Medienpsychologie - Lektion 3-6 PDF
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Die Lektion behandelt Wissensrepräsentation und Gedächtnis in der Medienpsychologie. Sie erklärt die Grundlagen des Gehirns und seiner Funktionen, die Kategorisierung und Speicherung von Wissen im Gehirn, sowie verschiedene Techniken zum besseren Lernen und Behalten. Die Lektion beleuchtet auch Gehirnregionen und Konzeptuelles Wissen.
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LEKTION 3 WISSENSREPRÄSENTATION UND GEDÄCHTNIS LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welches die Grundlagen unseres Gehirns und seine Funktionen sind. – wie das Wissen im Gehirn kategorisiert und gespeichert wird. – wie Informationen sowohl strukturell als auch pr...
LEKTION 3 WISSENSREPRÄSENTATION UND GEDÄCHTNIS LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welches die Grundlagen unseres Gehirns und seine Funktionen sind. – wie das Wissen im Gehirn kategorisiert und gespeichert wird. – wie Informationen sowohl strukturell als auch prozessual im Gehirn gespeichert wer- den. – welche Arten von Wissensrepräsentationen es gibt. – welche Techniken helfen, Dinge besser zu lernen und zu behalten. 3. WISSENSREPRÄSENTATION UND GEDÄCHTNIS Einführung Setzt man sich mit Medienpsychologie auseinander, so ist es zwangsläufig, dass man auch mit einigen Bereichen der kognitiven Psychologie in Berührung kommt. Medien über- schütten uns täglich mit Informationen auf allen Kanälen. Mit diesen Informationen müs- sen wir umgehen und sie verarbeiten. Sie verändern unser Denken, unser Verhalten und unsere Einstellungen. Doch zuvor steht auch die Frage, wie überhaupt das Erkennen dieser Information geschieht. Das Thema Kognition beschäftigt sich mit der Gesamtheit aller Prozesse, die mit Wahrnehmen und Erkennen zusammenhängen. Die kognitive Psychologie befasst sich grundlegend mit den Fragen, wie wir Informationen über die Welt gewinnen und behalten. Und wie werden diese Informationen vom Gehirn gespeichert und verarbeitet? Die kognitive Psychologie ist also auch eine Untersuchung über unser Denken. Die gesamte Spielbreite von der Empfindung über die Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis, Erinnern und Sprache wird von diesem Bereich der Psychologischen Wissenschaft beleuchtet. In dieser Lektion wird der Fokus besonders auf die Prozesse der Informationsgewinnung, auf das Speichern der Informationen im Gedächtnis und auf die verschiedenen Gedächt- nisbereiche gelegt. 3.1 Gehirnregionen Das menschliche Gehirn ist eines unserer komplexesten Organe und das komplizierteste körperliche System, das wir kennen. Schon mit einfachsten Steuerungen, z. B. eine bestimmte Tasse aus einem Regal holen, löst es Aufgaben, zu denen bisher kein Computer in der Lage ist. Der Neurologe James Watson bezeichnet das Gehirn als das „letzte und großartigste Neuland, […] das komplexeste Gebiet, das wir bisher in unserem Universum entdeckt haben“ (zit. nach Solso 2005, S. 33). Das Gehirn ist Teil des Nervensystems, in dem der größte Teil der Informationsverarbeitung stattfindet. Die für die Informationsver- arbeitung wichtigsten Bestandteile des Nervensystems sind die Nervenzellen bzw. Neuro- nen, also Zellen, die die elektrischen Aktivitäten akkumulieren und weiterleiten. Jedes ein- zelne Neuron hat die Rechenkapazität eines kleinen Computers, im Gehirn selbst sind etwa 100 Milliarden Neuronen vorhanden. Ein großer Teil dieser Neuronen ist gleichzeitig aktiv, die Informationsverarbeitung ist ein permanentes wechselseitiges Zusammenspiel. Nach dieser Logik besitzt das menschliche Gehirn, das etwa 1.400 Gramm wiegt, die Rechenleistung von 100 Milliarden miteinander vernetzten Computern (Anderson 2007). 40 Im Gehirn werden Informationen und Sinneseindrücke verarbeitet und als Handlungsan- weisungen und Steuerungen für alle lebenswichtigen Körperfunktionen in den Rest des Körpers wieder zurückgeschickt. Vieles geschieht dabei, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Auch Gefühle werden im Gehirn empfunden und Wissen im Gehirn gespei- chert und repräsentiert. Jedes Verhalten beruht also auf der Aktivität der Neuronen. Das Gehirn besteht aus verschiedenen Bereichen, denen unterschiedliche Aufgaben zuge- teilt sind: Großhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn (Thalamus, Hypothalamus und Hypophyse), Stammhirn (Mittelhirn, Brücke, verlängertes Mark). Evolutionsgeschichtlich sind die tiefer liegenden Teile des Gehirns, also Stammhirn und Zwischenhirn, die ältesten. Die höher gelegenen Teile sind nur bei den höheren Arten (Menschen und Säugetieren) gut ausgebildet. In dieser Logik steuern die unteren Teile grundlegende Lebensfunktionen wie die Atmung, Schlucken, Herzschlag (verlängertes Mark); elementare Triebe (Hypothalamus) sowie motorische Koordination und willkürli- che Bewegung (Kleinhirn). Abbildung 13: Seitenansicht auf das menschliche Gehirn Quelle: Höhne 2015. Der evolutionär jüngste Teil des Gehirns, der Neokortex, stellt den größten Teil des menschlichen Gehirns dar und teilt sich in die linke und die rechte Hemisphäre. Informati- onen werden kontralateral verarbeitet, d. h., es gibt eine enge Verbindung zwischen der 41 linken Körperhälfte und der rechten Hemisphäre und umgekehrt. Zum Beispiel wird die rechte Hand von der linken Gehirnhälfte gesteuert und die Seheindrücke des linken Auges von der rechten Gehirnhälfte verarbeitet. Der Neokortex teilt sich in vier Bereiche auf, die alle bestimmte Funktionen haben, aber auch untereinander auf das engste vernetzt sind: Frontal- oder Stirnlappen: Der hintere Teil hängt vorwiegend mit motorischen Funktio- nen zusammen, der vordere Teil, der präfrontale Kortex, ist an höheren Prozessen als eine Art oberstes Kontrollzentrum für situationsbezogenes Handeln beteiligt. Der Okzipitallappen enthält die primären visuellen Felder, d. h., dort findet die Verarbei- tung der Sehreize statt. Der Parietallappen ist der Sitz von sensorischen Funktionen (Körperwahrnehmung), ebenso ist er an der räumlichen Verarbeitung beteiligt. Der Temporallappen enthält die auditiven Felder, ist aber auch an der Objekterkennung beteiligt. Dabei spielt aber nicht nur der Neokortex eine Rolle bei der höheren Kognition. Bedeu- tend für das Gedächtnis ist auch das limbische System, das zwischen Neokortex und den subkortikalen Strukturen sitzt. Im limbischen System befinden sich der Hippocampus und die Amygdala, beide spielen eine große Rolle für das menschliche Gedächtnis bzw. für die Speicherung von Fakten und Erinnerungen. Verschiedene spezifische Bereiche des Gehirns unterstützen damit also die verschiedenen kognitiven Funktionen (Anderson 2007). 3.2 Konzeptuelles Wissen Informationen gewinnen wir über unsere Sinnesorgane. Was aber geschieht mit diesen Informationen dann? Mit dieser Frage beschäftigt sich der kognitionspsychologische Kom- Wissen plex rund um das Wissen. Wissen ist organisierte, sozusagen „verdaute“ Information Die Speicherung, Integra- (Solso 2005). Wenn eine Information im Gedächtnis abgespeichert wird, dann geschieht tion und Organisation von Informationen im dies nicht detailgetreu. Einiges von der Information behalten wir, andere Details werden Gedächtnis ist die allge- verworfen. Gleichzeitig wird die Information abstrahiert, d. h., wir können von spezifi- meine Definition von Wis- schen Erfahrungen auf generelle Kategorien bzw. Konzepte der Merkmale der jeweiligen sen. Erfahrungsklasse abstrahieren. Diese Abstraktionen werden vom sogenannten konzeptu- ellen Wissen hervorgebracht. Beispielsweise können wir einen Stuhl, den wir niemals zuvor gesehen haben, als Stuhl identifizieren. Ebenso wissen wir, dass Golden Retriever, Möpse und Dackel zur Kategorie Hund gehören. Anstatt uns also daran zu erinnern, dass uns ein vierbeiniges pelziges Objekt mit wedelndem Schwanz abgeleckt hat, wissen wir, dass wir von einem Hund abgeleckt worden sind. Indem wir wissen, dass es sich um einen Hund handelt, können wir auch Vorhersagen tref- fen, z. B. darüber, dass der Hund bellen wird oder was er tun wird, wenn wir einen Ball werfen. Ebenso können wir über das Objekt Stuhl sagen, dass wir uns daraufsetzen kön- nen. 42 Die Forschung beschäftigt sich damit, wie diese Kategorien bzw. Konzepte gebildet wer- den und wie wir sie zur Interpretation von Erfahrungen nutzen. Es existieren zwei (mitei- nander verwandte) Theorien, von denen alle anderen Theorien zur Kategorisierung ausge- hen: Die Theorie der Semantischen Netzwerke und die Theorie der Schemata (Anderson 2007). Semantische Netzwerke Ein semantisches Netzwerk könnte auch als internes Lexikon bezeichnet werden, das Semantisches Netzwerk nach einer eigenen Hierarchie (also nicht wie im Lexikon alphabetisch) aufgebaut ist. Die- Die Wissensorganisation im Gedächtnis wird durch ses Modell wurde von Collins und Quillian (1969) vorgeschlagen. Danach speichern wir das semantische Netz- jedes einzelne Wort bzw. jede einzelne Information in einer Konfiguration aus anderen werk gestaltet. Wörtern, die eine hierarchische Netzwerkstruktur kategorialer Tatsachen darstellt. Bei- spielsweise wissen wir, dass ein Kanarienvogel ein Vogel und ein Vogel ein Tier ist. Den einzelnen Kategorien sind einzelne Attribute zugeordnet, die diese Kategorien kennzeich- nen. Der Kanarienvogel ist gelb und kann schön singen. Ausnahmen sind möglich. So ist der Strauß zwar ein Vogel, er kann aber nicht fliegen. Abbildung 14: Die Gedächtnisstruktur einer Hierarchie auf drei Ebenen für das Beispiel Kanarienvogel Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020 in Anlehnung an Anderson 2007, S. 184. Collins und Quillian überprüften ihre Theorie mit einem Experiment, in dem Probanden Aussagen nach ihrer Wahrheit beurteilen sollten. In diesem Fall war die Reaktionsge- schwindigkeit, mit der die Probanden die Richtig- oder Falsch-Taste drückten, die Variable. Aussagen waren z. B. folgende: 1. Kanarienvögel können singen. 2. Kanarienvögel haben eine Haut. 3. Kanarienvögeln haben Federn. 43 Die Reaktionsgeschwindigkeit bei Satz 1 war beispielsweise wesentlich schneller als die bei Satz 2. Die Information, dass Kanaris singen können, ist unmittelbar beim Wort Kanari- envogel gespeichert. Das Merkmal Haut jedoch findet sich in der Kategorie Tier, also zwei Stufen über dem Kanarienvogel. Es brauchte also etwas länger, um diesen Satz als richtig zu kennzeichnen. Zwar handelt es sich stets um Millisekunden, aber dennoch lässt sich so die Vernetzung in ober- und untergeordneten Kategorien nachweisen (Anderson 2007; Solso 2005). Andererseits beeinflussen bestimmte und häufige Erfahrungen auch die Abrufzeit. „Äpfel kann man essen“ wurde schneller verifiziert als die Aussage „Äpfel haben dunkle Kerne.