Summary

This document, titled Recht 1 Kompendium, is a study guide for the subject of law, specifically geared toward 3rd-semester students in Hotel Management at SHL (Schweizerische Hotelfachschule Luzern). It covers Swiss history, political organization, the legal system's structure and various civil law principles, including contracts. The document was published in 2024 in Switzerland.

Full Transcript

SEMESTER 3 HOTELLERIE RECHT 1 Dozent: Stefan Peter Spiralfächer Wenn Inhalte in diesem Kompendium einen direkten Zusammenhang mit einem der SHL Spiralfächer haben, ist dies jeweils folgendermassen gekennzeichnet: Informationssysteme Innovation & Digitalisierung Qu...

SEMESTER 3 HOTELLERIE RECHT 1 Dozent: Stefan Peter Spiralfächer Wenn Inhalte in diesem Kompendium einen direkten Zusammenhang mit einem der SHL Spiralfächer haben, ist dies jeweils folgendermassen gekennzeichnet: Informationssysteme Innovation & Digitalisierung Qualitätsmanagementsystem Sustainability Impressum Ausgabe 2024 Version 5.1 © SHL Schweizerische Hotelfachschule Luzern Recht 1 INHALTSVERZEICHNIS 1 Staatsrechtliche Grundlagen..................................................................................... 1 1.1 Die geschichtliche Entwicklung der Schweiz.................................................................. 1 1.2 Die Staatsform der Schweiz............................................................................................ 4 1.2.1 Der Bundesstaat..................................................................................................4 1.2.2 Die politische Organisation des Bundesstaates Schweiz...................................6 1.2.3 Die politischen Parteien und ihre Bedeutung...................................................10 1.2.4 Die Entstehung eines Bundesgesetzes............................................................12 1.3 Der Aufbau der Rechtsordnung.................................................................................... 15 1.3.1 Ursprung und Wesen des Rechts......................................................................15 1.3.2 Verfassung, Gesetz, Verordnung.......................................................................16 1.3.3 Die Grundrechte................................................................................................16 1.3.4 Öffentliches Recht – Privatrecht.......................................................................19 1.4 Die Rechtspflege........................................................................................................... 20 1.4.1 Allgemeines.......................................................................................................20 1.4.2 Zivil-, Straf-, Verwaltungsverfahren.................................................................20 1.4.3 Die Vollstreckung..............................................................................................23 2 Grundzüge des Zivilrechts....................................................................................... 24 2.1 Allgemeines.................................................................................................................. 24 2.2 Die Einleitungsartikel.................................................................................................... 26 2.3 Das Personenrecht....................................................................................................... 28 2.3.1 Natürliche Personen.........................................................................................28 2.3.2 Juristische Personen.........................................................................................30 2.3.3 Der Persönlichkeitsschutz im ZGB...................................................................33 2.3.4 Das Datenschutzgesetz....................................................................................36 3 Allgemeine Vertragslehre....................................................................................... 39 3.1 Begriff und Entstehen einer Obligation........................................................................ 39 3.2 Der Vertrag.................................................................................................................... 40 3.2.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit.........................................................................42 3.2.2 Grundsatz der Formfreiheit..............................................................................45 3.2.3 Anfechtbarkeit eines Vertrages.........................................................................46 3.2.4 Vertragserfüllung..............................................................................................49 3.2.5 Mängel bei der Vertragserfüllung.....................................................................50 3.2.6 Sicherung der Vertragserfüllung......................................................................53 3.3 Die Verjährung.............................................................................................................. 57 A Recht 1 4 Kaufvertrag.............................................................................................................. 59 4.1 Der Fahrniskauf............................................................................................................ 59 4.1.1 Pflichten des Verkäufers.................................................................................. 61 4.1.2 Pflichten des Käufers....................................................................................... 64 4.2 Der Grundstückkauf..................................................................................................... 65 5 Gastaufnahmevertrag.............................................................................................. 66 5.1 Inhalt und Erscheinungsformen................................................................................... 66 5.2 Der Vertragsabschluss................................................................................................ 67 5.2.1 Reservation beim Beherbergungsvertrag........................................................ 67 5.2.2 Reservation beim Bewirtungsvertrag............................................................... 68 5.3 Die Pflichten der Vertragsparteien.............................................................................. 69 5.3.1 Das Restaurant im Bewirtungsvertrag............................................................. 69 5.3.2 Das Hotel im Beherbergungsvertrag............................................................... 69 5.3.3 Der Gast............................................................................................................ 70 6 Ihre Notizen.............................................................................................................. 71 B Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1 STAATSRECHTLICHE GRUNDLAGEN 1.1 DIE GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DER SCHWEIZ Deklaration der Lernziele Richt- oder Lernziel erfüllt − Sie sind in der Lage, die geschichtliche Entwicklung der Schweiz unter Be-  zugnahme auf die wichtigsten Daten und Zusammenhänge aufzuzeigen. − Sie können grob umschreiben, was die einzelnen Hauptabschnitte der  Bundesverfassung zum Thema haben. − Sie können die allgemeinen Bestimmungen der Bundesverfassung, insbe- sondere die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns, nachvollziehbar  erläutern. Das Datum von 1291, an dem Vertreter der drei Urschweizer Kantone Uri, Schwyz und Un- terwalden den Bundesbrief unterzeichneten, wird gemeinhin als Geburtsstunde der Schweiz, d.h. der Eidgenossenschaft, angenommen. Allerdings hat der heutige Bundesstaat Schweiz wenig mit der damaligen Eidgenossenschaft gemeinsam. Die Schweiz, wie sie heute organisiert ist, geht auf das Datum von 1848 zurück. Zu dieser Zeit wurden nach einem Bürgerkrieg die erste Bundesverfassung in Kraft gesetzt sowie ein Bundesrat und ein Parlament gewählt. Vor dieser Zeit bestand die Eidgenossenschaft aus einem mehr oder weniger lockeren Zu- sammenschluss von einzelnen selbstständigen Staaten (= Kantone). Einige Gebiete, die heute selbstständige Kantone sind, waren aber zu jener Zeit Untertanengebiete anderer Kantone (z.B. Teile des Aargaus, Tessin, Thurgau). Das gemeinsame Funktionieren der Kantone wurde in der sogenannten Tagsatzung geregelt. Die Tagsatzung war eine Versammlung der Vertreter der teilnahmeberechtigten Kantone. Die Zeit bis ins 18. Jahrhundert hinein war immer wieder geprägt durch die Auseinander- setzungen zwischen den einzelnen Orten, vor allem zwischen den Städten und den Landor- ten. Es kam zu vereinzelten Schlachten, zu Unruhen und Aufständen. Während es bei diesen Auseinandersetzungen immer wieder um Rechte und Ansprüche oder um die Verteilung von Kriegsbeute ging, hatten einige davon auch einen religiösen Hintergrund (Katholiken gegen Protestanten). 1789 fand die Französische Revolution statt. Als Folge davon kam Napoleon an die Macht. Dieser betrieb eine forsche Eroberungspolitik, von der auch das Territorium der Schweiz betroffen war. Mit dem Einmarsch der französischen Truppen 1798 ging die Alte Eidgenos- senschaft unter. An ihre Stelle trat die sogenannte Helvetische Republik, die zentralistisch organisiert war. Die bisherigen Kantone wurden zu reinen Verwaltungsbezirken, wobei ein- zelne geteilt und andere neu gebildet wurden. Dieser Republik lag eine Verfassung zu- grunde, die Bürgerrechte und politische Gleichheit garantierte. Die neue Republik fand jedoch nur wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Mit dem Abzug der französischen Truppen 1803 brach sie innert kürzester Zeit zusammen und die Schweiz wurde wieder zum Staatenbund. Die Souveränität der Kantone wurde wiederhergestellt, 1 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen die 13 alten Orte in ihren alten Grenzen bestätigt. Auf ihre früheren Untertanengebiete mussten sie allerdings verzichten: Neben St. Gallen und Graubünden wurden auch Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt als selbstständige Kantone anerkannt. Mit den Niederlagen, die Napoleon erlitt, verschwand auch der Einfluss Frankreichs. Als Folge davon anerkannte der Wiener Kongress von 1815 die Schweiz als unabhängigen Staat und es wurde deren dauernde Neutralität garantiert. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Schweiz aus 22 Kantonen. Ab 1830 gelangte in der Mehrheit der Kantone eine starke nationale Bewegung mit liberalen, demokratischen und zentralistischen Zügen an die Macht. Hinter diesem nationalen Aufbruch stand ein sozialer Umbruch mit wachsender Industrialisierung, veränderter Landwirtschaft und grösserer Armut. Es bildeten sich zwei Kantonsgruppen: konservative, bäuerliche und ausschliesslich katholische Kantone einerseits, die 1845 den sogenannten Sonderbund gründeten (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug, Freiburg, Wallis), andererseits die zahlenmässig weit überlegenere Gruppe der liberalen, industriali- sierten Kantone. Die zweite Gruppe trug im letzten Bürgerkrieg der Schweiz, dem Sonderbundskrieg von November 1847 (ca. 150 Tote), den Sieg davon. Dies ermöglichte 1848 die Annahme einer neuen Bundesverfassung. Mit dieser Bundesverfassung wurde die frühere Eidgenossenschaft definitiv zu einem Bundesstaat, so wie er sich in seinen Grund- zügen noch heute präsentiert, in dem die Staatsgewalt zwischen dem Bund und den Kantonen aufgeteilt ist. Die Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 stellte eine Totalrevision dieser Bundesverfassung von 1848 dar. 1999 wurde die Bundesverfassung erneut einer Totalrevision unterzogen. Diese trat auf den 1. Januar 2000 in Kraft. Mit der Totalrevision von 1999 wurden nur wenige und untergeordnete inhaltliche Änderungen vorgenommen. Die Bundesverfassung wurde primär neu gegliedert und übersichtlicher gestaltet. Sie gliedert sich neu in sechs Hauptab- schnitte: − Der erste Titel enthält die allgemeinen Bestimmungen über die Eidgenossenschaft und die Kantone. Er nennt die 26 Kantone und die vier Landessprachen. Er legt den Zweck der Eidgenossenschaft (Freiheit, Unabhängigkeit, gemeinsame Wohlfahrt, Chancen- gleichheit, Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, friedliche und gerechte inter- nationale Ordnung) und die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns fest. − Der zweite Titel besteht aus einem umfassenden Grundrechtskatalog, den Bürger- rechten (wer das Bürgerrecht einer Gemeinde und des Kantons hat, hat auch das Schweizer Bürgerrecht) und aus Sozialzielen. − Der dritte Titel regelt das Verhältnis zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden (Födera- lismus). Er geht von der Partnerschaft zwischen Bund und Kantonen aus und gewähr- leistet die Gemeindeautonomie. Ebenfalls in diesem Titel sind die Gesetzgebungs- kompetenzen des Bundes im Einzelnen festgelegt. Wird keine Zuständigkeit des Bundes begründet oder macht der Bund von seiner Kompetenz nicht Gebrauch, so können die Kantone tätig werden. Ebenfalls in diesem Titel ist die Finanzordnung geregelt. − Der vierte Titel enthält die politischen Rechte. 2 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen − Der fünfte Titel umschreibt die Bundesbehörden (Bundesversammlung, Bundesrat und Bundesverwaltung, Bundesgericht) und regelt ihre Wahl und ihre Kompetenzen. − Der sechste Titel enthält Bestimmungen für die Revision der BV und Übergangsbestim- mungen. Notizen 3 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.2 DIE STAATSFORM DER SCHWEIZ Deklaration der Lernziele Richt- oder Lernziel erfüllt − Sie sind in der Lage, den Staatsaufbau der Schweiz detailliert zu beschrei-  ben und dessen Hintergründe und Funktionsweise korrekt zu erklären. − Sie können die politische Gliederung und Organisation der Schweiz strukturiert erläutern und staatliches Handeln den verschiedenen  Gewalten korrekt zuordnen. − Sie sind in der Lage, die verschiedenen Volksrechte auf Bundesebene ver- ständlich zu erklären und anhand theoretischer Beispiele wirksam einzu-  setzen. − Sie können die Aufgaben des Parlaments korrekt beschreiben, die Hand- lungsinstrumente der Parlamentarier verständlich erklären und anhand  theoretischer Beispiele wirksam einsetzen. − Sie sind in der Lage, Funktion und Bedeutung der politischen Parteien kor-  rekt zu beschreiben. − Sie können die wichtigsten Standpunkte der vier wählerstärksten Parteien  korrekt benennen. − Sie sind in der Lage, anschaulich aufzuzeigen, wie ein Bundesgesetz ent-  steht. 1.2.1 Der Bundesstaat Wie bereits erwähnt, ist die Schweiz mit der Zeit zu einem Bundesstaat zusammenge- wachsen. Die Kantone (früher meist eigenständige Staaten) haben sich verbunden und einen neuen Staat, nämlich die Schweiz, gegründet. Die Kantone behielten als Gliedstaaten weiterhin ihre «Staatseigenschaft» (Föderalismus), traten aber gewisse Befugnisse an den Bundesstaat ab. Das Subsidiaritätsprinzip resp. das schweizerische Föderalismusprinzip besagt, dass die obere poli- tische Ebene (Bund/Kanton) nur das regeln soll, was die tiefere politische Ebene (Kanton/Gemeinde) im Interesse des Ganzen nicht selbstständig regeln kann. Es macht keinen Sinn, dass jeder Kanton sein eigenes Strassenverkehrsgesetz erlässt, also ist dies Sache des Bundes. Durch das Subsidiari- tätsprinzip wird soweit als möglich die Selbstständigkeit der tieferen politischen Ebenen aufrecht- erhalten (vgl. Art. 5a BV). Das Gegenstück zum Föderalismus ist der Zentralismus. Hier wird alles zentral und auf höchster Stufe geregelt. Freiräume für die unteren Behörden existieren nicht. Die Schweiz vereinigt heute 26 Kantone (Art. 1 BV). Die nächsttiefere politische Einheit ist meist ein Bezirk oder Amt. Alle Kantone vereinigen eine Anzahl Gemeinden. Auch hier wird versucht, das Prinzip des Föderalismus zu verwirklichen. 4 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Die staatlichen Aufgaben werden von drei verschiedenen Organen (Gewaltentrennung) wahrgenommen. Man nennt diese − Legislative oder gesetzgebende Gewalt − Exekutive oder ausführende Gewalt − Judikative oder richtende Gewalt Da die Schweiz aus Bund, Kantonen und Gemeinden besteht, haben wir auf all diesen Ebenen eine Aufteilung in diese drei Gewalten: Legislative Exekutive Judikative Gemeinde Gemeindeversammlung Gemeinderat Friedensrichter Einwohner- oder Grosser Stadtrat (Bezirk, Amt) - - Bezirks- /Amtsgericht Kanton Landsgemeinde Regierungsrat Obergericht Grosser Rat (Kleiner Rat) Kantonsgericht Kantonsrat Staatsrat Bund National- und Ständerat Bundesrat Bundesgericht (= Bundesversammlung) Notizen 5 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.2.2 Die politische Organisation des Bundesstaates Schweiz 1.2.2.1 Das Volk Das Schweizer Volk ist laut Bundesverfassung der Souverän des Landes, also die oberste politische Instanz. Es umfasst alle mündigen Frauen und Männer mit Schweizer Bürger- recht – das sind rund 5,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger, was knapp zwei Dritteln der Wohnbevölkerung entspricht. Unter 18-jährige und ausländische Staatsangehörige haben auf Bundesebene keine politischen Rechte. Die Schweiz wird gemeinhin als direkte Demokratie bezeichnet. Dies bedeutet, dass das Volk direkt über politische Geschäfte befinden kann. Als Gegenstück zur direkten Demo- kratie existiert die indirekte Demokratie (Beispiel Deutschland). Dort wählen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Parlamentarier, die dann ohne Einflussmöglichkeiten des Volkes über die politischen Geschäfte beschliessen. Selbstverständlich kann das Volk auch in einer direkten Demokratie wie der Schweiz nicht über alles und jedes entscheiden. Nur bei Geschäften von einer gewissen Bedeutung be- steht eine direkte, rechtlich verbindliche Einflussmöglichkeit des Volkes. Die Volksrechte auf Bundesebene sind: − Das Wahlrecht: Bei den Nationalratswahlen haben alle mündigen Schweizer:innen ab 18 Jahren das aktive und passive Wahlrecht; das heisst, sie dürfen sowohl wählen als auch sich selbst zur Wahl stellen. Die Ständeratswahlen sind nicht auf Bundesebene geregelt; für sie gelten kantonale Vorschriften. − Das Stimmrecht: Wer wählen darf, ist auch stimmberechtigt. Für alle Änderungen der Verfassung sowie für den Beitritt zu bestimmten internationalen Organisationen gilt das obligatorische Referendum: Das heisst, darüber muss eine Volksabstimmung statt- finden. Zur Annahme einer solchen Vorlage braucht es das sogenannte doppelte Mehr – nämlich erstens das Volksmehr, also die Mehrheit der gültigen Stimmen im ganzen Land, und zweitens das Ständemehr, also eine Mehrheit von Kantonen, in denen die Stimmenden die Vorlage angenommen haben. Geänderte oder neue Gesetze und ähnliche Beschlüsse des Parlaments sowie bestimmte völkerrechtliche Verträge kommen nur dann zur Abstimmung, wenn dies mit dem fakultativen Referendum (siehe unten: «Das Referendumsrecht») verlangt wird. Zur Annahme einer derartigen Vorlage genügt das Volksmehr. − Das Initiativrecht: Stimmberechtigte können einen Volksentscheid über eine von ihnen gewünschte Änderung der Verfassung verlangen. Damit eine Initiative zustande kommt, braucht es innert einer Sammelfrist von 18 Mona- ten die Unterschriften von 100’000 Stimmberechtigten. Das Volksbegehren kann als all- gemeine Anregung formuliert sein oder – was viel häufiger der Fall ist – als fertig aus- gearbeiteter Text vorliegen, dessen Wortlaut Parlament und Regierung nicht mehr ver- ändern können. Die Behörden reagieren auf eine eingereichte Initiative manchmal mit einem (meist nicht so weit gehenden) Gegenvorschlag – in der Hoffnung, dieser werde von Volk und Ständen eher angenommen. 6 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Seit 1987 gibt es bei Abstimmungen über Volksbegehren die Möglichkeit des doppelten Ja: Man kann also sowohl die Initiative als auch den Gegenvorschlag gutheissen; mit einer Stichfrage wird ermittelt, welcher der beiden Texte in Kraft tritt, falls beide das Volks- und Ständemehr erreichen. Volksinitiativen gehen nicht vom Parlament oder von der Regierung aus, sondern vom Volk. Sie gelten als Antriebselement der direkten Demokratie. − Das Referendumsrecht: Das Volk hat das Recht, über Parlamentsentscheide im Nach- hinein zu befinden. Bundesgesetze, Bundesbeschlüsse, soweit Verfassung oder Gesetz dies vorsehen, sowie gewisse Staatsverträge unterliegen dem fakultativen Referendum: Das heisst, darüber kommt es zu einer Volksabstimmung, falls dies 50’000 Stimmbe- rechtigte verlangen. Die Unterschriften müssen innert 100 Tagen nach der Publikation des Erlasses vorliegen. Das vetoähnliche Referendumsrecht wirkt für den politischen Prozess insgesamt verzögernd und bewahrend, indem es vom Parlament oder von der Regierung ausgehende Veränderungen abblockt oder ihre Wirkung hinausschiebt – man bezeichnet das Referendumsrecht darum häufig als Bremse in der Hand des Volkes. − Das Petitionsrecht: Alle urteilsfähigen Personen – also nicht allein Stimmberechtigte – haben das Recht, schriftlich Bitten, Anregungen und Beschwerden an Behörden zu richten. Diese sind verpflichtet, solche Petitionen zur Kenntnis zu nehmen. Eine Antwort darauf ist nicht vorgeschrieben, doch wird in der Praxis grundsätzlich jede Petition behandelt und beantwortet. Gegenstand einer Petition kann jede staatliche Tätigkeit sein. 1.2.2.2 Das Parlament Die beiden Kammern Nationalrat und Ständerat bilden zusammen die legislative Gewalt auf Bundesebene. Die Wahl der Mitglieder im Parlament obliegt den Stimmberechtigten, die alle vier Jahre erfolgt (Art. 145 BV). Die Verteilung der Sitze im Nationalrat richtet sich nach der Bevölkerungsstärke der Kantone (Art. 149 Abs. 4 BV), der Ständerat hingegen setzt sich unabhängig davon aus grundsätzlich je zwei Abgeordneten pro Kanton zusammen (siehe Art. 150 Abs. 2 BV). Die beiden Kammern sind gleichberechtigt, d.h. keine Kammer kann ohne die Zustimmung der andern etwas beschliessen (Art. 148 Abs. 2 BV). Die überwiegende Zahl der zu behandelnden Geschäfte (Bundesgesetze, Bundesbeschlüs- se, Kenntnisnahme von Berichten des Bundesrates) wird von den beiden Räten getrennt behandelt (Art. 156 Abs. 1 BV). Die beiden Ratspräsidenten, die jedes Jahr neu gewählt werden, teilen diese Geschäfte dem einen oder andern Rat zur Erstbehandlung zu. Beide Räte bestellen Kommissionen (Art. 153 Abs. 1 BV), welche die ihnen zugewiesenen Geschäfte vorberaten. Nach Beendigung ihrer Arbeit erstatten sie ihrem Rat Bericht und stellen Anträge. Die von den Kommissionen vorbereiteten Geschäfte werden während den Sessionen vom Ratsplenum diskutiert und verabschiedet. Das Ergebnis dieser Beratung wird dem andern Rat zur Behandlung und Beschlussfassung überwiesen. Abweichende Beschlüsse gehen im sogenannten Differenzbereinigungsverfahren an den ersten Rat zurück. All diese Rege- lungen finden sich im Bundesgesetz über die Bundesversammlung (ParlG). 