Medienpsychologie - PDF
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Dieser Dokumententext bietet einen Überblick über die Medienpsychologie, einschließlich ihrer Grundlagen, Themen, Forschungsgegenstände und Entwicklung. Es geht auf die Wahrnehmung, das menschliche Gehirn, die Medienselektion, -rezeption, -wirkung und -kompetenz ein.
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ÜBERGEORDNETE LERNZIELE Der Kurs Medienpsychologie vermittelt Ihnen zunächst einen Überblick über die wichtigs- ten Grundlagen dieses Fachgebiets. Nach einer Darstellung des Fachs und dessen Entwicklung wird zunächst der menschliche Wahrnehmungsapparat vorgestellt sowie die visuelle und auditive...
ÜBERGEORDNETE LERNZIELE Der Kurs Medienpsychologie vermittelt Ihnen zunächst einen Überblick über die wichtigs- ten Grundlagen dieses Fachgebiets. Nach einer Darstellung des Fachs und dessen Entwicklung wird zunächst der menschliche Wahrnehmungsapparat vorgestellt sowie die visuelle und auditive Wahrnehmung disku- tiert. Anschließend wird vermittelt, wie das menschliche Gehirn aufgebaut ist und welche Theorien es zum Gedächtnis gibt. Danach wird dargelegt, wie die individuelle Mediense- lektion und -rezeption funktioniert, bevor einige Modelle der Medienwirkung diskutiert werden. Ebenso werden Theorien aus dem Gebiet Medien und Gesellschaft vorgestellt. 9 LEKTION 1 GRUNDLAGEN DER MEDIENPSYCHOLOGIE LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welches die hauptsächlichen Themen und Forschungsgegenstände der Medienpsycho- logie sind. – wie sich die heutige Massenkommunikation und das noch junge Fach der Medienpsy- chologie entwickelt haben. – wie der normale Forschungsablauf ist. – welches die gängigsten Forschungsmethoden der Medienpsychologie sind. 1. GRUNDLAGEN DER MEDIENPSYCHOLOGIE Einführung Lisa wird morgens von ihrem Radiowecker geweckt. Schon im Bad checkt sie auf ihrem Smartphone E-Mails und WhatsApp-Nachrichten. Während des ersten Kaffees schaut sie das Morgenmagazin im Fernsehen und wirft einen Blick in die Zeitung. In der U-Bahn auf dem Weg in die Arbeit liest sie die Nachrichten und schaut, was es Neues bei Facebook und Instagram gibt. Im Büro sind Internet, Intranet und E-Mails ihre ständigen Begleiter, um sich mit den Kollegen abzustimmen und die digitale Mitarbeiterzeitung zu gestalten. Auf dem Heimweg entspannt sich Lisa mit einem Computerspiel auf dem Tablet und ver- abredet sich mit Freunden über den Chat. Über eine Lieferapp bestellt sie sich rasch ein Abendessen und überlegt, welche Serie sie heute Abend mit ihrer Freundin auf Netflix oder einem anderen Streamingdienst ansehen wird. Medien sind unsere täglichen Begleiter. Ein Leben ohne Mediennutzung ist beinahe undenkbar. Mit kaum einer anderen Tätigkeit verbringen die Menschen in den Industrie- ländern mehr Zeit. Nahezu alle unsere Emotionen, Werte, Meinungen und Handlungen werden durch Kom- munikation und Nutzung von Medien geprägt. Medienangebote dienen uns aber nicht nur zur Informationsgewinnung, auch für unsere sozialen Interaktionen greifen wir auf ver- schiedene Medienangebote zurück. Grund genug also, die Frage zu stellen, inwieweit die Omnipräsenz der Medien Auswirkungen auf unser Leben hat. Medienpsychologie ist ein ausgesprochen lebensnahes Fach, welches die sozialen Auswir- kungen der Mediennutzung auf den individuellen Nutzer, aber auch auf die Gesellschaft als Ganzes untersucht. Dabei bleiben auch kontroverse Themen nicht aus, wie z. B. die Auswirkungen von gewalthaltigen Medien auf das Aggressionspotenzial der Nutzer (Hor- rorfilme, Computerspiele), der Fernsehkonsum von Kleinkindern, die Verfügbarkeit von Kinderpornografie und vieles andere mehr. 1.1 Gebiete der Psychologie und der Medienpsychologie Die Wissenschaft der Psychologie entstand aus dem Interesse des Menschen am eigenen Funktionieren. Die Psychologie stellt die Frage nach dem menschlichen Erleben und Ver- halten, wie beides zu erklären, zu verstehen und auch vorherzusagen ist. Wie nehmen wir unsere Umwelt auf, wie reagieren wir angemessen auf Reize? Wie entstehen Gefühle und Antriebe, mit denen wir uns ständig weiterentwickeln? 12 Aus der Allgemeinen Psychologie heraus sind andere Teilbereiche des Fachs entstanden, u. a. die Sozialpsychologie, die sich mit unserem Erleben und Verhalten in Bezug auf unsere soziale Umwelt befasst, woraus sich wiederum viele andere Bereiche entwickelten, sowie beispielsweise die Wirtschaftspsychologie, die Kommunikationspsychologie und eben auch die Medienpsychologie. Medienpsychologie Diese Fachrichtung der Psychologie strebt die Mittlerweile versteht sich die Medienpsychologie als Grundlagenwissenschaft, die alle Beschreibung, Erklärung Theorien und Modelle der Psychologie sowie den angrenzenden Disziplinen der Kommu- und Prognose des Erle- nikationspsychologie und der Sozialpsychologie benutzt. bens und Verhaltens an, das mit Medien verknüpft ist. Medienpsychologie hat also gemäß der allgemeinen Definition die Aufgabe, Prozesse und Ergebnisse von Massenkommunikation und medialer Individualkommunikation unter psychologischen Aspekten zu analysieren, zu erklären und zu prognostizieren (Six/Gleich/ Gimmler 2007). Dabei wird das Fach in zwei Bereiche gegliedert: Zum einen in den Bereich der kognitiven Psychologie, einem Herzstück der Psychologie, der sich u. a. mit den Fragen der visuellen (und auditiven) Wahrnehmung, der Funkti- onsweise des Gehirns, den Prozessen des „Denkens“ sowie der Aufmerksamkeitssteue- rung beschäftigt; zum anderen in den Bereich der Mediennutzung und wie die Mediennutzung sich in unserem Erleben und Verhalten niederschlägt (Trepte/Reinecke 2019). Konkreter finden wir für diesen zweiten Bereich folgende Themenschwerpunkte: Medienselektion: Am Anfang jeder Mediennutzung steht die Auswahl der Medien, die durch verschiedene Variablen geprägt ist. Welches Medium spielt wann welche Rolle in unserem Leben? Welche Inhalte konsumieren wir über welche Kanäle? Medienrezeption: Welche Prozesse werden währen der Nutzung von Medien vollzogen? Wie verarbeiten wir Informationen? Und wie entstehen welche Emotionen in welcher Intensität? Medienwirkung: Darunter versteht man die Auswirklungen der Mediennutzung, die nach der Rezeption auftreten und über die Effekte der Nutzung hinausgehen. Die Forschung über die Konsequenzen der Mediennutzung ist einer der größten Teilbereiche der Medi- enpsychologie. Medienkompetenz: Gerade im Bereich der neuen Medien stellt sich die Frage nach der Medienkompetenz. Hier geht es um die Fähigkeit, Medien kritisch, selbstbestimmt und verantwortlich zu nutzen, zu verstehen, zu bewerten und gestalten zu können (Trepte/ Reinicke 2019). Medien und Gesellschaft: Aus den vorangegangenen Themenbereichen folgt schließlich die Frage, inwieweit Medien unser gesellschaftliches und soziales Leben beeinflussen. Kein Wahlkampf ist mehr ohne die Nutzung aller Medien denkbar, unter Umständen werden die klassischen Medien (TV, Print) mittels Social Media umgangen (Twitter, Face- book). Als Medien werden generell alle Übertragungskanäle betrachtet, die Informationen an Per- sonen übermitteln. Wir unterscheiden zwischen klassischen Medien und neuen Medien: 13 Zu den klassischen Medien zählen Radio und Fernsehen, also Funkmedien, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, also Printmedien, sowie Kino, Filme, Videos, DVDs und CDs, also Bild- und Tonmedien. Computervermittelte Übertragungskanäle wie z. B. das Internet zäh- len zu den neuen Medien. Dabei unterscheiden wir zwischen Massenkommunikation und Individualkommunikation. Die Massenkommunikation ist vor allem die mittels technischer Verbreitungsmittel statt- findende Kommunikation. Nach Kunczik und Zipfel gibt es folgende Kriterien zur Kenn- zeichnung von Massenkommunikation: Die Kommunikation von (1) Inhalten, (2) die kontinuierlich und regelmäßig mit Hilfe von (3) Medien (4) in der Regel gleichzeitig einer Vielzahl von Personen übermittelt wird. Diese ist (5) öffentlich und ohne Zugangsberechtigung, (6) einseitig und ohne dass Kommunikator und Rezi- pient die Rollen tauschen können sowie (7) ohne Rückkoppelung von dem Rezipienten an den Kommunikator (Kunczik/Zipfel 2005, S. 10). Für die Individualkommunikation hingegen gelten die Kriterien der direkten interpersona- len Kommunikation ohne Medieneinsatz und der computervermittelten Kommunikation zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Computer (Döring 2007). 1.2 Geschichte der Medienpsychologie Medienpsychologie ist eng verknüpft mit dem Thema der Massenkommunikation. Aber wie hat sich die Kommunikation in der menschlichen Gesellschaft entwickelt? Von der Versammlungskommunikation zum Internetzeitalter Keine Gesellschaft existiert ohne Kommunikation. Schönhagen definiert drei Phasen in der Geschichte der Kommunikation (2008): In der ersten Phase fand gesellschaftliche Kommunikation von der Antike bis in das Mittelalter hauptsächlich an Versammlungsor- ten (Markt, Agora) statt und war vor allem durch mündlichen Austausch geprägt. Mit dem Aufstieg der städtischen Kulturen entwickelte sich auch ein gesteigertes Kommunikations- bedürfnis und erste Formen der Schriftkommunikation traten auf. Städte förderten die Schulbildung, immer mehr Menschen konnten lesen und schreiben. Handelsmetropolen wurden zu Zentren des Nachrichtenaustauschs. Schließlich entwickelte sich auch im 13. und 14. Jahrhundert die europäische Papierindustrie, die das einst so teure Grundmaterial erschwinglicher machte. Mit dem gleichzeitigen Ausbau der Verkehrswege und des Post- wesens (im 15. Jahrhundert) löste sich der Akt der Mitteilung von dem ihrer Vermittlung, die zweite Phase der Kommunikationsgeschichte begann. Briefe konnten geschickt wer- den, Nachrichtenzettel kamen im Umlauf. Die Erfindung des Buchdrucks förderte die Evo- lution der Medien. Die Reformation durch Martin Luther wäre ohne seine geschickte Nut- zung von gedruckten Flugblättern als Massenmedien so nicht möglich gewesen. Langsam entwickelte sich ein Zeitungswesen, das von der Alphabetisierung breiter Bevöl- kerungsschichten seit dem 17. Jahrhundert mit immer höheren Auflagen profitierte. Waren die Zeitungen lange Zeit reine (politische) Nachrichtenübermittler, so veränderten 14 die Industrialisierung und der damit einhergehende wachsende Wohlstand das Informati- onsbedürfnis, auch Unterhaltungsmedien waren gefragt (z. B. die „Gartenlaube“, eine Familienzeitschrift des 19. Jahrhunderts). Verbesserte Druck- und Satztechniken sowie preisgünstige Papierproduktion gaben das Druckprodukt zu geringen Kosten aus. Die Medien gewannen in der politischen Auseinandersetzung ebenfalls an Bedeutung, da die Zeitungen zentrale Arenen der Öffentlichkeit wurden. Die dritte und bis heute andauernde Phase der historischen Entwicklung ist die Nutzung der Elektrizität zur Nachrichtenübermittlung. Fernkommunikation wurde möglich durch eigenständige Informations- und Kommunikationsnetze. Kurioserweise wird durch Com- puter und Internet bzw. die sozialen Netzwerke die alte Versammlungskommunikation zum Teil wiederbelebt. Die Entwicklung der Medienpsychologie Angesichts der Geschichte der Kommunikation ist es überraschend, dass Medienpsycholo- gie eine vergleichsweise junge Disziplin ist, wenn auch äußerst dynamisch und innovativ. Allerdings beobachten wir unter anderem angesichts des rasanten Fortschritts der Medien- und Kommunikationstechnologien und Medienangebote, dass die Forschung mit dieser Entwicklung kaum Schritt halten kann, insofern ist hier Dynamik geboten. Aus einem Teilbereich der Psychologie entstanden, arbeitet die Medienpsychologie mit den Methoden, Erkenntnissen und Modellen anderer psychologischer Disziplinen. Überschnei- dungen mit der Kommunikationspsychologie und Kommunikationswissenschaft sind dabei nicht ausgeschlossen. Aus den wissenschaftlichen Fragestellungen lassen sich drei Phasen der Entwicklung der Medienpsychologie herausarbeiten. Anfänge der Medienpsychologie Verschiedene Forscher sehen den Beginn der Medienpsychologie in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. 