“ Die Essbarkeit des Apfels ist sicher in einer höheren Kategorie abgespeichert, bei Obst oder Nahrungsmitteln. Die dunklen Kerne sind ein direktes Attribut des Apfels, dennoch ist die Essbarkeit offensichtlich aufgrund unserer Erfahrung auch direkt über den Apfel abruf- bar. Anderson fasst dieses Modell wie folgt zusammen (Anderson 2007): Begegnet man häufig einer Information über ein Konzept, so wird die Information zusammen mit dem Konzept gespeichert, auch wenn sie aus einem anderen oder über- geordneten Konzept abgeleitet werden könnte. Wir assoziieren eine Tatsache stärker mit einem Konzept, je häufiger wir ihr begegnen. Und je stärker Fakten mit dem Konzept assoziiert sind, desto schneller werden entspre- chende Aussagen verifiziert. Wir brauchen relativ viel Zeit, um Tatsachen abzuleiten, die nicht direkt bei einem Kon- zept gespeichert sind. Semantische Netzwerke sind individuell höchst unterschiedlich. Jeder von uns hat andere Verknüpfungen. Denken einige z. B. bei Obst zunächst an Äpfel und Birnen, die süß schme- cken, wird ein Obstexperte vielleicht an alte Apfelsorten denken, ein Bäcker eher an Apfel- kuchen. Die Netzwerke verändern sich ständig aufgrund unserer täglichen Erfahrung. Auch soziale Informationen sind im semantischen Netzwerk gespeichert, insofern haben sie auch soziale Relevanz. Über das Netzwerk werden z. B. Stereotype abgerufen. Nicht wenigen von Ihnen wird, wenn Sie das Wort „Professor“ lesen, der Begriff „zerstreut“ dazu einfallen. Schemata Semantische Netzwerke speichern Eigenschaften mitsamt Konzepten. Sie können aber nicht die Natur unseres Wissens über ein Objekt aufnehmen. Beispielsweise wissen wir einiges über das Objekt Haus: Häuser … … sind eine Art von Gebäuden. … haben Zimmer. … können aus Stein, Holz oder Ziegeln gebaut sein. … dienen als Wohnung. … haben rechteckige oder dreieckige Formen. … sind größer als 10 qm und kleiner als 1.000 qm. 44 Erwähnt jemand ein Haus, so haben wir bereits eine Vorstellung über dieses Objekt. Es ist also entscheidend an einer Kategorie, dass sie vorhersagbare Informationen über einzelne Exemplare dieser Kategorie speichert (Anderson 2007). Diese Repräsentationsform von Wissen, die nicht durch ein semantisches Netzwerk abge- deckt wird, wird als Schema bezeichnet. Das kategoriale Wissen eines Schemas enthält Eigenschaftsleerstellen, sogenannte „Slots“. Diese werden gefüllt durch die gegebenen Informationen oder durch Voreinstellungswerte bzw. „Defaults“. Für das Beispiel Haus ergibt sich also folgende (nicht vollständige) Schemarepräsentation: Oberbegriff: Gebäude, Teile: Zimmer, Material: Holz, Ziegel, Stein, Funktion: Wohnraum, Form: rechteckig oder dreieckig, Größe: zwischen 10 und 1.000 qm. Material, Funktion, Form etc. sind hier die Slots. Holz, Wohnraum etc. sind die Defaults. In der Regel sind die Default-Werte ein nützlicher Schlussfolgerungsmechanismus (Anderson 2007). Betrachten wir ein anderes Beispiel (Wentura/Frings 2013): „Hauptkommissar Batic betrat den Tatort. Er ging vom Flur in den ersten Raum rechts. Als erstes fiel ihm der laufende, auf stumm geschaltete Fernseher auf. Die Fernbedienung lag auf einem niedrigen Tisch davor.“ Sie haben sicherlich nun ein Wohnzimmer vor Augen. Spezifische Merkmale wie eine Couch oder ein Bücherregal, die im Text nicht erwähnt sind, werden mental ergänzt. Die gegebene Information sind ein Fernseher, ein niedriger Tisch, eine Fernbedienung, die Voreinstellungswerte setzen die typischen Einrichtungsgegenstände aus dem Wohnzim- mer-Schema hinzu. Beobachten Sie sich selbst: Welche Vorstellung von dem Wohnzimmer hätten Sie, wenn es im Text hieße: „Die Fernbedienung lag auf einem Häkeldeckchen auf dem Tisch.“ Das Wohnzimmer sieht in Ihrem Kopf gleich anders aus, die Möbelstücke wer- den mental passend zum Häkeldeckchen ergänzt. Nicht nur für Dinge gibt es Schemata, sondern auch für Ereignisse bzw. typische Ereignis- sequenzen. Ein solches Ereigniskonzept wird „Skript“ genannt. Ein beliebtes Beispiel in der kognitiven Psychologie ist ein Restaurantbesuch. Das Skript für dieses Ereignis ist eine Sequenz einer Reihe von Teilereignissen, die unsere Erwartungen bestimmen: Eintreffen im Restaurant, einen Tisch suchen, die Speisekarten nehmen, die Bestellung aufgeben usw. 45 Diese beiden Modelle – das semantische Netzwerk und das Schema – zeigen vor allem, dass wir zur Abstraktion und Generalisierung fähig und zur Loslösung des Denkens von einzelnen konkreten Erfahrungssituationen in der Lage sind. Letzten Endes macht dies uns zu dem, was wir sind: Wesen, die über sich und die Welt nachdenken können (Wen- tura/Frings 2013). 3.3 Gedächtnis und Gehirn Generell lässt sich das Gedächtnis in zwei Gruppen einteilen. Je nachdem, was Gehirn und Gedächtnis gerade tun, sind jeweils verschiedene Arten des Gedächtnisses aktiv. Zum Bei- spiel sind Bewegungsabläufe wie Fahrradfahren, Tennisspielen, ein Musikinstrument spie- len oder auch Autofahren Tätigkeiten, die von unserem Gehirn gesteuert werden, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Erinnern wir uns aber an unseren letzten Urlaub oder rufen Faktenwissen ab (z. B. 4 + 3 = 7), arbeiten wir bewusst. Es wird also zwischen explizi- tem und implizitem Gedächtnis unterschieden. Explizites Gedächtnis Das explizite oder deklarative Gedächtnis ist für den bewussten Abruf von Information Das bewusste Gedächtnis verantwortlich. Wenn Sie gebeten werden, die Hauptstadt von Frankreich zu nennen, so wird als explizites Gedächtnis bezeichnet. antworten Sie, mithilfe ihres aktiven und bewussten Gedächtnisses, mit Paris. Ebenso rufen Sie aktiv die PIN ihrer EC-Karte ab, wenn Sie am Bankautomaten Geld abheben wol- len. Generell kann man die Inhalte des expliziten Gedächtnisses damit charakterisieren, dass sie mit Worten erklärt werden können. Innerhalb des expliziten Gedächtnisses ist wiederum zwischen dem semantischen und dem episodischen Gedächtnis zu unterscheiden. Im episodischen Gedächtnis speichern wir unsere biografischen Erinnerungen, unsere Erfahrungen und Erlebnisse. Nach Tulving (1972) „empfängt und speichert [es] Informationen über zeitlich datierte Episoden und Ereignisse und […] über Beziehungen zwischen diesen Ereignissen“. Sowohl die Erinne- rung an manche Episoden der Grundschulzeit ist noch vorhanden, die Erinnerung an eine besonders schöne Hochzeit von Freunden oder die schreckliche Prüfung in Medienpsy- chologie. Das episodische Gedächtnis ist erfahrungsabhängig und organisiert sich immer Informationsverluste wieder neu, dabei ist es anfällig für Veränderungen und Informationsverluste. Wir ver- Dieser Begriff bezeichnet gessen so einiges. Aber wir haben damit eine Grundlage für das Erkennen von Ereignissen, verlorene Erinnerungen. z. B. das Erkennen von Orten und auch Menschen, denen wir früher begegnet sind (Solso 2005). Das semantische Gedächtnis ist sozusagen unser eigenes Lexikon, der Ort unseres „Welt- wissens“, das Gedächtnis für Wörter, Ideen, abstrakte Begriffe und Regeln und es organi- siert die Verwendung der Sprache. Oder wie Tulving (1972, zit. nach Solso 2005, S. 230) definiert: „Es handelt sich um einen geistigen Schatz, um das organisierte Wissen, das eine Person über Wörter und andere Symbole besitzt, ihre Bedeutung und Bezüge, über Bezie- hungen zwischen ihnen sowie über Regeln, Formen, und Algorithmen für die Manipulation dieser Symbole, Begriffe und Beziehungen. Das semantische Gedächtnis registriert keine wahrnehmbaren Eigenschaften von Inputs, sondern vielmehr kognitive Bezüge auf Input- signale.“ 46 Benutzen wir das Wort „blau“, so werden wir kaum auf eine bestimmte damit verbundene Episode in unserem Gedächtnis zurückgreifen, sondern wir beziehen uns auf die allge- meine Wortbedeutung. Unbewusste Erinnerungen werden im impliziten oder nicht-deklarativen Gedächtnis Implizites Gedächtnis abgespeichert. Es weiß nichts, kann aber alles. Die Erinnerung, wie wir ein Auto bedienen, Das implizite Gedächtnis ist das unbewusste ist tief in unserem impliziten Gedächtnis eingeprägt, wir tun es automatisch, ohne dass Gedächtnis. dazu ein bewusster Prozess abläuft. Das implizite Gedächtnis „beschreibt einen Wissens- bestand, den wir zwar nicht bewusst erinnern können, der sich aber dennoch in einer ver- besserten Leistung bei bestimmten Aufgaben niederschlägt“ (Anderson 2007, S. 278). Auch das implizite Gedächtnis lässt sich in verschiedene Bereiche aufteilen. Das prozedu- rale Gedächtnis ist für die Bewegungsabfolgen zuständig, also für unsere motorischen Fähigkeiten, und schließt auch einfache Konditionierungsvorgänge mit ein. Das perzeptu- elle Gedächtnis wiederum speichert konkrete Wahrnehmungen von Objekten und ermög- licht es uns, diese Objekte schneller wiederzuerkennen. Einen weiteren Bereich stellen wir hier vor: Unter bestimmten Umständen kommen expli- zites und implizites Gedächtnis miteinander in Berührung und überschneiden sich bzw. schieben sich die Aufgaben zu. Untersuchungen zeigen, dass Probanden bei bestimmten Reizen, mit denen eigentlich das explizite Gedächtnis aktiviert werden sollte, auf das implizite umschwenken. Betrachten Sie folgende Buchstabenabfolge. Wie heißt das Wort? I_f_r_a_i_n_v_r_u_t_ Wahrscheinlich wissen Sie die Antwort schon. Auf einer vorherigen Seite haben Sie eine Marginalie gesehen und eventuell wahrgenommen. Diese Marginalie war der Prime, der Prime eine mentale Assoziation unterhalb des Bewusstseinsniveaus bei Ihnen aktiviert hat Ein Reiz, der die Verarbei- tung eines anderen Reizes (Solso 2005). Sofort ist das implizite Gedächtnis an die Stelle des expliziten Gedächtnisses beeinflusst, ist ein Prime. gesprungen. Wenn Sie die Buchstabenfolge jemandem vorlegen, der den Prime nicht gesehen hat, wird er das Wort auch herausfinden, aber mit dem expliziten Gedächtnis etwas länger dafür brauchen. Der Begriff des Priming wird Ihnen in der Medienpsychologie noch öfter begegnen. 47 Abbildung 15: Arten des Gedächtnisses nach Squire Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020 in Anlehnung an Anderson 2007, S. 286. 