7 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen National- und Ständerat obliegen unter anderem folgende Aufgaben: − Gesetzgebung (Art. 164 BV) − Genehmigung völkerrechtlicher Verträge (Art. 166 BV) − Beschlüsse über Ausgaben des Bundes, Festsetzung des Voranschlags und Abnahme der Staatsrechnung (Art. 167 BV) − Wahl des Bundesrates, der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers, der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts sowie des Generals (Art. 168 BV) − Oberaufsicht über die anderen Bundesbehörden (Art. 169 BV) Den Parlamentsmitgliedern sind konkrete Mittel vorgegeben, wie sie auf die Beschluss- fassung ihres Rates Einfluss nehmen können. Man unterscheidet hier den Antrag, die parlamentarische Initiative, die Motion, das Postulat, die Interpellation und die Anfrage: − Antrag: Der Antrag gibt jedem Ratsmitglied die Möglichkeit, Änderungen zu einem in Beratung stehenden Geschäft vorzuschlagen. − Parlamentarische Initiative: Mit einer parlamentarischen Initiative kann vorgeschlagen werden, dass eine Kommission einen Entwurf für einen Erlass der Bundesversammlung ausarbeitet. Dieses Recht steht jedem Ratsmitglied und jeder Fraktion zu. Kommissio- nen können mit einer parlamentarischen Initiative ihrem Rat direkt Erlassentwürfe unterbreiten. Lehnt der Rat eine parlamentarische Initiative ab, wird sie abgeschrieben. Stimmt der Rat einem von der zuständigen Kommission ausgearbeiteten Erlassentwurf zu, überweist er ihn dem anderen Rat zur Beratung. − Motion: Die Motion beauftragt den Bundesrat verbindlich, einen Gesetzes- oder Be- schlussentwurf vorzulegen oder eine Massnahme zu treffen. Findet ein Motions- vorschlag die Zustimmung des Rates, in dem er eingereicht wurde, geht die Motion an die andere Kammer. Erst wenn auch diese zugestimmt hat, wird die Motion für den Bundesrat verbindlich. − Postulat: Das Postulat beauftragt den Bundesrat, zu prüfen, ob ein Gesetzes- oder Be- schlussentwurf vorzulegen oder eine Massnahme zu treffen ist, und darüber einen Bericht vorzulegen. Findet ein Postulatsvorschlag die Zustimmung des Rates, in dem er eingereicht wurde, wird das Postulat dem Bundesrat überwiesen. Eine Zustimmung des zweiten Rates ist nicht erforderlich. − Interpellation: Die Interpellation gibt den Mitgliedern der Bundesversammlung die Möglichkeit, vom Bundesrat Auskunft über wichtige innen- und aussenpolitische Ereignisse und über Angelegenheiten des Bundes zu verlangen, wobei der Interpellant oder die Interpellantin im Rat eine Diskussion darüber verlangen kann. − Anfrage: Die Anfrage gibt den Mitgliedern der Bundesversammlung gleich wie die Inter- pellation die Möglichkeit, vom Bundesrat Auskunft über wichtige innen- und aussenpoli- tische Ereignisse und über Angelegenheiten des Bundes zu verlangen, wobei Anfragen im Gegensatz zu Interpellationen im Rat nicht behandelt werden. 8 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen − Fragestunde: Die Fragestunde dient der Behandlung aktueller Fragen. Sie findet zwei- mal pro Session ausschliesslich im Nationalrat statt. Jedem Ratsmitglied steht das Recht zu, dem Bundesrat schriftlich eine kurze Frage zu stellen, die vom zuständigen Bundesratsmitglied in der kommenden Sessionswoche im Nationalrat mündlich beant- wortet wird. Das Ratsmitglied, das die Frage eingereicht hat, darf mündlich eine sachbe- zogene Zusatzfrage stellen, die sofort beantwortet wird. 1.2.2.3 Die Regierung Die Regierung des Bundesstaates Schweiz ist der Bundesrat. Dieser zählt sieben Mitglieder. Die Mitglieder des Bundesrates werden nach jeder Gesamterneuerung des Nationalrates von der vereinigten Bundesversammlung (gemeinsame Sitzung von National- und Ständerat) neu gewählt (Art. 175 Abs. 2 BV). Die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates ist seit 1. Januar 2016 (Stand Juli 2024): 2 FDP, 2 SP, 2 SVP, 1 Die Mitte. Die Mitglieder des Bundesrates stehen je einem Departement vor. Der Bundesrat verteilt die Departemente unter sich (Art. 177 Abs. 2 und 3 BV). Die Beschlüsse des Bundesrates sind Kollegialbeschlüsse, d.h. alle Mitglieder tragen die Beschlüsse mit und sollten ihre persönliche Meinung in der Öffentlichkeit nicht äussern (Kollegialitätsprinzip - Art. 177 Abs. 1 BV). Als Stabstelle ist dem Bundesrat die Bundeskanzlei zugeordnet. Sie wird von einer Bundes- kanzlerin oder einem Bundeskanzler geleitet (Art. 179 BV). Im Gegensatz zu ausländischen Beispielen ist die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler der Schweiz weder Leitung noch Teil der Regierung, nimmt aber an den Verhandlungen der Regierung (des Bundesrates) mit beratender Stimme teil. FDP = FDP.Die Liberalen; SP = Sozialdemokratische Partei; SVP = Schweizerische Volkspartei; Die Mitte = Fusion der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) mit der Bürgerlich-Demokra- tischen Partei (BDP). 1.2.2.4 Das Gericht Auf Bundesebene wird die oberste judikative Gewalt durch das Bundesgericht ausgeübt. Die Hauptaufgabe des Bundesgerichts besteht in der Beurteilung von Rechtmitteln, die gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide in Rechtssachen des Bundes ergriffen werden. Durch seine Urteile, die es als letzte schweizerische Instanz fällt, kann das Bundesgericht eine einheitliche Anwendung des materiellen Bundesrechts fördern. Die 40 Richter:innen und die 18 nebenamtlichen Richter:innen erfüllen ihre Aufgaben in einer der acht Abteilungen des Gerichts in Lausanne oder in Luzern. Sie werden dabei von rund 160 Gerichtsschreiber:innen und gut 190 weiteren Mitarbeitenden unterstützt. Das Bundesgericht kann in der Regel erst angerufen werden, wenn ein letztinstanzliches kantonales Urteil oder ein Entscheid des Bundesstraf-, Bundesverwaltungs- oder Bundes- patentgerichts vorliegt. Das Bundesgericht ist in der Schweiz für praktisch sämtliche Rechtsbereiche letztinstanzlich zuständig. 9 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Die Bundesrichter:innen werden von der vereinigten Bundesversammlung für eine Amts- dauer von sechs Jahren gewählt. Die Präsidentin oder der Präsident und der Vizepräsident oder die Vizepräsidentin werden alle zwei Jahre ebenfalls vom Parlament gewählt. Da die Gerichtsorganisation auf kantonaler Ebene grundsätzlich Sache der Kantone ist, haben die jeweiligen Gerichte in den Kantonen unterschiedliche Namen, obwohl sie ver- gleichbare Aufgaben erfüllen. 1.2.3 Die politischen Parteien und ihre Bedeutung Parteien sind politische Gesinnungsgruppen, die auf die Gestaltung des Staates Einfluss ausüben wollen. Die Bundesverfassung trägt der besonderen Rolle der Parteien im politi- schen Prozess Rechnung, indem sie diese als Mitwirkende an der Meinungs- und Willens- bildung des Volkes speziell erwähnt (Art. 137 BV). Ihre konkreten Aufgaben und ihre Orga- nisation sind aber weder in der Verfassung noch gesetzlich geregelt. Parteien sind in der Regel in der Rechtsform eines Vereins organisiert. Sie verfügen über Statuten, in denen die wichtigsten Ziele und die Organisationsstruktur festgelegt sind. Parteien erfüllen wichtige Aufgaben: − Sie beeinflussen die politische Willensbildung durch Parteiprogramme, Parteitage, Stellungnahmen in den Medien, öffentliche Diskussionen und Veranstaltungen, z.B. Demonstrationen. − Sie mobilisieren die Bürger bei Wahlen und Abstimmungen. − Sie sind ein Bindeglied zwischen dem Volk und den staatlichen Einrichtungen. − Sie beteiligen sich mit von Ihnen ausgewählten Kandidierenden an den Wahlen für Par- lamente, Regierungen und Gerichte. Obwohl die Parteizugehörigkeit keine Wahlvoraus- setzung ist, werden in der Regel nur Personen gewählt, die von einer Partei unterstützt werden. Auch bei der Besetzung hoher Verwaltungsstellen durch die Regierung spielt die Parteizugehörigkeit oft eine wichtige Rolle. Die vier Bundesratsparteien (Stand Juli 2024) und wofür sie (ein)stehen: FDP. Die Liberalen (FDP) Die FDP setzt sich für eine liberale Wirtschaftsordnung und günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft ein. Dazu gehören für sie möglichst wenig staatliche Eingriffe in den Markt und niedrige Steuern, aber auch ein leistungsfähiges Bildungssystem und gut ausgebaute Infrastrukturen. In der Aussenpolitik vertritt die FDP gegenüber der EU und internationalen Organisationen eine vorwiegend integrationsfreundliche Haltung. Sozialdemokratische Partei (SP) Die SP tritt ein für einen weiteren Ausbau des Sozialstaates, den Schutz der sozial Schwä- cheren und der Umwelt sowie für einen Staat, der mit Förderungsprogrammen in die Ge- staltung der Wirtschaft eingreift. Der Staat soll durch Gesetze und Vorschriften die soziale Gerechtigkeit und materielle Sicherheit verwirklichen. Aussenpolitisch ist sie für eine aktive schweizerische Rolle (vor allem auch in der Entwicklungspolitik) und für einen Beitritt zur EU. 10 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Schweizerische Volkspartei (SVP) Wie die FDP setzt sich die SVP für eine freie Marktwirtschaft ein. In der Landwirtschafts- politik unterstützt sie jedoch, ähnlich wie die Mitte, massive staatliche Eingriffe zum Schutz der Bauern. In aussenpolitischen Fragen setzt sich die SVP für die Souveränität der Schweiz und den uneingeschränkten Erhalt der direkten Demokratie ein. Sie ist gegen eine Integra- tion in supranationale Organisationen. Gesellschaftspolitisch vertritt sie konservative Posi- tionen. Sie ist für eine Einschränkung der Zuwanderung und gegen neue Gesetze und Re- gulierungen, die höhere Steuern und Gebühren mit sich bringen. Die Mitte Die Mitte setzt sich für eine soziale Marktwirtschaft mit staatlichen Interventionen zuguns- ten der Arbeitnehmenden, des Gewerbes und der Landwirtschaft ein. In Fragen der Lebensgestaltung und Erziehung vertritt sie eher konservative Positionen; der Schutz der Familie ist ihr ein besonders wichtiges Anliegen. In der Europapolitik vertritt die Mitte eine gemässigt integrationsfreundliche Haltung. Notizen 11 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.2.4 Die Entstehung eines Bundesgesetzes 1. Jemand macht den ersten Schritt: zum Beispiel einzelne Stimmberechtigte oder Inter- essensgruppen, Parlamentsmitglieder oder Teile der Verwaltung, Kantone oder der Bundesrat – oder wer auch immer ein neues Gesetz für nötig hält. 2. Der erste Entwurf. Der Bundesrat setzt oft eine 10- bis 20-köpfige Kommission ein. Diese besteht auch aus Vertretenden der an der neuen Regelung Interessierten und hat die Aufgabe, einen ersten Gesetzesentwurf zu formulieren. 3. Die Vernehmlassung. Der Entwurf geht zur sogenannten Vernehmlassung an die Kan- tone, Parteien und Verbände sowie an weitere besonders interessierte Gruppierungen. Sie alle können dazu Stellung nehmen und Änderungsvorschläge machen. 4. In der Verwaltung. Die Bundesverwaltung überarbeitet den Entwurf und unterbreitet diesen dem Bundesrat. 5. Im Bundesrat. Der Bundesrat überprüft den Text; entweder weist er ihn zur nochma- ligen Bearbeitung zurück oder er überweist ihn als Botschaft zur parlamentarischen Behandlung an den Nationalrat und den Ständerat. 