1895 hatten die Gebrüder Lumière in Paris erstmals kinematografi- sche Vorführungen gemacht, 1896/97 erschienen ebenfalls in Frankreich die ersten Comics und 1898 kam die Berliner Morgenpost auf den Markt, die bereits ein Jahr später über 160.000 Abonnenten hatte und somit als das erste Massenblatt der Geschichte bezeichnet werden kann. Erste wissenschaftliche Fragestellungen analysierten die Bedeutung des Stummfilms für die Gesellschaft, erste Veröffentlichungen verzeichnen wir ab 1917 im „Journal of Applied Psychology“. Der Deutsch-Amerikaner und Pionier der Psychologie Hugo Münsterberg kam in seiner viel beachteten Untersuchung über die Rezeption von Stummfilm und Theater von 1916 zu dem Schluss, dass das Mitfühlen beim Film schwerer fallen würde als im Theater, da Schnitt und Close-ups den Erzählfluss unterbrechen wür- den. Der Soziologe Paul Lazarsfeld, Begründer der frühen Medienforschung, erforschte vor allem das Medium Radio (Trepte/Reinicke 2019). 15 Neue Fragestellungen (zweite Phase 1950–1985) Mit der Verbreitung des Fernsehens veränderte sich auch die Medienforschung. Nahezu jeder Haushalt besaß ab Mitte der 1970er-Jahre einen Fernseher, der als „starkes Medium“ galt. Medienkompetenz, Kinder, Gewalt und Medien sowie Wirkung der Medien auf Einstel- Kognition lungen der Rezipienten waren stark beforschte Gebiete. Emotionen, Kognition und Ver- Dieser Begriff bezeichnet halten wurden zum Schwerpunkt der Forschung. Insbesondere die Möglichkeit der Beein- die Gesamtheit aller Pro- zesse, die mit dem Wahr- flussung durch Medien war Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Kann sich der nehmen und Erkennen Rezipient des Medieneinflusses nicht erwehren? Auf diese Frage folgte die Diskussion über zusammenhängen. das Thema Medienkompetenz, also darüber, durch welche Eigenschaften und welches Wissen der Rezipient in die Lage versetzt wird, Medien möglichst nützlich zu konsumieren (Trepte/Reinicke 2019). Die Entwicklung bis heute Erst Ende der 1980er-Jahre des letzten Jahrhunderts entwickelte die Medienpsychologie mit dem Erscheinen der ersten Fachzeitschrift „Medienpsychologie – Zeitschrift für Indivi- dual- und Massenkommunikation“ (heute: „Jounal of Media Psychology – Theories, Methods and Applications“) eine eigene Kontur. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie gründete erst im Jahr 2000 eine Fachgruppe für Medienpsychologie, bündelte damit For- schungsinhalte und legt das Curriculum als Grundlage der Lehrinhalte (auch dieses Lehr- briefes) fest. Die beiden letzten Jahrzehnte sind vor allem durch die Entwicklung von Com- puter, Internet und Mobilkommunikation geprägt. 1.3 Methoden der Medienpsychologie Die Aufgabe der Medienpsychologie als Wissenschaft liegt unter anderem in der empiri- schen Überprüfung von Theorien über Mediennutzung, -wirkung und alle anderen Gebiete der Medienpsychologie durch systematische Untersuchung. Dazu bedient sich die Medienpsychologie verschiedenster Forschungsmethoden. Entsteht eine Fragestellung, gilt es zunächst, den Forschungsablauf zu planen. Die Forschungsstra- tegie sollte optimal auf die jeweiligen Forschungsfragen abgestimmt sein (Richter 2008). Der Forschungsablauf Am Anfang einer jeden wissenschaftlichen Untersuchung steht die Fragestellung bzw. die Vorannahme über den untersuchten Gegenstand. Im ersten Schritt wird dazu eine Theorie aufgestellt, die in sich widerspruchsfrei und überprüfbar sein sollte, d. h., aus der gleichen Theorie sollten sich keine gegensätzlichen Annahmen ableiten lassen. Ebenso wird der aktuelle Forschungsstand dazu überprüft. Eine mögliche Forschungsfrage z. B. wäre: „Verändert die Preisgabe privater Informatio- nen in den sozialen Netzwerken das individuelle Bedürfnis nach Privatsphäre?“ 16 Als Erstes erfolgt die Konkretisierung mit vorhandenen Daten zur Mediennutzung, dann die Betrachtung der psychologischen Theorien zur Privatsphäre und zur Selbstoffenba- rung. Darauf basierend werden die Hypothesen formuliert. In unserem Beispiel könnte die Hypothese lauten: Menschen, die schon länger in sozialen Netzwerken aktiv sind, haben ein geringeres Bedürfnis nach Privatsphäre als diejenigen, die erst seit Kurzem in sozialen Netzwerken aktiv sind. Als Nächstes muss eine geeignete Methode gefunden werden, um die genannten Variablen der Hypothese zu operationalisieren, also „messbar“ zu machen. Da in diesem Fall lang- fristige Wirkungen untersucht werden, könnte eine Längsschnitt-Befragung, d. h. dieselbe empirische Studie zu verschiedenen Zeitpunkten, geeignet sein. Ist die Untersuchung durchgeführt, werden die Daten mit statistischen Methoden ausgewertet und deren Ergebnisse idealerweise in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert (Trepte/Reinicke 2019, S. 28f.). Abbildung 1: Der Forschungsablauf Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020 in Anlehnung an Trepte/Reinicke 2019, S. 29. Die Methodenwahl stellt einen wesentlichen Teil des Forschungsablaufs dar. Zu den klassi- schen Vorgehensweisen bei der Methodenwahl zählen das Experiment, die Befragung, die systemische Beobachtung und psychophysiologische Methoden. Experiment Das Experiment ist ein Versuchsaufbau, der das Prüfen von Hypothesen ermöglicht, und dient vor allem dazu, Hypothesen zu identifizieren und zu variieren. Vor allem kausale Effekte, also Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen der unabhängigen Variablen (UV) und der abhängigen Variablen (AV) der Mediennutzung, werden damit gemessen. Eine unabhängige Variable kann z. B. die Stimmung sein, die anhand eines psychologi- schen Zustands gemessen (also operationalisiert) oder manipuliert wird, die abhängige Variable könnte das Verhalten als Reaktion auf Mediennutzung (Aggression bei gewalthal- tigen Inhalten) sein. In einem Selektionsexperiment haben die Forscher Bryant und Zill- 17 mann im Kontext ihrer Forschung zum Mood Management untersucht, welche TV-Inhalte die Teilnehmer bevorzugten, nachdem sie eine langweilige Aufgabe (Dichtungsscheiben ohne Zeitvorgabe auf eine Schnur auffädeln) oder eine anstrengende Aufgabe (Aufnahme- test unter Zeitdruck) absolvierten. Die Forscher wollten ermitteln, ob Menschen mit Medien ihre Stimmung beeinflussen, und ließen sie im Anschluss an die Aufgaben span- nende oder ruhige TV-Programme wählen. Die gelangweilten Teilnehmer entschieden sich für die spannenden Sendungen (Trepte/Reinicke 2019, S. 31). Befragung Eine Reihe von Verfahren lassen sich unter dem Begriff Befragung zusammenfassen. Die Befragung zielt auf die Erfassung von subjektiven Sachverhalten und individuellen Merk- malen ab. Gezielte Fragestellungen erlauben die Datenerhebung über die Art des Erlebens der Studienteilnehmer. Die häufigsten Verfahren sind dabei der quantitative Fragebogen und das qualitative Interview. Strukturierte Fragebögen erlauben eine ökonomischere Untersuchungsdurchführung als unstrukturierte Interviews, bei denen nur die Interview- thematik vorgegeben ist und sich die Fragen erst im Verlauf ergeben. Die Validität hängt aber in beiden Fällen von der Qualität der gestellten Fragen ab sowie von der gelungenen Übersetzung der Forschungsfragen in eine teilnehmerfreundliche und verständliche Fra- getechnik (Richter 2008). Eine Besonderheit ist die sogenannte Think-Aloud-Technik, die der Erfassung von interna- len Prozessen dient. Das kontinuierliche Verbalisieren der Gedanken einer Testperson wird vor allem während der Medienrezeption genutzt, um Gedankengänge, Emotionen und Motive zu erfassen. Der Vorteil liegt bei dieser Methode darin, dass die Probanden sich spontan und frei von Vorgaben äußern können. Die Panelbefragung dient vor allem zur langfristigen Datenerhebung und zur Beobachtung von Entwicklungen. In dieser Längsschnittbefragung werden in der Regel dieselben Teil- nehmer in Intervallen zu einem Thema befragt, wobei die Teilnehmergruppe als Panel bezeichnet wird. Beobachtung Die Beobachtung von Mediennutzern bietet die Möglichkeit, bereits während des Prozes- ses analytische Daten zu erheben. Die gewonnenen Informationen beschränken sich aller- dings auf die nach außen sichtbaren Verhaltensreaktionen und benötigen eine psycholo- gische Interpretation. Ein Beispiel findet sich in der Studie von Josephson (1987), die Auswirkungen von Gewalt- darstellung im Fernsehen auf die Aggressivität von Jungen untersuchte. Die Probanden sahen ein 14-minütiges Fernsehprogramm teils mit und teils ohne Gewaltdarstellungen und wurden anschließend beim Feldhockey-Spiel beobachtet. Die Beobachter hatten den Auftrag, aggressives Verhalten während des Spiels zu dokumentieren. Als aggressives Ver- halten wurden Schubsen, Drängeln, Schlagen oder Beleidigen gewertet. Zusätzlich sollte eingeschätzt werden, ob diese Verhaltensweisen als beabsichtigt oder unbeabsichtigt ein- zuordnen waren. Die Anzahl der Aggressionsindikatoren wurde über die gesamte Spiel- dauer gesammelt und im Anschluss überprüft, welche Variationen im Hinblick auf die 18 zuvor rezipierten Fernsehprogramme auftraten. Die Auswertung der Daten lässt schluss- folgern, dass sich die Gewaltbereitschaft bei den Jungen erhöhte, die dem aggressiveren Fernsehprogramm ausgesetzt waren (Josephson 1987). Psychophysiologische Methoden Probanden sind nicht immer in der Lage, ihre Gefühle und Gedanken, die sie während eines Fernsehfilms oder eines Computerspiels hatten, zu artikulieren. Um in solchen Fäl- len zu validen Daten zu gelangen, empfiehlt sich der Einsatz von psychophysiologischen Methoden, die unabhängig von Sprache und Gedächtnis sind und zudem zeitlich präzise messen. In der Regel werden mehrere Verfahren dabei angewendet, die sich im Sinne des Untersuchungsziels ergänzen. Psychophysiologische Daten messen die Quantität oder Richtung einer Reaktion (subjektiv verbale Daten messen die Qualität). Eyetracking: Mittels Blickbewegungskameras werden die Bewegungen des Augapfels gemessen. Dabei wird die visuelle Aufmerksamkeit bei der Rezeption von Medien erfasst. Elektroencephalografie: Elektroden messen die Endhirnrindenaktivität und geben damit Aufschluss über Aufmerksamkeit und Emotionen. Elektrokardiografie: Die Herzschlagfrequenz gibt Auskunft über kognitive Herausforde- rungen, Stress und emotionale Erregung. Elektromyografie: Besonders muskuläre, mimische Reaktionen werden mit dieser Methode gemessen und damit die Emotionalität im Rezeptionsprozess und die Auf- merksamkeit bei der Medienwahrnehmung. Magnetresonanztomografie: Mit dieser vom Geräteeinsatz her aufwendigen Methode wird die Gehirnaktivität gemessen und damit der Einfluss der Gehirnaktivitäten und - veränderungen auf Prozesse der Wahrnehmung, des Denkens sowie der motorischen Aktivität (Trepte/Reinicke 2019, S. 45f.). Recherchequellen zur Medienpsychologie Um Mediennutzung und -wirkung erforschen zu können, werden aktuelle Daten benötigt. Einige Institutionen, die hier vorgestellt werden, stellen aktuelle Daten zur Verfügung und sind damit wichtige Quellen zur Recherche: Media Perspektiven: eine von der ARD/ZDF-Fernsehforschung finanzierte Fachzeit- schrift, die im monatlichen Rhythmus Artikel zum Medienmarkt und zum Mediennut- zungsverhalten publiziert. Zusätzlich erscheint jährlich eine Basisdatenpublikation, die eine Datenübersicht zu Themen wie Nutzungsdauer und Nutzungshäufigkeit unter- schiedlicher Medien sowie Auflagen der Printmedien zusammenfasst („Media Perspekti- ven“). Die ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation ist eine seit über 50 Jahren lau- fende Studie, die mittlerweile unter den Dachmarkentitel „Studienreihe Medien und ihr Publikum“ gestellt ist. Ziel ist es, jährliche Referenzdaten für die Mediennutzung zu ermitteln. Der Medienpädagogische Forschungsverband SüdWest erstellt seit 1998 regelmäßig Studien zum Mediennutzungsverhalten von Kindern, Jugendlichen und Familien. 