3.4 Das Erinnern: Kurz-, Mittel- und Langzeitgedächtnis Encodierung und Abruf – ein prozessualer Ansatz Prototypische Gedächtnisexperimente gliedern sich in drei Phasen: die Lernphase (Enco- dierphase), die Behaltensphase (Retentionsphase) und die Abrufphase (Testphase) (Wen- tura/Frings 2013). Bei Untersuchungen hat sich herausgestellt, dass eine erfolgreiche Erin- nerung in hohem Maße davon abhängt, inwieweit sich die Situation des Abspeicherns (Encodierung) und die des Abrufs gleichen. Das erklärt, warum wir in einigen Situationen Zugriff auf bestimmte Erinnerungen haben und in anderen im „Erinnerungsnebel“ stehen. Beim Encodieren von Erinnerungen wird eine Vielzahl von Kontextinformationen mitge- speichert. Diese Informationen sind für die Qualität des Abrufs essenziell, denn sie stellen wichtige Erinnerungshilfen dar. Die Erinnerung gelingt dann am besten, wenn die Encodie- rungsbedingungen wieder aktiviert werden können. Dieser Effekt wird als Encodierungs- spezifität bezeichnet. Es geht also um die kontextuelle Einbettung. Versuche haben gezeigt, dass die Gedächtnisleistung für Wörter steigt, wenn diese Wörter im Kontext der- selben Wörter gelistet werden, in dem sie ursprünglich gelernt wurden (Anderson 2007). Von Gedächtnisforschern wird zur Erläuterung vielfach ein literarisches Beispiel zitiert. Marcel Proust beschrieb in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, welche Erinnerung ihn durchflutete, als er ein Mandelgebäck mit etwas Tee nimmt: In der Sekunde, wo dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, dass sich in mir vollzog […] und dann war mit einem Male die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen meine Tante Leonie anbot […] Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wieder erkannt hatte, die meine Tante mir, in Lindenblütentee ein- 48 getaucht, zu verabfolgen pflegte […] trat das graue Haus mit seiner Straßenfront […] hinzu […] und mit dem Hause die Stadt, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, die ich von morgens bis abends und bei jeder Witterung durchmaß (Proust 1979, S. 63). Hier zeigt sich bildhaft, wie bei diesem Codieren von Informationen zahlreiche Begleitin- formationen mitcodiert wurden. Unser Alltag bietet für diesen Effekt unzählige Beispiele. Wenn wir uns an einen bestimm- ten Inhalt erinnern wollen, sehen wir möglicherweise die Buchseite vor unserem inneren Auge, auf der die Antwort stand, oder hören die Musik, die uns beim Lernen begleitet hat. Es müssen keine sinnvollen Verknüpfungen zwischen den Kontextinformationen und der eigentlichen Zielinformation gegeben sein, selbst ein tropfender Wasserhahn beim Voka- bellernen kann eine Erinnerungshilfe sein. Allerdings müssen die Informationen spezifisch sein, das bedeutet, in der bestimmten Situation verankert. Auch der Abrufschlüssel („Cue“) muss ausreichend gut sein, damit der Zugriff auf die Epi- sode, die Erinnerung gelingt. Perfekte Erinnerung gelingt also durch die Wechselwirkung zwischen den Bedingungen beim Encodieren und den Bedingungen beim Abruf (Neath/ Surprenant 2005). Der Bildüberlegenheitseffekt bei Erinnerungen erklärt sich aus der dualen Codierung von Bild und Sprache. Grundsätzlich können Informationen bildhaft oder sprachlich in unse- rem Gedächtnis verarbeitet werden. Vor allem konkrete Begriffe wie „Buch“ oder „Frosch“ können in beiden Systemen gespeichert werden. Für abstrakte Begriffe benötigen wir einen eigenen Code, um sie uns zu merken. In der Regel haben wir keine bildliche Vorstel- lung von Worten wie „Bruttosozialprodukt“ oder „Moment“. Zum Beispiel haben Marken- namen wie „Frosch“ eine erheblich bessere Chance, dass man sich an sie erinnert, als Mar- kennamen wie „Clever“. Verarbeitungstiefe Der Effekt der Verarbeitungstiefe verstärkt unsere Gedächtnisleistung zusätzlich. Wir mer- ken uns Nachrichten besser, wenn wir danach fragen, warum es so ist, statt nur wahrzu- nehmen, dass es so ist. Die Information wird bei der Analyse von Gründen intensiver verar- beitet als bei der reinen Kenntnisnahme. Die größte Wirkung hat die Verarbeitungstiefe, wenn wir die Analyse auf uns beziehen. Wenn Sie gebeten würden, zu entscheiden, ob das Wort Bildüberlegenheitseffekt mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, würden Sie sich nach Erledigung der Aufgabe nicht lange daran erinnern. Sehr viel intensiver wäre Ihr Erinnerungsvermögen, wenn Sie über- legt haben, ob alle Wortteile der deutschen Sprache entstammen oder ob lateinische oder griechische Begriffe darin vorkommen. Den größten Effekt auf Ihre Erinnerung hätte es, wenn Sie entscheiden sollten, ob und wie das Wort Bildungsüberlegenheitseffekt auf Sie und Ihre Erinnerungsleistung zutrifft. Hier tritt der sogenannte Generierungseffekt in Kraft: Informationen, die wir selbst gene- rieren, haben eine sehr viel höhere Wahrscheinlichkeit, dass wir uns wieder daran erin- nern (Felser 2015). 49 Zur Erklärung des Generierungseffekts dient das folgende Beispiel: Sie haben an einem Workshop teilgenommen und möchten im Anschluss Ihren Freunden möglichst genau vom Ablauf berichten. Wenn Sie sich frei erinnern müssen, fallen Ihnen am leichtesten die Momente ein, an denen Sie selbst zum Workshop beigetragen oder Erkenntnisse auf sich angewendet haben. Selbst die Dinge, die Sie nicht gesagt, sondern nur gedacht haben, sind präsenter als Beiträge anderer Teilnehmer. Gerade für Lerneinheiten ist es daher sinnvoll, sich mit den Auswirkungen von Informatio- nen auf die eigene Person zu beschäftigen. Sie merken sich die Informationen über unsere Gedächtnisleistung sehr viel intensiver, wenn Sie sich überlegen, welche Aspekte Sie bei sich wahrnehmen können und welchen Vorteil beispielsweise bildhaftes Lernen konkret für Sie hat. Der Generierungseffekt erfordert also die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Wirken auf die eigene Person. Passives Aufnehmen allein reicht nicht aus. Der Vorteil liegt allerdings auf der Hand, denn einerseits wird die Gedächtnisleistung gefördert und ande- rerseits überzeugen uns Argumente, auf die wir selber gekommen sind, am meisten. Vergessen und Rekonstruktion Erinnerungen werden von unserem Gedächtnis nicht willkürlich gelöscht. Selbst Informa- tionen, die uns auch mit großer Anstrengung nicht mehr zugänglich zu sein scheinen, sind nach aller Regel nach wie vor „irgendwo“ existent. Was geschieht aber mit den Erinnerun- gen, die uns abhandenkommen? Die Theorie des Vergessens beschreibt, dass „sich viele gleichartige Gedächtnisspuren unentwirrbar überlagern oder dass kein distinkter Abrufschlüssel mehr zur Verfügung steht“ (Wentura/Frings 2013, S. 110). Das bedeutet, dass neue eingehende Informationen den Zugriff auf bereits gelernte Infor- mationen überlagern und behindern können. Werbespots werden leichter vergessen, wenn sie in thematisch eng zusammenhängenden Blöcken dargestellt werden, da das Gedächtnis keinen Ansatz der Differenzierung findet. Der Abrufschlüssel ist nicht mehr aufrufbar, weil eine eindeutige Zuordnung fehlt. Diesen Effekt nennt man Interferenz. Es wird Ihnen beispielsweise kaum gelingen, sich an die Mathestunde am 21. Februar zu erin- nern, als Sie in der neunten Klasse waren. Die vielen Mathestunden überlagern einander, d. h., sie interferieren. Vergessen ist also eine Folge davon, dass weitere und ähnliche Informationen hinzugekommen sind. Wenn wir beispielsweise das erste Mal ein Konzert unseres Lieblingskünstlers besuchen, dienen die Songs oder die Fotos, die wir während des Konzerts gemacht haben, als Abrufschlüssel. Wenn wir nun wiederholt die Konzerte desselben Künstlers besuchen, immer wieder ähnliche Fotos machen und täglich die Lie- der als Hintergrundmusik hören, lösen weder Fotos noch Songs die explizite Erinnerung an ein bestimmtes Konzert aus. Möglicherweise „vergessen“ wir sogar, dass wir bestimmte Konzerte besucht haben. 50 False-Memory-Effekt Die Rekonstruktion von Erinnerungen anhand bestimmter Abrufschlüssel läuft leider nicht fehlerfrei in unserem Gedächtnis ab. Elizabeth Loftus hat sich der Erforschung von „False Memory“, also falschen Erinnerungen, gewidmet und mehrere faszinierende Studien zu diesen Themen veröffentlicht (Loftus/Garry/Manning 1996). Eines der wohl bekanntesten Experimente dreht sich um die Glaubwürdigkeit von Kind- heitserinnerungen. Das Forscherteam um Loftus zeigte jedem einzelnen Probanden eine gefälschte Werbeannonce des Disney-Konzerns, in der er als Kind neben Bugs Bunny abgebildet war. Auf Nachfrage konnten sich einige von ihnen erinnern, wie sie dem Hasen begegnet waren. Einzelne Probanden berichteten sogar über ein Handschütteln oder die Weichheit des Fells der verkörperten Comicfigur. 16 % der 167 Versuchspersonen entdeck- ten in diesem Experiment plüschige Hasenerlebnisse in ihrem Gedächtnis, in einer Folge- studie waren es sogar 35 %. Nur: Bugs Bunny ist ein Geschöpf des Konzerns Warner Brot- hers und dürfte im Konkurrenzunternehmen Disneyland niemals aufgetaucht sein. Selbst eine rational nachweisbare falsche Erinnerung wurde von den Teilnehmern nicht als sol- che erkannt (Loftus/Garry/Manning 1996). Diese mentale Vervollständigung nehmen die Probanden ohne willentliche Absicht vor. Was wir für sehr plausibel halten, erleben wir häufig als echte Erinnerung. Es kommt uns „wahrhaftig“ vor. Grundsätzlich nutzen wir für den Zugriff auf unsere Erinnerungen alle Abrufschlüssel, die sich dazu anbieten. Informationen über die vergangene Situation, sensorische Reize über unsere Sinneskanäle oder generische Erinnerungen, die nicht unbedingt auf die gesuchte Situation zurückzuführen sind, helfen dabei, Erinnerungen in unserem Gedächtnisnetz- werk aufzuspüren. Das kann zu einer korrekten Erinnerung führen, bietet aber auch offen- sichtlich Spielraum für Fehler. So können z. B. subjektive Fragestellungen falsche Informa- tionen voraussetzen, um die wir unsere Erinnerungen ergänzen. Wenn die Zeugen eines Unfalls gefragt werden: „Haben Sie die Glassplitter auf dem Boden gesehen?“, nehmen sie auch ohne reale Erinnerung an, es seien Glassplitter zu sehen gewesen (Felser 2015). Besonders verstärkend wirkt hier der Einsatz des bestimmten Artikels „die Glassplitter“. Damit wird die Vorannahme geprägt, dass es Glassplitter gab, und wir fügen sie unserer Erinnerungsepisode bereitwillig hinzu. Ein weiteres Mittel zur Beeinflussung der Gedächt- nisleistung ist die Taktik der doppelten Fragestellung. Werden Personen dieselben Fragen zweimal suggestiv gestellt, neigen sie dazu, ihre Antwort beim zweiten Mal zu ändern (Fel- ser 2015). Das Drei-Speicher-Modell: Kurz-, Mittel- und Langzeitgedächtnis Haben wir uns bislang mit dem prozessorientierten Gedächtnismodell befasst, wenden wir uns nun dem strukturorientierten Gedächtnismodell zu. Nach dem Speichermodell arbeiten in unserem Gedächtnis drei verschiedene Bereiche an der Informationsverarbeitung: der sensorische Speicher, der Arbeitsspeicher und der Langzeitspeicher. Im Speichermodell nimmt man an, dass Informationen der Außenwelt über unsere Sinne in verschiedene sensorische Speicher gelangen. Unsere Sinne versor- 51 gen unser Gehirn mit ca. elf Millionen Bits Informationen pro Sekunde. Das ist in etwa die Datengröße eines Spielfilms auf YouTube. Verarbeiten können wir bewusst allerdings nur maximal 40 Bits pro Sekunde! Unsere Sinneskanäle speichern die erhaltenen Informationen allerdings nur für eine sehr kurze Zeit. Versuchspersonen können z. B. die Antwort auf die Frage „Was war in dem Bild rechts oben zu sehen?“ korrekt liefern, wenn sie sie aus dem sensorischen Speicher, also dem Ultrakurzzeitgedächtnis, abrufen. Dieser ist allerdings hinsichtlich der Bildspeiche- rung bereits nach etwa 50 Millisekunden geleert. Durch Aufmerksamkeitsprozesse werden bestimmte Reize für die weitere Verarbeitung selektiert oder: „Was nicht wichtig ist, fliegt raus!“ Im Arbeitsspeicher werden Informationen geordnet und für aktuelle Tätigkeiten abrufbar gemacht. Allerdings verfügt er über sehr wenig Kapazität und hat seine Auslastung bereits mit „7 +/– 2“ Einheiten, also fünf bis neun Informationseinheiten erreicht. Bei langen Zah- lenfolgen sind wir bei mehr als neun Ziffern bereits am Ende unserer Merkfähigkeit ange- kommen. Eine Zahl entspricht etwa fünf Bits Informationen, ebenso ein Buchstabe. 