6. Die erste Kommission. Die Ratspräsident:innen entscheiden, in welcher Kammer der neue Gesetzestext zuerst zur Debatte kommt. Eine vorberatende Kommission des ent- sprechenden Rats – meist ist es eine der neun ständigen Sachbereichskommissionen – diskutiert den Text und stellt ihn und ihre Überlegungen dazu dem gesamten ersten Rat vor. 7. Die Behandlung in der ersten Kammer. Der Erstrat hat drei Möglichkeiten: Er kann erstens das neue Gesetz für überflüssig halten und darauf nicht eintreten. Er kann zweitens den Text zur Überarbeitung an den Bundesrat oder an die Kommission zurückweisen, das heisst, einen neuen Entwurf verlangen. Er kann drittens auf die Vorlage des Bundesrats eintreten, das Gesetz im Detail beraten und schliesslich einen Entscheid fällen. 8. Die zweite Kommission. Dieses Vorgehen wiederholt sich in der zweiten Kammer. Zu- nächst begutachtet die entsprechende vorberatende Kommission den von der ersten Kammer verabschiedeten Text. 9. Die Behandlung in der zweiten Kammer. Dann befindet der gesamte zweite Rat darüber; er hat dabei dieselbe Wahl wie der erste Rat: Er kann das neue Gesetz durch Nichteintreten grundsätzlich ablehnen, er kann es an den Bundesrat oder an seine Kommission zurückweisen, er kann es Punkt für Punkt beraten und einen Beschluss fassen. 10. Die Differenzbereinigung in der ersten Kammer. Falls die Beschlüsse von National- und Ständerat voneinander abweichen, kommt es zum sogenannten Differenzbereinigungs- verfahren. Die Kommission des ersten Rats beurteilt die einzelnen Unterschiede und macht daraufhin dem Gesamtrat einen Vorschlag – zum Beispiel in einem Punkt die 12 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Version des Zweitrats gutzuheissen, in einem anderen aber auf der eigenen Fassung zu beharren. 11. Die Differenzbereinigung in der zweiten Kammer. Nach der Diskussion und Abstimmung im ersten Rat befasst sich die vorberatende Kommission des zweiten Rats mit den noch verbleibenden Differenzen und stellt ihrem gesamten Rat einen Antrag. 12. Die Einigungskonferenz. Wenn es nach drei Beratungen je Rat immer noch unterschiedliche Versionen des neuen Gesetzestextes gibt, tritt die Einigungskonferenz zusammen – sie besteht aus Mitgliedern der beiden Kommissionen von National- und Ständerat – und sucht einen Kompromiss. 13. Die Schlussabstimmungen in den beiden Kammern. Der schliesslich gefundene Kom- promissvorschlag kommt in beiden Räten zur Schlussabstimmung. 14. Das fakultative Referendum. Das vom Parlament beschlossene neue Gesetz tritt in Kraft, falls nicht innerhalb von 100 Tagen das Referendum ergriffen wird. Damit dieses gültig ist, braucht es die Unterschriften von 50’000 Stimmberechtigten, die eine Volks- abstimmung verlangen. 15. Die Volksabstimmung. Eine Volksabstimmung ist bei Gesetzen fakultativ – das heisst, sie wird durchgeführt, falls das Referendum dagegen zustande kommt. Für Verfas- sungsänderungen hingegen ist die Volksabstimmung obligatorisch. 16. Das Inkrafttreten. Wird das Referendum nicht ergriffen oder wird das Gesetz in der Re- ferendumsabstimmung angenommen, wird es in der amtlichen Sammlung mit dem Hinweis auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens veröffentlicht. Wird das Gesetz in der Re- ferendumsabstimmung abgelehnt, tritt es nicht in Kraft. Für Verfassungsänderungen ist nicht allein die Zustimmung der Mehrheit der Stimmenden nötig, sondern auch die Mehrheit der Stände (Kantone). Notizen 13 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Nachfolgende Darstellung verbildlicht das komplizierte Gesetzgebungsverfahren etwas: 14 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.3 DER AUFBAU DER RECHTSORDNUNG Deklaration der Lernziele Richt- oder Lernziel erfüllt − Sie können Ursprung und Wesen des «Rechts» verständlich erklären.  − Sie können den Aufbau der Rechtsordnung verständlich beschreiben.  − Sie können Funktion und Einteilung der Grundrechte verständlich auf-  zeigen. − Sie sind in der Lage, den Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht verständlich zu erklären und rechtliche Sachverhalte diesen beiden  Hauptgruppen des Rechts korrekt zuzuordnen. 1.3.1 Ursprung und Wesen des Rechts Die Einsicht, dass ohne gewisse Regeln das menschliche Zusammenleben nicht funktio- nieren kann, ist sehr alt. Aus dieser Einsicht ist im Verlaufe der Jahrhunderte das geworden, was wir heute den Rechtsstaat nennen. Obwohl für uns der Umgang mit Gesetzen, d.h. mit geschriebenem Recht, zur Selbstverständlichkeit geworden ist, hatten die wenigsten früheren Kulturen geschriebenes Recht. Die Entwicklung, dass man Rechtssätze aufschreibt und dass diese nur Geltung haben, wenn sie in schriftlicher Form (z.B. als «Gesetzbuch») veröffentlicht worden sind, ist relativ neu. Rechtsstaat: Ein Rechtsstaat zeichnet sich im Wesentlichen durch folgende drei Elemente aus: 1. Das Legalitätsprinzip: Dieses Prinzip besagt, dass die Organe des Staates streng an das Gesetz und die Verfassung gebunden sind. Der Staat darf bspw. ohne gesetzliche Grundlage nicht in die Rechte einer Person eingreifen. 2. Die Gewaltentrennung: siehe dazu vorne in Kapitel 1.2.1 «Der Bundesstaat». 3. Die Beachtung von Grundrechten: siehe dazu hinten Kapitel 1.3.3 «Die Grundrechte». Lange Jahrhunderte hindurch wurde das, was Recht war, mündlich überliefert. Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz begann man erst Anfang des 19. Jahrhunderts Gesetze in Form von Büchern aufzuschreiben. Das kontinentaleuropäische Recht ist sehr stark vom römischen Recht beeinflusst. In der Zeit um die Geburt Christi bis rund zwei Jahrhunderte danach erreichte das römische Recht seine Blütezeit. Mit dem Verschwinden des (West-)Römischen Reiches verlor das römische Recht an Bedeutung. Erst im Mittelalter entdeckte man in den Klöstern wieder Schriften von berühmten römischen Juristen. Diese Aufzeichnungen beeinflussten dann die europäischen Juristen im 18. und 19. Jahrhundert sehr stark, sodass viele rechtliche Regelungen der Römer zu geltendem Recht in Europa und der Schweiz wurden. Mittels Recht wird Ordnung geschaffen, sodass das Zusammenleben der Menschen im Idealfall reibungslos funktioniert. Recht besteht aus Verhaltensregeln, deren Beachtung vom Staat erzwungen werden kann. Natürlich ist es ein generelles Anliegen des Rechts- staats, dass diese Verhaltensregeln den Einzelfall möglichst gerecht regeln. Dabei gilt ins- besondere, unterschiedliche Interessen gegenseitig abzugrenzen. 15 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Da nicht für jeden konkreten Einzelfall eine Regel erstellt werden kann, müssen allgemeine Gesetze auf den konkreten Einzelfall angewandt werden. Zwangsläufig spielen dabei immer auch persönliche Wertungen der Richter:innen eine Rolle. Dass diese Wertungen nicht in jedem Fall von allen Beteiligten als gerecht empfunden werden, liegt in der Natur der Sache. Wenn nun aber ein Urteil als unhaltbar erscheint, kann es grundsätzlich bei der nächsthöheren Instanz angefochten werden. 1.3.2 Verfassung, Gesetz, Verordnung Mehrmals schon war von Gesetzen oder der Bundesverfassung die Rede. Die Bundesver- fassung (BV) ist so etwas wie das Grundgesetz. Sie enthält die wichtigsten Grundregeln, die in der Schweiz gelten. Die Bundesverfassung darf nur mit Zustimmung von Volk und Stän- den geändert werden (vgl. 1.2.2.1 Das Volk). Die Gesetze führen die Verfassungsartikel näher aus. Gesetze werden vom Parlament auf- grund der Verfassung erlassen. Sie müssen grundsätzlich eine verfassungsmässige Grundlage haben. Der Begriff «Gesetz» wird verschieden gebraucht. Oft meint man damit die Summe aller Vorschriften oder Normen, die in einem Staat gelten. Formal zählen aber nur diejenigen Erlasse zu den Gesetzen, die von einem Parlament ausgehen. Verordnungen schliesslich sind die Ausführungsbestimmungen zu den Gesetzen und wer- den grundsätzlich von der Exekutive, im Bund also vom Bundesrat, erlassen. Zeitlich gesehen muss aufgrund dieses Aufbaus also zuerst eine Verfassungsnorm geschaffen werden (sofern noch keine passende existiert), danach entstehen ein Gesetz und schliesslich eine Verordnung. Es versteht sich von selbst, dass die Verordnung nicht gegen das Gesetz und das Gesetz nicht gegen die Verfassung verstossen darf, wobei Bundesgesetze und Völkerrecht in jedem Fall angewandt werden müssen. 1.3.3 Die Grundrechte Ein Element des Rechtsstaates sind die Grundrechte. Grundrechte sind die von der Verfas- sung und von internationalen Menschenrechtskonventionen gewährleisteten grundle- genden Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Man unterscheidet drei Arten von Grundrechten: die Freiheitsrechte, die Rechtsgleichheit und die rechtsstaatlichen Garantien sowie die sozialen Grundrechte. Ein Eingriff in die Grundrechte braucht immer eine rechtliche Grundlage, muss durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig sein, wobei der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar ist (Art. 36 BV). Die Freiheitsrechte schützen jede einzelne Person in ihrer Freiheitssphäre gegenüber Ein- griffen des Staates. Freiheitsrechte sind jene Rechte des Individuums, in die der Staat nicht eingreifen darf bzw. nur unter den in Art. 36 BV genannten Voraussetzungen. 16 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Die Bundesverfassung garantiert folgende Freiheitsrechte ausdrücklich: − Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit (Art. 10 BV): Niemandem darf ohne seinen Willen in die physische Freiheit (Gesundheit, Bewegungsfreiheit) oder in die psychische Freiheit (Willens- und Entscheidungsfreiheit) eingegriffen werden. − Recht auf Ehe und Familie (Art. 14 BV): Niemand darf durch staatliche Massnahmen beeinträchtigt werden, eine Ehe einzugehen oder eine Familie zu gründen. − Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV): Recht jeder einzelnen Person, in ihrer religiösen Überzeugung sowie in deren Verbreitung nicht durch staatliche Vorschriften eingeschränkt zu werden. − Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV): Alle dürfen ihre Meinung haben und diese frei äussern und verbreiten. Allgemein zugängliche Quellen dürfen von jeder Person frei empfangen werden. Allerdings berechtigt die Meinungsfreiheit nicht etwa zur Ehrverletzung oder ähnlichen Delikten. − Medienfreiheit (Art. 17 BV): Die freie Verbreitung von Informationen und Darbietungen ist gewährleistet (bspw. keine vorgängige Zensur). − Sprachenfreiheit (Art. 18 BV): Alle haben das Recht, ihre Muttersprache zu sprechen. − Wissenschaftsfreiheit (Art. 20 BV): Niemand darf in seiner wissenschaftlichen Lehre und Forschung durch staatliche Massnahmen gehindert werden. − Kunstfreiheit (Art. 21 BV): Jede Person hat das Recht, künstlerisch tätig zu werden. − Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV): Der Staat darf nicht Massnahmen gegen die Ein- berufung, die Organisation oder Durchführung von Versammlungen treffen. − Vereinigungsfreiheit (Art. 23 BV): Man darf ohne Beeinträchtigung des Staates Vereini- gungen gründen, an Vereinigungstätigkeiten teilnehmen, einer Vereinigung beitreten bzw. aus einer Vereinigung austreten. − Niederlassungsfreiheit (Art. 24 BV): Recht aller Schweizer:innen, sich an jedem Ort des Landes niederzulassen. Keine Schweizer Bürger:innen dürfen aus der Schweiz ausge- wiesen werden. − Eigentumsgarantie (Art. 26 BV): Das Privateigentum wird geschützt. Damit wäre eine generelle Ersetzung des Eigentums durch staatliche Nutzungsrechte (vgl. kommunistische Staaten) nicht vereinbar. Wenn aus irgendeinem öffentlichen Interesse enteignet werden muss, so hat die enteignete Person Anspruch auf Entschädigung. Anspruch auf finanzielle Abgeltung für die Enteignung hat nicht nur, wem bspw. Land weggenommen wird (= formelle Enteignung), sondern auch wem der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Gebrauch einer Sache vom Staat untersagt oder besonders schwer eingeschränkt wird, oder wer durch öffentliches Handeln wirtschaftlich mehr benachteiligt ist, als alle anderen, also ein Sonderopfer erbringen muss (materielle Enteignung). − Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV): Geschützt wird die private Tätigkeit, die auf Erwerb aus- gerichtet ist. Die Wirtschaftsfreiheit umfasst insbesondere die freie Wahl des Berufes sowie den freien Zugang zu einer privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit und deren freie Ausübung. − Koalitionsfreiheit (Art. 28 BV): Die Arbeitnehmer:innen und die Arbeitgeber:innen sowie ihre Organisationen haben das Recht, sich zum Schutz ihrer Interessen zusammenzu- schliessen, Vereinigungen zu bilden und solchen beizutreten oder fernzubleiben. 