19 ZUSAMMENFASSUNG Die Medienpsychologie hat sich aus der allgemeinen Psychologie und der Sozialpsychologie heraus entwickelt. Sie beschäftigt sich im Wesent- lichen mit der Beschreibung, Erklärung und Prognose des Erlebens und Verhaltens, das mit Medien verknüpft ist. Sie versteht sich als Grundla- genwissenschaft und ist noch vergleichsweise jung, erst vor ca. 40 Jah- ren hat sich die Wissenschaft institutionalisiert. Die Medienpsychologie untersucht die Medienselektion, die Medienre- zeption, die Medienwirkung und Medienkompetenz sowie die Auswir- kungen der Medien auf die Gesellschaft. Dabei bedient sie sich aller klas- sischen Forschungsmethoden der empirischen Wissenschaften. 20 LEKTION 2 MENSCHLICHE WAHRNEHMUNG LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – wie das menschliche Auge den Sehreiz verarbeitet. – auf welchem Wege wir Objekte erkennen können. – wie die Gesichtserkennung funktioniert. – welches die Grundlagen der auditiven Wahrnehmung sind. 2. MENSCHLICHE WAHRNEHMUNG Einführung Haben Sie den Gorilla gesehen? Die Forscher Chabris und Simon produzierten 1999 einen kleinen Film (Suchbegriffe „Chabris Simon Gorilla“), in dem sechs Personen, drei weiß, drei schwarz gekleidet, in einem relativ überschaubaren Raum sich ständig bewegend einander Bälle zuwerfen. Die Probanden, die den Film vorgeführt bekamen, hatten die Aufgabe, die Ballwechsel der weißen Mannschaft zu zählen, die in dem kurzen Film gezeigt wurden. Anschließend wur- den sie gefragt, wie viele Ballwechsel sie gezählt hatten. Als sie gefragt wurden, ob ihnen sonst noch etwas aufgefallen sei, antwortete mehr als die Hälfte der Probanden mit Nein. Ob sie einen Gorilla gesehen hätten? Nein! Als der Film ein weiteres Mal gezeigt wurde, sahen die Probanden eine als Gorilla verkleidete Frau über das Spielfeld laufen, ganze neun Sekunden lang war der Gorilla zu sehen (Wentura/Frings 2013; vgl. auch Kahneman 2012). Dieses Experiment führt uns zu den Themen Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, die Kognitive Psychologie Gegenstand der kognitiven Psychologie sind. In der Regel erscheint uns die Wahrneh- Die kognitive Psychologie mung der Außenwelt selbstverständlich. In Wahrheit aber nehmen wir – trotz unserer fünf beschäftigt sich mit der Analyse der menschlichen Sinnesorgane, die mit Hochleistungstechnologien vergleichbar sind – immer nur einen Informationsverarbei- kleinen Ausschnitt der Welt wahr. Die Fragen, die die kognitive oder Wahrnehmungspsy- tung. chologie stellt, sind vor allem: Wie entsteht die interne Repräsentation der äußeren Welt, die unser bewusstes Erleben bestimmt und auf die wir auch in der Kommunikation eingehen? Oder anders: Was ist die Erkenntnisfunktion unserer Wahrnehmung? Wie greifen Wahrnehmung und Motorik ineinander, um ein funktionales Handeln eines dynamischen Körpers in einer dynamischen Umwelt zu ermöglichen? Dies ist die Frage nach der handlungsleitenden Funktion der Wahrnehmung (Wentura/Frings 2013, S. 58). Und schließlich stellt sich auch die Frage nach der Aufmerksamkeit: Warum hat keine der Testpersonen in dem oben genannten Beispiel den Gorilla, der doch mehrere Sekunden zu sehen war, wahrgenommen? Die kognitive Psychologie nennt dieses Phänomen „Inatten- tional Blindness“, also etwa „Blindheit bei Unaufmerksamkeit“ (Wentura/Frings 2013, S. 12). In diesem Studienskript widmen wir uns hauptsächlich dem ersten Fragenkomplex. 2.1 Visuelle Wahrnehmung Bis ein äußerer Reiz erkennbar wahrgenommen wird, müssen die Sinneszellen die physi- kalischen Reize in physiologische Energie umgewandelt haben. Daraus wiederum müssen psychologisch gehaltvolle Empfindungen werden (Felser 2015, S. 28). Die dahinter liegen- den Prozesse sind hochkomplex. Manche Reize sind allerdings zu schwach, um wahrge- 22 nommen zu werden, und liegen damit unter unserer Empfindungs- oder Reizschwelle. Menschen haben jedoch unterschiedliche Reizschwellen, allein schon aus dem Grund, dass Seh- und Hörkraft unterschiedlich befähigt, aber auch kontextbedingt sind (schwa- che Beleuchtung, viele Nebengeräusche). Im Allgemeinen wird das Sehen als der wichtigste Sinn empfunden, wir nehmen etwa 80 % unserer Sinneseindrücke mit dem Auge auf. Die meisten Menschen würden den Verlust der Sehkraft als einschneidender empfinden als den Verlust anderer Sinne. Objektiv herrscht der Eindruck, dass die meisten Sinneseindrücke über das Auge eingefangen werden. Auch scheint der Gesichtssinn die anderen Sinne zu dominieren (Felser 2015, S. 31). Bilder wer- den meist besser erinnert als Worte, daher spricht man auch vom Bildüberlegenheitsef- fekt Abbildung 2: Das menschliche Gehirn Quelle: o. V. o. J. Im menschlichen Gehirn sind bestimmte Regionen für die Verarbeitung visueller Reize zuständig. Die vom Auge aufgenommenen Informationen gelangen – geleitet über Nerven- bahnen – zum visuellen Kortex (siehe Abbildung) auf der Rückseite des Gehirns. Das Auge: Tor zur Wahrnehmung Die Projektion der Außenwelt fällt zunächst auf die Netzhaut des Auges, deren Rezeptoren die Lichtreize in neuronale Signale umwandeln. Die größte Dichte von Rezeptorzellen sitzt im sogenannten fovealen Bereich bzw. in der Fovea centralis. Das ist der Bereich, mit dem wir besonders scharf sehen, wenn wir etwas mit dem Blick fixieren. Zwei verschiedene Arten von Rezeptorzellen geben die Information weiter: Die Zapfen sind farbempfindlich, die Stäbchen auf Hell-Dunkel-Kontraste spezialisiert. In der Fovea centralis sind die Zapfen konzentriert, am Rande der Netzhaut befinden sich mehr Stäbchen, dies erklärt auch, weshalb wir Dinge aus dem Augenwinkel nicht nur weniger scharf, sondern auch weniger 23 farbintensiv sehen. In dieser Peripherie sind wir empfindlicher für Bewegung oder flim- mern, was nicht zuletzt bei der Gestaltung von Websites und der Positionierung von Fil- men oder Bannern eine Rolle spielt. Wird es dunkler, dominiert auch die Aktivität der Stäb- chen, die Möglichkeit, Farben und feine Strukturen zu erkennen, sinkt. Einen Text zu lesen, wird nicht mehr möglich, dahingegen sind wir auch bei starker Dunkelheit noch in der Lage, uns im Raum zu orientieren. Abbildung 3: Auge, Sehnerven und Gehirnstrukturen Quelle: Wikipedia 2016. 24 Der Sehnerv leitet die Informationen zur Sehnervenkreuzung, dem Chiasma opticum, die die Informationen des linken und rechten Sichtfelds bündelt. Von dort geht es weiter über den Corpus geniculatum laterale, eine Substruktur des Thalamus, von dem aus Axone (Nervenfasern) die Informationen in den visuellen Cortex unseres Gehirns leiten, wo die Verarbeitung geschieht. 2.2 Visuelle Mustererkennung Die Wahrnehmung von Objekten Schon länger bekannt sind die zwei Pfade der Verarbeitung von Stimuli im Gehirn: Der Pfad der Raumwahrnehmung bzw. der dorsale Pfad ist auf Wahrnehmung im Dienste der motorischen Handlungssteuerung spezialisiert. Der Pfad der Objektwahrnehmung bzw. der ventrale Pfad ist für die bewusste Erken- nung der Welt zuständig (Wentura/Frings 2013, S. 61). Diese beiden unterschiedlichen Arten von Wahrnehmung wurden durch ein Experiment von Goodale und Milner (1995) bestätigt: Eine Patientin, die durch einen Unfall einen irre- versiblen Hirnschaden erlitten hatte, fiel dadurch auf, dass sie extreme Defizite bei der Erkennung von Formen oder Orientierungen hatte, Greifbewegungen hingegen waren recht koordiniert. In einem Test bat man sie, eine Karte so zu halten, dass ihre Orientie- rung einem Schlitz in einer Scheibe entsprach – was ihr nicht gelang. Bat man sie aber, die Karte in den Schlitz der Scheibe zu stecken, löste sie die Aufgabe mühelos. Eine andere Patientin konnte zielsicher einen Türgriff ergreifen, obwohl sie ihn nicht als solchen erken- nen konnte. Bis dato ist es noch nicht geklärt, wie unabhängig die beiden Pfade voneinander sind. In der Forschung existiert die Theorie der zwei Pfade aber bis heute als Annahme bzw. Heu- ristik (Wentura/Frings 2013, S. 65). Heuristik Diese bezeichnet eine mentale Strategie, die Die Wahrnehmung von Objekten ist ein sehr komplexes Verfahren und bis heute noch hilft, bei begrenztem Wis- nicht final erforscht. Verschiedene, sich teils ergänzende, sich teils widersprechende Theo- sen Urteile zu fällen. rien beherrschen die wissenschaftliche Diskussion. 25 Abbildung 4: Wahrnehmung von Objekten Quelle: Didaktik der Informatik 2010. Betrachten Sie die obige Abbildung. Wie gelingt es dem Gehirn aus dieser Ansammlung von Linien, die Formen von verschieden großen Kuben und Klötzen zu definieren? Nach dem Neurowissenschaftler David Marr (1982) werden Objekte in drei Phasen wahrgenom- men: Phase 1 – Extraktion: Spezialisierte Neuronen reagieren in einer frühen Phase des Wahrnehmungsprozesses auf Ecken und Kanten. Aus Lichtintensitätsschwankungen wird über die Fläche ein Muster von Linien und Kanten extrahiert. Dabei finden auch der Hintergrund und die verschiedenen Texturen Berücksichtigung. Phase 2 – Aufbau von Strukturen: Man nimmt an, dass Objekte perspektivenunabhän- gig erkannt werden. Wie gelangen wir aber von der in der ersten Phase extrahierten zweidimensionalen Linienstruktur zur dreidimensionalen Erkennung? Biedermann ent- wickelte dazu additiv die Theorie der komponentialen Erkennung (Anderson 2007, S. 65). Objekte werden zunächst in ihre Komponenten gegliedert und jede Komponente einem sogenannten „Geon“ (Geometric Icon) zugeordnet. 