40 Bits sind damit schon bei einem Wort mit acht Buchstaben erreicht. „B U C H S T A B“ – mehr können Sie innerhalb einer Sekunde nicht bewusst aufnehmen! Um die Begrenzung des Arbeitsspeichers zu umgehen, müssen wir die Einheiten, die wir uns merken wollen, sinnvoll miteinander verbinden und damit Raum für neue Einheiten schaffen. Statt eine Information in Einzelteilen abzuspeichern, sorgt ein Bezug zwischen den Teilen dafür, dass sie eine einzige Einheit bilden. Wenn in einer Wortliste das Wort „Marylin“ vorkommt und später „Monroe“, sollte es nicht schwerfallen, diese Worte als eine Einheit abzuspeichern, statt zwei Einheiten zu belegen. Auf dieser Erkenntnis basieren übrigens die meisten Methoden von Gedächtnistrainings. Nummern und Buchstaben werden mit möglichst bildhaften Darstellungen verknüpft, um zum einen die Einheiten zu komprimieren und zum anderen den Bildüberlegenheitseffekt zu nutzen. Die verbleibenden 10.999.960 Bits pro Sekunde, die wir zwar unbewusst aufnehmen, aber nicht bewusst verarbeiten, sorgen dafür, dass wir trotz aller Einschränkungen des Arbeits- speichers effektiv kommunizieren und funktionieren können. Die permanente Ablage von Informationen erfolgt im Langzeitspeicher. Hier steht uns unbegrenzter Speicherplatz zur Verfügung. Die entscheidende Frage ist daher nicht die nach der Kapazität, sondern vielmehr nach der Organisation des Langzeitspeichers, wie und wo Informationen abgelegt, organisiert und vernetzt werden. 52 3.5 Einflussfaktoren auf Gedächtnisleistungen Nach all dem entsteht die Frage, wie wir konkret Informationen aufnehmen und vor allem so verarbeiten können, dass wir sie behalten. Erfolg in vielen Bereichen, im Studium, Wirt- schaftsleben, aber auch im Sport, hängt vielfach von unserer Fähigkeit ab, uns eine Reihe von Information besser merken zu können. Verschiedene Faktoren und Methoden können dabei unsere Gedächtnisleistungen verbessern. Mnemotechnische Systeme Wir haben zahlreiche Hilfen, mit denen wir unser Gedächtnis stützen. Reden werden mit Notizen gehalten, Schüler schreiben sich Spickzettel, viele Fernsehansprachen werden durch einen Teleprompter unterstützt. Narrative Gesellschaften benutzen Geschichten mit reichhaltiger, bildhafter Sprache, um ihre eigene Geschichte weiter zu tradieren. Mnemotechnische Systeme, also Gedächtnishilfen oder -tricks, unterstützen uns dabei, unsere Gedächtniskapazitäten zu optimieren. Vertraute Assoziationen werden dazu ver- wendet, die Speicherung von Informationen und deren Abruf aus dem Gedächtnis zu ver- bessern (Solso 2005). Eine bereits seit Jahrtausenden funktionierende Technik ist die Loci-Methode, die mit Loci-Methode visuellem Vorstellungsvermögen und dem Rückgriff auf räumliches Denken arbeitet. Eine Assoziationstechnik mithilfe des visuellen Vor- Bereits in der Antike, als Vorträge noch ohne Teleprompter oder Power-Point-Präsentatio- stellungsvermögens ist nen gehalten wurden, war diese Methode weitverbreitet. Mithilfe dieser Methode kann es die Loci-Methode. gelingen, sich gut an Objekte zu erinnern, die eigentlich wenig miteinander zu tun haben, indem diese Objekte beispielsweise mittels bildhafter Vorstellung an bestimmte Orte („Loci“) geknüpft werden. Eine Erinnerung funktioniert dann, wenn man geistig diese Orte wieder „abgeht“. Eine Einkaufsliste mit Brot, Milch, Tomaten, Katzenfutter und Gin können Sie sich auf dem Weg zur Arbeit recht gut folgendermaßen merken: Ein großes Brot, dass die Treppe hinunterhüpft, an der Bushaltestelle stoppt der Bus in einem großen Milchsee, am Eingang zum Büro steht ein riesiger Spalierbogen mit Tomaten, im Büro des Chefs sitzt eine fressende Katze auf dem Tisch, während der Chef Gin regnen lässt. Man muss nur noch im Geiste diesen Weg wieder abgehen und schon hat man sich an seine Einkaufsliste erinnert. Ein weiteres mnemotechnisches Verfahren ist die Schlüsselwortmethode, die vor allem Schlüsselwortmethode im Fremdsprachenunterricht eingesetzt wird. Das Schlüsselwort ist dabei ein deutsches Die Bildung einer interak- tiven Brücke zwischen Wort, das ähnlich wie ein Bestandteil des zu lernenden Wortes klingt. „Pato“ ist das spani- dem Klang eines Wortes sche Wort für Ente und hat einen ähnlichen Klang wie Pott. Der Sprachschüler muss sich und einem vertrauten also nur eine Ente mit einem Pott auf dem Kopf vorstellen und hat damit eine Beziehung Wort ist die Schlüssel- wortmethode. zwischen dem Schlüsselwort (Pott) und dem eigentlichen deutschen Wort (Ente) herge- stellt (Solso 2005). 53 Alle Systeme von Gedächtnishilfen basieren auf der Strukturierung von Informationen, die sich dann leicht abrufen lassen. Akronyme sind mitunter wichtige Lernhilfen, dabei wird aus dem ersten Buchstaben eines Wortes ein neues Wort gebildet, wie z. B. LAN für Local Area Network. Ein Akrostichon spielt das weiter. Aus den ersten Buchstaben wichtiger Begriffe wird eine Redewendung oder ein Satz gebildet, der die Eselsbrücke für die zu mer- kende Liste darstellt. Die Liste der wichtigsten kognitiven Psychologen – Shepard, Craig, Rumelhart, Anderson, Bower, Broadbent, Loftus, Estes, Sternberg, Piaget, Intons-Peterson, Erickson, Luria ergibt als Akronym: SCRABBLE SPIEL. Ein Akrostichon dazu könnte lauten: Sechs Cineasten rasieren aber bereits bei Lüneburg Elefanten. Sie palavern in einem Laden (Solso 2005). Elaborative Verarbeitung Es kommt also nicht nur darauf an, dass, sondern vor allem wie man sich das zu lernende Material aneignet. Bereits bedeutungshaltigere Verarbeitung von Material führt zu einer besseren Gedächtnisleistung ebenso wie die Verarbeitungstiefe. Ebenso gibt es Belege, dass eine elaborative Verarbeitung zu besserem Behalten führt, d. h. die Anreicherung des zu lernenden Materials mit zusätzlichen Informationen. Probanden konnten sich den Satz „Der Arzt hasste den Rechtsanwalt“ besser merken, wenn sie eine Elaboration (Ausarbei- tung) hinzufügten, z. B. „weil er ihn wegen eines Kunstfehlers anzeigte.“ Wenn also Mate- rial elaborativer verarbeitet wird, dann wird es besser behalten (Anderson 2007). Wie aber lassen sich größere Texte, wie z. B. ein kompliziertes Kapitel über die Funktions- weisen des Gehirns, besser behalten? Auch hier hilft die elaborative Verarbeitung. Proban- dengruppen wurden angehalten, einen Text zu lesen. Eine Gruppe erhielt vor dem Lesen des Textes eine Reihe von Fragen, sog. Advance Organizer, über die sie vor dem Lesen des Textes nachdenken sollten, die andere nicht. Die erste Gruppe (mit den Fragen) konnte sich später besser an den Textinhalt erinnern als die zweite. Für das Behalten/Lernen eines umfangreicheren Textes bietet sich die PQ4R-Methode an, deren Name sich aus den sechs Phasen der Erarbeitung ableitet und ein Akronym der Anfangsbuchstaben der englischen Bezeichnungen dieser Phasen ist: Preview (Vorprüfung): Überfliegen des Kapitels, um die allgemeinen Themen zu bestim- men, die darin angesprochen werden. Identifikation der Abschnitte, die als Einheit zu lesen sind. Questions (Fragen): Formulierung von Fragen zu den Abschnitten. Oftmals genügt eine Umformulierung der Abschnittsüberschriften, um eine angemessene Frage zu erhalten. Read (Lesen): Sorgfältiges Lesen des Abschnitts bei gleichzeitiger Beantwortung der Fra- gen, die zuvor formuliert wurden. Reflect (Nachdenken): Reflexion über den Text schon während des Lesens. Bewährt hat sich auch das Finden von Beispielen und das Verknüpfen des Stoffs mit Vorwissen. Recite (Wiedergeben): Nach der Bearbeitung des Abschnitts erfolgt das Wiedergeben anhand der Fragen. Review (Rückblick): Im Rückblick soll der Text noch einmal gedanklich durchgegangen und die wichtigsten Punkte rekapituliert werden (Anderson 2007). 54 Zentral für den Lernerfolg nach dieser Methode ist es, dass die Fragen zu einer tieferen und elaborativeren Verarbeitung des Textes anhalten. Für Lernende wie Sie gibt es nicht zuletzt auch ganz praxisrelevante Tipps der Kommuni- kationswissenschaftlerin Vera Birkenbihl (2019; 2020), die sich intensiv mit den Lernfunkti- onen des Gehirns auseinandergesetzt hat und mehrere Methoden zum gehirngerechten Lernen entwickelt hat. ZUSAMMENFASSUNG Das menschliche Gehirn ist unser leistungsfähigstes und komplexestes Organ, durch das alle physischen und mentalen Prozesse gesteuert wer- den. Dabei sind verschiedene Gehirnbereiche für verschiedene Aufgaben zuständig und engstens miteinander vernetzt. Die kognitive Psychologie wendet sich vor allem der Frage zu, wie das Gehirn organisiert ist. Wis- sen wird dabei in verschiedenen Kategorien eingespeichert, die uns Abstraktionen ermöglichen, mit denen wir auf Erfahrungen zurückgrei- fen können. Zur kategorialen/konzeptuellen Wissensrepräsentation ste- hen dabei das semantische Netzwerk und Schemata zur Verfügung. Unser Gedächtnis hat verschiedene Bereiche, in denen Erinnerung, Information und Wissen gespeichert sind: das explizite und das implizite Gedächtnis. Im expliziten bzw. deklarativen Gedächtnis speichern wir bewusst Informationen und rufen sie auch bewusst ab, sei es Faktenwis- sen oder biografisches Wissen bzw. Erfahrungen im episodischen Gedächtnis. Das implizite bzw. nicht-deklarative Gedächtnis ist das unbewusste Gedächtnis. Es speichert einen Wissensstand, den wir nicht bewusst abrufen, der aber für verbesserte Leistungen bei bestimmten Aufgaben zuständig ist. Darüber hinaus konnte die Frage geklärt werden, inwieweit das Gehirn prozessual und strukturell vorgeht. Die Speicherung (Encodierung) von Informationen im Gehirn läuft über das Kurzzeitgedächtnis (oder senso- risches Gedächtnis) und über das Arbeitsgedächtnis in das Langzeitge- dächtnis. Je nachdem, in welchem Kontext die Informationen gespei- chert werden, desto besser können sie auch wieder aufgerufen werden. Mithilfe der kognitiven Psychologie konnten auch Mnemotechniken ent- wickelt werden, die es uns leichter machen, uns bestimmte Dinge zu merken. Auch die PQ4R-Methode, die es erleichtert, komplexe Texti- nhalte zu erinnern bzw. zu lernen, basiert auf kognitionspsychologi- schen Erkenntnissen. 55 LEKTION 4 MEDIENSELEKTION UND MEDIENREZEPTION LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welches die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Medienwahl sind. – wie verschiedene Modelle zur Erforschung der Medienwahl nach ihren Ansätzen zu unterscheiden und zu beurteilen sind. – wie Grenzen und Möglichkeiten der Nutzung unserer Sinne und unseres Gedächtnisses bei der Medienrezeption einzuschätzen sind. – wie Sie emotionale Reaktionen erklären und analysieren können. – welche Auswirkungen der Interaktion mit Mediencharakteren es gibt. 4. MEDIENSELEKTION UND MEDIENREZEPTION Einführung Welche Rolle spielt welches Medium in unserem Leben? Wann greifen wir zum Handy, hören Musik oder spielen ein Computerspiel? Welchen Inhalt bevorzugen wir über wel- chen Kanal und warum? Spielt unsere Persönlichkeit eine Rolle für die Auswahl? Über SMS und WhatsApp tauschen wir kleinere Nachrichten und Informationen aus, via Facebook oder Twitter wird ein interessanter Artikel gepostet bzw. getweetet. Nachrichten sehen wir im Frühstücksfernsehen oder am Abend, Hintergründe beziehen wir aus der Zeitung oder einem Nachrichtenmagazin, zunehmend auch auf deren Online-Portalen. Am Abend dann sehen wir zur Entspannung eine Serie auf Netflix. Medien dienen der Informationsbeschaf- fung, der Unterhaltung und der Kommunikation. Aber vor allem müssen wir eine Entschei- dung über die Wahl des Mediums treffen. Die Medienselektion steht am Anfang jeder Mediennutzung und wird durch viele Variablen geprägt. Die in dieser Lektion beschriebenen Modelle geben einen Überblick über mögli- che Ansätze zur Erforschung der Medienselektion. Die Medienrezeptionsforschung wiederum beschäftigt sich mit den Prozessen, die wäh- rend der Mediennutzung vollzogen werden. Sowohl kognitive als auch emotionale Pro- zesse sind in die Rezeption involviert. 