärung, § 781 S. 1 BGB. Wichtig: - eigenhändige Unterzeichnung - Verträge s. § 126 Abs. 2 BGB - Fax, E-Mail, SMS genügen nicht der gesetzlichen Schriftform. Beispiel: Laut Prüfungsordnung muss ein Widerspruch gegen ein Prüfungsergebnis schriftlich innerhalb von vier Wochen beim Prüfungsamt (PA) eingelegt werden. Studentin L schickt eine E-Mail an das PA, mit der sie den Widerspruch erklärt. – Der Widerspruch ist formunwirksam, die Frist nicht gewahrt, das Prüfungser- gebnis zählt. (2) Gewillkürt, § 127 BGB Das Formerfordernis beruht auf einer Vereinbarung. Wenn z.B. ein Vertrag nur bei Wahrung der Schriftform wirksam sein soll, muss dies eindeutig aus der Schriftformklausel hervorgehen. Beispiel: Dieser Vertrag bedarf zu seiner Wirksamkeit der Schriftform. bb) Elektronische Form, § 126a BGB Sie ersetzt die Schriftform, soweit die elektr. Form nicht in speziellen Vorschriften aus- geschlossen ist, § 126 Abs. 3 BGB. Beispiele für Ausschluss der elektronischen Form: § 623 2. HS BGB (Kündigung, Auflösungsvertrag); § 630 S. 3 BGB/§ 109 GewO (Dienst-/Arbeitszeugnis). Voraussetzungen der elektronischen Form: ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 32 (1) elektronisches Dokument = alle Daten, die in elektronischer Form vorliegen und in Schriftzeichen verwandelbar und damit lesbar sind; (2) Speicherung der Daten in einer zur dauerhaften Wiedergabe geeigneten Weise (CD-ROM, USB-Stick; Handy mit Speicherfunktion; ob Arbeitsspeicher aus- reicht, ist str.); (3) Hinzufügung des Namens des Erstellers; muss nicht am Ende des Dokuments erfolgen! Diese Funktion übernimmt (4): (4) Versehen mit qualifizierter elektronischer Signatur: Verfahren ist im SigG gere- gelt. cc) Textform, § 126b BGB Sie dient der Vereinfachung der Schriftform und trägt dem Bedürfnis nach Automati- sierung von Erklärungen im Massenverkehr Rechnung (behördliche Formularschrei- ben, Mitteilungen der Universitätsbibliothek). Die Form findet Anwendung, wenn sie durch Gesetz vorgeschrieben oder zugelassen ist. Beispiel: § 558a Abs. 1 BGB (Mieterhöhungsverlangen des Vermieters). Voraussetzungen: (1) Erklärung wird in einer Urkunde (z.B. Fax-Schreiben) oder auf andere zur dau- erhaften Wiedergabe in Schriftzeichen geeignete Weise abgegeben (CD-ROM, USB-Stick,); (2) Person des Erklärenden muss genannt sein; (3) Abschluss der Erklärung durch Nachbildung der Namensunterschrift (Faksimile- Unterschrift) oder andere Kenntlichmachung (z.B. Hinweis „Diese Erklärung wurde automatisch erstellt und ist nicht unterschrieben“). dd) Notarielle Beurkundung, § 128 BGB Beispiele: - Grundstückskaufverträge, § 311b Abs. 1 S. 1 BGB; - Schenkungsversprechen, § 518 Abs. 1 S. 1 BGB; - Gesellschaftsvertrag bei einer GmbH, § 2 Abs. 1 S. 1 GmbHG; ee) Öffentliche/notarielle Beglaubigung, § 129 BGB Hier geht es um die Authentifizierung einer Unterschrift. Wichtig: Die Beglaubigung bezieht sich nur auf die Unterschrift, nicht auf den Text. Beispiel: ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 33 Anmeldung von Tatsachen zur Eintragung in das Handelsregister (§ 12 HGB), z.B. Fa. d) Folgen bei Nichtbeachtung (Form-)Nichtigkeit der WiE, § 125 BGB. Lit.: elektron. SemApp - Petersen, Die Form des Rechtsgeschäfts, JURA 2005, S. 168 – 170. 