26 Abbildung 5: Das Konzept der Geons Quelle: O. V. 2000a. Phase 3 – Objekterkennung durch Abgleich: Das wahrgenommene Objekt kann direkt einen Eintrag im Gedächtnis aktivieren. Das neuronale Netzwerk leistet hierzu seinen Dienst (Wentura/Frings 2013, S. 69). Die Forschung ist sich noch nicht final klar darüber, ob tatsächlich von einer Perspektive- nunabhängigkeit bei der Erkennung von Objekten ausgegangen werden kann. Vieles spricht aber für die Annahme. Einen VW Käfer erkennen wir, ganz gleich, ob wir ihn von oben, von der Seite oder von vorne sehen. Andere Experimente zeigen aber, dass es offen- sichtlich auch eine ganzheitliche, nicht auf nur Komponenten beruhende Verarbeitung des Stimulus gibt. Als Beispiel dafür dient der Buchstabensalat: Afugrnud eneir Sutide eneir elgnihcesn Uvinisterät ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wrot snid, das ezniige, was wcthiig ist, ist, dass der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoiion snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsinöldn sien, tedztorm knan man ihn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, wiel wir nciht jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wrot als gseatems (Schmid 2003). Sie werden diesen Text sicher ohne Probleme gelesen haben. Die Forschung ging zunächst davon aus, dass wir die Wörter anhand des Gesamtbilds erkennen können. Bei diesem Phänomen scheinen aber beide Möglichkeiten der Objekterkennung zum Tragen zu kom- men: Zum einen die ganzheitliche Erkennung, zum anderen aber scheint auch die Erken- nung anhand von Komponenten nicht ganz ausgeschlossen zu sein. Nicht zuletzt werden Buchstaben auch anhand der Biedermannschen Theorie mittels „Geons“ erkannt. Gesichtswahrnehmung Was für Objekte gilt, ist für die Erkennung von Gesichtern nicht oder kaum relevant. Wer- den uns Fotos von prominenten Personen, beispielsweise Angela Merkel oder George Clooney, vorgelegt, können wir ohne Probleme bekannte von unbekannten Gesichtern unterscheiden und Merkel und Clooney erkennen, auch wenn wir das jeweilige Bild zum 27 ersten Mal sehen. Aber können wir auch die Merkmale der Gesichter beschreiben? Weder Merkel noch Clooney verfügen über ausgeprägte Merkmale wie eine krumme Nase in Form eines Zylinders oder abstehende Ohren in Form von Dreiecken. Offensichtlich verfügen wir über spezielle Mechanismen der Gesichtserkennung. Auf der einen Seite also erkennen wir mit Leichtigkeit die Gesichter, sind aber auf der anderen Seite unfähig, die zur Erkennung wichtigen Komponenten zu benennen. Dies weist darauf hin, dass die Erkennung von Gesichtern nicht über die Verarbeitung von Kom- ponenten funktioniert, sondern dass die gesamte konfigurale Einheit verarbeitet wird. Man nennt das holistische Verarbeitung. Bildgebende Verfahren (fMRT) zeigten, dass bei der Gesichtserkennung eine spezifische Region im Gehirn, ein Teil des Gyrus fusiformis, besonders aktiv ist. Im klinischen Bereich kennt man die Störung der Prosopagnosie: Per- sonen mit schweren Hirnverletzungen zeigten gravierende Probleme bei der Erkennung von Personen auf, während sie bei der Erkennung von Objekten keinerlei Schwierigkeiten hatten (Wentura/Frings 2013, S. 75f.). Aber auch diese Theorie findet ihre Zweifler: Die sogenannte Expertiseforschung geht davon aus, dass wir alle Experten für Gesichter sind. Schon im Säuglingsalter fixieren wir uns auf Gesichter, was die Annahme nahelegt, dass dadurch im Gehirn effiziente Verarbei- tungsprozesse entstehen. In diesem Bereich der kognitiven Psychologie wird in Zukunft noch vieles erforscht werden. Optische Täuschungen Generell haben wir den Eindruck, dass wir mit unserem Auge ein präzises Abbild der äuße- ren Welt erkennen können, immerhin sind wir in der Lage, dreidimensional zu sehen und dadurch beispielsweise auch Entfernungen abschätzen zu können. Doch sehen wir wirk- lich die reale Welt oder trügen uns unsere Sinne? Betrachten Sie folgende Abbildung: Abbildung 6: Die Müller-Lyer-Täuschung Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020 in Anlehnung an Wentura/Frings 2013, S. 63. Beim ersten Blick auf die beiden als „Müller-Lyer-Täuschung“ bekannten Striche scheint es, dass der obere Strich (A) länger ist als der untere (B). In Wahrheit aber sind beide Stri- che gleich lang. Auch bei einem Blick auf die nächste Abbildung schlägt uns unsere Wahr- nehmung ein Schnippchen. Auf den weißen Kreuzungslinien des Hermannschen Gitters meinen wir, graue Flecken wahrnehmen zu können. 28 Abbildung 7: Hermannsches Gitter Quelle: O. V. 2000b. Und schließlich die sogenannte Korrridortäuschung – ganz unbewusst bewerten wir die Größe der Zylinder nach der Umgebung. Und dabei sind alle drei Zylinder gleich groß. 29 Abbildung 8: Korridortäuschung Quelle: O. V. 2000c. Gestaltpsychologie Von dem Beispiel mit dem Buchstabensalat wissen wir, dass wir auch Wörter mit verstell- ten Buchstaben erkennen können. Auch Tippfehler übersehen wir daher leicht in einem Text. Die Erwartungshaltung ist bereits so stark, dass die Form als Ganzes erkannt und nicht mehr unbedingt in ihre Komponenten aufgespalten wird. Die Wahrnehmung als Gan- zes wird von der Gestaltpsychologie behandelt. Hier gilt die Maxime von Aristoteles: „Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile.“ Objekte, die eine „gute Gestalt“ haben, nehmen wir schneller wahr, können sie schneller identifizieren und uns besser einprägen. Insbesondere in der Gestaltung von Websites und (Lern-)Medien spielt die Gestaltpsychologie eine große Rolle. Prinzipien der Gestaltwahrnehmung: Figur und Grund: Bilder teilen wir bei der Wahrnehmung in Figur und Hintergrund ein. Die Figur ist das wichtige, was hervortritt. Einige grafische Beispiele zeigen Figur und Grund, die nicht direkt erkennbar sind, z. B. der Rubinsche Becher: 30 Abbildung 9: Rubinscher Becher Quelle: O. V. 2000d. Ähnlichkeit: Einander ähnliche Figuren werden als zusammenhängend empfunden. Bei einem Gruppentanz beispielsweise nehmen wir die Tänzer, die die gleichen Bewegun- gen machen, als zusammengehörig wahr. Geschlossenheit: Figuren sehen wir lieber als Ganzes. Beispielsweise nehmen wir in der Abbildung die Kreise als Kreise wahr, obwohl ihre Linien nicht geschlossen sind. Es genügt also, wenn eine geschlossene Figur nur angedeutet wird. Abbildung 10: Das Gesetz der Geschlossenheit Quelle: Max-Born-Berufskolleg o. J. Nähe: Was nah beieinanderliegt, wird als zusammengehörig empfunden. Bei der Medi- engestaltung sollten zusammengehörige Informationen auch nahe beieinander positio- niert werden. Umgekehrt gilt, dass beispielsweise bei einer Website genügend Abstand zwischen dem Menü und dem Inhalt gelassen wird. 31 Erfahrung und Erwartung: Viel hängt von unserer Erfahrung, Erwartung und Gewohn- heit ab. Tippfehler erkennen wir nicht so leicht, weil wir die korrekte Schreibweise bereits erwarten. Die Objekte werden also in einen Erfahrungskontext gestellt (Felser 2015, S. 33). Gesetz des gemeinsamen Schicksals: Bild und dazugehöriger Textlink auf einer Website sollten auf die gleiche Zieladresse verweisen (Groener/Raess/Sury 2008, S. 437). 2.3 Auditive Wahrnehmung Der Hörsinn ist nicht nur unser akustisches Tor nach außen, sondern steuert auch unsere räumliche Orientierung, was nicht zuletzt daran liegt, dass der Radius des Ohrs wesentlich größer ist als der des Auges. Zudem ist das Ohr immer auf Empfang, auch dann, wenn die Augen geschlossen sind. Mit unserem Ohr können wir sogar Objekte und Personen selbst bei absoluter Dunkelheit lokalisieren. Wir empfangen mit dem Ohr Schallreize mit einer wesentlich größeren Bandbreite und differenzierterer Wahrnehmung als Sehreize mit dem Auge. Auch das hat evolutionsbiologische Ursachen: Schon im Mutterleib nehmen Emb- ryos den Herzschlag der Mutter und andere Geräusche wahr, noch lange bevor sie sehen können. Unser Hörorgan besteht aus drei Teilen: zunächst dem sichtbaren Außenohr, welches für die Schallaufnahme und Weiterleitung zuständig ist. Der Schall wird aufgenommen und versetzt das Trommelfell des Mittelohrs in Schwingungen, die mithilfe der Gehörknöchel- chen Hammer, Amboss und Steigbügel an das Innenohr weitergegeben werden. Das Innenohr schließlich wandelt diese Schwingungen in neuronale Signale um, die vom Hör- nerv in das Hörzentrum des Gehirns weitergeleitet werden. Ebenso hat das Gleichge- wichtsorgan seinen Sitz im Innenohr. Eine Besonderheit unseres Hörsinns ist das selektive Hören, der sog. „Cocktailparty- Effekt“. Unterhalten wir uns auf einer Party mit jemandem und hören am anderen Ende des Raumes unseren Namen, können wir unser Gehör daraufhin ausrichten. Wir sind also in der Lage, aus mehreren Schallquellen eine besondere herauszufiltern und die anderen zu unterdrücken, selbst wenn wir den Kopf dabei nicht drehen. Dabei nehmen wir die Schallquelle, auf die wir uns konzentrieren, zwei- bis dreimal lauter wahr als die anderen Geräusche. 32 Abbildung 11: Der Aufbau des menschlichen Ohrs Quelle: Malex92/Getty Images o. J. 2.4 Erkennen gesprochener Sprache Die grundlegende Problematik beim Erkennen gesprochener Sprache ist, wie bei der visu- ellen Wahrnehmung, das Erkennen der Gliederung von Objekten. Nur scheinbar hören wir Pausen zwischen gesprochenen Wörtern, doch unterliegen wir damit einer Täuschung. Zum Vergleich: Hören wir jemanden in einer uns gänzlich unbekannten Sprache sprechen, so nehmen wir die Sprache nur in einen ununterbrochenen Strom ohne Wortgrenzen wahr. Nur weil wir unsere eigene Sprache beherrschen, meinen wir, Wortgrenzen zu hören. Gesprochene Sprache ist nicht wie geschriebene Sprache in einzelne voneinander abge- trennte Einheiten (Worte, Satzteile) gegliedert. Physikalische Untersuchungen zeigen, dass an den Wortgrenzen der gesprochenen Sprache kaum ein Abfall der Schallenergie festzustellen ist. Vielmehr gibt es sogar innerhalb der Wörter Unterbrechungen. Innerhalb eines Wortes besteht ein weiteres Gliederungsproblem: das der Identifikation der Phoneme. Ein Phonem ist die kleinste Einheit des Lautsystems der Sprache, das je nach Aussprache für völlige Bedeutungsverschiedenheit des Wortes sorgen kann. 33 Zum Beispiel lässt sich das Wort „rasten“ unterschiedlich aussprechen: mit langem A als Vergangenheitsform des Verbs rasen („Wir rasten über die Autobahn.“) oder mit kurzem A als Gegenwartsform des Verbs rasten („Wir rasten am Rande der Autobahn.“). Die Gliederung der Phoneme wird durch das Phänomen der Koartikulation erschwert: Noch während ich den Buchstaben B für das Wort „bald“ ausspreche, bereite ich schon den nächsten Buchstaben A vor. Das Phonem B klingt im Kontext mit dem A anders, als wenn ich das Wort „Bild“ aussprechen möchte. Phoneme können sich also überlappen, das Klangmuster wird durch den Kontext der anderen Phoneme mitbestimmt (Anderson 2007, S. 72). Untersuchungen zeigten, dass die Wahrnehmung von Phonemen in unterschiedlichen Kategorien geschieht. In anderen Worten: Die kategoriale Wahrnehmung meint, dass wir die Wörter eher in ihrer Bedeutung speichern als in ihren einzelnen Bestandteilen (Lau- ten). Objekte erkennen wir – sei es visuell, sei es auditiv – nicht nur durch den physikalischen Stimulus. Objekte treten in Kontexten auf, die wir nutzen, um das Objekt zu erkennen. In der folgenden Abbildung erkennen wir eindeutig die Buchstabenfolge DAS OHR. Obwohl die Zeichen für A und H identisch sind, lesen wir nicht DHS OAR. Abbildung 12: Objekterkennung Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020. Hier steuert eindeutig der Kontext die Wahrnehmung. Was für die visuelle Wahrnehmung gilt, gilt ebenso für die auditive. Diese Art der Verarbeitung nennen wir Top-Down-Verar- beitung, weil allgemeines Wissen auf einer hohen Ebene bestimmt, wie Wahrnehmungs- einheiten auf einer niedrigen Ebene interpretiert werden (Anderson 2007). Bislang ist es in der Wahrnehmungsforschung noch nicht final geklärt, inwieweit die Top-Down-Einflüsse mit den Bottom-Up-Informationen, die der Stimulus von selbst ohne Berücksichtigung des Kontextes liefert, zusammenspielen (Anderson 2007, S. 77). 