4.1 Persönliche Medienwahl Die Medienwahl kann emotionale, kognitive oder individuell verhaltensbezogene Ursa- chen haben. Insbesondere die individuellen Persönlichkeitsfaktoren nehmen Einfluss auf die Nutzung bestimmter Medien. Mithilfe der folgenden Modelle lassen sich Zusammen- hänge zwischen Persönlichkeit und Medien analysieren. Persönlichkeitsfaktoren und Medienwahl Einen Überblick über die fünf grundlegenden Faktoren unserer Persönlichkeit gibt das Five-Factor-Modell, das über viele Studien und kulturübergreifend erarbeitet wurde. Zur Messung der Five-Factor-Persönlichkeitstsruktur wird am häufigsten der Persönlich- keitstest „Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI)“ herangezogen. Anhand von 567 Fragen und verschiedenen Antwortskalen wird hauptsächlich in der klinischen Psychologie und Psychiatrie eine umfassende Untersuchung der Persönlichkeit abgebil- det. 58 Abbildung 16: Das Five-Factor-Modell der Persönlichkeitsfaktoren Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020 in Anlehnung an Trepte/Reinecke 2019, S. 56. Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Persönlichkeitsmerkmalen und der Medien- selektion wurde bislang vor allem in den Bereichen Neurotizismus und Extraversion beforscht. So zeigt sich beispielsweise, dass Menschen mit hoch ausgeprägten Merkmalen des Neurotizismus favorisiert Gewalt- und Horrorfilme, Dramen und Tragödien wählen und depressive Musik bevorzugen (Trepte/Reinicke 2019). Eine hohe Ausprägung im Bereich Extraversion führt dazu, dass diese Personen reizinten- sive Medien bevorzugen, wie beispielsweise Actionfilme, Komödien und erotische Fern- sehinhalte (Finn 1997). Darüber hinaus gingen sie seltener ins Kino, schauen dafür lieber zu Hause fern, was die Erklärung fand, dass man sich zu Hause besser mit seinen Freun- den über den Film austauschen könne als im Kino, das weitgehend ein anonymes und abgeschirmtes Rezeptionserleben darstellt. In Bezug auf die Internetnutzung wurde festgestellt, dass es einen relativ schwachen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsvariablen und Internetnutzung gibt, was aller- dings auch an der Komplexität beider Variablen liegt. Die Medienangebote im Internet sind breit gefächert und bieten eine große Vielfalt an Nutzungsmöglichkeiten, die von den Rezipienten völlig unterschiedlich ausgewählt, wahrgenommen und genutzt werden. Insofern lässt dies Raum für unterschiedliche Datenanalysen. Die Untersuchung der Per- sönlichkeitsfaktoren und deren Nutzen liegt eher in breit angelegten medienpsychologi- schen Forschungen, die sowohl die Medienrezeption als auch ihre Wirkung miteinbezie- hen. Uses and Gratifications (Der „Erwartungs-Bewertungs-Ansatz“) Fragt die Medienwirkungsforschung „Was machen die Medien mit den Menschen?“, so fragt der Uses-and-Gratifications-Ansatz (UGA) danach, was die Menschen mit den Medien machen. Der UGA geht davon aus, dass Menschen Medien nutzen, um bestimmte Bedürf- nisse zu befriedigen. Als grundlegende Bedürfnisse können Information und Unterhaltung 59 genannt werden. Der Rezipient erwartet bei der Mediennutzung die Erfüllung eines dieser Bedürfnisse oder beider zugleich (Infotainment). Die Bedürfnisse und Motive können kon- textbezogen sein oder sich auch in unterschiedlichen Situationen ähneln. Die Forschung zum UGA beschäftigt sich in der Regel mit der Untersuchung von situationsunabhängigen Medienselektionen. Als Ergebnis der Untersuchungen werden Motivkataloge erstellt, die die Auflistungen der erhobenen Nutzungsmotive für ein Medium oder einen Inhalt enthal- ten. Erste Studien wurden bereits in den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA erstellt, im Umfeld der Forschungsgruppe um Paul Lazarsfeld. Als Ergebnis einer Untersuchung zur Nutzung von Soap Operas im Radio wurden die Nutzungsmotive drei verschiedenen Kategorien zugeordnet: Emotional Release: emotionale Entlastung, Ablenkung von den eigenen Problemen Wishful Thinking: Wunschdenken, Identifikation mit den Serienhelden und deren Lebensstil Advice: Ratschläge und Anregungen für das eigene Leben (Batinic 2008, S. 113). Diese Studien bildeten einen wichtigen Ausgangspunkt für die Entwicklung des UGA, wonach der UGA von folgenden fünf Grundannahmen ausgeht: 1. Aktives Publikum, das die Medien zielgerichtet und mit einem willentlichen Akt, d. h. nicht zufällig nutzt. 2. Der Rezipient entscheidet über die Mediennutzung. 3. Medien sind nur eine Quelle der Bedürfnisbefriedigung und stehen in Konkurrenz zu anderen entsprechenden Möglichkeiten (funktionale Alternativen wie Sport, Freunde treffen etc.) 4. Menschen sind in der Lage, in einer Befragung Auskunft über ihre Beweggründe und Motive der Mediennutzung zu geben. Der UGA geht also davon aus, dass den Personen ihre Bedürfnisse und Motive bewusst sind. 5. Bewertungen zur kulturellen Bedeutung der Mediennutzung bei der Analyse der Zuschauerorientierung stehen in einem Kontrast zum UGA und sollten unterbleiben (Katz/Blumler/Gurevitch 1974, S. 511). Kritisch diskutiert werden folgende Faktoren, die der UGA unberücksichtigt lässt: Die soziale Komponente bei der Medienwahl (beispielsweise der Kinobesuch als Grup- penereignis) wird nicht ausreichend berücksichtigt. Das zugrunde liegende Erhebungsverfahren, das davon ausgeht, dass Menschen gezielt Auskunft über ihre Bedürfnisse geben können. Daher kann der Nutzer die Motive nen- nen, die ihm plausibel erscheinen. Allerdings entsprechen diese möglicherweise nicht seinen wahren Motiven, wenn diese nicht bewusst wahrgenommen werden. Weder der Aspekt der Medienverfügbarkeit zum Zeitpunkt der Wahl noch finanzielle Ressourcen der Befragten werden berücksichtigt. Die Qualität der Bedürfnisbefriedigung wird nicht beurteilt. Bestimmte Medien erfüllen möglicherweise ein gewünschtes Ziel, allerdings können sie sich bezüglich ihrer Effekti- vität in der Erfüllung voneinander unterscheiden. 60 Trotz der genannten Konfliktpunkte ist der UGA in der aktuellen Forschung eine der Grundlagen zur Analyse von Kriterien zur Medienwahl (Batinic 2008). Zahlreiche Studien, die auf dem UGA basieren, erstellten Motivkataloge, die Nutzungsmotive für das Medium oder dessen Inhalt auflisten. Zum Beispiel fand Rubin (1983) neun Kategorien für die Fern- sehnutzung (Entspannung, Geselligkeit, Gewohnheit, Zeitvertreib, Unterhaltung, soziale Interaktion, Information, Spannung und Eskapismus), die er wiederum in zwei Basisdi- mensionen unterteilte, nämlich die instrumentelle, gezielte und die habituelle, rituali- sierte Fernsehnutzung (Batinic 2008). Überprüfen Sie doch selbst einmal, was davon auf Sie zutrifft, wenn Sie am Sonntagabend den „Tatort“ schauen. Abbildung 17: Motivdimensionen Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020 in Anlehnung an Six/Gleich/Gimmler 2007, S. 341. Eine Weiterentwicklung des UGA ist das GS-(„Gratifications Sought“-)/GO-(„Gratifications Obtained“-)Modell bzw. das Erwartungs-Bewertungsmodell. Ob ein Medium oder dessen Inhalt in der Lage ist, die Bedürfnisse und Motive des Nutzers zu stillen, kann dieser vor der Medienwahl nur aufgrund von Erfahrungen antizipieren. Gewissheit darüber hat der Nutzer erst nach dem Medienkonsum. Mit dem GS-/GO-Modell lässt sich auch überprüfen, inwiefern die Medienangebote den Wünschen des Publikums entsprechen (Vogel/Suck- füll/Gleich 2007). 61 Abbildung 18: Gesuchte (GS) und erhaltene Gratifikationen (GO) Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020 in Anlehnung an Six/Gleich/Gimmler 2007, S. 342. Mood Management Das Mood-Management-Modell, entwickelt von Zillmann (1988), beschäftigt sich im Gegensatz zum Uses-and-Gratifications-Ansatz mit der Theorie, dass die Medienwahl durch unbewusste psychophysiologische und emotionale Prozesse stattfindet und ihr hedonistische Motive zugrunde liegen (Vogel/Suckfüll/Gleich 2007). Das Medium wird vor- rangig zum Regulieren von emotionalen Zuständen genutzt und nicht willentlich dafür ausgewählt. Nach Zillmann ist das Ziel der Medienwahl die Herstellung eines stimulieren- den Gleichgewichts und die Minimierung von aversiven Gefühlen (Batinic 2008). Die Prämissen der Mood-Management-Theorie fassen Trepte und Reinicke wie folgt zusammen: Überstimulation (z. B. Stress) und Unterstimulation (z. B. Langeweile) sollen durch die Mediennutzung vermieden werden. Bei Überstimulation werden beruhigende, bei Unterstimulation anregende Medienin- halte ausgewählt. Es wird versucht, einen positiven Stimmungszustand zu erhalten und negative Zustände zu vermeiden oder zu reduzieren. Um die positive Stimmung beizubehalten, wählt der Mediennutzer wenig ablenkende Inhalte. Bei negativer Stimmung will sich der Mediennutzer hingegen ablenken und wählt invol- vierende Inhalte. Unbewusst „lernt“ der Mediennutzer das Ergebnis seiner Selektion und wendet diese auf folgende Selektionsentscheidungen an (Trepte/Reinicke 2019). Während der Mediennutzung kann sich nach Zillmann die Stimmung des Nutzers an die vom Medium vermittelte Stimmung angleichen. Die Intensität und Wirksamkeit der Angleichung werden durch die Dauer des Konsums, die Intensität des Mediums, die bisher 62 gemachten Erfahrungen mit dem Medium sowie die Affinität zum Inhalt beeinflusst. Schlechte Laune beispielsweise, die durch Unterstimulierung (Langeweile) ausgelöst wird, kann durch den Konsum von spannenden Medieninhalten vermindert werden, wenn diese den Nutzer nicht an die ursprünglich schlechte Stimmung erinnern. Gute Laune kann dementsprechend durch den Konsum von unterhaltenden Stimuli gesteigert werden, ins- besondere, wenn diese den Nutzer an seine ursprünglich gute Stimmung erinnern. Die Mood-Management-Theorie liefert allerdings keine Erklärung dafür, dass sich Medien- nutzer auch für unangenehme Medieninhalte wie traurige Filme interessieren. Nach Zill- manns Theorie wird das Medium dazu ausgewählt, die Stimmung zu manipulieren und wieder einen angenehmen Zustand zu erreichen. Traurige Filme oder traurige Musik wer- den in diesem Modell nicht erfasst. Dieses sogenannte „Sad Film Paradoxon“ beschreibt, dass sich Mediennutzer freiwillig unangenehmen Situationen wie z. B. Traurigkeit aussetzen und diese Gefühle im Gegen- satz zum Alltagsempfinden als etwas Positives erleben. Zur Erklärung der widersprüchli- chen Mediennutzung wurden verschiedene Theorien angeführt, die nach heutigem For- schungsstand noch nicht abschließend belegt sind. Dazu zählt die Theorie des sozialen Vergleichs, die besagt, dass wir uns besser fühlen, wenn wir uns zu einem niedrigeren Status hin abgleichen. Durch die wahrgenommenen negativen Emotionen anderer gelingt es uns, den eigenen Status als höherwertig und damit positiver wahrzunehmen. Wir fühlen uns besser, wenn wir andere sehen, denen es (noch) schlechter geht. Eine Studie zum Thema zeigt beispielsweise, dass alleinstehende ältere TV-Zuschauer die Sendungen mit älteren Menschen bevorzugten, denen es schlechter ging bzw. die isolier- ter waren, um die eigene Stimmung zu verbessern (Mares/Cantor 2016). Einen weiteren Ansatz liefert die Theorie der Metaebene: Einerseits werden Emotionen auf erster Ebene als negativ empfunden, auf der zweiten Ebene allerdings wird diese Empfin- dung dann als positiv bewertet. Der Mediennutzer bewertet es beispielsweise als positiv, traurig zu sein. Die Meta-Emotionen sind damit eine emotionale Bewertung der eigenen Emotionen. Der Ansatz geht davon aus, dass Menschen während der Mediennutzung die eigenen Emotionen intuitiv bewerten und überprüfen. 