Kompendium Recht 1 ZP PDF
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SHL Schweizerische Hotelfachschule Luzern
2024
Stefan Peter
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This document is a compendium for a law course, specifically for hotel management students in semester 3 at the Hotelfachschule Luzern. It has an overview of Swiss law, legal principles, and contracts. Key details include the history of the Swiss legal system and various contracts.
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SEMESTER 3 HOTELLERIE RECHT 1 Dozent: Stefan Peter Spiralfächer Wenn Inhalte in diesem Kompendium einen direkten Zusammenhang mit einem der SHL Spiralfächer haben, ist dies jeweils folgendermassen gekennzeichnet: Informationssysteme Innovation & Digitalisierung Qu...
SEMESTER 3 HOTELLERIE RECHT 1 Dozent: Stefan Peter Spiralfächer Wenn Inhalte in diesem Kompendium einen direkten Zusammenhang mit einem der SHL Spiralfächer haben, ist dies jeweils folgendermassen gekennzeichnet: Informationssysteme Innovation & Digitalisierung Qualitätsmanagementsystem Sustainability Impressum Ausgabe 2024 Version 5.1 © SHL Schweizerische Hotelfachschule Luzern Recht 1 INHALTSVERZEICHNIS 1 Staatsrechtliche Grundlagen..................................................................................... 1 1.1 Die geschichtliche Entwicklung der Schweiz.................................................................. 1 1.2 Die Staatsform der Schweiz............................................................................................ 4 1.2.1 Der Bundesstaat..................................................................................................4 1.2.2 Die politische Organisation des Bundesstaates Schweiz...................................6 1.2.3 Die politischen Parteien und ihre Bedeutung...................................................10 1.2.4 Die Entstehung eines Bundesgesetzes............................................................12 1.3 Der Aufbau der Rechtsordnung.................................................................................... 15 1.3.1 Ursprung und Wesen des Rechts......................................................................15 1.3.2 Verfassung, Gesetz, Verordnung.......................................................................16 1.3.3 Die Grundrechte................................................................................................16 1.3.4 Öffentliches Recht – Privatrecht.......................................................................19 1.4 Die Rechtspflege........................................................................................................... 20 1.4.1 Allgemeines.......................................................................................................20 1.4.2 Zivil-, Straf-, Verwaltungsverfahren.................................................................20 1.4.3 Die Vollstreckung..............................................................................................23 2 Grundzüge des Zivilrechts....................................................................................... 24 2.1 Allgemeines.................................................................................................................. 24 2.2 Die Einleitungsartikel.................................................................................................... 26 2.3 Das Personenrecht....................................................................................................... 28 2.3.1 Natürliche Personen.........................................................................................28 2.3.2 Juristische Personen.........................................................................................30 2.3.3 Der Persönlichkeitsschutz im ZGB...................................................................33 2.3.4 Das Datenschutzgesetz....................................................................................36 3 Allgemeine Vertragslehre....................................................................................... 39 3.1 Begriff und Entstehen einer Obligation........................................................................ 39 3.2 Der Vertrag.................................................................................................................... 40 3.2.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit.........................................................................42 3.2.2 Grundsatz der Formfreiheit..............................................................................45 3.2.3 Anfechtbarkeit eines Vertrages.........................................................................46 3.2.4 Vertragserfüllung..............................................................................................49 3.2.5 Mängel bei der Vertragserfüllung.....................................................................50 3.2.6 Sicherung der Vertragserfüllung......................................................................53 3.3 Die Verjährung.............................................................................................................. 