34 2.5 Von der Wahrnehmung zur Aufmerksamkeit Stellen Sie sich vor, Sie haben eine längere Autofahrt vor sich. Sie reihen sich auf die Auto- bahn ein und glücklicherweise ist nicht viel Verkehr. Das Auto bedienen Sie automatisch, ohne lange darüber nachzudenken. Damit die lange Fahrzeit nicht völlig „ungenutzt“ vorübergeht, lassen Sie sich währenddessen ein Hörbuch vorlesen oder hören sich eine spannende Sendung im Radio an. Doch sobald sich der Verkehr verdichtet und von hinten ein Drängler mit fast 200 km/h auf Sie zufährt, vor Ihnen aber zwei LKWs ein Überholma- növer starten, ist Ihre Aufmerksamkeit völlig auf die Straße gerichtet, um dieser Situation Herr zu werden. Nachdem sich die Situation wieder beruhigt hat, fällt Ihnen auf, dass Sie die letzten Minuten des Hörbuchs nicht mehr mitbekommen haben. Sie schalten ein paar Tracks zurück und hören sich diesen Teil noch einmal an. Oder erinnern Sie sich an das am Beginn der Lektion geschilderte Beispiel des Gorillas während des Ballspiels. Die Probanden waren so von ihrer Aufgabe, die Anzahl der Ball- wechsel zu zählen, in Anspruch genommen, dass nur wenigen von ihnen die als Gorilla verkleidete Frau auffiel, die das Spielfeld durchquerte. Diese beiden Beispiele betreffen das Phänomen der Aufmerksamkeit. In jedem Augenblick unseres Lebens sind wir mit zahllosen Hinweisreizen konfrontiert. Allein alle diese Reize wahrzunehmen, ist fast unmöglich, da unsere neurologischen Kapazitäten dazu nicht aus- reichen. Noch begrenzter sind Informationsverarbeitungskapazitäten. Der britische Psy- chologe Broadbent meinte dazu, dass Aufmerksamkeit das Ergebnis eines informations- verarbeitenden Systems mit begrenzter Kapazität sei (Solso 2005). Viel zu viele Informationen stürmen auf uns ein, daher richten wir unsere Aufmerksamkeit nur auf einige Hinweisreize. Mitunter sind wir in der Lage, unsere Aufmerksamkeit gleichermaßen auf verschiedene Hinweisreize unterschiedlicher Sinnesmodalitäten zu richten. Dies ist bei der oben geschilderten Fahrsituation gegeben. Wir haben unseren Blick auf der Straße, das Ohr aber am Lautsprecher. Kommt es jedoch zu einer Gefahrensituation, richten wir unsere Aufmerksamkeit komplett und hochkonzentriert auf das Geschehen auf der Straße. Hinweisreize der gleichen Sinnesmodalität gleichzeitig aufmerksam wahrzunehmen, ist hingegen schwieriger. Bei einem Fußballspiel ist es so gut wie unmöglich, mehrere Spieler gleichzeitig zu beobachten, selbst wenn mit harter Manndeckung gespielt wird. Ebenso gelingt es nur sehr wenigen, gleichzeitigen akustischen Reizen die gleiche Auf- merksamkeit entgegenzubringen. Der sogenannte Cocktailparty-Effekt beschreibt dies: Intensiv mit jemandem ins Gespräch vertieft, hören Sie, wie Ihr Name an einer anderen Ecke des Raumes fällt. Natürlich sind Sie neugierig, was dort geredet wird und richten Ihr Ohr entsprechend in diese Richtung. Und natürlich fällt es Ihnen dann auch schwer, Ihrem bisherigen Gesprächspartner noch aufmerksam zuzuhören. In diesem Sinne stellt Solso (2005) fünf verschiedene Aspekte der Aufmerksamkeit dar: 35 Verarbeitungskapazität und Selektivität: Es ist offensichtlich, dass wir unsere Aufmerk- samkeit nur auf einen Teil aller Hinweisreize richten. Dies hängt damit zusammen, dass nicht genügend Kapazitäten zur Verarbeitung der Informationen zur Verfügung stehen. Vergleichbar ist dies wie mit einer Taschenlampe in einem dunklen Raum, die wir auf bestimmte Dinge richten. Steuerung: Aufmerksamkeit wird kontrolliert auf bestimmte Reize gerichtet. Automatische Verarbeitung: Routineprozesse (wie Autofahren) erfordern wenig bewusste Aufmerksamkeit und werden automatisch ausgeführt. Neurokognition: Anatomische Stütze der Aufmerksamkeit ist das zentrale Nervensys- tem (Gehirn und Rückenmark). Bewusstsein: Ereignisse werden durch Aufmerksamkeit ins Bewusstsein gebracht. Ein experimentelles Verfahren ist das „Shadowing“, das begleitende Nachsprechen, entwi- ckelt von Cherry (1953). Probanden werden gebeten, eine gesprochene Botschaft, die ihnen über Kopfhörer dargeboten wird, nachzusprechen. Ist die Sprechgeschwindigkeit gering, gelingt dies leicht, wird aber schneller gesprochen, so können die Probanden nicht alles wiedergeben. Ebenso gut (oder schlecht) wurde die Aufgabe gelöst, wenn zwei sprachliche Botschaften gleichzeitig den Probanden vorgespielt wurden. Interessanter- weise aber konnten die Versuchspersonen im Anschluss relativ wenig über den Inhalt der Texte sagen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Informationen nur in einem Gedächtnis gespeichert wurden – die Probanden hatten sich vor allem auf ihre Aufgabe der Textwie- dergabe konzentriert. Wentura und Frings (2013) benennen drei Hauptfunktionen von Aufmerksamkeit: Planen/Kontrollieren: Wir benötigen die Aufmerksamkeit zur Vorbereitung und Ausfüh- rung einer kontrollierten Handlung, d. h., wenn wir uns „auf etwas konzentrieren“ müs- sen. Überwachen: Tatsächlich müssen wir unsere Umwelt stets überwachen. Fahren wir mit dem Auto eine Straße entlang und sehen einen Ball, der zwischen stehenden Autos her- vorspringt, rechnen wir damit, dass eventuell ein Kind den Ball hinterherläuft. Entspre- chend müssen wir reagieren. Diese Funktion von Aufmerksamkeit erleben wir als „wach sein“. In der Tat, wenn wir müde sind, sind wir weniger aufmerksam. Selegieren: Wir brauchen nur einen Bruchteil der Informationen, die auf uns einstürzen, für ein aktuell relevantes Handlungsziel. D. h., dass wir einer bestimmten Person oder einer bestimmten Sache „Aufmerksamkeit schenken“. In der Regel benötigen wir in der realen Umwelt alle drei Aufmerksamkeitsfunktionen gleichzeitig, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. Je nach Fokussierung auf eine bestimmte Aufgabe oder Handlung bleiben möglicherweise weniger Aufmerksamkeitsres- sourcen für andere Reize aus unserer Umwelt übrig. Zusätzlich lassen sich die Prozesse der Aufmerksamkeit auch in willentliche (endogene) und reizgesteuerte (exogene) Prozesse unterteilen. Das Planen/Kontrollieren und das Selegieren steuern wir willentlich, während das Überwachen unserer Umwelt eine eher reizgesteuerte Aufmerksamkeit darstellt. Eine weitere Art der Unterteilung richtet sich nach den Zielen der Aufmerksamkeit: 36 Die räumliche Aufmerksamkeit richtet sich auf einen bestimmten räumlichen Bereich; die objekt-basierte Aufmerksamkeit richtet sich auf ein konkretes Objekt; die merkmals-basierte Aufmerksamkeit konzentriert sich auf bestimmte Merkmale des Objekts und schließlich vermag die zeitliche Aufmerksamkeit einen Reiz innerhalb einer schnellen Abfolge vieler Reize wahrzunehmen (Wentura/Frings 2013). ZUSAMMENFASSUNG Auge und Ohr sind neben unseren anderen Sinnen unsere wichtigsten Tore zur Welt. Die kognitive Psychologie beschäftigt sich mit der Analyse der menschlichen Informationsverarbeitung, d. h. wie die Signale, die wir hören und sehen, in unserem Gehirn verarbeitet werden. Dabei stellt sich hauptsächlich die Frage, wie wir unsere Umwelt erkennen können. Objekte und Gesichter werden nach heutigem Kenntnisstand mit ver- schiedenen Mechanismen erkannt: Objekte durch Extraktion, den Auf- bau von Strukturen und schließlich den Abgleich durch das neuronale Netzwerk. Für die Gesichtserkennung haben wir andere Mechanismen, hier findet eine Verarbeitung der gesamten konfiguralen Einheit in unse- rem Gehirn statt. Die Wahrnehmung von Objekten orientiert sich an den Prinzipien der Gestaltwahrnehmung: Nähe, Geschlossenheit, Ähnlich- keit u. a. Was wir sehen, ist nicht immer ein treues Abbild der Wirklichkeit. Nur zu oft unterliegen wir optischen Täuschungen. Die auditive Wahrnehmung ist ebenso noch nicht final erforscht. Aber nach aktuellem Forschungsstand können wir annehmen, dass unser Hörsinn ähnlich funktioniert wie der Sehsinn bei der Gesichtserkennung: Die Wörter werden eher als Ganzes gespeichert und verarbeitet, als an ihren Komponenten, den Phonemen, erkannt. 37 LEKTION 3 WISSENSREPRÄSENTATION UND GEDÄCHTNIS LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welches die Grundlagen unseres Gehirns und seine Funktionen sind. – wie das Wissen im Gehirn kategorisiert und gespeichert wird. – wie Informationen sowohl strukturell als auch prozessual im Gehirn gespeichert wer- den. – welche Arten von Wissensrepräsentationen es gibt. – welche Techniken helfen, Dinge besser zu lernen und zu behalten. 3. WISSENSREPRÄSENTATION UND GEDÄCHTNIS Einführung Setzt man sich mit Medienpsychologie auseinander, so ist es zwangsläufig, dass man auch mit einigen Bereichen der kognitiven Psychologie in Berührung kommt. Medien über- schütten uns täglich mit Informationen auf allen Kanälen. Mit diesen Informationen müs- sen wir umgehen und sie verarbeiten. Sie verändern unser Denken, unser Verhalten und unsere Einstellungen. Doch zuvor steht auch die Frage, wie überhaupt das Erkennen dieser Information geschieht. Das Thema Kognition beschäftigt sich mit der Gesamtheit aller Prozesse, die mit Wahrnehmen und Erkennen zusammenhängen. Die kognitive Psychologie befasst sich grundlegend mit den Fragen, wie wir Informationen über die Welt gewinnen und behalten. Und wie werden diese Informationen vom Gehirn gespeichert und verarbeitet? Die kognitive Psychologie ist also auch eine Untersuchung über unser Denken. Die gesamte Spielbreite von der Empfindung über die Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis, Erinnern und Sprache wird von diesem Bereich der Psychologischen Wissenschaft beleuchtet. In dieser Lektion wird der Fokus besonders auf die Prozesse der Informationsgewinnung, auf das Speichern der Informationen im Gedächtnis und auf die verschiedenen Gedächt- nisbereiche gelegt. 3.1 Gehirnregionen Das menschliche Gehirn ist eines unserer komplexesten Organe und das komplizierteste körperliche System, das wir kennen. Schon mit einfachsten Steuerungen, z. B. eine bestimmte Tasse aus einem Regal holen, löst es Aufgaben, zu denen bisher kein Computer in der Lage ist. Der Neurologe James Watson bezeichnet das Gehirn als das „letzte und großartigste Neuland, […] das komplexeste Gebiet, das wir bisher in unserem Universum entdeckt haben“ (zit. nach Solso 2005, S. 33). Das Gehirn ist Teil des Nervensystems, in dem der größte Teil der Informationsverarbeitung stattfindet. Die für die Informationsver- arbeitung wichtigsten Bestandteile des Nervensystems sind die Nervenzellen bzw. Neuro- nen, also Zellen, die die elektrischen Aktivitäten akkumulieren und weiterleiten. Jedes ein- zelne Neuron hat die Rechenkapazität eines kleinen Computers, im Gehirn selbst sind etwa 100 Milliarden Neuronen vorhanden. Ein großer Teil dieser Neuronen ist gleichzeitig aktiv, die Informationsverarbeitung ist ein permanentes wechselseitiges Zusammenspiel. Nach dieser Logik besitzt das menschliche Gehirn, das etwa 1.400 Gramm wiegt, die Rechenleistung von 100 Milliarden miteinander vernetzten Computern (Anderson 2007). 