17 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Die Rechtsgleichheit und die rechtsstaatlichen Garantien geben dem Individuum einen Anspruch, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben gleich und gerecht behandelt zu werden. Sie beinhalten das Verbot der formellen Rechtsverweigerung und den Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) stand in der Vergangenheit vor allem wegen der Gleichbe- rechtigung von Mann und Frau in der Diskussion. So musste der Kanton Appenzell Inner- rhoden den Frauen deshalb den Zugang zur Landsgemeinde gewähren, weil dies nach An- sicht des Bundesgerichtes die Rechtsgleichheit erfordert. Für die Arbeitswelt ist Art. 8 Abs. 3 Satz 3 BV besonders von Bedeutung, weil dort der gleiche Lohn von Mann und Frau für gleichwertige Arbeit verankert ist. Die sozialen Grundrechte sind in der Verfassung verankerte Ansprüche der einzelnen Person auf staatliche Leistungen. Grundsätzlich begegnet man hierzulande der Einräumung von sozialen Grundrechten mit Skepsis (Verwerfung eines Rechts auf Wohnung 1970, Verwerfung eines Rechtes auf Bildung 1973). Die wichtigsten Beispiele für soziale Grundrechte in der Schweiz sind das Recht auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) und der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht (Art. 19 BV). Notizen 18 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.3.4 Öffentliches Recht – Privatrecht Die Rechtsordnung wird in zwei Hauptgruppen aufgeteilt. Man unterscheidet zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Die einzelnen Gesetze werden jeweils einem dieser Bereiche zugeordnet. Die Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht hat Konsequenzen für den Prozessweg, denn je nachdem muss dieses oder jenes Gericht angerufen werden. Zusätzlich gelten bei den jeweiligen Verfahren teilweise andere Rechtsgrundsätze. Das öffentliche Recht regelt grundsätzlich die Rechtsbeziehung zwischen dem Staat als Inhaber der hoheitlichen Gewalt und den übrigen Rechtssubjekten. Beispiel: Jemand will auf seinem Grundstück ein Gewerbegebäude bauen. Diese Person hat dazu ein Baubewilligungsgesuch einzureichen. Ihr Projekt muss den gesetzlichen Anforderungen der Raumplanung entsprechen. Unter Umständen ist eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen. All dies sind Vorschriften des öffentlichen Rechts, da sie der Staat der einzelnen Person, konkret der Bauherrschaft, auferlegt. Das Privatrecht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen den Personen untereinander. Beispiel: Zwecks Baus des obigen Gewerbegebäudes schliesst die Bauherrschaft zahl- reiche Verträge ab. Sie beauftragt zuerst ein Architekturbüro mit der Projektie- rung. Dann wird eine Bauunternehmung mit den Aushub- und Maurerarbeiten betraut. Schliesslich kommen weitere Handwerksbetriebe zum Einsatz. Bei Streitigkeiten zwischen den Handwerksbetrieben und der Bauherrschaft kommt Privatrecht zur Anwendung. Das Zivilgesetzbuch (ZGB) und das Obligationenrecht (OR) sind die wichtigsten zwei Gesetze, die klar dem Privatrecht zugeordnet werden können. Andere Gesetze wie Strafgesetz, Ausländerrecht, Asylrecht, Steuergesetz usw. fallen unter das öffentliche Recht. Notizen 19 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.4 DIE RECHTSPFLEGE Deklaration der Lernziele Richt- oder Lernziel erfüllt − Sie können die verschiedenen Verfahrensarten überblickmässig beschrei- ben, die Grundsätze, von denen diese beherrscht werden, nachvollziehbar  erläutern und klar unterscheiden, wann welches Verfahren zur Anwendung gelangt. 1.4.1 Allgemeines Um festzustellen, wer Recht hat, braucht es einen Weg, wie dabei zu verfahren ist. Eine Verfahrensordnung ist notwendig. Das Gebot der Rechtssicherheit und der Schutz vor Will- kür verlangen, dass die Verfahrensordnung genau festgelegt ist und formell streng ange- wandt wird. Nur so können die Parteien und Behörden Prozesse führen und ihre Erfolgs- aussichten einigermassen abschätzen. Der Nachteil dabei ist allerdings, dass die Verfahren relativ kompliziert und langwierig sind. 1.4.2 Zivil-, Straf-, Verwaltungsverfahren Die Schweizer Rechtsordnung kennt grundsätzlich drei verschiedene Verfahrensarten. Es sind dies − der Zivilprozess − der Strafprozess − das Verwaltungsverfahren Für diese einzelnen Verfahren sind jeweils andere Behörden zuständig und sie werden teil- weise auch von anderen Prinzipien beherrscht. 1.4.2.1 Der Zivilprozess Ein Zivilprozess liegt immer dann vor, wenn es darum geht, Ansprüche aus dem Privatrecht durchzusetzen (ZGB, OR). Dabei sind immer zwei gleichberechtigte Parteien vorhanden, die eine Streitigkeit vor den Richter tragen. Beispiele: In einer Ehescheidung klagt der eine Ehegatte gegen den anderen auf Schei- dung. Folglich sind die Ehegatten die Parteien. In einer Streitigkeit vor Arbeitsgericht klagt bspw. ein Arbeitnehmer die Arbeit- geberin ein. Hier bilden Arbeitgeberin und Arbeitnehmer die gleichberechtigten Parteien. 20 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Verfahrensgrundsätze: Im Zivilprozess beurteilt das Gericht grundsätzlich nur die Sachen, die von den Parteien vorgetragen werden. Das Gericht darf deswegen beispielsweise nicht über die Anträge der Parteien hinausgehen, sondern muss die Rechtslage so beurteilen, wie sie die Parteien ihm schildern. Es sind die Parteien, die bestimmen, wann sie was gegen wen vor Gericht geltend machen. Beispiel: «Vergisst» in einem Prozess eine Partei, sich auf die Verjährung zu berufen, so darf das Gericht die Verjährung nicht von Amtes wegen beachten. Es muss der anderen Partei die Forderung zusprechen. Verfahrensablauf: Einem Zivilprozess geht grundsätzlich ein Schlichtungsverfahren oder eine Mediation voraus. In der Regel wird anschliessend – kommt es zu keiner Einigung – die streitige Angelegenheit mittels einer Klage vor ein Gericht gebracht. Nachdem die Parteien die Beweise vorgelegt haben, entscheidet das Gericht und erlässt daraufhin das Urteil, das dann eventuell an die nächsthöhere Instanz weitergezogen werden kann. Klage: Die Klage muss meistens schriftlich abgefasst werden und enthält ein Begehren («Der Beklagte soll CHF 10'000.-- bezahlen») und eine entsprechende Begründung. Die Beweismittel müssen ebenfalls angegeben werden. Der Beklagte erhält grundsätzlich Gelegenheit, zur Klage Stellung zu nehmen. Beweis: Als Beweismittel kommen normalerweise Urkunden (= Schriftstücke), Parteiaussagen und Zeugenaussagen (beides unter Wahrheitspflicht), Expertisen (bspw. wird ein Arzt oder eine Ärztin zur Beurteilung der Höhe eines «Körperschadens» beigezogen) und Augenscheine (das Gericht schaut sich persönlich am Schauplatz des Geschehens um) infrage. Inwieweit ein Beweismittel den Beweis tatsächlich erbringt, beurteilt das Gericht, d.h. es nimmt eine Beweiswürdigung vor. Es ist also denkbar, dass es einen Zeugen für unglaubwürdig hält und deswegen seiner Aussage keine Beweiskraft zuerkennt. Die Beweiswürdigung darf aber nicht willkürlich erfolgen. 1.4.2.2 Der Strafprozess Der Strafprozess kommt zur Anwendung, wenn jemand gegen das Strafgesetzbuch oder ein Nebenstrafgesetz (Bsp.: Strassenverkehrsgesetz) verstossen hat. Parteien sind norma- lerweise der Staat im Gewand der Staatsanwaltschaft und die fehlbare Person. Verfahrensgrundsätze: Hier muss das Gericht die absolute Wahrheit herausfinden, d.h. es kann sich nicht mit dem begnügen, was die Parteien vorbringen. Der ganze Verfahrensab- lauf ist dem Parteiwillen weitgehend entzogen. Die Behörden (Polizei und Staatsanwalt- schaft) werden grundsätzlich von Amtes wegen tätig und nicht erst, wenn sie von einer Par- tei angerufen werden (ausser es handelt sich um sogenannte Antragsdelikte). Verfahrensablauf: Einem Strafprozess geht zuerst ein eingehendes Ermittlungsverfahren voraus. Dieses wird von den Behörden (Polizei und Staatsanwaltschaft) durchgeführt. Ist das Verfahren soweit gediehen, dass ein Überblick über die Tatbestände besteht, so wird beim zuständigen Gericht Anklage erhoben und das eigentliche Strafprozessverfahren durchgeführt, das mit einem Urteil (Bestrafung, Freispruch) endet, aber auch weiterge- zogen werden kann. 21 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.4.2.3 Das Verwaltungsverfahren Beim Verwaltungsverfahren geht es um die Anwendung von öffentlichem Recht bzw. Ver- waltungsrecht. Parteien sind hier der Staat im Gewand einer Verwaltungsbehörde (Bun- desamt, kantonale Amtsstelle, sozialversicherungsrechtliche Instanz wie Ausgleichskasse oder Arbeitsamt) einerseits und die betroffene Person andererseits. Verwaltungsrecht: Zum Verwaltungsrecht gehören Steuerrecht, Raumplanungsrecht, Baurecht, Sozialversicherungsrecht, Umweltschutzrecht usw. Verfahrensgrundsätze: Auch hier kann die Behörde oft von Amtes wegen tätig werden und ist an die Parteianträge nicht gebunden. Zusätzlich taucht hier das Institut der Verfügung auf. Das gesamte rechtsrelevante Handeln von Verwaltungsbehörden wird grundsätzlich in die Form einer Verfügung gekleidet, die durch ein Rechtsmittel anfechtbar ist. Man will damit der Gefahr der Willkür des Staates gegenüber dem Individuum Einhalt gebieten. Verfügungen können sein: Bewilligung zur Führung eines gastgewerblichen Betriebes, Renten- verfügung der AHV, Führerausweisentzug des Strassenverkehrsamtes, Steuerveranlagung durch die Steuerbehörde usw. Rechtsmittel: Mit einem Rechtsmittel kann die Überprüfung einer Verfügung durch die zuständige Rechtsmittelinstanz (verfügende Behörde, übergeordnete Behörde, Verwaltungsgericht) verlangt werden. Verfahrensablauf: Beginn eines allfälligen Verwaltungsverfahrens bildet wie erwähnt die Verfügung. Nur dort, wo eine Verfügung vorliegt, besteht auch ein Interesse an deren Über- prüfung durch eine Rechtsmittelinstanz. Wird eine Verfügung innert vorgeschriebener Frist bei der zuständigen Rechtsmittelinstanz angefochten (das Rechtsmittel ergriffen), überprüft die Rechtsmittelinstanz die Verfügung auf ihre Rechtmässigkeit hin. Beispiele: Die Gemeinde erteilt eine Baubewilligung. Der Nachbar des zu bebauenden Grundstücks ist damit nicht einverstanden und erhebt Einspruch. Dieser Ein- spruch wird vom Gemeinderat mittels einer Verfügung abgelehnt. Jetzt hat der Nachbar die Möglichkeit, gegen diese Verfügung Beschwerde beim Verwal- tungsgericht einzureichen. Das kantonale Lebensmittelinspektorat schliesst ein Restaurant wegen diver- sen Verstössen gegen die Lebensmittelgesetzgebung. Die Schliessung hat in Form einer Verfügung zu erfolgen, die bei einer anderen Instanz (Regierungs- rat/Verwaltungsgericht) anfechtbar ist. Notizen 22 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.4.3 Die Vollstreckung Recht haben und Recht durchsetzen sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Ein Urteil muss in der Praxis auch durchgesetzt werden. Grundsätzlich gilt bei der Vollstreckung Folgendes: − Urteile auf Geldleistung: Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (SchKG) − Urteile auf andere Leistungen: Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) Wann immer eine Geldleistung vollstreckt werden soll, muss dies auf dem Betreibungswege geschehen. Bei den anderen Urteilen gibt es regelmässig ein gerichtliches Vollstreckungsverfahren, es sei denn, das urteilende Gericht hat bereits konkrete Vollstreckungsmassnahmen angeordnet. Ist einmal ein Vollstreckungsentscheid ergangen, so kann man an die eigentlichen Vollstreckungsorgane gelangen. Dies können kantonale Behörden, Gemeindebehörden, kantonale Aufsichtsbehörden oder die Polizei sein. Beispiel: Der Mieter eines Restaurants bezahlt den Mietzins nicht, deswegen wird der Vertrag gekündigt. Nachdem der Mieter diese Kündigung angefochten hat und das Gericht sie für gültig erklärt hat, weigert sich der Mieter trotzdem, das Restaurant aufzugeben. Hat das urteilende Gericht für diesen Fall nicht bereits konkrete Vollstreckungsmassnahmen angeordnet, muss die Eigentümerin nun beim zuständigen Gericht ein Ausweisungsbegehren stellen. Wird dieses gut- geheissen, erhält der Mieter eine Frist, innert der er das Restaurant geräumt haben muss. Danach ist die Eigentümerin berechtigt, den Mieter mithilfe der Polizei und mit Gewalt hinauszuweisen. Notizen 23 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts 2 GRUNDZÜGE DES ZIVILRECHTS Deklaration der Lernziele Richt- oder Lernziel erfüllt − Sie sind in der Lage, Entstehung und Regelungsbereiche des ZGB über-  blicksmässig darzustellen. − Sie können die wesentlichen Inhalte der Einleitungsartikel des ZGB nach-  vollziehbar erläutern und mit diesen sachbezogen arbeiten. − Sie können die Grundbegriffe des Personenrechts korrekt definieren, von-  einander abgrenzen und fallbezogen anwenden. − Sie sind in der Lage, die rechtliche Struktur und Regelung des Vereins und  der Stiftung korrekt zu erklären. − Sie können den gesetzlichen Persönlichkeitsschutz des ZGB nachvollzieh-  bar erläutern und Anwendungsbeispiele schlüssig beurteilen. − Sie sind in der Lage, die wesentlichen Möglichkeiten zu nennen, um sich rechtlich wirksam gegen widerrechtliche Persönlichkeitsverletzungen zu  wehren. − Sie können die wesentlichen Grundzüge und Grundsätze des Datenschutz- gesetzes überblicksmässig darstellen und kritische Fälle nachvollziehbar  identifizieren. 2.1 ALLGEMEINES Ende des 19. Jahrhunderts gab es in der Schweiz noch kein einheitliches Zivilrecht, mithin auch kein einheitliches Obligationen- oder Handelsrecht. Jeder Kanton hatte sein eigenes Zivilgesetzbuch. Mit der zunehmenden Mobilität in Handel und Verkehr drängte sich jedoch eine Vereinheitlichung gewisser Rechtsbereiche auf. Dem Bund wurde 1874 durch das Volk die Kompetenz für den Erlass des Obligationenrechtes (OR) gegeben. Erst im Jahre 1898 erhielt der Bund auch die Kompetenz für den Erlass eines einheitlichen Zivilgesetzbuches (ZGB). Nach langen Vorarbeiten trat das ZGB am 1. Januar 1912 in Kraft. Inzwischen hat es unzählige Revisionen durchgemacht. Notizen 24 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts Das Zivilgesetzbuch besteht aus vier Teilen sowie aus den Einleitungsartikeln. Diese Einlei- tungsartikel enthalten teilweise wichtige allgemeine, für das ganze Zivilrecht gültige Grundsätze. Die vier Teile des ZGB sind: − Das Personenrecht (Art. 11 – 89c ZGB): Unter diesem Abschnitt werden die Rechte und Fähigkeiten der Personen geregelt (Rechtsfähigkeit, Handlungsfähigkeit) sowie der Schutz der Persönlichkeit. Dabei wird auch zwischen natürlichen und juristischen Per- sonen unterschieden. − Das Familienrecht (Art. 90 - 456 ZGB): Hier werden das Eherecht (Eheschliessung, Wir- kungen der Ehe, Rechte und Pflichten in der Ehe, Ehescheidung, Güterrecht), die Verwandtschaft (Entstehung und Wirkungen des Kindesverhältnisses, Familiengemein- schaft) sowie der Erwachsenenschutz geregelt. − Das Erbrecht (Art. 457 - 640 ZGB): Hier finden sich Bestimmungen über die Erben (gesetzliche Erben, Testament usw.) sowie über den Erbgang (Eröffnung, Wirkungen des Erbganges und die Teilung der Erbschaft). − Das Sachenrecht (Art. 641 - 977 ZGB): Im Sachenrecht geht es um das Eigentum (das Grund-, Stockwerk- und Fahrniseigentum), um die beschränkten dinglichen Rechte (Dienstbarkeiten und Grundlasten, Grundpfand sowie Fahrnispfand) sowie um den Besitz und das Grundbuch. Formell gehört auch das Obligationenrecht zum Zivilgesetzbuch. Es bildet den 5. Teil, ist jedoch mit einer neuen Artikelnummerierung versehen und bildet ein selbstständiges Gesetz. Notizen 25 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts 2.2 DIE EINLEITUNGSARTIKEL Zu Beginn des ZGB (Artikel 1 - 9) sind wichtige Rechtsgrundsätze festgeschrieben, die teil- weise für das ganze Zivilrecht, also auch für das Obligationenrecht, Geltung haben. Es rechtfertigt sich daher, einen kurzen Blick darauf zu werfen. Anwendung des ZGB (Art. 1 ZGB): Das ZGB findet Anwendung auf alle Fälle, für die es nach Wortlaut oder Auslegung Bestimmungen enthält. Wichtig ist hier insbesondere die Anlei- tung an das Gericht für die Rechtsanwendung in Abs. 2: Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht nach Gewohnheitsrecht entscheiden. Besteht auch kein Gewohnheitsrecht, so soll es nach der Regel entscheiden, die es selber als Gesetzgeber aufstellen würde. Gewohnheitsrecht: Von Gewohnheitsrecht spricht man, wenn eine Norm nicht aufgeschrieben ist, obwohl sich (fast) alle daran halten und der Überzeugung sind, das sei richtig so. Handeln nach Treu und Glauben (Art. 2 Abs. 1 ZGB): Jedermann ist verpflichtet, nach Treu und Glauben zu handeln. Unter Treu und Glauben versteht man das auf wechselseitigem Vertrauen beruhende Verhalten von Vertragsparteien. Das ZGB braucht indessen den Begriff umfassend und meint damit ein Grundgebot menschlichen Handelns überhaupt. Dazu gehört auch das Rechtsmissbrauchsverbot (Art. 2 Abs. 2 ZGB), das besagt, dass sich, wer rechtsmissbräuchlich handelt, nicht auf das Recht berufen kann. Wann rechtsmiss- bräuchliches Verhalten vorliegt, ist oft schwer zu beurteilen. Beispiele: Ein klassischer Fall für das Rechtsmissbrauchsverbot bildet die «Neidmauer» (ein Eigentümer baut auf seinem Grundstück eine hohe Mauer, um dem Nach- barn die freie Aussicht zu nehmen). Es liegt eine unnütze Rechtsausübung vor, die vom Gericht nicht geschützt werden darf, obwohl der Grundeigentümer eigentlich tun und lassen darf, was er will. Ein Garagist verkauft ein Auto auf Abzahlung und schliesst den Vertrag mit dem rechtsunkundigen Käufer wider besseres Wissen nicht wie vorgeschrieben schriftlich ab. Dieser Garagist kann sich nicht auf die Nichtigkeit (wegen Form- fehlers, siehe hinten) berufen, weil sein Verhalten rechtsmissbräuchlich ist. Der gute Glaube (Art. 3 ZGB): Das Gesetz vermutet, dass der gute Glaube vorhanden ist, wenn eine Rechtswirkung an den guten Glauben einer Person geknüpft ist. In der Praxis heisst das, dass das Vorliegen einer «Bösgläubigkeit» bewiesen werden muss. Es geht also um eine Frage der Beweislast. Gutgläubig ist jemand, der nicht um einen tatsächlichen oder rechtlichen Makel eines Rechtsverhältnisses weiss. Beispiel: Art. 934 ZGB gibt ein gutes Beispiel, wie der gute Glaube spielen kann. Ein Eigentümer einer Sache kann diese - wenn sie ihm wider seinen Willen abhan- dengekommen ist - von jedem Empfänger wieder zurückfordern. Wurde die Sache durch einen Händler übertragen, so kann sie vom ersten und von jedem späteren gutgläubigen Empfänger nur gegen Vergütung des von diesem bezahlten Preises wieder zurückgefordert werden. 26 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts Vorbehalt gegenüber den Kantonen (Art. 5 und 6 ZGB): Grundsätzlich gilt seit Inkrafttreten des ZGB, dass die Kantone keine Kompetenz zum Erlass von Zivilrecht haben. Aufgrund von Art. 122 BV liegt die alleinige Kompetenz dazu beim Bund. Der Bund kann jedoch einen ausdrücklichen Vorbehalt zugunsten der Kantone machen. Dies hat er in einigen Bereichen des Zivilrechtes denn auch getan. Dagegen wird den Kantonen die Kompetenz im Bereich des öffentlichen Rechts ausdrücklich garantiert (Art. 6 ZGB). Beispiel: Die Kantone sind bspw. befugt, im Bereich des Nachbarrechtes (Art. 688, 695 ZGB) Bestimmungen zu erlassen, wie beispielsweise die Regelung der Baum- abstände zwischen nachbarlichen Grundstücken. Schliesslich werden die Kan- tone ermächtigt, v.a. im Bereich des Zivilstands- und Grundbuchwesens Voll- zugsvorschriften zu erlassen. Diese Kompetenz, Zivilrecht zu erlassen, wird von den Kantonen in der Regel in Form von Einführungsgesetzen zum ZGB wahrge- nommen. Beweislastregeln (Art. 8 ZGB): Art. 8 ZGB stellt den wichtigen Grundsatz auf, dass derjenige das Vorhandensein einer bestimmten Tatsache zu beweisen hat, der aus ihr Rechte ableitet. Als praktische Ausgestaltung mag hier das Schadenersatzrecht gelten. Um Schadenersatz geltend zu machen, muss immer ein Schaden sowie dessen Höhe bewiesen werden. Beweis mit öffentlicher Urkunde (Art. 9 ZGB): Öffentliche Urkunden und öffentliche Register erbringen grundsätzlich den vollen Beweis für die darin enthaltenen Tatsachen. Sollte der Inhalt falsch sein, muss dies wiederum zuerst bewiesen werden. Öffentliche Urkunden sind beurkundete Schriftstücke, d.h. eine Notariatsperson (= Urkundsperson) unterzeichnet ein Testament oder einen Vertrag mit und bestätigt damit, dass sich die Unterzeich- nenden bewusst sind, was für einen Inhalt und welche Konsequenzen die unterzeichnete Urkunde hat. Öffentliche Register sind beispielsweise das Handelsregister, das Zivilstandsregister oder das Grundbuch. Diese Register werden amtlich geführt. Notizen 27 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts 2.3 DAS PERSONENRECHT Das Personenrecht beschäftigt sich mit den Personen, die am Rechtsleben teilnehmen und daher Träger von Rechten und Pflichten sind. Das Gesetz unterscheidet zwischen natür- lichen und juristischen Personen. 2.3.1 Natürliche Personen Mit natürlicher Person ist selbstverständlich der Mensch gemeint. Somit geht es hier bei der Frage danach, wer alles Verträge abschliessen kann, darum, welche Menschen dies können. Es liegt auf der Hand, dass man zwischen einem Kind von bspw. vier Jahren und einer erwachsenen Person Unterschiede machen muss. Das ist eine Frage der Handlungs- fähigkeit. Hingegen nimmt auch ein Kind von vier Jahren am Rechtsleben teil, wenn auch passiv. Auch ein Kind ist beispielsweise vermögensfähig, d.h. kann eigenes Vermögen be- sitzen. Das Stichwort ist hier die sogenannte Rechtsfähigkeit. 2.3.1.1 Rechtsfähigkeit Die Rechtsfähigkeit ist in Art. 11 ZGB geregelt. Dort steht kurz und bündig: «Rechtsfähig ist jedermann». Rechtsfähigkeit bedeutet, dass jemand die Fähigkeit hat, Rechte und Pflichten zu haben. Dies ist aber nicht etwa damit gleichzusetzen, dass jemand selber solche Rechte und Pflichten begründen könnte. Beispiel: Ein Kind von drei Jahren hat ein Erbrecht im Falle des Todes seiner Eltern, ohne dass es die Fähigkeit hat, einen Vertrag zu schliessen. Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod (Art. 31 Abs. 1 ZGB). Ausnahmsweise kann auch ein noch ungeborenes Kind rechtsfähig sein. Es ist nämlich möglich, dass ein noch ungeborenes Kind seinen Vater beerbt, auch wenn es erst nach dessen Tod auf die Welt kommt. Denn in Art. 31 Abs. 2 ZGB steht, dass das ungeborene Kind rechtsfähig ist, unter dem Vorbehalt, dass es lebendig auf die Welt kommt. Die Rechtsfähigkeit gemäss schweizerischem Recht besitzen alle Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft oder ihres Alters. Seit dem 1. April 2003 sind Tiere rechtlich gesehen keine Sache mehr. Das bedeutet beispielsweise, dass das Gericht im Streitfall das Alleineigentum von nicht gewerblich gehaltenen Haustieren derjenigen Partei zuspricht, die in tierschützerischer Hinsicht die bessere Unterbringung gewährleistet (Art. 651a ZGB). Tiere sind nach schweizerischem Recht aber weiterhin nicht rechtsfähig. 2.3.1.2 Handlungsfähigkeit Bei der Handlungsfähigkeit geht es darum, wer ohne fremdes Zutun durch sein Handeln Rechte und Pflichten zu begründen vermag. Denn nur wer handlungsfähig ist, kann Verträge abschliessen und sich rechtsgültig verpflichten (Handlungsfähigkeit = Vertragsfähigkeit). Fehlt die Handlungsfähigkeit bei einer der beteiligten Parteien gänzlich, so kommt ein zwischen diesen abgeschlossenes Rechtsgeschäft nicht zustande. 28 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts Die Handlungsfähigkeit setzt Volljährigkeit und Urteilsfähigkeit voraus (Art. 13 ZGB). − Volljährigkeit (Art. 14 ZGB): Volljährig wird man mit Vollendung des 18. Altersjahres. − Urteilsfähigkeit (Art. 16 ZGB): Urteilsfähig ist, wer vernunftgemäss handeln kann. Die nötige Vernunft zur Urteilsfähigkeit fehlt allenfalls dann, wenn jemand psychisch gestört, geistig behindert, betrunken oder in einem ähnlichen Zustand ist oder sich noch im Kindesalter befindet. Die Urteilsfähigkeit ist nicht von einem bestimmten Alter abhängig, sondern muss von Fall zu Fall beurteilt werden. Jeder Mensch durchläuft in seinem Leben eine Phase (Jugendalter), in der er zwar noch nicht volljährig, aber bereits für die meisten Geschäfte urteilsfähig ist (z.B. eine 16-jährige Person). Eine solche Person ist grundsätzlich immer noch handlungsunfähig. Da sie jedoch urteilsfähig ist, besteht die Handlungsunfähigkeit nicht mehr umfassend. Deshalb sind solche Personen rechtlich gesehen beschränkt handlungsunfähig. Das bedeutet, dass sie sich nur (aber immerhin) unter Vorbehalt der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters ver- traglich verpflichten können (Art. 19 ZGB). Ohne diese Zustimmung vermögen sie Vorteile zu erlangen, die unentgeltlich sind, sowie geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens zu besorgen. Trotz beschränkter Handlungsunfähigkeit haben urteilsfähige Jugendliche, die bereits über eigenen Arbeitsverdienst verfügen, gesetzlich das Recht, diesen selbstständig zu verwalten (Art. 323 ZGB). Verwalten heisst hier, dass sie damit machen können, was sie wollen. Beispiel: Ein 16-jähriger Koch-Lehrling im 1. Lehrjahr verdient pro Monat CHF 1'020.--. Es gelingt ihm, pro Monat rund CHF 400.-- auf die Seite zu legen. Dieser Lehr- ling ist mit 17½ Jahren absolut in der Lage, mit diesem gesparten Geld ein Motorrad zu kaufen. Die Eltern können dagegen gar nichts einwenden. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass, wer urteilsfähig ist, aber noch nicht volljährig, deliktsfähig ist, d.h. diese Person haftet für den Schaden, den sie mit einer unerlaubten Handlung (siehe Beispiel unten) angerichtet hat. Beispiel: Der 17-jährige Lehrling fährt nachts alkoholisiert mit seinem Motorrad in einen Passanten hinein. Dieser wird dabei verletzt. Der Lehrling muss dem Passanten gegenüber für die durch die Verletzung entstandenen Kosten einstehen. Notizen 29 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts 2.3.2 Juristische Personen Das ZGB erteilt die Rechts- und Handlungsfähigkeit nicht nur den natürlichen Personen (d.h. Personen aus Fleisch und Blut). Auch die sogenannten juristischen Personen können Träger von Rechten und Pflichten sein und können Verträge abschliessen. Eine juristische Person ist ein vom Gesetzgeber geschaffenes künstliches Rechtsgebilde, das die gleichen Rechte und Pflichten wie die natürliche Person haben kann, ausser jenen, die die natürlichen Eigenschaften des Menschen (Geschlecht, Alter, Verwandtschaft) zur Voraussetzung haben (Art. 53 ZGB). Die wichtigsten juristischen Personen sind: − Vereine − Stiftungen − Gesellschaften (AG; GmbH; Genossenschaft) Kollektiv- und Kommanditgesellschaften sind hingegen keine juristischen Personen. Die juristischen Personen sind handlungsfähig, sobald die nach Gesetz und Statuten hierfür unentbehrlichen Organe bestellt sind (Art. 54 ZGB). Bei den Gesellschaften ist zur Erlangung des Rechts der Persönlichkeit und damit der Rechtsfähigkeit zudem noch der Eintrag ins Handelsregister erforderlich. Dabei ist zu beachten, dass alle Personenverbindungen, die wirtschaftliche Zwecke verfolgen (Genossenschaften, Aktiengesellschaften etc.) nicht im ZGB, sondern im OR geregelt sind. 2.3.2.1 Der Verein Vereine spielen in der Schweiz eine bedeutende Rolle. Jedermann ist berechtigt, einen Verein zu gründen, einem Verein beizutreten oder aus einem Verein wieder auszutreten. Die Vereinsfreiheit ist in der Bundesverfassung ausdrücklich garantiert (Art. 23 BV). Eine Schranke findet die Vereinsfreiheit, wenn der Verein einen rechtswidrigen oder staatsgefähr- denden Zweck verfolgt. Begriff: Der Verein ist eine Vereinigung von Personen, die ideelle - also nicht wirtschaft- liche - Ziele verfolgt und über Statuten verfügt. Der Verein ist eine juristische Person, braucht jedoch nicht im Handelsregister eingetragen zu sein, ausser wenn er ein kaufmän- nisches Gewerbe betreibt, revisionspflichtig ist oder hauptsächlich Vermögenswerte im Ausland direkt oder indirekt sammelt oder verteilt, die für karitative, religiöse, kulturelle, erzieherische oder soziale Zwecke bestimmt sind (Art. 61 ZGB; vgl. Art. 69b ZGB). Vereinsziele sind etwa: politische, religiöse, künstlerische, wohltätige, sportliche und wissenschaft- liche usw. (Art. 60 Abs. 1 ZGB). Die ideelle Zielsetzung schliesst jedoch nicht aus, dass ein Verein sich zur Verfolgung des Zieles eines kaufmännischen Unternehmens bedient (Beispiele: Ein Fussballclub betreibt ein Stadion, ein Berufsverband betreibt ein Stellenvermittlungsbüro). Gründung des Vereins (Art. 60 ZGB): Damit ein Verein rechtlich bestehen kann, muss er gegründet werden. Ein Verein gilt als gegründet, wenn die Statuten schriftlich abgefasst sind, diese von der Gründungsversammlung genehmigt und von den unterschriftsberech- tigten Mitgliedern des Vorstandes unterzeichnet sind. Nach der Gründung erlangt der Verein automatisch die Rechtspersönlichkeit. 30 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts Organe: Der Verein braucht mindestens zwei Organe. Es sind dies der Vereinsvorstand (Art. 69 ZGB) sowie die Versammlung der Mitglieder (Art. 64 ZGB). Nicht notwendig, aber regelmässig üblich sind ein oder mehrere Rechnungsrevisoren, die in den Statuten vorge- sehen werden können. Die Versammlung der Mitglieder ist das oberste Organ des Vereins. Es entscheidet mit Mehrheit der anwesenden stimmberechtigten Mitglieder (absolutes Mehr; Art. 67 Abs. 2 ZGB). Ein Mindestbestand an Mitgliedern ist gesetzlich nicht vorge- schrieben, das Bundesgericht schreibt aber in seiner Praxis im Minimum drei Mitglieder vor. Mitgliedschaft: Da die Vereinsfreiheit garantiert ist, kann jedermann in so vielen Vereinen dabei sein, wie er will. Das heisst jedoch nicht, dass man gegen den Willen der Mitglieder einem Verein beitreten kann. Dazu braucht es eine Beitrittserklärung und je nach Statuten die Genehmigung oder den Aufnahmebeschluss der Mitgliederversammlung oder des Vereinsvorstands. Aus wichtigen Gründen kann ein Vereinsmitglied auch ausgeschlossen werden (Art. 72 Abs. 3 ZGB), wobei solche Entscheide gerichtlich überprüfbar sind. Ein Vereinsmitglied darf am Vereinsleben teilnehmen und es besitzt das Stimmrecht, wobei jedes Mitglied über eine Stimme verfügt (Art. 67 Abs. 1 ZGB). Das Vereinsmitglied hat auch das Recht, Anträge zu stellen, wobei an den Vereinsversammlungen grundsätzlich nur über die traktandierten Anträge Beschluss gefasst werden darf (Art. 67 Abs. 3 ZGB). Diese Rege- lung verhindert die Überrumpelung des Vereines bzw. der Vereinsmitglieder. Beitragspflicht: Von den Vereinsmitgliedern können Mitgliederbeiträge verlangt werden, wenn dies die Statuten vorsehen (Art. 71 ZGB). Mitgliederbeiträge werden meist in Form von Jahresbeiträgen erhoben. Haftung: Für die Verbindlichkeiten des Vereins haftet das Vereinsvermögen. Es haftet aus- schliesslich, sofern die Statuten nichts anderes bestimmen (Art. 75a ZGB). Auflösung: Ein Verein kann jederzeit durch einen Vereinsbeschluss aufgelöst werden (Art. 76 ZGB). Von Gesetzes wegen wird er aufgelöst, wenn er zahlungsunfähig ist oder wenn der Vorstand nicht mehr statutengemäss bestellt werden kann (Art. 77 ZGB). Notizen 31 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts 2.3.2.2 Die Stiftung Die Rechtsform der Stiftung wird sehr häufig verwendet, um dem Gemeinwohl zukommende Tätigkeiten zu organisieren. Am häufigsten tritt die Stiftung in Form einer Pensionskasse im Rahmen der beruflichen Vorsorge (BVG) zutage. Die Regelungen über Stiftungen, welche die Personalvorsorge zum Zweck haben, finden sich nicht nur im ZGB, sondern auch im BVG sowie im Arbeitsrecht des OR. Beispiel: Die Schweizerische Hotelfachschule Luzern (SHL) ist eine Stiftung, die von der Union Helvetia ins Leben gerufen wurde. Inhalt: Eine Stiftung ist kein Zusammenschluss von Personen, sondern ein Vermögen, das einem bestimmten Zweck gewidmet wird. D.h., jemand überträgt Vermögen (Geld, Sachen, Wertpapiere) zu Eigentum einer Stiftung. Der Zweck wird in einer Stiftungsurkunde festge- legt. Ein Stiftungsrat und der Staat wachen darüber, dass das Vermögen der Stiftung auch dem Stiftungszweck entsprechend verwendet wird. Jede handlungsfähige Person ist be- rechtigt, eine Stiftung zu gründen. Entstehung: Eine Stiftung erlangt die Rechtspersönlichkeit mit dem Eintrag ins Handelsre- gister. Vorgängig muss der Stiftungszweck festgelegt werden. Das geschieht entweder (Art. 81 ZGB): − in einer letztwilligen Verfügung wie einem Testament oder − durch die Errichtung einer Stiftungsurkunde (öffentliche Beurkundung nötig). Organisation: Diese richtet sich nach der Stiftungsurkunde (Art. 83 ZGB). Die Verwaltung einer Stiftung wird als Stiftungsrat bezeichnet. Beaufsichtigung: Stiftungen werden durch das Gemeinwesen (Bund, Kanton, Gemeinde) beaufsichtigt (Art. 84 ZGB). Die Aufsicht erstreckt sich vor allem auf die Zweckerhaltung. Die entsprechende Behörde kann bindende Weisungen erteilen und bei deren Nichtbeachtung Sanktionen ergreifen. Dies gilt nicht für Familienstiftungen und kirchliche Stiftungen, weil hier der Staat keine Aufsicht ausübt (Art. 87 ZGB). Umwandlung (Art. 85 ff. ZGB): Obwohl die Stiftung an und für sich ein starres Gebilde ist, kann eine Veränderung und Neudefinierung der Organisation und des Zwecks erfolgen. Dies wenn der ursprüngliche Zweck der Stiftung eine ganz andere Bedeutung oder Wirkung erhalten hat, sodass die Stiftung dem ursprünglichen Willen offenbar entfremdet worden ist, oder wenn es die stiftende Person beantragt, sofern in der Stiftungsurkunde eine Zweckänderung vorbehalten worden ist und seit der Errichtung der Stiftung oder seit der letzten von der stiftenden Person verlangten Änderung mindestens zehn Jahre verstrichen sind. Ebenfalls kann es zu einer Veränderung des Zwecks kommen, wenn die finanziellen Mittel zu knapp sind, um den vorgesehenen Zweck zu erreichen. Die staatlichen Behörden können durch Umwandlung eine Stiftung retten. Der neue Zweck muss dem alten aber möglichst ähnlich sein, und der ursprüngliche Wille der stiftenden Person darf nicht vollständig fallen gelassen, sondern lediglich den veränderten Verhältnissen angepasst werden. Umwandlungen müssen im Handelsregister eingetragen werden. Ende der Stiftung (Art. 88 f. ZGB): Eine Stiftung wird durch die zuständige Behörde aufge- hoben, wenn ihr Zweck unerreichbar oder widerrechtlich oder unsittlich geworden ist. 32 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts 2.3.3 Der Persönlichkeitsschutz im ZGB Einen wichtigen Aspekt des Personenrechtes stellt der Schutz der Persönlichkeit dar (Art. 27 ff. ZGB). Jeder Mensch besitzt von Geburt an und unabhängig von seiner Stellung gewisse Individualrechte, wie bspw. die Ehre oder die persönliche Freiheit. Das ZGB schützt nun diese Individualrechte eines jeden Menschen gegenüber Angriffen von Privaten. Was alles als Persönlichkeitsverletzung zu betrachten ist, hängt stark von den sich wandelnden Auffassungen und von den Entwicklungen in Wissenschaft und Technik ab. Vor Beeinträchtigungen seitens des Staates ist der Private bereits aufgrund öffentlich-rechtlicher Bestimmungen, insbesondere der Freiheitsrechte, geschützt. 