4.2 Kognitive Verarbeitung Limited-Capacity-Modell Das Limited-Capacity-Modell beschäftigt sich mit den kognitiven Verarbeitungsprozessen während der Mediennutzung. Die Informationsverarbeitung verläuft in drei Schritten, die simultan und interaktiv stattfinden: 63 1. Enkodierung: Im ersten Schritt wird die Medienbotschaft ins Arbeitsgedächtnis über- tragen und eine mentale Repräsentation erschaffen. 2. Speicherung: Ein Teil der übertragenen Inhalte wird ins Langzeitgedächtnis transfe- riert. Ohne diesen Schritt könnten wir uns im Verlauf eines Filmes nicht mehr an den Anfang erinnern. 3. Abruf: Relevante Informationen werden aus dem Langzeitgedächtnis wieder abgeru- fen. Dieser Abruf sorgt für eine Interpretationsmöglichkeit der aktuellen Informatio- nen und ist für längerfristige Lernprozesse und Medienwirkungen verantwortlich. Alle drei Prozesse benötigen kognitive Ressourcen. Das Limited-Capacity-Modell geht davon aus, dass diese Ressourcen nicht unbeschränkt zur Verfügung stehen, sondern auf die drei Arbeitsschritte während der Mediennutzung verteilt werden müssen (Lang 2000). Die Anzahl der angesprochenen Sinneskanäle (Sehen und Hören) ist relevant für die Menge der benötigten kognitiven Ressourcen. Willentlich gesteuert werden diese Ressour- cen für die Medienrezeption von Themen, die mit den Zielen, Vorlieben und Erfahrungen der Nutzer übereinstimmen und eine höhere Aufmerksamkeit erhalten. Die automatische Steuerung betrifft die Intensität des Stimulus wie z. B. Schnittführung oder Spezialeffekte, die eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Reizwahrnehmung erfordern. Bei einer Überlastung der vorhandenen Ressourcen („Cognitive Overload“) können die Teilprozesse nicht mehr voll funktional agieren. Der Nutzer kann sich beispielsweise nicht an einzelne Details der Nutzung erinnern (Trepte/Reinicke 2019). Die Cognitive Theory of Multimedia Learning (Mayer 2001) überträgt das oben genannte Modell auf den Bereich des multimedialen Lernens. Das Modell geht davon aus, dass die Sinneskanäle auditiv/verbal (Hören/Sprechen) und visuell/piktoral (Sehen/bildliche Dar- stellung) kognitiv getrennt verarbeitet werden. Daraus lassen sich grundlegende Gestal- tungsaussagen für multimediale Lernmedien treffen: Das Multimediaprinzip: Die Kombination von verbalen und piktoralen Repräsentationen führt zu komplexeren mentalen Modellen und steigert damit den Lernerfolg. Das Modalitätsprinzip: Die Präsentation von Informationen auf verschiedenen Sinnes- kanälen (z. B. Animation mit gesprochenem Text) entlastet die kognitiven Ressourcen und erleichtert das Lernen. Das Redundanzprinzip: Die Präsentation redundanter Informationen (z. B. geschriebe- ner Text in Kombination mit auditiver Wiedergabe desselben Textes) belastet das Arbeitsgedächtnis unnötig und erschwert das Lernen. Das Kontinuitätsprinzip: Zusammengehörige piktorale und verbale Informationen wer- den besser gelernt, wenn sie zeitgleich und in räumlicher Nähe zueinander präsentiert werden. Multimediale Lernmedien stellen hohe Ansprüche an die kognitive Leistung des Arbeitsge- dächtnisses. Lernen mit Medien erfordert einige metakognitive Strategien, wie z. B. die Formulierung von Lernzielen, die Bewertung von Informationen, die Überwachung des Lernfortschritts etc., um effektiv eingesetzt werden zu können (Bannert/Hildebrand/ Mengelkamp 2009). 64 Kognitive Dissonanztheorie Welche Medien und Medieninhalte vom Nutzer ausgewählt werden, hängt auch damit zusammen, ob sie seine Meinung, seine Einstellungen oder sein Handeln eher unterstüt- zen oder zu ihnen im Widerspruch stehen. Die Kognitive Dissonanztheorie von Leon Festinger (1957) erklärt den psychologischen Kognitive Dissonanz- Umgang mit dem Widerspruch zwischen Wissen, Meinungen und Einstellungen einerseits theorie Individuen streben und Handlungen andererseits. Gründe für den Widerspruch finden sich im inkonsistenten danach, divergierende logischen Denken, in Rollenkonflikten, Widersprüchen zwischen allgemeinen und spezifi- Umweltreize miteinander schen Einstellungen sowie sozialem Druck auf das Verhalten (Festinger 1957). in Einklang zu bringen. Kognitive Dissonanz wird als unangenehmer Zustand empfunden. Durch den inneren „Streit“ zweier Gedanken fühlen wir uns irritiert und unsicher. Das steigert die Motivation, diese Inkongruenz zu lösen. Beispielsweise ist ein Ungleichgewicht gegeben, wenn eine Person einer bestimmten Par- tei zugehört und diese in einen politischen Skandal verwickelt ist, die den eigenen Wert- vorstellungen des Parteimitglieds widerspricht. Wie lässt sich darauf reagieren? Der als unangenehm empfundene Zustand kann mit der Aufnahme zusätzlicher konsistenter Information, der Umdeutung inkonsistenter Information und der Abwertung der Bedeu- tung inkonsistenter Information abgebaut werden, er kann aber auch zu Verhaltensände- rungen führen, z. B. durch die Wahl einer anderen Partei (Maier 2007). Die bekannte Studie von Festinger, „Forced Compliance – Das-20-Dollar-Experiment“ (1959), beschreibt das folgende Szenario zum Thema kognitive Dissonanz: Versuchspersonen wurden gebeten, eine besonders langweilige Aufgabe, das Abschreiben von bedeutungslosen Zahlen- und Buchstabenreihen, durchzuführen. Anschließend wur- den sie gebeten, den nachfolgenden Versuchspersonen zu berichten, dass ein außeror- dentlich spannendes Experiment auf sie warte, also diese anzulügen. Der Lohn für diese Lüge lag entweder bei einem (schwache Rechtfertigung für die Lüge) oder bei 20 Dollar (starke Rechtfertigung für die Lüge). Interessanterweise bewerteten die Personen mit niedriger Rechtfertigung (also nur mit einem Dollar) die Erledigung der Aufgabe im Nach- hinein als weniger langweilig als diejenigen, die 20 Dollar dafür erhielten. Der Befund wurde wie folgt erklärt: Alle Teilnehmer erlebten kognitive Dissonanz. (Kogni- tion 1: „Das Experiment war extrem langweilig!“ – Kognition 2: „Ich soll diese nette Stu- dentin anlügen und erzählen, es sei total spannend gewesen. Die geht doch hinterher nicht mehr mit mir Kaffee trinken.“) Die Personen mit der 20-Dollar-Bedingung rechtfertig- ten ihre Lüge gegenüber der nachfolgenden Versuchsperson vor sich selbst mit der ordentlichen Belohnung – und reduzierten die empfundene kognitive Dissonanz durch die Addition einer konsonanten Kognition. Die Ein-Dollar-Personen hatten keine Rechtferti- gung, ein Dollar war dafür zu wenig. Damit standen Einstellung und Verhalten einander unvereinbar gegenüber. Den Probanden blieb also nichts anderes übrig, als die kognitive Dissonanz durch eine Änderung der Einstellung zum erlebten Experiment zu reduzieren. Dadurch fanden sie eine interne Rechtfertigung für ihr Handeln. Was nichts anderes heißt als die Reduktion dissonanter Kognitionen durch Änderung der eigenen Auffassung. 65 Ausgehend von der Prämisse, dass Personen bestrebt sind, in Übereinstimmung mit ihrem Wissen bzw. ihrer Einstellung zu handeln, formuliert Festinger (1959) fünf Strategien zum Umgang mit der Dissonanz: Addition neuer Kognitionen (z. B. Vorteile einer Handlung), Subtraktion dissonanter Kognition (z. B. Vermeidung), Ersatz von dissonanten durch konsonante Kognitionen (z. B. durch Bestätigung von Ausnahmen), Erhöhung der Wichtigkeit konsonanter Kognitionen, Reduktion der Wichtigkeit dissonanter Kognitionen. Bei der Medienselektion wendet sich der Nutzer bevorzugt an Medien, die konsistent mit seinem kognitiven Erleben übereinstimmen. Inkonsistente, also widersprüchliche Infor- mationen, werden eher gemieden bzw. nicht wahrgenommen. Sehr schwache oder sehr starke Dissonanzen führen zu einer weniger intensiven Suche nach Informationen, die die ursprüngliche Auffassung bestätigen. Bei einer gefestigten Einstellung können Mediennut- zer die dissonanten Informationen in ihr System integrieren, bei ungefestigten Einstellun- gen die neuen Informationen akzeptieren und durch eine Einstellungsänderung die Disso- nanz beheben. Aus medienpsychologischer Sicht bietet die Theorie damit einen Lösungsvorschlag, warum sich Menschen bestimmten Medieninhalten zu- oder abwenden (Trepte/Reinicke 2019). 4.3 Emotionen bei der Medienrezeption Affective Disposition Theory Emotionen sind sicherlich der eindrücklichste Teil des Medienerlebens. Bei der Medienre- zeption können sie einerseits als unmittelbare Folgereaktionen entstehen, wenn die Infor- mationen eine direkte Relevanz für das eigene Wohlbefinden haben. Zum Beispiel kann eine aktive Umweltschützerin durch eine TV-Dokumentation über den Klimawandel direkt auf ihre persönlichen Wertvorstellungen bezogene Gefühle wie Ärger oder Wut erleben. Andererseits führen fiktionale Medieninhalte, die keine direkte Relevanz für das eigene Leben haben, trotzdem zum „Mitfühlen“ der dargestellten Inhalte. Diese empathische Reaktion und die daraus entstehenden Emotionen beschreibt die Affective Disposition Affective Disposition Theory von Zillmann (1996). Theory Rezipienten besetzten je nach individuellen Vorlie- Das Mitfiebern mit Kandidaten in einer Quizshow oder das Anfeuern eines Filmhelden ben und medialen Erzähl- setzt die menschliche Fähigkeit zur Empathie voraus. Man erlebt die Emotionen der ande- mustern mediale Figuren ren Person quasi stellvertretend mit und baut darauf sowohl positive als auch negative mit positiven oder negati- ven Emotionen. Verbindungen auf. Voraussetzung für die Fähigkeit zur Empathie ist das Vorliegen eines Selbstkonzepts, d. h., die beobachtende Person kann eine Unterscheidung zwischen sich und einer anderen Person treffen. 