40 Im Gehirn werden Informationen und Sinneseindrücke verarbeitet und als Handlungsan- weisungen und Steuerungen für alle lebenswichtigen Körperfunktionen in den Rest des Körpers wieder zurückgeschickt. Vieles geschieht dabei, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Auch Gefühle werden im Gehirn empfunden und Wissen im Gehirn gespei- chert und repräsentiert. Jedes Verhalten beruht also auf der Aktivität der Neuronen. Das Gehirn besteht aus verschiedenen Bereichen, denen unterschiedliche Aufgaben zuge- teilt sind: Großhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn (Thalamus, Hypothalamus und Hypophyse), Stammhirn (Mittelhirn, Brücke, verlängertes Mark). Evolutionsgeschichtlich sind die tiefer liegenden Teile des Gehirns, also Stammhirn und Zwischenhirn, die ältesten. Die höher gelegenen Teile sind nur bei den höheren Arten (Menschen und Säugetieren) gut ausgebildet. In dieser Logik steuern die unteren Teile grundlegende Lebensfunktionen wie die Atmung, Schlucken, Herzschlag (verlängertes Mark); elementare Triebe (Hypothalamus) sowie motorische Koordination und willkürli- che Bewegung (Kleinhirn). Abbildung 13: Seitenansicht auf das menschliche Gehirn Quelle: Höhne 2015. Der evolutionär jüngste Teil des Gehirns, der Neokortex, stellt den größten Teil des menschlichen Gehirns dar und teilt sich in die linke und die rechte Hemisphäre. Informati- onen werden kontralateral verarbeitet, d. h., es gibt eine enge Verbindung zwischen der 41 linken Körperhälfte und der rechten Hemisphäre und umgekehrt. Zum Beispiel wird die rechte Hand von der linken Gehirnhälfte gesteuert und die Seheindrücke des linken Auges von der rechten Gehirnhälfte verarbeitet. Der Neokortex teilt sich in vier Bereiche auf, die alle bestimmte Funktionen haben, aber auch untereinander auf das engste vernetzt sind: Frontal- oder Stirnlappen: Der hintere Teil hängt vorwiegend mit motorischen Funktio- nen zusammen, der vordere Teil, der präfrontale Kortex, ist an höheren Prozessen als eine Art oberstes Kontrollzentrum für situationsbezogenes Handeln beteiligt. Der Okzipitallappen enthält die primären visuellen Felder, d. h., dort findet die Verarbei- tung der Sehreize statt. Der Parietallappen ist der Sitz von sensorischen Funktionen (Körperwahrnehmung), ebenso ist er an der räumlichen Verarbeitung beteiligt. Der Temporallappen enthält die auditiven Felder, ist aber auch an der Objekterkennung beteiligt. Dabei spielt aber nicht nur der Neokortex eine Rolle bei der höheren Kognition. Bedeu- tend für das Gedächtnis ist auch das limbische System, das zwischen Neokortex und den subkortikalen Strukturen sitzt. Im limbischen System befinden sich der Hippocampus und die Amygdala, beide spielen eine große Rolle für das menschliche Gedächtnis bzw. für die Speicherung von Fakten und Erinnerungen. Verschiedene spezifische Bereiche des Gehirns unterstützen damit also die verschiedenen kognitiven Funktionen (Anderson 2007). 3.2 Konzeptuelles Wissen Informationen gewinnen wir über unsere Sinnesorgane. Was aber geschieht mit diesen Informationen dann? Mit dieser Frage beschäftigt sich der kognitionspsychologische Kom- Wissen plex rund um das Wissen. Wissen ist organisierte, sozusagen „verdaute“ Information Die Speicherung, Integra- (Solso 2005). Wenn eine Information im Gedächtnis abgespeichert wird, dann geschieht tion und Organisation von Informationen im dies nicht detailgetreu. Einiges von der Information behalten wir, andere Details werden Gedächtnis ist die allge- verworfen. Gleichzeitig wird die Information abstrahiert, d. h., wir können von spezifi- meine Definition von Wis- schen Erfahrungen auf generelle Kategorien bzw. Konzepte der Merkmale der jeweiligen sen. Erfahrungsklasse abstrahieren. Diese Abstraktionen werden vom sogenannten konzeptu- ellen Wissen hervorgebracht. Beispielsweise können wir einen Stuhl, den wir niemals zuvor gesehen haben, als Stuhl identifizieren. Ebenso wissen wir, dass Golden Retriever, Möpse und Dackel zur Kategorie Hund gehören. Anstatt uns also daran zu erinnern, dass uns ein vierbeiniges pelziges Objekt mit wedelndem Schwanz abgeleckt hat, wissen wir, dass wir von einem Hund abgeleckt worden sind. Indem wir wissen, dass es sich um einen Hund handelt, können wir auch Vorhersagen tref- fen, z. B. darüber, dass der Hund bellen wird oder was er tun wird, wenn wir einen Ball werfen. Ebenso können wir über das Objekt Stuhl sagen, dass wir uns daraufsetzen kön- nen. 42 Die Forschung beschäftigt sich damit, wie diese Kategorien bzw. Konzepte gebildet wer- den und wie wir sie zur Interpretation von Erfahrungen nutzen. Es existieren zwei (mitei- nander verwandte) Theorien, von denen alle anderen Theorien zur Kategorisierung ausge- hen: Die Theorie der Semantischen Netzwerke und die Theorie der Schemata (Anderson 2007). Semantische Netzwerke Ein semantisches Netzwerk könnte auch als internes Lexikon bezeichnet werden, das Semantisches Netzwerk nach einer eigenen Hierarchie (also nicht wie im Lexikon alphabetisch) aufgebaut ist. Die- Die Wissensorganisation im Gedächtnis wird durch ses Modell wurde von Collins und Quillian (1969) vorgeschlagen. Danach speichern wir das semantische Netz- jedes einzelne Wort bzw. jede einzelne Information in einer Konfiguration aus anderen werk gestaltet. Wörtern, die eine hierarchische Netzwerkstruktur kategorialer Tatsachen darstellt. Bei- spielsweise wissen wir, dass ein Kanarienvogel ein Vogel und ein Vogel ein Tier ist. Den einzelnen Kategorien sind einzelne Attribute zugeordnet, die diese Kategorien kennzeich- nen. Der Kanarienvogel ist gelb und kann schön singen. Ausnahmen sind möglich. So ist der Strauß zwar ein Vogel, er kann aber nicht fliegen. Abbildung 14: Die Gedächtnisstruktur einer Hierarchie auf drei Ebenen für das Beispiel Kanarienvogel Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020 in Anlehnung an Anderson 2007, S. 184. Collins und Quillian überprüften ihre Theorie mit einem Experiment, in dem Probanden Aussagen nach ihrer Wahrheit beurteilen sollten. In diesem Fall war die Reaktionsge- schwindigkeit, mit der die Probanden die Richtig- oder Falsch-Taste drückten, die Variable. Aussagen waren z. B. folgende: 1. Kanarienvögel können singen. 2. Kanarienvögel haben eine Haut. 3. Kanarienvögeln haben Federn. 43 Die Reaktionsgeschwindigkeit bei Satz 1 war beispielsweise wesentlich schneller als die bei Satz 2. Die Information, dass Kanaris singen können, ist unmittelbar beim Wort Kanari- envogel gespeichert. Das Merkmal Haut jedoch findet sich in der Kategorie Tier, also zwei Stufen über dem Kanarienvogel. Es brauchte also etwas länger, um diesen Satz als richtig zu kennzeichnen. Zwar handelt es sich stets um Millisekunden, aber dennoch lässt sich so die Vernetzung in ober- und untergeordneten Kategorien nachweisen (Anderson 2007; Solso 2005). Andererseits beeinflussen bestimmte und häufige Erfahrungen auch die Abrufzeit. „Äpfel kann man essen“ wurde schneller verifiziert als die Aussage „Äpfel haben dunkle Kerne.“ Die Essbarkeit des Apfels ist sicher in einer höheren Kategorie abgespeichert, bei Obst oder Nahrungsmitteln. Die dunklen Kerne sind ein direktes Attribut des Apfels, dennoch ist die Essbarkeit offensichtlich aufgrund unserer Erfahrung auch direkt über den Apfel abruf- bar. Anderson fasst dieses Modell wie folgt zusammen (Anderson 2007): Begegnet man häufig einer Information über ein Konzept, so wird die Information zusammen mit dem Konzept gespeichert, auch wenn sie aus einem anderen oder über- geordneten Konzept abgeleitet werden könnte. Wir assoziieren eine Tatsache stärker mit einem Konzept, je häufiger wir ihr begegnen. Und je stärker Fakten mit dem Konzept assoziiert sind, desto schneller werden entspre- chende Aussagen verifiziert. Wir brauchen relativ viel Zeit, um Tatsachen abzuleiten, die nicht direkt bei einem Kon- zept gespeichert sind. Semantische Netzwerke sind individuell höchst unterschiedlich. Jeder von uns hat andere Verknüpfungen. Denken einige z. B. bei Obst zunächst an Äpfel und Birnen, die süß schme- cken, wird ein Obstexperte vielleicht an alte Apfelsorten denken, ein Bäcker eher an Apfel- kuchen. Die Netzwerke verändern sich ständig aufgrund unserer täglichen Erfahrung. Auch soziale Informationen sind im semantischen Netzwerk gespeichert, insofern haben sie auch soziale Relevanz. Über das Netzwerk werden z. B. Stereotype abgerufen. Nicht wenigen von Ihnen wird, wenn Sie das Wort „Professor“ lesen, der Begriff „zerstreut“ dazu einfallen. Schemata Semantische Netzwerke speichern Eigenschaften mitsamt Konzepten. Sie können aber nicht die Natur unseres Wissens über ein Objekt aufnehmen. Beispielsweise wissen wir einiges über das Objekt Haus: Häuser … … sind eine Art von Gebäuden. … haben Zimmer. … können aus Stein, Holz oder Ziegeln gebaut sein. … dienen als Wohnung. … haben rechteckige oder dreieckige Formen. … sind größer als 10 qm und kleiner als 1.000 qm. 44 Erwähnt jemand ein Haus, so haben wir bereits eine Vorstellung über dieses Objekt. Es ist also entscheidend an einer Kategorie, dass sie vorhersagbare Informationen über einzelne Exemplare dieser Kategorie speichert (Anderson 2007). Diese Repräsentationsform von Wissen, die nicht durch ein semantisches Netzwerk abge- deckt wird, wird als Schema bezeichnet. Das kategoriale Wissen eines Schemas enthält Eigenschaftsleerstellen, sogenannte „Slots“. Diese werden gefüllt durch die gegebenen Informationen oder durch Voreinstellungswerte bzw. „Defaults“. Für das Beispiel Haus ergibt sich also folgende (nicht vollständige) Schemarepräsentation: Oberbegriff: Gebäude, Teile: Zimmer, Material: Holz, Ziegel, Stein, Funktion: Wohnraum, Form: rechteckig oder dreieckig, Größe: zwischen 10 und 1.000 qm. Material, Funktion, Form etc. sind hier die Slots. Holz, Wohnraum etc. sind die Defaults. In der Regel sind die Default-Werte ein nützlicher Schlussfolgerungsmechanismus (Anderson 2007). Betrachten wir ein anderes Beispiel (Wentura/Frings 2013): „Hauptkommissar Batic betrat den Tatort. Er ging vom Flur in den ersten Raum rechts. Als erstes fiel ihm der laufende, auf stumm geschaltete Fernseher auf. Die Fernbedienung lag auf einem niedrigen Tisch davor.“ Sie haben sicherlich nun ein Wohnzimmer vor Augen. Spezifische Merkmale wie eine Couch oder ein Bücherregal, die im Text nicht erwähnt sind, werden mental ergänzt. Die gegebene Information sind ein Fernseher, ein niedriger Tisch, eine Fernbedienung, die Voreinstellungswerte setzen die typischen Einrichtungsgegenstände aus dem Wohnzim- mer-Schema hinzu. Beobachten Sie sich selbst: Welche Vorstellung von dem Wohnzimmer hätten Sie, wenn es im Text hieße: „Die Fernbedienung lag auf einem Häkeldeckchen auf dem Tisch.