2. Inhaltliche Anforderungen a) Kein Verstoß gegen Verbotsgesetz, § 134 BGB Rechtsgeschäfte, und damit auch WiE, dürfen nicht gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen. Das ist vor allem bei Verträgen relevant. Beispiel: A stellt sich seine Approbationsurkunde als Arzt selbst aus und wird von einem Krankenhaus als Arzt eingestellt. Nachdem seine merkwürdigen Behandlungsme- thoden auffallen, unternimmt das Krankenhaus Nachforschungen und stellt fest, dass A zwar einige Semester Medizin studiert, aber nie ein Examen abgelegt hat. Der Arbeitsvertrag ist bereits wegen Gesetzesverstoßes gem. § 134 BGB nichtig. Der Arztberuf darf nur mit Approbation ausgeübt werden, § 2 Abs. 1 Bundesärzteordnung. Beispiel: Ausführung von Elektroinstallationsarbeiten in Schwarzarbeit durch einen Un- ternehmer „Ohne Rechnung“, also ohne Umsatzsteuer (USt). Das verstößt ge- gen das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG). Die Elektroinstal- lationsfirma hat wegen der Nichtigkeit keinen Anspruch auf den Werklohn. b) Keine Sittenwidrigkeit, § 138 BGB WiE dürfen nicht gegen die guten Sitten verstoßen. Beispiele: Vertrag zwischen einem Ehepaar und einem Nachtclubbesitzer über die Dar- bietung sexueller Handlungen vor Publikum oder Vertrag über Leihmutterschaft. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 34 V. Auslegung von WiE Häufig ist nicht einfach zu entscheiden, (1) ob ein bestimmtes Verhalten eine Willenserklärung ist oder (2) welche genaue Bedeutung eine WiE im konkreten Fall hat. à Übersicht 18 „Auslegung von WiE“ In beiden Fällen bedarf es der Auslegung der WiE, § 133 BGB. Dabei ist zu unter- scheiden zwischen empfangsbedürftigen und nicht empfangsbedürftigen WiE. Bei nicht empfangsbedürftigen WiE ist der wirkliche Wille des Erklärenden maßgeblich und daher – notfalls unter Berücksichtigung von Begleitumständen der Erklärung – zu ermitteln. Das kommt gelegentlich in sog. „Testaments-Fällen“ vor. Hier ist allein der Willen des Testators maßgeblich. Es gilt die „Andeutungstheorie“, d.h. außerhalb des Testaments liegende Umstände dürfen bei der Ermittlung des Willens des Testators berücksichtigt werden, sofern sie in dem Testament angedeutet sind. Bei empfangsbedürftigen WiE ist der Empfängerhorizont maßgeblich („Empfangs- theorie“). Der Schutz des Erklärungsempfängers ist wichtig. Deshalb sind bei der Aus- legung die dem Empfänger bekannten Begleitumstände einzubeziehen. Hinweis: Von der Auslegung einer WiE zu unterscheiden ist die Vertragsauslegung. Dort gilt es den Inhalt eines Vertrags zu klären: Worüber haben sich die Vertragspar- teien geeinigt? Einschlägig ist § 157 BGB. Da ein Vertrag aus zwei WiE besteht, gilt auch hier gilt das Prinzip der Auslegung vom Empfängerhorizont. Nur hat man hier zwei Beteiligte. Deshalb muss man das Prinzip zweifach anwenden und sich jeweils in die Lage einer Vertragspartei versetzen. Beispiel: Ein Versicherungsnehmer verlangt von seiner Hausratversicherung Schadenser- satz, weil sein Edelstahlgrill im Wert von 500 Euro aus dem Garten entwendet wurde. Laut Versicherungsvertrag waren mitversichert: Diebstahl von Gartenmö- beln und Gartengeräten bis zu einer Summe von 500 Euro. Problem: War der Gartengrill mitversichert? (+), falls es sich um ein Gartenmöbel oder Gartengerät handelt. Das Gericht entschied: kein Gartenmöbel, weil der Grill nicht zur Lagerung von Men- schen oder Sachen dient. Auch kein Gartengerät, da der Grill nicht zur Bearbeitung von Boden oder Gewächsen benutzt wird. Folge: Es gab kein Geld von der Versicherung. VI. Anfechtung von WiE à Übersicht 19 „Anfechtung“ Bei der Anfechtung geht es um die nachträgliche Beseitigung von Fehlern nach Ab- gabe und Zugang, also nach Wirksamwerden einer WiE. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 35 Wichtig: Denknotwendig vorrangig zu prüfen ist, ob überhaupt eine wirksame WiE vorliegt. Ist die WiE aus irgendeinem Grunde unwirksam, scheidet eine Anfechtung aus. Was rechtlich nicht existent ist, kann nicht angefochten werden. Andererseits: Eine anfechtbare WiE ist wirksam, genauer schwebend wirksam. Es ist dem Anfechtenden überlassen, seine Erklärung gelten zu lassen oder nicht. 1. Fehlerquellen Ø Willensbildung: Man geht von falschen Voraussetzungen aus. Ø Willensäußerung: Man erklärt etwas anderes, als man erklären wollte. Ø Entschließungsfreiheit: Man wird bei der Abgabe der WiE von dritter Seite be- einflusst. 2. Anfechtungsgründe Daraus ergeben sich folgende Grundfälle der Anfechtung: Irrtumsanfechtung, §§ 119 Abs. 1, 120 BGB Eigenschaftsirrtum, § 119 Abs. 2 BGB Anfechtung wegen unzulässiger Beeinflussung der Entschließungsfreiheit, § 123 BGB. a) Irrtumsanfechtung, § 119 Abs. 1 BGB Es sind folgende Anfechtungsgründe zu unterscheiden: aa) Inhaltsirrtum, § 119 Abs. 1, 1. Fall BGB à lesen à Der Erklärende erklärt, was er erklären will, er misst seiner Erklärung aber einen anderen Inhalt bei à Wille und Erklärung weichen voneinander ab. „Der Kopf irrt“. Beispiel: Gärtner G bestellt beim Großhändler H 1.000 Tulpenzwiebel unter Angabe der Be- stell-Nr. laut Katalog des H. Der Katalogpreis beträgt 10 Ct./Stück. H bestätigt die Bestellung unter Angabe der Bestell-Nr. Die Tulpenzwiebeln werden geliefert. Beim Schreiben der Rechnung nach Auslieferung, stellt sich heraus, dass der Preis auf- grund eines Druckfehlers im Katalog falsch ausgezeichnet war. Statt 10 Ct. hätte es richtig 20 Ct. heißen müssen. H will an diesem für ihn schlechten Geschäft nicht mehr festhalten. H könnte seine WiE anfechten, wenn Wille und Erklärung voneinander abweichen, § 119 Abs. 1 BGB. H wollte die Tulpenzwiebel nur zum korrekten Stückpreis 20 Ct. verkaufen, hat aber nach außen durch seine Auftragsbestätigung 10 Ct./Stück erklärt (= Empfängerhori- zont); wirklicher Wille (20 Ct.) und erklärter Wille (10 Ct.) weichen also voneinander ab. Genauer liegt ein Inhaltsirrtum iSv § 119 Abs. 1 1. Fall BGB vor. Denn H wollte erklären, dass er die Tulpenzwiebel zum Katalogpreis veräußere. Und das hat er auch erklärt. Nur befand er sich über die Bedeutung des Inhalts seiner Erklärung im Irrtum. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 36 Sofern H seine WiE gegenüber G anficht, ist die WiE rechtlich als von Anfang an nicht existent anzusehen (§ 142 Abs. 1 BGB). Wichtig: Anfechten kann man immer nur die eigene WiE, bei einem Vertrag also sein Angebot oder seine Annahme. Weitere Folge einer erfolgreichen Anfechtung ist bei einem Ver- trag, dass dieser von Anfang an nichtig ist. Wurde der nichtige Vertrag tatsächlich bereits vollzogen, hat eine Rückabwicklung der ausgetauschten Leistungen stattzufinden. Hier spielt das Abstraktionsprinzip eine wichtige Rolle. à Übersicht 20 „Abstraktionsprinzip“ __________________________________________________________________ Exkurs 1: Abstraktionsprinzip Inhalt: Unterscheidung zwischen schuldrechtlichem Verpflichtungsgeschäft und ding- lichem Verfügungsgeschäft (daher auch: „Trennungsprinzip“). Kaufvertrag = Verpflichtungsgeschäft à 433 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB; Übereignung der Tulpenzwiebel und des Geldes im Beispielsfall = Erfüllungs- geschäft à § 929 S. 1 BGB. Der wirtschaftlich einheitliche Vorgang - Erwerb von Tulpenzwiebeln – wird also „künst- lich“ aufgespalten in einen schuldrechtlichen (verpflichtenden) Vertrag und einen ding- lichen Erfüllungsvertrag (Übereignungsvertrag). Ist ein tatsächlich vollzogener