66 Als empathische Zuschauer fällen wir moralische Werturteile über die Medienprotagonis- ten. Wir sympathisieren mit den als gut bewerteten Charakteren und sind den als negativ bewerteten Charakteren gegenüber abgeneigt. Dieser Prozess wird als affektive Disposi- tion bezeichnet. Die Theorie geht davon aus, dass die entwickelte Zu- oder Abneigung starke Auswirkungen auf unser Rezeptionserleben hat. Für den beliebten Charakter hoffen wir auf ein gutes Ende, dem Bösewicht wünschen wir die gerechte Strafe. Treten die erhofften Ereignisse ein, führt das zu positiven Emotionen bei uns; im Gegensatz dazu wer- den bei negativen Wendungen (also kein Happy End) auch negative Gefühle wahrgenom- men. Durch diesen dynamischen Prozess, der sich im Laufe der Mediennutzung je nach Wen- dung der Handlung intensiviert oder abschwächt, ist auch unser Spannungserleben („Emotional Distress“) zu erklären. Die Ungewissheit über den Ausgang für die Protagonis- ten und Antagonisten sorgt für den „Mitfiebern“-Effekt. Die Intensität der Spannung erhöht sich nach Zillmann (1996) … … mit der Stärke der affektiven Disposition für den Protagonisten, mit der Größe der Bedrohung für den Protagonisten sowie mit steigender Sicherheit bei gleichzeitig verbleibender Unsicherheit, ob den Protago- nisten das befürchtete Unheil auch tatsächlich ereilt. Die Affective Disposition Theory hatte einen maßgeblichen Einfluss auf das medienpsy- chologische Verständnis der Medienrezeption. Im Ursprung beschäftigte sich die Theorie mit dem emotionalen Erleben bei der Rezeption von Filmen und wird heute für die Ana- lyse des Rezeptionserlebens bei Reality-TV, bei Nachrichteninhalten oder der Sportbe- richterstattung genutzt. Die Theorie findet ihre Grenzen in der Übertragung auf interaktive Medien, in denen der Nutzer nicht nur als Beobachter agiert, sondern die Handlung selbst mitbestimmt. Hier bietet sich das Konzept der Identifikation besser an, um das Rezeption- serleben zu erklären (Trepte/Reinicke 2019). Excitation Transfer Effect Ein Aspekt des emotionalen Erlebens während der Mediennutzung beschäftigt sich mit der Wirkung von aufgebautem Spannungserleben im Zeitverlauf. Der Excitation Transfer Effect (Theorie der Erregungsübertragung), der ebenfalls auf Dolf Zillmann zurückzufüh- ren ist, beschreibt dabei das Übertragen emotionaler Erregung, z. B. von einer Filmszene in die nächste. Die Grundannahme lautet, dass sich der emotionale und der kognitive Pro- zess in unterschiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und die Kognition sehr viel schneller auf eine neue Situation reagiert als die emotionale Komponente. Insbesondere wird hier das Medium Film berücksichtigt, um die starken Emotionen zu erklären. Der Film verfügt mit den entsprechenden Schnitt- und Montagemöglichkeiten sowie dem Einsatz von Musik über die Möglichkeit, intensive Emotionen auszulösen (Schweizer/Klein 2008). Die Emotion wirkt noch nach, während der Stimulus bereits kognitiv verarbeitet wurde. Die rein physiologische Erregung („Arousal“) während der Mediennutzung wird nicht gleichzeitig mit dem Ende der Situation abgebaut. Obwohl wir also die bereits vergangene Situation verarbeitet haben, hält die emotionale Erregung noch an. Folgen weitere Situati- onen mit Erregungszuständen, z. B. eine Steigerung der Spannung in einem Film, wird die 67 zusätzliche Intensivierung aller nachfolgenden Emotionen bewirkt. Besonders bei positi- ven Medieninhalten kann das Happy End damit als besonders belohnend aufgenommen werden, wenn die vorhergehenden Szenen emotional Spannung aufbauten. Die Erregungsübertragung hat damit weitreichende Konsequenzen auf den Rezeptions- prozess. Die sich aufbauenden starken Emotionen können teilweise erklären, warum sich Nutzer überhaupt dem zeitweise als unangenehm empfundenen Spannungsmoment aus- setzen, da diese emotionalen Strapazen am Ende mit einem gesteigerten Glücksgefühl belohnt werden können (Trepte/Reinicke 2019). 4.4 Eintauchen in mediale Welten Unterhaltungserleben Das Unterhaltungserleben wird in der medienpsychologischen Forschung als positiver Gefühlszustand bzw. ein Gefühl von Vergnügen beschrieben, der während der Nutzung von Medien auftritt (Trepte/Reinicke 2019). Da es sich nicht nur um eine spezifische Emotion, sondern einen allgemeinen Zustand handelt, spielen sowohl emotionale als auch kognitive Prozesse eine Rolle bei der Entste- hung. Die Basis für die Beurteilung des Unterhaltungserlebens stellen die empfundenen Primär- emotionen dar. Diese emotionalen Reaktionen werden in einem kognitiven Schritt mit den Motiven und Zielen des Nutzers verglichen. Die Motive können z. B. Stimmungsänderung oder soziale Verbindungen sein. Sind diese beiden Komponenten im Einklang, sprechen wir von Unterhaltungserleben. In der Forschung wird das Unterhaltungserleben oft als abhängige Variable untersucht. Zusätzlich zu den Primäremotionen wirkt sich z. B. auch das Erleben von Flow positiv auf die Bewertung des Unterhaltungserlebens aus. Der Begriff des Unterhaltungserlebens ver- knüpft dabei die emotionalen und kognitiven Elemente der Medienrezeption. Das empa- thische Mitfiebern mit dem Protagonisten, das erlebte Spannungsgefühl und das Über- schwappen der aufgebauten Erregung in die nächste Szene sowie der resultierende Abgleich mit den Motiven und Zielen lassen das Unterhaltungserleben entstehen. Präsenzerleben Präsenzerleben Der Ausdruck Präsenzerleben bezieht sich auf das Gefühl, Teil einer medial vermittelten Dieses vermittelt das Realität zu sein. Der Mediennutzer ist sich dabei nicht mehr bewusst, dass die entspre- Gefühl des „Vor-Ort- Seins“ in einer medien- chende Situation auch räumlich nicht mehr real ist, sondern meint, sich tatsächlich vor vermittelten Umwelt. Ort zu befinden. Bei Präsenzerleben wird das Bewusstsein ausgeblendet, dass das Erleben technisch, medienvermittelt ist, der Nutzer taucht voll in die mediale Umwelt ein (Renner 2008). 68 Besonders im Bereich der Virtuellen Realität (VR) lässt dich das Phänomen des Präsenzer- lebens beobachten. Zum einen wird durch die Nutzung vieler Sinneskanäle (Sehen, Hören und oft auch Fühlen) eine starke Lebendigkeit simuliert. Zum anderen bietet die VR durch den hohen Grad an Interaktivität eine starke Interaktion zwischen Nutzer und Medienin- halt. Allerdings können auch andere Medien, wie z. B. Bücher oder ein Kinofilm, trotz fehlender Lebendigkeit und Interaktivität, den Nutzer in die Handlung hineinversetzen. Entschei- dend für das Entstehen von Präsenzerleben ist nach den aktuellsten Erkenntnissen die mentale Nachbildung der Situation durch den Nutzer. Wenn der Nutzer die dargestellten Informationen zu Umwelt, Umgebung und räumlicher Beschaffenheit in seine eigene Wahrnehmung übernimmt, taucht er in die Situation vollständig ein. Je detaillierter und überzeugender seine eigene mentale Vorstellung dabei ist, desto wahrscheinlicher wird es, dass er sich selbst in der Handlung verortet. Neben dem räumlichen Präsenzerleben wird auch das soziale Präsenzerleben durch Medi- ennutzung hervorgerufen. Der Nutzer hat dabei den Eindruck, mit anderen Personen in einer medialen Welt verortet zu sein, obwohl diese nicht physisch anwesend sind. Virtu- elle Welten wie z. B. Second Life vermitteln den Eindruck von echter sozialer Interaktion, auch wenn es sich hier, genau wie bei der räumlichen Präsenz, nur um ein mentales Bild des Nutzers handelt (Trepte/Reinicke 2019). Flow Das Erleben und die mediale Erzeugung von Flow haben in der medienpsychologischen Forschung einen hohen Stellenwert eingenommen. Der Begriff Flow geht auf den Psychologieprofessor Mihaly Czikszentmihaly zurück, der Flow bereits in den 1970er-Jahren den „optimalen Erlebniszustand“ untersuchte. Ausgangs- Dieser Begriff beschreibt das lustbetonte Gefühl punkt waren die Beobachtungen von Künstlern, die sich in ihrem kreativen Schaffen völlig des völligen Aufgehens in aus der Welt lösen und darin aufgehen können. Dabei entsteht ein intrinsisch motivierter einer Tätigkeit. Zustand, der tiefe Zufriedenheit auslöst. Fühlen, Wollen und Denken sind in Übereinstim- mung, Zeit spielt keine Rolle (Csikszentmihaly 2010; vgl. auch Gleich/Vogel 2007). Sechs grundlegende Eigenschaften zeichnen den Zustand des Flow aus: intensive und fokussierte Konzentration auf die aktuelle Tätigkeit, Verschmelzen von Tätigkeiten und Bewusstsein, Verlust der reflexiven Selbstwahrnehmung, starkes Gefühl der Kontrolle über die Situation, verzerrtes Zeitempfinden (Zeit vergeht schneller als gewöhnlich) sowie Wahrnehmung der Handlung als aus sich selbst heraus motivierend, unabhängig vom Endergebnis der Aktivität (Trepte/Reinicke 2019). Flow tritt dann auf, wenn zwischen der Herausforderung der Tätigkeit und den Fähigkeiten des Handelnden eine Balance gegeben ist. Die Aufgabe darf weder zu schwer noch zu leicht sein und muss eine klare Rückmeldung zur eigenen Leistung zulassen. 69 Wenn die Aufgabe als zu schwierig empfunden wird, entsteht Stress; bei zu leichten Aufga- ben wird schnell Langeweile empfunden. Die ausgeführte Tätigkeit benötigt ein Ziel, sodass der Ausführende völlig in der Handlung aufgehen kann. Flow-Erleben lässt sich im Medienkontext vor allem bei den interaktiven Medien beobach- ten. Computerspiele oder Online-Anwendungen fordern den Nutzer zum zielgerichteten Handeln auf und geben sofortige Rückmeldungen zur Leistung, z. B. über Spielstände, das Erreichen neuer Levels oder dem Misslingen konkreter Situationen im Spiel. Zusätzlich steigern sich Spiele in der Regel im Schwierigkeitsgrad, sodass benötigte Fähigkeiten trai- niert und den wachsenden Herausforderungen angepasst werden können. Computer- spiele verfügen damit über die meisten Voraussetzungen, um Flow-Zustände zu ermögli- chen (Csikszentmihaly 2010). Die Herausforderungen der Forschung zum Thema liegen vor allem in der schwierigen Messung begründet. Die Merkmale wie das Vergessen von Zeit und Selbst führen Aussagen des Nutzers zum aktuellen Erleben ad absurdum, da jede Beschreibung bereits ein Ende des Flow-Zustandes kennzeichnet. Aktuelle Ansätze versuchen daher, die neurologischen Grundlagen zu erforschen und den Flow über bildgebende Verfahren messbar zu machen. Interaktion mit Mediencharakteren Wie sehr die Auseinandersetzung mit Mediencharakteren uns bei der Medienrezeption beeinflusst, zeigen die bereits erwähnte Affective Disposition Theory und der Excitation Transfer Effect. Zusätzlich zur emotionalen Komponente und deren Erforschung empathi- scher Reaktionen, lassen sich weitere Formen der Identifikation mit Mediencharakteren analysieren. Parasoziale Interaktion Parasoziale Interaktion Das Konzept der parasozialen Interaktion (PSI) beschäftigt sich mit der Beziehung zwi- soziales Handeln der schen Mediennutzer und Medienfiguren. Diese werden in der PSI-Forschung in der Regel Zuschauer in Bezug auf Akteure im Fernsehen als Personae (Singular: Persona) bezeichnet. Die PSI-Forschung untersucht die Illusion des wechselseitigen Aufeinander-Reagierens zwischen Nutzern und Mediencharakteren. Der Zuschauer reagiert beispielsweise ähnlich auf die Ansprache eines Tagesschausprechers wie in der direkten Interaktion mit realen Personen. Obwohl die Kommunikation nur ein- seitig verläuft und nicht beiderseits stattfindet, kommt es für den Mediennutzer trotzdem zu einem Gefühl von Wechselseitigkeit, er nimmt die Rolle eines Gegenübers ein (Horton/ Wohl 1956). Die Entstehung von PSI wird auf die unbewusste soziale Wahrnehmung zurückgeführt, nach der wir Objekte in unserem Umfeld nach unbelebten Dingen und sozialen Akteuren unterscheiden. Medienpersonae wie Günter Jauch in „Wer wird Millionär?