“ Das Wohnzimmer sieht in Ihrem Kopf gleich anders aus, die Möbelstücke wer- den mental passend zum Häkeldeckchen ergänzt. Nicht nur für Dinge gibt es Schemata, sondern auch für Ereignisse bzw. typische Ereignis- sequenzen. Ein solches Ereigniskonzept wird „Skript“ genannt. Ein beliebtes Beispiel in der kognitiven Psychologie ist ein Restaurantbesuch. Das Skript für dieses Ereignis ist eine Sequenz einer Reihe von Teilereignissen, die unsere Erwartungen bestimmen: Eintreffen im Restaurant, einen Tisch suchen, die Speisekarten nehmen, die Bestellung aufgeben usw. 45 Diese beiden Modelle – das semantische Netzwerk und das Schema – zeigen vor allem, dass wir zur Abstraktion und Generalisierung fähig und zur Loslösung des Denkens von einzelnen konkreten Erfahrungssituationen in der Lage sind. Letzten Endes macht dies uns zu dem, was wir sind: Wesen, die über sich und die Welt nachdenken können (Wen- tura/Frings 2013). 3.3 Gedächtnis und Gehirn Generell lässt sich das Gedächtnis in zwei Gruppen einteilen. Je nachdem, was Gehirn und Gedächtnis gerade tun, sind jeweils verschiedene Arten des Gedächtnisses aktiv. Zum Bei- spiel sind Bewegungsabläufe wie Fahrradfahren, Tennisspielen, ein Musikinstrument spie- len oder auch Autofahren Tätigkeiten, die von unserem Gehirn gesteuert werden, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Erinnern wir uns aber an unseren letzten Urlaub oder rufen Faktenwissen ab (z. B. 4 + 3 = 7), arbeiten wir bewusst. Es wird also zwischen explizi- tem und implizitem Gedächtnis unterschieden. Explizites Gedächtnis Das explizite oder deklarative Gedächtnis ist für den bewussten Abruf von Information Das bewusste Gedächtnis verantwortlich. Wenn Sie gebeten werden, die Hauptstadt von Frankreich zu nennen, so wird als explizites Gedächtnis bezeichnet. antworten Sie, mithilfe ihres aktiven und bewussten Gedächtnisses, mit Paris. Ebenso rufen Sie aktiv die PIN ihrer EC-Karte ab, wenn Sie am Bankautomaten Geld abheben wol- len. Generell kann man die Inhalte des expliziten Gedächtnisses damit charakterisieren, dass sie mit Worten erklärt werden können. Innerhalb des expliziten Gedächtnisses ist wiederum zwischen dem semantischen und dem episodischen Gedächtnis zu unterscheiden. Im episodischen Gedächtnis speichern wir unsere biografischen Erinnerungen, unsere Erfahrungen und Erlebnisse. Nach Tulving (1972) „empfängt und speichert [es] Informationen über zeitlich datierte Episoden und Ereignisse und […] über Beziehungen zwischen diesen Ereignissen“. Sowohl die Erinne- rung an manche Episoden der Grundschulzeit ist noch vorhanden, die Erinnerung an eine besonders schöne Hochzeit von Freunden oder die schreckliche Prüfung in Medienpsy- chologie. Das episodische Gedächtnis ist erfahrungsabhängig und organisiert sich immer Informationsverluste wieder neu, dabei ist es anfällig für Veränderungen und Informationsverluste. Wir ver- Dieser Begriff bezeichnet gessen so einiges. Aber wir haben damit eine Grundlage für das Erkennen von Ereignissen, verlorene Erinnerungen. z. B. das Erkennen von Orten und auch Menschen, denen wir früher begegnet sind (Solso 2005). Das semantische Gedächtnis ist sozusagen unser eigenes Lexikon, der Ort unseres „Welt- wissens“, das Gedächtnis für Wörter, Ideen, abstrakte Begriffe und Regeln und es organi- siert die Verwendung der Sprache. Oder wie Tulving (1972, zit. nach Solso 2005, S. 230) definiert: „Es handelt sich um einen geistigen Schatz, um das organisierte Wissen, das eine Person über Wörter und andere Symbole besitzt, ihre Bedeutung und Bezüge, über Bezie- hungen zwischen ihnen sowie über Regeln, Formen, und Algorithmen für die Manipulation dieser Symbole, Begriffe und Beziehungen. Das semantische Gedächtnis registriert keine wahrnehmbaren Eigenschaften von Inputs, sondern vielmehr kognitive Bezüge auf Input- signale.“ 46 Benutzen wir das Wort „blau“, so werden wir kaum auf eine bestimmte damit verbundene Episode in unserem Gedächtnis zurückgreifen, sondern wir beziehen uns auf die allge- meine Wortbedeutung. Unbewusste Erinnerungen werden im impliziten oder nicht-deklarativen Gedächtnis Implizites Gedächtnis abgespeichert. Es weiß nichts, kann aber alles. Die Erinnerung, wie wir ein Auto bedienen, Das implizite Gedächtnis ist das unbewusste ist tief in unserem impliziten Gedächtnis eingeprägt, wir tun es automatisch, ohne dass Gedächtnis. dazu ein bewusster Prozess abläuft. Das implizite Gedächtnis „beschreibt einen Wissens- bestand, den wir zwar nicht bewusst erinnern können, der sich aber dennoch in einer ver- besserten Leistung bei bestimmten Aufgaben niederschlägt“ (Anderson 2007, S. 278). Auch das implizite Gedächtnis lässt sich in verschiedene Bereiche aufteilen. Das prozedu- rale Gedächtnis ist für die Bewegungsabfolgen zuständig, also für unsere motorischen Fähigkeiten, und schließt auch einfache Konditionierungsvorgänge mit ein. Das perzeptu- elle Gedächtnis wiederum speichert konkrete Wahrnehmungen von Objekten und ermög- licht es uns, diese Objekte schneller wiederzuerkennen. Einen weiteren Bereich stellen wir hier vor: Unter bestimmten Umständen kommen expli- zites und implizites Gedächtnis miteinander in Berührung und überschneiden sich bzw. schieben sich die Aufgaben zu. Untersuchungen zeigen, dass Probanden bei bestimmten Reizen, mit denen eigentlich das explizite Gedächtnis aktiviert werden sollte, auf das implizite umschwenken. Betrachten Sie folgende Buchstabenabfolge. Wie heißt das Wort? I_f_r_a_i_n_v_r_u_t_ Wahrscheinlich wissen Sie die Antwort schon. Auf einer vorherigen Seite haben Sie eine Marginalie gesehen und eventuell wahrgenommen. Diese Marginalie war der Prime, der Prime eine mentale Assoziation unterhalb des Bewusstseinsniveaus bei Ihnen aktiviert hat Ein Reiz, der die Verarbei- tung eines anderen Reizes (Solso 2005). Sofort ist das implizite Gedächtnis an die Stelle des expliziten Gedächtnisses beeinflusst, ist ein Prime. gesprungen. Wenn Sie die Buchstabenfolge jemandem vorlegen, der den Prime nicht gesehen hat, wird er das Wort auch herausfinden, aber mit dem expliziten Gedächtnis etwas länger dafür brauchen. Der Begriff des Priming wird Ihnen in der Medienpsychologie noch öfter begegnen. 47 Abbildung 15: Arten des Gedächtnisses nach Squire Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2020 in Anlehnung an Anderson 2007, S. 286. 3.4 Das Erinnern: Kurz-, Mittel- und Langzeitgedächtnis Encodierung und Abruf – ein prozessualer Ansatz Prototypische Gedächtnisexperimente gliedern sich in drei Phasen: die Lernphase (Enco- dierphase), die Behaltensphase (Retentionsphase) und die Abrufphase (Testphase) (Wen- tura/Frings 2013). Bei Untersuchungen hat sich herausgestellt, dass eine erfolgreiche Erin- nerung in hohem Maße davon abhängt, inwieweit sich die Situation des Abspeicherns (Encodierung) und die des Abrufs gleichen. Das erklärt, warum wir in einigen Situationen Zugriff auf bestimmte Erinnerungen haben und in anderen im „Erinnerungsnebel“ stehen. Beim Encodieren von Erinnerungen wird eine Vielzahl von Kontextinformationen mitge- speichert. Diese Informationen sind für die Qualität des Abrufs essenziell, denn sie stellen wichtige Erinnerungshilfen dar. Die Erinnerung gelingt dann am besten, wenn die Encodie- rungsbedingungen wieder aktiviert werden können. Dieser Effekt wird als Encodierungs- spezifität bezeichnet. Es geht also um die kontextuelle Einbettung. Versuche haben gezeigt, dass die Gedächtnisleistung für Wörter steigt, wenn diese Wörter im Kontext der- selben Wörter gelistet werden, in dem sie ursprünglich gelernt wurden (Anderson 2007). Von Gedächtnisforschern wird zur Erläuterung vielfach ein literarisches Beispiel zitiert. Marcel Proust beschrieb in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, welche Erinnerung ihn durchflutete, als er ein Mandelgebäck mit etwas Tee nimmt: In der Sekunde, wo dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, dass sich in mir vollzog […] und dann war mit einem Male die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen meine Tante Leonie anbot […] Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wieder erkannt hatte, die meine Tante mir, in Lindenblütentee ein- 48 getaucht, zu verabfolgen pflegte […] trat das graue Haus mit seiner Straßenfront […] hinzu […] und mit dem Hause die Stadt, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, die ich von morgens bis abends und bei jeder Witterung durchmaß (Proust 1979, S. 63). Hier zeigt sich bildhaft, wie bei diesem Codieren von Informationen zahlreiche Begleitin- formationen mitcodiert wurden. Unser Alltag bietet für diesen Effekt unzählige Beispiele. Wenn wir uns an einen bestimm- ten Inhalt erinnern wollen, sehen wir möglicherweise die Buchseite vor unserem inneren Auge, auf der die Antwort stand, oder hören die Musik, die uns beim Lernen begleitet hat. Es müssen keine sinnvollen Verknüpfungen zwischen den Kontextinformationen und der eigentlichen Zielinformation gegeben sein, selbst ein tropfender Wasserhahn beim Voka- bellernen kann eine Erinnerungshilfe sein. Allerdings müssen die Informationen spezifisch sein, das bedeutet, in der bestimmten Situation verankert. Auch der Abrufschlüssel („Cue“) muss ausreichend gut sein, damit der Zugriff auf die Epi- sode, die Erinnerung gelingt. Perfekte Erinnerung gelingt also durch die Wechselwirkung zwischen den Bedingungen beim Encodieren und den Bedingungen beim Abruf (Neath/ Surprenant 2005). Der Bildüberlegenheitseffekt bei Erinnerungen erklärt sich aus der dualen Codierung von Bild und Sprache. Grundsätzlich können Informationen bildhaft oder sprachlich in unse- rem Gedächtnis verarbeitet werden. Vor allem konkrete Begriffe wie „Buch“ oder „Frosch“ können in beiden Systemen gespeichert werden. Für abstrakte Begriffe benötigen wir einen eigenen Code, um sie uns zu merken. In der Regel haben wir keine bildliche Vorstel- lung von Worten wie „Bruttosozialprodukt“ oder „Moment“. Zum Beispiel haben Marken- namen wie „Frosch“ eine erheblich bessere Chance, dass man sich an sie erinnert, als Mar- kennamen wie „Clever“. Verarbeitungstiefe Der Effekt der Verarbeitungstiefe verstärkt unsere Gedächtnisleistung zusätzlich. Wir mer- ken uns Nachrichten besser, wenn wir danach fragen, warum es so ist, statt nur wahrzu- nehmen, dass es so ist. Die Information wird bei der Analyse von Gründen intensiver verar- beitet als bei der reinen Kenntnisnahme. Die größte Wirkung hat die Verarbeitungstiefe, wenn wir die Analyse auf uns beziehen. Wenn Sie gebeten würden, zu entscheiden, ob das Wort Bildüberlegenheitseffekt mit oder ohne Bindestrich geschrieben wird, würden Sie sich nach Erledigung der Aufgabe nicht lange daran erinnern. Sehr viel intensiver wäre Ihr Erinnerungsvermögen, wenn Sie über- legt haben, ob alle Wortteile der deutschen Sprache entstammen oder ob lateinische oder griechische Begriffe darin vorkommen. Den größten Effekt auf Ihre Erinnerung hätte es, wenn Sie entscheiden sollten, ob und wie das Wort Bildungsüberlegenheitseffekt auf Sie und Ihre Erinnerungsleistung zutrifft. Hier tritt der sogenannte Generierungseffekt in Kraft: Informationen, die wir selbst gene- rieren, haben eine sehr viel höhere Wahrscheinlichkeit, dass wir uns wieder daran erin- nern (Felser 2015). 