Kaufvertrag rechtlich infolge Anfechtung unwirksam, er- folgt die Rückabwicklung nach dem Bereicherungsrecht der §§ 812 ff. BGB; wichtig ist vor allem § 812 Abs. 1 S. 1 BGB. - Tulpenzwiebel: à Rückübereignung der Tulpenzwiebel von G an H gem. § 929 S. 1 BGB. - Geld: bei bargeldloser Zahlungsweise: Rückgabe der Gutschrift H an G à Rücküber- weisung = Wertersatz i.S.v. § 818 Abs. 2 BGB; bei Barzahlung: - falls das Geld nicht mehr unterscheidbar vorhanden ist à Wertersatz gem. § 818 Abs. 2 BGB; - ist das Geld noch unterscheidbar vorhanden à Rückübereignung von H an G gem. § 929 S. 1 BGB. __________________________________________________________________ Exkurs 2: Übertragung von Sachen und Rechten 1. Übertragung von Sachen a) Bewegliche Sachen ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 37 Übertragung des Eigentums gem. § 929 S. 1 BGB: durch Einigung (= Vertrag) und Übergabe (= Realakt) à Übereignung. Der häufig vorzufindende Satz: „A hat durch den Kaufvertrag Eigentum an der Kauf- sache erworben“, ist juristisch falsch. Nicht aufgrund des Kaufvertrags, sondern durch die Übereignung (= Eignung + Übergabe) wurde das Eigentum erworben. Der Kauf- vertrag begründet lediglich die schuldrechtliche Verpflichtung zur Übereignung. b) Grundstücke Übertragung des Eigentums erfolgt ebenfalls durch ein zweiaktiges Rechtsgeschäft gem. § 873 Abs. 1 BGB: Einigung (= dinglicher Vertrag = Auflassung, § 925 Abs. 1 S. 1 BGB) und Realakt (= Eintragung der Rechtsänderung im Grundbuch). 2. Übertragung von Rechten (Abtretung) Sie erfolgt durch einen dinglichen Vertrag (Abtretung, § 398 BGB). _________________________________________________________________ Zurück zum Tulpenzwiebel-Fall: H hat nun den Kaufvertrag erfolgreich wegen Inhaltsirrtums angefochten (genauer: seine Angebotsannahmeerklärung) und das Geschäft wurde rückgängig gemacht. 1. Fortführung des Beispiels: à Skizze G hatte die Zwiebeln im Vertrauen auf die Wirksamkeit des Vertrags bereits zu 30 Ct./Stück weiter veräußert. Da er wegen der Anfechtung nicht liefern kann, besor- gen sich die Kunden die Tulpenzwiebel bei einem anderen Händler. Dort müssen sie wegen des allgemein gestiegenen Preisniveaus 40 Ct./Stück bezahlen. Den Differenzbetrag (40 Ct. – 30 Ct. = 10 Ct. je Tulpenzwiebel) muss G seinen Kunden ersetzen, weil er nicht liefern konnte. Daraufhin verlangt G von H diesen Differenz- betrag ersetzt. Anspruchsgrundlage ist § 122 Abs. 1 BGB = Ersatz des Vertrauensschadens (= ne- gatives Interesse). G ist so zu stellen, wie er stehen würde, wenn er gewusst hätte, dass die Vertragsan- nahme durch H erfolgreich würde angefochten werden, der Vertrag also keinen Be- stand haben würde. Hätte G gewusst, dass der Kaufvertrag wirksam angefochten wer- den würde, hätte er die Zwiebeln nicht weiterverkauft und er hätte seinen Kunden kei- nen Schadensersatz (SE) leisten müssen. Diesen Betrag kann er von H ersetzt ver- langen. Nicht ersetzt wird dagegen der Erfüllungsschaden (= positives Interesse). G kann also von H nicht verlangen, so gestellt zu werden, wie wenn der Kaufvertrag wirksam geblieben wäre. Angenommen, G hätte die Zwiebeln für 50 Ct./Stück weiterveräußert. Dann hätte er pro Zwiebel 30 Ct. Gewinn gemacht (= 50 Ct. Verkaufspreis – 20 Ct. Einkaufspreis). Diesen entgangenen Gewinn kann G von H aber nicht verlangen. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 38 Übersteigt der Vertrauensschaden den Erfüllungsschaden, so kann gleichwohl nur in Höhe des Vertrauensschadens Ersatz verlangt werden, vgl. § 122 Abs. 1 letzter Halb- satz BGB. bb) Erklärungsirrtum, § 119 Abs. 1, 2. Fall BGB Der Erklärende erklärt nicht das, was er eigentlich erklären wollte; auch hier weichen Wille und Erklärung voneinander ab, aber hier deshalb, weil das Erklärte schon nicht gewollt war. „Die Hand irrt“. Beispiele: Verschreiben, Versprechen. Schuhhändler H will bei der Schuhfabrik F 50 Paar Schuhe bestellen. In der Be- stellung verschreibt er sich und bestellt 500 Paar Schuhe. Als F liefert, fällt der Irrtum auf. H kann seine Erklärung (= Kaufangebot 500 Paar Schuhe) wegen Erklärungsirrtums anfechten. Er wusste nicht, was er erklärt hatte. cc) Anfechtung wegen Übermittlungsfehler, § 120 BGB Beispiel: B betreibt unter einer Internetadresse des Providers P ein virtuelles Warenhaus. Auf einer Internetseite werden u.a. Speichermodule zu einem Einzelpreis von 1,88 EUR angeboten. K bestellt 99 Speichermodule. Mit E-Mail vom selben Tag erhält K eine elektronische Auftragsbestätigung. Später stellt sich heraus, dass der wirk- liche Kaufpreis 188 EUR je Modul betragen sollte. Beim Einspielen der Preislisten war eine falsche Funktion aktiviert worden, die letztlich zu dem Fehler geführt hatte. Sofort nach Entdecken des Fehlers weist B in einer E-Mail an K darauf hin, dass sich auf seiner Internet-Seite ein Fehler eingeschlichen habe, das Komma sei um zwei Stellen nach links verrückt worden. Kann K von B 99 Speichermodule zum Einzelpreis von 1,88 EUR verlangen? Gemäß § 433 Abs. 1 S. 1 BGB (+), falls ein entsprechender Kaufvertrag zustande gekommen ist. (1) KaufV über 99 Speichermodule zum Preis von 1,88 EUR/Modul: - Angebot K à „Bestellung“ (+) - Annahme B: à „Auftragsbestätigung“ (+). à Kaufvertrag (+) (2) Anfechtung durch B (a) Die E-Mail des B enthält – konkludente – eine Anfechtungserklärung seiner Annahmeerklärung. (b) Anfechtungsgrund? Erklärungsirrtum, § 119 Abs. 1, 2. Fall BGB (Verschreiben)? Besonderheit: Zur Übermittlung der WiE des B wurde ein elektronisches Medium benutzt (= Internetplattform des Providers P als elektronischer Bote); à § 120 BGB: ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 39 Die Falschübermittlung durch Boten oder techn. Einrichtung ist ein Unterfall des Erklä- rungsirrtums. (3) Ergebnis: Anfechtung durch B ist erfolgreich, B muss nicht liefern. b) Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften, § 119 Abs. 2 BGB Im Unterschied zu (1) u. (2) entsteht der Fehler bei der Willensbildung im Vorfeld der Erklärung und nicht bei Abgabe der Erklärung selbst à = Motivirrtum. Solche Moti- virrtümer sind grundsätzlich rechtlich unbeachtlich, es sei denn, das Gesetz erklärt sie für beachtlich wie im Fall des § 119 Abs. 2 BGB. aa) Eigenschaften … sind alle der Person oder der Sache dauerhaft anhaftenden Merkmale. Beispiele: Größe, Lage, Bebaubarkeit eines Grundstücks; Echtheit eines Kunstwerks, Alter, Km-Stand eines PKW; Behinderung eines Arbeitnehmers (AN). bb) Verkehrswesentlich … sind diese Faktoren, wenn sie nach dem Inhalt des konkreten ReGe aus der Sicht der Vertragsparteien wichtig sind; das spiegelt sich bei entgeltlichen Geschäften i.d.R. im Preis nieder à wertbildende Eigenschaften sind verkehrswesentlich. Beispiel: Bebaubarkeit eines Grundstücks à = wertbildender Faktor. Die 24-jährige arbeitslose A gelangt zu einem Vorstellungsgespräch bei dem Pa- ketservice U. A wird als Lagerarbeiterin eingestellt. Als sie U nach einer Woche ihren Mutterschutzpass vorlegt, wonach sie die Packtätigkeit nicht mehr ausüben darf, ficht U den Arbeitsvertrag an. Liegt ein Anfechtungsgrund nach § 119 Abs. 2 