“ oder Jan Hofer in der „Tagesschau“ werden von uns als soziale Interaktionspartner eingeordnet. Die Medi- ennutzer sind sich meist der nur medialen Präsenz der Persona bewusst. Durch den feh- lenden Rückkanal werden soziale Reaktionen (Schimpfen, Auslachen etc.) ausgelebt, die im realen Umgang nicht denkbar wären. 70 Alle Reaktionen auf die Persona werden als konative PSI bezeichnet. Dazu gehören verbale Äußerungen (z. B. Warnrufe, wenn ein Unglück droht) oder auch nonverbales Verhalten (z. B. Zunicken) (Trepte/Reinicke 2019). Parasoziale Interaktionen werden intensiviert, wenn die Persona häufig und dauerhaft präsent ist, eine direkte Ansprache des Nutzers vornimmt („Was meinen Sie, liebe Zuschauer?“) und als menschlich wahrgenommen wird. Aus parasozialen Interaktionen können über einen gewissen Zeitraum parasoziale Bezie- hungen mit längerfristigen Bindungen entstehen, z. B. zur Figur einer TV-Serie (Gleich/ Burst 1996). Diese Beziehungen stellen zwar keine tiefgehenden Freundschaften, sondern eher ober- flächliche Bekanntschaften dar und sind damit kein Ersatz für ein reales soziales freund- schaftliches Umfeld. Studien zeigen aber, dass beliebte Personen im Fernsehen auch den Status guter Bekannter im sozialen Netzwerk der Zuschauer einnehmen können (Gleich/ Burst 1996). Der Verlust eines parasozialen Beziehungspartners kann negative Emotionen und Trauer auslösen. Forscher nutzten die Ausstrahlung der letzten Folge der US-Erfolgs- serie „Friends“ und befragten 298 Studierende in den USA zu ihrem Trennungsschmerz. Dabei fanden sie heraus, dass das Ende der Beziehung mit der jeweiligen Lieblingsfigur die gleichen negativen Gefühle wie Trauer, Einsamkeit oder innere Leere auslöste wie Trenn- ungen in der realen Welt. Die Gefühle wurden also umso stärker empfunden, je stärker die parasoziale Beziehung zur entsprechenden Persona war. Sowohl bei PSI als auch bei affektiven Dispositionen besteht eine klare Trennung zwischen den Personae und dem Mediennutzer. Bei affektiven Dispositionen ist der Nutzer emotio- naler Beobachter, bei PSI nimmt er die Rolle des imaginären Interaktionspartners ein. In beiden Fällen bleibt das Konzept der Selbstwahrnehmung erhalten. Konzept der Identifikation Im Gegensatz dazu beschreibt das Konzept der Identifikation die Auflösung der Trennlinie zwischen Nutzer und Mediencharakter. Der Nutzer verschmilzt mit der Figur, übernimmt deren Eigenschaften und Gefühle und taucht so ganz in die jeweilige Medienwelt ein. Die- ser Prozess ist imaginativ und stellt sowohl eine kognitive als auch emotionale Beziehung zwischen Nutzer und Persona her. Die Identifikation löst eine geringere Selbstwahrneh- mung und ein verringertes Bewusstsein für die eigene Rolle als Zuschauer aus (Cohen 2001). Der Identifikationsprozess wird durch die Attraktivität einer Medienfigur, die Erzählper- spektive aus Sicht der Figur und die wahrgenommene Ähnlichkeit zur eigenen Person erleichtert und verstärkt. In einer Studie zur TV-Serie „Ally McBeal“, deren Namensgeberin eine erfolgreiche und exzentrische junge Anwältin ist, untersuchte Cohen (2001), wie sich die Stärke der Identifi- kation auf die Interpretation der Zuschauer auswirkte. Die Studienteilnehmer wurden einerseits zu ihrer Identifikation mit der Hauptdarstellerin befragt und zum anderen auf- gefordert, Angaben zum Frauen- und Gesellschaftsbild der Serie zu machen. 71 Zuschauer, die sich stark mit Ally McBeal identifizierten, vertraten weitaus häufiger die Meinung, dass die Serie eine starke und unabhängige Frau porträtiert, die ihre Träume ver- wirklichen möchte. Zuschauer mit einer geringen Identifikation interpretierten das Gesell- schaftsbild als sexistisch sowie stereotyp und fokussierten mehr die komödiantischen Interaktionen der Hauptdarstellerin. Kritisch anzumerken ist, dass auch ein umgekehrter Zusammenhang zwischen Identifika- tion und Interpretation möglich ist. Zuschauer, die die Hauptfigur als stereotyp und die Darstellung als sexistisch interpretierten, waren möglicherweise auch eher abgeneigt, sich mit ihr zu identifizieren (Trepte/Reinicke 2019). Als besonders spannendes Forschungsfeld stellt sich das Konzept der Identifikation mit interaktiven Medien dar. In Video- und Computerspielen werden die Nutzer durch ihre Spielfiguren (Avatare) repräsentiert, die sie nach ihren eigenen Vorstellungen ausstatten und gestalten können. Diese Verbindung begünstigt das Entstehen von Identifikation und die Verschmelzung von wahrgenommenen Eigenschaften der Figur und des Nutzers. Bei- spielsweise wurde in einem Experiment die Übernahme von Eigenschaften untersucht: Probanden, die ein Ego-Shooter-Spiel nutzten, assoziierten militärische Eigenschaften stärker mit sich als mit anderen Probanden, die kein militärisches Spiel gespielt hatten. Probanden, die Autorennsimulationen fuhren, nahmen die Eigenschaften eines Rennfah- rers für sich in Anspruch (Trepte/Reinicke 2019). ZUSAMMENFASSUNG Emotionales, sozial-kognitives und individuelles Verhalten kann Einfluss auf die Medienwahl haben. Die Forschung befasst sich mit der Frage, welchen Einfluss die jeweilige Persönlichkeit auf die Selektion von Medien hat. Wie die sozial-kognitive Theorie der kognitiven Dissonanz zeigt, wägen die Mediennutzer ab, welche Information für sie wichtig ist und wählen die Nachrichten danach aus, dass sie nach Möglichkeit keine Dissonanz erzeugen. Medienwahl kann aber auch emotional geprägt sein, wie die Mood-Management-Theorie besagt; Menschen wol- len sich mit Medien in angenehme Stimmungen versetzen. Insgesamt unterliegt die Medienwahl der Komplexität von Verhalten, Kognition und Emotion. Ebenso spielt sich die Rezeption von Medien in einem hochkomplexen Prozess zwischen Kognitionen und Emotionen ab. Einen besonderen Stellenwert nimmt die Affective Disposition Theory ein, die das Mitfie- bern mit Medienprotagonisten erklärt. Auch mit Medienfiguren setzen wir uns auseinander. Das Konzept der parasozialen Interaktion versucht, eine Erklärung zu finden, inwieweit die Beziehung zu Mediencharakteren unser Rezeptionserleben prägt. 72 LEKTION 5 MEDIENWIRKUNG LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welches die Theorien und Merkmale Computervermittelter Kommunikation (CvK) sind. – was die wesentlichen Merkmale des Hyperpersonal- und des SIDE-Modells sind. – welche Rolle sozial-kognitive Prozesse in der CvK spielen. – wie Modelle der kognitiven Medienwirkung einzuordnen sind. 5. MEDIENWIRKUNG Einführung Unter Medienwirkung versteht man die Auswirkungen der Mediennutzung, die nach der Rezeption auftreten und über die Effekte während der Nutzung hinausgehen. Welche Kon- sequenzen haben kognitive und emotionale Medienwirkungen für unser Handeln und wie beeinflusst die Mediennutzung unser Wissen, unsere Einstellung und emotionalen Reakti- onen? Die Medienwirkungsforschung ist einer der größten Teilbereiche der Medienpsycho- logie. Einen besonders großen Raum nimmt dabei die Forschung zur Computervermittel- ten Kommunikation (CvK, seltener Medienvermittelte Kommunikation) ein, da diese mehr und mehr unser Leben prägt. Themen der CvK-Forschung sind hierbei vor allem das Iden- titätsmanagement, die Selbstrepräsentation, die Abwesenheit von nonverbalen Aus- drucksmöglichkeiten sowie das soziale Leben im Netz. 5.1 Computervermittelte Kommunikation Wenn Kommunikation die Informationsübertragung zwischen Menschen bedeutet, so nut- Computervermittelte zen Menschen bei der Computervermittelten Kommunikation (CvK) technische Hilfs- Kommunikation (CvK) mittel zum Austausch von Informationen und Nachrichten. Dies können Individualmedien Diese ist ein interaktiver Prozess zum Erstellen, oder Massenmedien sein. Durch die rasante Entwicklung der (Informations-)Technologien Austausch und Empfang sind heute Interaktionen möglich, die noch vor 30 Jahren für die Allgemeinheit kaum vor- von Informationen mit- stellbar waren. CvK ist heute allgegenwärtig und aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. hilfe eines Computers. Diese neue Dimension sowohl der Individual- als auch der Massenkommunikation wird technologisch durch Computer (Desktop und Laptops), Tablets und Smartphones möglich gemacht. Die Definitionen der CvK haben sich im Lauf der Forschung verfeinert und differenziert. Trepte/Reinicke (2019) geben eine allgemeine, übergreifende Definition, wonach CvK den zwischen zwei oder mehr Personen stattfindenden interaktiven Prozess des Erstellens, Austauschens und Empfanges von Informationen mithilfe von Computern darstellt. Für Pelz ist CvK ein Oberbegriff für verschiedene Anwendungsformen der elektronischen Übermittlung, Speicherung und den Abruf von elektronischen Nachrichten über miteinan- der vernetzte Computer (Pelz 1995). Höflich legt den Schwerpunkt seiner Definition auf die Kommunikation unter Fremden, bei der Personen miteinander kommunizieren, die bislang keinen realen Sozialkontakt hatten. Im Unterschied zur direkten Kommunikation schließt diese Definition vor allem soziale Netzwerke mit ein (Höflich 1994). Gegenüber der Face-to-Face-Kommunikation weist die CvK naturgemäß einige Besonder- heiten auf. Die Kanalreduktionstheorie geht von der Unzulänglichkeit der CvK aus. CvK ist hauptsächlich textbasiert. Die Sinneskanäle, über die wir bei der Face-to-Face-Kommuni- 74 kation wichtige Signale wie Tonalität, Gestik und Mimik wahrnehmen, entfallen bei der CvK. Döring spricht von einer Entsinnlichung der Kommunikation bzw. von einer defizitä- ren Form der Kommunikation (Döring 2003). Die Filtertheorie geht von einer ähnlichen Annahme aus. Steht uns nur der eine Kommuni- kationskanal zur Verfügung, so nehmen wir die Person, mit der wir kommunizieren, nicht mehr zur Gänze wahr. In der Anonymität und manchmal auch Pseudonymität sehen wir nicht mehr den psychosozialen Hintergrund unseres Kommunikationspartners. Dadurch kann auch ein sogenannter Nivellierungseffekt eintreten, durch den soziale Hemmungen oder Hürden abgebaut werden. Im negativen Fall sind Unfreundlichkeit und Feindlichkeit bis hin zu Flaming (Cybermobbing) die Folge (Döring 2003). Die Theorie der normativen Medienwahl besagt, dass die Mediennutzung auch von den Normen des sozialen Umfelds, der eigenen Medienkompetenz sowie der Verfügbarkeit eines Mediums abhängt. In einem solchen Zusammenhang kann auch ein Medium gewählt werden, das den Bedürfnissen der Kommunikationsteilnehmer nur unzureichend gerecht wird. Beispielsweise kann ein Unternehmen die interne Kommunikation durch einen eigenen Intranet-Chat gestalten, nicht jeder kommt ab