49 Zur Erklärung des Generierungseffekts dient das folgende Beispiel: Sie haben an einem Workshop teilgenommen und möchten im Anschluss Ihren Freunden möglichst genau vom Ablauf berichten. Wenn Sie sich frei erinnern müssen, fallen Ihnen am leichtesten die Momente ein, an denen Sie selbst zum Workshop beigetragen oder Erkenntnisse auf sich angewendet haben. Selbst die Dinge, die Sie nicht gesagt, sondern nur gedacht haben, sind präsenter als Beiträge anderer Teilnehmer. Gerade für Lerneinheiten ist es daher sinnvoll, sich mit den Auswirkungen von Informatio- nen auf die eigene Person zu beschäftigen. Sie merken sich die Informationen über unsere Gedächtnisleistung sehr viel intensiver, wenn Sie sich überlegen, welche Aspekte Sie bei sich wahrnehmen können und welchen Vorteil beispielsweise bildhaftes Lernen konkret für Sie hat. Der Generierungseffekt erfordert also die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Wirken auf die eigene Person. Passives Aufnehmen allein reicht nicht aus. Der Vorteil liegt allerdings auf der Hand, denn einerseits wird die Gedächtnisleistung gefördert und ande- rerseits überzeugen uns Argumente, auf die wir selber gekommen sind, am meisten. Vergessen und Rekonstruktion Erinnerungen werden von unserem Gedächtnis nicht willkürlich gelöscht. Selbst Informa- tionen, die uns auch mit großer Anstrengung nicht mehr zugänglich zu sein scheinen, sind nach aller Regel nach wie vor „irgendwo“ existent. Was geschieht aber mit den Erinnerun- gen, die uns abhandenkommen? Die Theorie des Vergessens beschreibt, dass „sich viele gleichartige Gedächtnisspuren unentwirrbar überlagern oder dass kein distinkter Abrufschlüssel mehr zur Verfügung steht“ (Wentura/Frings 2013, S. 110). Das bedeutet, dass neue eingehende Informationen den Zugriff auf bereits gelernte Infor- mationen überlagern und behindern können. Werbespots werden leichter vergessen, wenn sie in thematisch eng zusammenhängenden Blöcken dargestellt werden, da das Gedächtnis keinen Ansatz der Differenzierung findet. Der Abrufschlüssel ist nicht mehr aufrufbar, weil eine eindeutige Zuordnung fehlt. Diesen Effekt nennt man Interferenz. Es wird Ihnen beispielsweise kaum gelingen, sich an die Mathestunde am 21. Februar zu erin- nern, als Sie in der neunten Klasse waren. Die vielen Mathestunden überlagern einander, d. h., sie interferieren. Vergessen ist also eine Folge davon, dass weitere und ähnliche Informationen hinzugekommen sind. Wenn wir beispielsweise das erste Mal ein Konzert unseres Lieblingskünstlers besuchen, dienen die Songs oder die Fotos, die wir während des Konzerts gemacht haben, als Abrufschlüssel. Wenn wir nun wiederholt die Konzerte desselben Künstlers besuchen, immer wieder ähnliche Fotos machen und täglich die Lie- der als Hintergrundmusik hören, lösen weder Fotos noch Songs die explizite Erinnerung an ein bestimmtes Konzert aus. Möglicherweise „vergessen“ wir sogar, dass wir bestimmte Konzerte besucht haben. 50 False-Memory-Effekt Die Rekonstruktion von Erinnerungen anhand bestimmter Abrufschlüssel läuft leider nicht fehlerfrei in unserem Gedächtnis ab. Elizabeth Loftus hat sich der Erforschung von „False Memory“, also falschen Erinnerungen, gewidmet und mehrere faszinierende Studien zu diesen Themen veröffentlicht (Loftus/Garry/Manning 1996). Eines der wohl bekanntesten Experimente dreht sich um die Glaubwürdigkeit von Kind- heitserinnerungen. Das Forscherteam um Loftus zeigte jedem einzelnen Probanden eine gefälschte Werbeannonce des Disney-Konzerns, in der er als Kind neben Bugs Bunny abgebildet war. Auf Nachfrage konnten sich einige von ihnen erinnern, wie sie dem Hasen begegnet waren. Einzelne Probanden berichteten sogar über ein Handschütteln oder die Weichheit des Fells der verkörperten Comicfigur. 16 % der 167 Versuchspersonen entdeck- ten in diesem Experiment plüschige Hasenerlebnisse in ihrem Gedächtnis, in einer Folge- studie waren es sogar 35 %. Nur: Bugs Bunny ist ein Geschöpf des Konzerns Warner Brot- hers und dürfte im Konkurrenzunternehmen Disneyland niemals aufgetaucht sein. Selbst eine rational nachweisbare falsche Erinnerung wurde von den Teilnehmern nicht als sol- che erkannt (Loftus/Garry/Manning 1996). Diese mentale Vervollständigung nehmen die Probanden ohne willentliche Absicht vor. Was wir für sehr plausibel halten, erleben wir häufig als echte Erinnerung. Es kommt uns „wahrhaftig“ vor. Grundsätzlich nutzen wir für den Zugriff auf unsere Erinnerungen alle Abrufschlüssel, die sich dazu anbieten. Informationen über die vergangene Situation, sensorische Reize über unsere Sinneskanäle oder generische Erinnerungen, die nicht unbedingt auf die gesuchte Situation zurückzuführen sind, helfen dabei, Erinnerungen in unserem Gedächtnisnetz- werk aufzuspüren. Das kann zu einer korrekten Erinnerung führen, bietet aber auch offen- sichtlich Spielraum für Fehler. So können z. B. subjektive Fragestellungen falsche Informa- tionen voraussetzen, um die wir unsere Erinnerungen ergänzen. Wenn die Zeugen eines Unfalls gefragt werden: „Haben Sie die Glassplitter auf dem Boden gesehen?“, nehmen sie auch ohne reale Erinnerung an, es seien Glassplitter zu sehen gewesen (Felser 2015). Besonders verstärkend wirkt hier der Einsatz des bestimmten Artikels „die Glassplitter“. Damit wird die Vorannahme geprägt, dass es Glassplitter gab, und wir fügen sie unserer Erinnerungsepisode bereitwillig hinzu. Ein weiteres Mittel zur Beeinflussung der Gedächt- nisleistung ist die Taktik der doppelten Fragestellung. Werden Personen dieselben Fragen zweimal suggestiv gestellt, neigen sie dazu, ihre Antwort beim zweiten Mal zu ändern (Fel- ser 2015). Das Drei-Speicher-Modell: Kurz-, Mittel- und Langzeitgedächtnis Haben wir uns bislang mit dem prozessorientierten Gedächtnismodell befasst, wenden wir uns nun dem strukturorientierten Gedächtnismodell zu. Nach dem Speichermodell arbeiten in unserem Gedächtnis drei verschiedene Bereiche an der Informationsverarbeitung: der sensorische Speicher, der Arbeitsspeicher und der Langzeitspeicher. Im Speichermodell nimmt man an, dass Informationen der Außenwelt über unsere Sinne in verschiedene sensorische Speicher gelangen. Unsere Sinne versor- 51 gen unser Gehirn mit ca. elf Millionen Bits Informationen pro Sekunde. Das ist in etwa die Datengröße eines Spielfilms auf YouTube. Verarbeiten können wir bewusst allerdings nur maximal 40 Bits pro Sekunde! Unsere Sinneskanäle speichern die erhaltenen Informationen allerdings nur für eine sehr kurze Zeit. Versuchspersonen können z. B. die Antwort auf die Frage „Was war in dem Bild rechts oben zu sehen?“ korrekt liefern, wenn sie sie aus dem sensorischen Speicher, also dem Ultrakurzzeitgedächtnis, abrufen. Dieser ist allerdings hinsichtlich der Bildspeiche- rung bereits nach etwa 50 Millisekunden geleert. Durch Aufmerksamkeitsprozesse werden bestimmte Reize für die weitere Verarbeitung selektiert oder: „Was nicht wichtig ist, fliegt raus!“ Im Arbeitsspeicher werden Informationen geordnet und für aktuelle Tätigkeiten abrufbar gemacht. Allerdings verfügt er über sehr wenig Kapazität und hat seine Auslastung bereits mit „7 +/– 2“ Einheiten, also fünf bis neun Informationseinheiten erreicht. Bei langen Zah- lenfolgen sind wir bei mehr als neun Ziffern bereits am Ende unserer Merkfähigkeit ange- kommen. Eine Zahl entspricht etwa fünf Bits Informationen, ebenso ein Buchstabe. 40 Bits sind damit schon bei einem Wort mit acht Buchstaben erreicht. „B U C H S T A B“ – mehr können Sie innerhalb einer Sekunde nicht bewusst aufnehmen! Um die Begrenzung des Arbeitsspeichers zu umgehen, müssen wir die Einheiten, die wir uns merken wollen, sinnvoll miteinander verbinden und damit Raum für neue Einheiten schaffen. Statt eine Information in Einzelteilen abzuspeichern, sorgt ein Bezug zwischen den Teilen dafür, dass sie eine einzige Einheit bilden. Wenn in einer Wortliste das Wort „Marylin“ vorkommt und später „Monroe“, sollte es nicht schwerfallen, diese Worte als eine Einheit abzuspeichern, statt zwei Einheiten zu belegen. Auf dieser Erkenntnis basieren übrigens die meisten Methoden von Gedächtnistrainings. Nummern und Buchstaben werden mit möglichst bildhaften Darstellungen verknüpft, um zum einen die Einheiten zu komprimieren und zum anderen den Bildüberlegenheitseffekt zu nutzen. Die verbleibenden 10.999.960 Bits pro Sekunde, die wir zwar unbewusst aufnehmen, aber nicht bewusst verarbeiten, sorgen dafür, dass wir trotz aller Einschränkungen des Arbeits- speichers effektiv kommunizieren und funktionieren können. Die permanente Ablage von Informationen erfolgt im Langzeitspeicher. Hier steht uns unbegrenzter Speicherplatz zur Verfügung. Die entscheidende Frage ist daher nicht die nach der Kapazität, sondern vielmehr nach der Organisation des Langzeitspeichers, wie und wo Informationen abgelegt, organisiert und vernetzt werden. 52 3.5 Einflussfaktoren auf Gedächtnisleistungen Nach all dem entsteht die Frage, wie wir konkret Informationen aufnehmen und vor allem so verarbeiten können, dass wir sie behalten. Erfolg in vielen Bereichen, im Studium, Wirt- schaftsleben, aber auch im Sport, hängt vielfach von unserer Fähigkeit ab, uns eine Reihe von Information besser merken zu können. Verschiedene Faktoren und Methoden können dabei unsere Gedächtnisleistungen verbessern. Mnemotechnische Systeme Wir haben zahlreiche Hilfen, mit denen wir unser Gedächtnis stützen. Reden werden mit Notizen gehalten, Schüler schreiben sich Spickzettel, viele Fernsehansprachen werden durch einen Teleprompter unterstützt. Narrative Gesellschaften benutzen Geschichten mit reichhaltiger, bildhafter Sprache, um ihre eigene Geschichte weiter zu tradieren. Mnemotechnische Systeme, also Gedächtnishilfen oder -tricks, unterstützen uns dabei, unsere Gedächtniskapazitäten zu optimieren. Vertraute Assoziationen werden dazu ver- wendet, die Speicherung von Informationen und deren Abruf aus dem Gedächtnis zu ver- bessern (Solso 2005). Eine bereits seit Jahrtausenden funktionierende Technik ist die Loci-Methode, die mit Loci-Methode visuellem Vorstellungsvermögen und dem Rückgriff auf räumliches Denken arbeitet. Eine Assoziationstechnik mithilfe des visuellen Vor- Bereits in der Antike, als Vorträge noch ohne Teleprompter oder Power-Point-Präsentatio- stellungsvermögens ist nen gehalten wurden, war diese Methode weitverbreitet. Mithilfe dieser Methode kann es die Loci-Methode. gelingen, sich gut an Objekte zu erinnern, die eigentlich wenig miteinander zu tun haben, indem diese Objekte beispielsweise mittels bildhafter Vorstellung an bestimmte Orte („Loci“) geknüpft werden. Eine Erinnerung funktioniert dann, wenn man geistig diese Orte wieder „abgeht“. Eine Einkaufsliste mit Brot, Milch, Tomaten, Katzenfutter und Gin können Sie sich auf dem Weg zur Arbeit recht gut folgendermaßen merken: Ein großes Brot, dass die Treppe hinunterhüpft, an der Bushaltestelle stoppt der Bus in einem großen Milchsee, am Eingang zum Büro steht ein riesiger Spalierbogen mit Tomaten, im Büro des Chefs sitzt eine fressende Katze auf dem Tisch, während der Chef Gin regnen lässt. Man muss nur noch im Geiste diesen