BGB vor? - Nein; die Schwangerschaft ist nur ein vorübergehender Zustand, keine dauerhafte Eigenschaft einer Frau. c) Unbeachtliche Motivirrtümer aa) Kalkulationsirrtum Beispiel: Unternehmer U macht dem Bauherrn B ein Festangebot über ein schlüsselfertiges Haus. Bei seiner internen Kalkulation hatte U irrtümlich eine überholte Preisliste zugrunde gelegt. Hier liegt ein rechtlich unbeachtlicher Kalkulationsirrtum vor (= Unterfall des Motivirr- tums). Solche Irrtümer im Vorfeld der Abgabe einer WiE berechtigen nicht zur Anfech- tung. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 40 Ausnahmsweise beachtlich ist ein Kalkulationsirrtum, wenn die Kalkulationsgrundlage offengelegt, also für den Erklärungsempfänger erkennbar ist; dieser ist dann nicht schutzbedürftig. Beispiel: Im „Tulpenzwiebel-Fall“ nimmt H bei seinem Angebot ausdrücklich Bezug auf die „beigefügte aktuelle“ Preisliste. Diese ist aber überholt. Die Kalkulationsgrundlage ist dem G bekannt. H will - für G erkennbar - zu den aktuellen Bedingungen liefern. Nur weil hier die Kalkulationsgrundlage für G erkennbar Bestandteil des Angebots ist, ist die Irrtumsanfechtung erfolgreich. U dagegen hat sich im Vorfeld des Angebots geirrt. Die Preisliste war nur eine interne Kalkulationshilfe für die Ermittlung des Festpreises; die Preisliste war aber nicht Be- standteil seiner Angebotserklärung. U gab das Angebot ab, das er abgeben wollte, lediglich seine interne Kalkulationsgrundlage war falsch à keine Anfechtung. bb) Rechtsfolgenirrtum Ein unbeachtlicher Motivirrtum ist auch der bloße Rechtsfolgenirrtum. Beispiel: Betriebliche Übung im Arbeitsrecht; die dreimalige vorbehaltlose Zahlung eines Weihnachtsgeldes durch Arbeitgeber bewirkt, dass ein Anspruch auf zukünftige Zahlung entsteht; der Arbeitsvertrag wird einvernehmlich durch konkludentes Han- deln geändert. Der ArbGeb kann die Vertragsänderung, genauer: sein konkluden- tes Angebot auf Änderung des Arbeitsvertrags, nicht wegen Inhaltsirrtums gem. § 119 Abs. 1 1. Fall BGB anfechten, weil er sich über die rechtliche Bedeutung der Zahlungen nicht im Klaren war. Es handelt sich um einen unbeachtlichen Rechts- folgenirrtum. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 41 c) Unzulässige Beeinflussung der Willensbildung, § 123 BGB Im Unterschied zur Irrtumsanfechtung weichen hier nicht Wille und Erklärung vonei- nander ab. Die Erklärung ist aber anfechtbar, weil der Willensbildungsprozess un- zulässig beeinflusst wurde. Der Erklärungsempfänger ist daher nicht schutzwürdig. Er darf von vornherein nicht auf die Beständigkeit einer durch Täuschung oder Drohung abgegebenen Erklärung vertrauen. aa) Arglistige Täuschung, § 123 Abs. 1, 1. Fall BGB Beispiel: K kauft bei V ein Gebrauchtfahrzeug mit einem KM-Stand von 50.000 zu einem angesichts dieser Fahrleistung marktüblichen Preis; V hatte den Tachostand aller- dings um 100.000 Km zurückgestellt. Als K das anlässlich einer Inspektion be- merkt, ficht er den Kaufvertrag wegen arglistiger Täuschung an. Voraussetzungen der Anfechtung: (1) Wirksame WiE des K? à Kaufangebot des K (+) (2) Täuschungshandlung des V: à Unterlassen des Hinweises auf beträchtlich hö- here Laufleistung (+); nicht: Zurückdrehen des Tachos = Realakt im Vorstadium der späteren Täuschungshandlung. (3) Irrtumserregung bei K: à Hervorrufen einer Fehlvorstellung beim Erklärungs- empfänger von der wahren Sachlage (+) (4) Kausalität Täuschungshandlung - Abgabe der WiE durch K; à gegeben, wenn WiE bei Kenntnis der wahren Sachlage nicht abgegeben worden wäre (+). (5) Widerrechtlichkeit der Täuschung (nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt!) à (+), weil man nicht täuschen darf. Ausnahme: Schwangerschaftsbeispiel; weil die Frage nach der Schwanger- schaft im Hinblick auf eine Diskriminierung wegen des Geschlechts „Frau“ un- zulässig ist, darf sie wahrheitswidrig verneint werden = „Recht zur Lüge“. (6) Arglist: gegeben, wenn der Täuschende weiß oder zumindest davon ausgehen muss, dass der Getäuschte die WiE bei Kenntnis der wahren Sachlage nicht, jedenfalls nicht wie geschehen abgegeben haben würde. Er nutzt die Fehlvor- stellung bewusst zu seinem Vorteil aus. à Hier (+). Ergebnis: K kann sein Kaufangebot gem. § 123 Abs. 1 1. F. BGB anfechten. bb) Widerrechtliche Drohung, § 123 Abs. 1, 2. Fall BGB Beispiel: U möchte sich von seinem langjährigen älteren Mitarbeiter M trennen. M ist schwer- behindert und praktisch unkündbar. Also wirft U dem A - zu Unrecht - vor, er habe Spesenabrechnungen manipuliert und konstruiert Verdachtsmomente. In einem ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 42 Gespräch droht U dem M mit einer Strafanzeige, wenn er nicht den bereits vorbe- reiteten Auflösungsvertrag unterzeichne. Außerdem werde der Vorfall im Arbeits- zeugnis berücksichtigt. A ist eingeschüchtert und unterschreibt aus Angst. Nach- dem A klar geworden ist, dass die Vorwürfe haltlos waren, ficht er den Auflösungs- vertrag an. Skizze: (1) Wirksame WiE des M: Annahme des Angebots auf Abschluss eines Auflö- sungsvertrags à (+) (2) Drohung: = Inaussichtstellen eines zukünftigen Übels = jeder Nachteil, z.B. Strafanzeigen à (+) (3) Einflussnahme des Drohenden auf den Eintritt des Nachteils à (+) (4) Abgabe einer WiE des Bedrohten à (+) (5) Kausalität Drohung – WiE à (+) (6) Widerrechtlichkeit: die Drohung ist widerrechtlich, weil M sich nichts hat zu Schulden kommen lassen à (+). (7) Anfechtungserklärung M (+) à Auflösungsvertrag ist rückwirkend nichtig. 3. Prüfungsfolge bei der Anfechtung à Übersicht 21 „Anfechtung einer WiE“ Hinweise: zu: Anfechtungserklärung, § 143 BGB Die Wirkung der Anfechtung tritt nicht automatisch ein, sondern die Anfechtung muss vom Anfechtenden erklärt werden, und zwar gegenüber dem Anfechtungsgegner, § 143 BGB. Die Anfechtungserklärung ist eine einseitige empfangsbedürftige rechtsgestaltende WiE; es müssen also alle Wirksamkeitsvoraussetzungen einer WiE vorliegen, insbe- sondere Geschäftsfähigkeit (wegen § 111 BGB à keine Genehmigungsmöglichkeit!) und Zugang, da empfangsbedürftig. zu: Anfechtungsfrist Unterschiedliche Anfechtungsfristen: § 121 Abs. 1 S. 1 BGB bzw. § 124 Abs. 1 BGB zu: Wirkung einer erfolgreichen Anfechtung, § 142 BGB Nichtigkeit des ReGe = WiE rückwirkend auf den Zeitpunkt ihrer Abgabe (ex tunc); Ausnahme: In Vollzug gesetzte Dauerschuldverhältnisse (MietV, ArbeitsV): à i.d.R. Wirkung erst mit Zugang der Anfechtungserklärung (ex nunc). ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 43 Literatur: - Grobe/Schellenberg, Auslegung, Umdeutung und Anfechtung von Willenserklä- rungen, JURA 2020, S. 799 – 810; - Rennig, Ausgewählte Sonderprobleme der Anfechtung von Willenserklärungen, JURA 2021, S. 619 - 628. B. Verträge Vertrag = Hauptfall eines mehrseitigen, zumeist zweiseitigen ReGe. à Übersicht 22 „Zustandekommen von Verträgen“ Vertrag besteht aus zwei WiE, dem Angebot und der Annahme, § 151 Abs. 1 1. Halbs. BGB. Angebot: = empfangsbedürftige WiE, durch die einem anderen ein Vertragsschluss so angetragen wird, dass der Vertragsschluss nur noch von dessen Einverständnis abhängt. Annahme: = empfangsbedürftige WiE, durch die der Empfänger eines Angebots sein Ein- verständnis mit dem Vertragsschluss zum Ausdruck bringt. Das Angebot ist i.d.R. die zeitlich vorausgehende WiE, die Annahme die nachfolgende. Beide WiE sind empfangsbedürftig, d.h. jeweils Zugang beim anderen Teil erforderlich. Prüfungsfolge: Der Vertrag ist zustande gekommen, wenn (1) ein wirksames Angebot vorliegt, (2) dieses wirksam angenommen wird und (3) sich Angebot und Annahme inhaltlich decken. Beispiel: A möchte von B dessen gebrauchtes Notebook käuflich erwerben. Bietet A dem B 500 Euro an und erklärt sich B einverstanden, ist der Kaufvertrag perfekt. Rechtsfolge eines wirksamen Vertragsschlusses ist die Rechtsbindung der Vertrags- schließenden: à „Pacta sunt servanda“. Welche Ansprüche bzw. Pflichten die Vertragsschließenden dabei im konkreten Fall haben, ergibt sich aus ihren Vereinbarungen oder - falls besondere Vertragsmodalitä- ten nicht verabredet sind - aus dem Gesetz. Im Beispielsfall „Notebookkauf“ ist das, was A und B vereinbart haben, unschwer als Kaufvertrag zu qualifizieren. Welche einzelnen Pflichten sich daraus ergeben, sagt uns § 433 BGB: - Verkäufer: § 433 Abs. 1 S. 1 BGB: à Besitz- und Eigentumsverschaffung; - Käufer: § 433 Abs. 2 BGB: à Kaufpreiszahlung und Abnahme der Kaufsache. ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 44 Problemfälle: Leider ist es nicht immer so eindeutig. I. Rechtsbindungswille - Gefälligkeitsverhältnis Beispiel: Student S will von Essen nach Münster trampen. Er wird von dem Autofahrer A, der auf dem Weg nach Münster ist, mitgenommen. Unterwegs geraten S und A in eine politische Diskussion. Weil dem A die Ansichten des S nicht passen, hält er am nächsten Rastplatz an und fordert S auf auszusteigen. S meint, er hätte mit A einen Beförderungsvertrag über die Mitnahme bis nach Münster geschlossen. A müsse ihn bis dahin mitnehmen. Hat S gegen A einen Anspruch auf Mitnahme bis nach Münster? Vorauss.: Abschluss eines Beförderungsvertrags S – A (vgl. § 311 Abs. 1 S. 1 BGB). Problem: Wollte A eine bindende WiE abgeben oder dem S nur eine Gefälligkeit er- weisen? Die Abgrenzung ist manchmal nicht einfach. Sie erfordert eine Würdigung der objekti- ven Begleitumstände. Im Beispielsfall relevante Begleitumstände: § Kostenbeteiligung § Festlegung einer Ankunftszeit, z.B. wegen Einhaltung eines geschäftlichen Ter- mins § Planung der Abfahrtzeit oder spontanes Mitnehmen Faustregel: Immer dann, wenn dem einen klar sein muss, dass die Erbringung der Leistung für den anderen wirtschaftlich oder aus einem anderen Grund von besonderer Bedeutung ist, spricht das gegen eine bloße Gefälligkeit ohne Rechtsbindungswillen. Im Beispiel: Solche Gesichtspunkte sind nicht ersichtlich, folglich ist kein Beförderungsver- trag zustande gekommen, S muss aussteigen! II. Vertragsanbahnung Im Stadium der Anbahnung von Verträgen kann man wiederum verschiedene Sonder- fälle unterscheiden: 1. Vertragsangebot - invitatio ad offerendum Eine invitatio ad offerendum ist eine rechtlich unverbindliche Aufforderung zur Abgabe eines Vertragsangebots. Beispiel: Das Unternehmen U inseriert auf seiner Homepage eine Stelle für einen Informati- ker zum 1.10. S, der für die Stelle überaus qualifiziert ist, schreibt dem U, er sei ReWiÖk, WS 2022/23 © Prof. Dr. W. Hamann Univers. Duisburg-Essen 45 genau der Richtige für die Stelle und nehme das Angebot an. Als S von U nichts mehr hört, erscheint er am 1.10. zum Dienstantritt bei U. Muss U den S

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