2.3.3.1 Schutz der Persönlichkeit vor übermässiger Bindung Jeder Mensch wird gewissermassen auch vor sich selber geschützt, denn niemand kann vertraglich auf seine Rechts- und Handlungsfähigkeit ganz oder zum Teil verzichten oder sich seiner Freiheit entäussern (Art. 27 ZGB). Ein Vertrag, der gegen das Persönlichkeits- recht nach Art. 27 ZGB verstösst, ist gemäss Art. 19 OR unsittlich und demnach nichtig (Art. 20 OR). Unzulässig sind beispielsweise «ewige Verträge», d.h. Verträge, die unkündbar über eine sehr lange Zeit bestehen. Der Gesetzgeber will damit verhindern, dass jemand unter sklavischen Bedingungen Ver- träge abschliesst und so ein übermässiger Freiheitsverlust eintritt. Im Gastgewerbe üblich sind sogenannte Bierlieferungsverträge. Eine Bierbrauerei finanziert dabei oft Einrichtungen und verpflichtet den Betrieb, während einiger Jahre ausschliesslich ihr eigenes Bier zu verkaufen. Solche Bierlieferungsverträge können ins Grundbuch eingetragen werden und sind dann auch für allfällige neue Eigentümer des Restaurants verbindlich. Das Bundesgericht geht davon aus, dass ein Bierlieferungsvertrag von 15 bis 20 Jahren noch nicht gegen Art. 27 ZGB verstösst. 2.3.3.2 Schutz der Persönlichkeit vor widerrechtlichen Verletzungen durch Drittpersonen Art. 28 ff. ZGB gewährt der Persönlichkeit richterlichen Schutz vor widerrechtlichen Verlet- zungen durch Drittpersonen. Jeder Eingriff in die Persönlichkeit einer Person gilt grund- sätzlich als widerrechtlich, es sei denn, es liegen Rechtfertigungsgründe vor. Der Persön- lichkeitsschutz umschliesst alle körperlichen, psychischen, moralischen und sozialen Werte, die einer Person Kraft ihrer Existenz zukommen. Als Rechtfertigungsgründe für einen Eingriff in die Persönlichkeitssphäre einer Person kommen in Betracht: − die Einwilligung des Verletzten − ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse (Notstand, Notwehr, das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit etc.) − eine Gesetzesvorschrift. 33 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts Bei widerrechtlichen Persönlichkeitsverletzungen durch Dritte bestehen folgende Möglich- keiten, sich zu wehren: − Man kann gerichtlich beantragen, eine drohende Verletzung zu verbieten, eine beste- hende Verletzung zu beseitigen oder die Widerrechtlichkeit einer Verletzung festzu- stellen, wenn sich diese weiterhin störend auswirkt. − Man kann verlangen, dass eine Berichtigung oder das Urteil Dritten mitgeteilt oder ver- öffentlicht wird. − Man kann auf Schadenersatz und Genugtuung sowie auf Herausgabe eines Gewinns klagen. Beispiele: Ein Mann stört absichtlich und wiederholt das Familienleben eines Ehepaares mit der Behauptung, er sei der Vater eines der Kinder. Dadurch verletzt er die Eheleute in ihren persönlichen Verhältnissen. Ein Gläubiger will sein Geld beim Schuldner eintreiben. Um ihn «weichzu- klopfen» stellt er ein Flugblatt her, das den Schuldner als miesen Geschäfts- partner darstellt und verteilt dieses Flugblatt an die Nachbarn des Schuldners. Zum Schutz gegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen kann man beantragen, der ver- letzenden Person insbesondere zu verbieten: − sich einem anzunähern oder sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzu- halten; − sich an bestimmten Orten, namentlich bestimmten Strassen, Plätzen oder Quartieren, aufzuhalten; − mit einem Kontakt aufzunehmen, namentlich auf telefonischem, schriftlichem oder elektronischem Weg, oder einem in anderer Weise zu belästigen. Vorsorgliche Massnahmen: Wer glaubhaft darlegt, dass er in seiner Persönlichkeit verletzt ist oder befürchten muss, dass eine Verletzung unmittelbar droht, kann verlangen, dass mittels vorsorglicher Massnahmen diese Verletzung verhindert wird. Diese Möglichkeit ist besonders in den Medien aktuell. Erfährt jemand von einer drohenden Persönlichkeits- verletzung in einem Medium, so kann das Gericht mittels superprovisorischer Verfügung (= ohne Anhörung der Gegenpartei) die Publikation verbieten. Ein ordentlicher Prozess - auch wenn er beschleunigt geführt würde - käme in solchen Fällen zu spät. Bei regel- mässig erscheinenden Medien (Fernsehsendungen, Zeitungen) muss für eine vorsorgliche Massnahme jedoch ein besonders schwer wiedergutzumachender Nachteil glaubhaft gemacht werden. Die Presse kritisiert teilweise die Möglichkeit der vorsorglichen Mass- nahme, weil sie als Maulkorb aufgefasst wird. Recht auf Gegendarstellung (Art. 28g - 28l ZGB): Wer durch Tatsachendarstellungen in periodisch erscheinenden Medien (Radio, TV, Zeitungen) in seiner Persönlichkeit unmittel- bar betroffen ist, hat Anspruch auf eine Gegendarstellung. Der Betroffene kann, nachdem er von der Tatsachendarstellung Kenntnis erhalten hat, innert 20 Tagen - spätestens jedoch nach Ablauf von drei Monaten - dem Medium eine Gegendarstellung übermitteln. Das Medienunternehmen muss die Gegendarstellung sobald wie möglich veröffentlichen und zwar so, dass sie die gleiche Leserschaft erreicht wie die ursprüngliche Tatsachendar- stellung. Sie ist als Gegendarstellung zu kennzeichnen, und das Medium darf nur die Erklä- rung beifügen, dass es an ihrer Tatsachendarstellung festhält. Verweigert das Medium die 34 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts Veröffentlichung der Gegendarstellung, kann der Betroffene das Gericht anrufen, das in einem schnellen Verfahren entscheidet. Notizen 35 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts 2.3.4 Das Datenschutzgesetz Das Datenschutzgesetz bezweckt den Schutz der Persönlichkeit und der Grundrechte von natürlichen Personen, über die Personendaten bearbeitet werden. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht bildet einen wichtigen Grundsatz unserer gesellschaftlichen Ordnung. Jeder Mensch soll so weit als möglich selber darüber bestim- men können, welche Informationen über ihn wann, wo und wem bekannt gegeben werden. Ziel des Datenschutzes ist es, das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Menschen zu verteidigen. Es ist aber immer auch zu berücksichtigen, dass es legitime Interessen geben kann, dieses Selbstbestimmungsrecht einzuschränken und Daten über eine Person auch ohne deren Wissen oder gegen deren Willen zu erheben. Das Eidgenössische Datenschutzgesetz ist ein Rahmengesetz und erlaubt als solches einen grossen Spielraum bei der Beurteilung von Daten- und Persönlichkeitsschutzverletzungen. Es ist geprägt vom Bemühen um einen sachgerechten Interessensausgleich zwischen den Belangen des Persönlichkeitsschutzes und dem elementaren Bedürfnis von Verwaltungs- stellen und Wirtschaftsunternehmen an der Bearbeitung von personenbezogenen Daten. Es ist oft nicht möglich, umfassende allgemeine Aussagen zu machen. Im Vordergrund steht in der Regel der Einzelfall, den es zu beurteilen gilt. Das Eidgenössische Datenschutzgesetz beansprucht Geltung sowohl im öffentlich- als auch im privatrechtlichen Bereich. Geschützt werden personenbezogene Daten natürlicher Personen. Die wichtigsten Grundsätze des Datenschutzes sind: − Personendaten müssen rechtmässig bearbeitet werden. − Die Bearbeitung muss nach Treu und Glauben erfolgen und verhältnismässig sein. − Personendaten dürfen nur zu einem bestimmten und für die betroffene Person erkenn- baren Zweck beschafft werden; sie dürfen nur so bearbeitet werden, dass es mit diesem Zweck vereinbar ist. − Sie werden vernichtet oder anonymisiert, sobald sie zum Zweck der Bearbeitung nicht mehr erforderlich sind. − Wer Personendaten bearbeitet, muss sich über deren Richtigkeit vergewissern. Sie oder er muss alle angemessenen Massnahmen treffen, damit die Daten berichtigt, gelöscht oder vernichtet werden, die im Hinblick auf den Zweck ihrer Beschaffung oder Bearbei- tung unrichtig oder unvollständig sind. Die Angemessenheit der Massnahmen hängt namentlich von der Art und dem Umfang der Bearbeitung sowie vom Risiko ab, das die Bearbeitung für die Persönlichkeit oder die Grundrechte der betroffenen Personen mit sich bringt. − Ist die Einwilligung der betroffenen Person erforderlich, so ist diese Einwilligung nur gültig, wenn sie für eine oder mehrere bestimmte Bearbeitungen nach angemessener Information freiwillig erteilt wird. 36 Recht 1 Grundzüge des Zivilrechts − Die Einwilligung muss ausdrücklich erfolgen für: a) die Bearbeitung von besonders schützenswerten Personendaten (Daten über religiöse, weltanschauliche, politische oder gewerkschaftliche Ansichten oder Tä- tigkeiten, Daten über die Gesundheit, die Intimsphäre oder die Zugehörigkeit zu einer Rasse oder Ethnie, genetische Daten, biometrische Daten, die eine natürliche Person eindeutig identifizieren, Daten über verwaltungs- und strafrechtliche Verfolgungen oder Sanktionen, Daten über Massnahmen der sozialen Hilfe); b) ein Profiling mit hohem Risiko durch eine private Person (Profiling, das zu einer Ver- knüpfung von Daten führt, die eine Beurteilung wesentlicher Aspekte der Persön- lichkeit einer natürlichen Person erlaubt); oder c) ein Profiling durch ein Bundesorgan. Die verantwortliche Person ist verpflichten, die Datenbearbeitung technisch und organisa- torisch so auszugestalten, dass die Datenschutzvorschriften eingehalten werden. Sie ist verpflichtet, mittels geeigneter Voreinstellungen sicherzustellen, dass die Bearbeitung der Personendaten auf das für den Verwendungszweck nötige Mindestmass beschränkt ist, soweit die betroffene Person nicht etwas anderes bestimmt. Die Verantwortlichen und Auftragsbearbeitenden führen je ein Verzeichnis ihrer Bearbei- tungstätigkeiten. Die Verantwortlichen informieren (von den gesetzlich vorgesehenen Aus- nahmen und Einschränkungen abgesehen) die betroffene Person angemessen über die Beschaffung von Personendaten, damit diese ihre Rechte nach dem Datenschutzgesetz geltend machen k

Use Quizgecko on...
Browser
Browser