57 A Recht 1 4 Kaufvertrag.............................................................................................................. 59 4.1 Der Fahrniskauf............................................................................................................ 59 4.1.1 Pflichten des Verkäufers.................................................................................. 61 4.1.2 Pflichten des Käufers....................................................................................... 64 4.2 Der Grundstückkauf..................................................................................................... 65 5 Gastaufnahmevertrag.............................................................................................. 66 5.1 Inhalt und Erscheinungsformen................................................................................... 66 5.2 Der Vertragsabschluss................................................................................................ 67 5.2.1 Reservation beim Beherbergungsvertrag........................................................ 67 5.2.2 Reservation beim Bewirtungsvertrag............................................................... 68 5.3 Die Pflichten der Vertragsparteien.............................................................................. 69 5.3.1 Das Restaurant im Bewirtungsvertrag............................................................. 69 5.3.2 Das Hotel im Beherbergungsvertrag............................................................... 69 5.3.3 Der Gast............................................................................................................ 70 6 Ihre Notizen.............................................................................................................. 71 B Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1 STAATSRECHTLICHE GRUNDLAGEN 1.1 DIE GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DER SCHWEIZ Deklaration der Lernziele Richt- oder Lernziel erfüllt − Sie sind in der Lage, die geschichtliche Entwicklung der Schweiz unter Be- zugnahme auf die wichtigsten Daten und Zusammenhänge aufzuzeigen. − Sie können grob umschreiben, was die einzelnen Hauptabschnitte der Bundesverfassung zum Thema haben. − Sie können die allgemeinen Bestimmungen der Bundesverfassung, insbe- sondere die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns, nachvollziehbar erläutern. Das Datum von 1291, an dem Vertreter der drei Urschweizer Kantone Uri, Schwyz und Un- terwalden den Bundesbrief unterzeichneten, wird gemeinhin als Geburtsstunde der Schweiz, d.h. der Eidgenossenschaft, angenommen. Allerdings hat der heutige Bundesstaat Schweiz wenig mit der damaligen Eidgenossenschaft gemeinsam. Die Schweiz, wie sie heute organisiert ist, geht auf das Datum von 1848 zurück. Zu dieser Zeit wurden nach einem Bürgerkrieg die erste Bundesverfassung in Kraft gesetzt sowie ein Bundesrat und ein Parlament gewählt. Vor dieser Zeit bestand die Eidgenossenschaft aus einem mehr oder weniger lockeren Zu- sammenschluss von einzelnen selbstständigen Staaten (= Kantone). Einige Gebiete, die heute selbstständige Kantone sind, waren aber zu jener Zeit Untertanengebiete anderer Kantone (z.B. Teile des Aargaus, Tessin, Thurgau). Das gemeinsame Funktionieren der Kantone wurde in der sogenannten Tagsatzung geregelt. Die Tagsatzung war eine Versammlung der Vertreter der teilnahmeberechtigten Kantone. Die Zeit bis ins 18. Jahrhundert hinein war immer wieder geprägt durch die Auseinander- setzungen zwischen den einzelnen Orten, vor allem zwischen den Städten und den Landor- ten. Es kam zu vereinzelten Schlachten, zu Unruhen und Aufständen. Während es bei diesen Auseinandersetzungen immer wieder um Rechte und Ansprüche oder um die Verteilung von Kriegsbeute ging, hatten einige davon auch einen religiösen Hintergrund (Katholiken gegen Protestanten). 1789 fand die Französische Revolution statt. Als Folge davon kam Napoleon an die Macht. Dieser betrieb eine forsche Eroberungspolitik, von der auch das Territorium der Schweiz betroffen war. Mit dem Einmarsch der französischen Truppen 1798 ging die Alte Eidgenos- senschaft unter. An ihre Stelle trat die sogenannte Helvetische Republik, die zentralistisch organisiert war. Die bisherigen Kantone wurden zu reinen Verwaltungsbezirken, wobei ein- zelne geteilt und andere neu gebildet wurden. Dieser Republik lag eine Verfassung zu- grunde, die Bürgerrechte und politische Gleichheit garantierte. Die neue Republik fand jedoch nur wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Mit dem Abzug der französischen Truppen 1803 brach sie innert kürzester Zeit zusammen und die Schweiz wurde wieder zum Staatenbund. Die Souveränität der Kantone wurde wiederhergestellt, 1 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen die 13 alten Orte in ihren alten Grenzen bestätigt. Auf ihre früheren Untertanengebiete mussten sie allerdings verzichten: Neben St. Gallen und Graubünden wurden auch Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt als selbstständige Kantone anerkannt. Mit den Niederlagen, die Napoleon erlitt, verschwand auch der Einfluss Frankreichs. Als Folge davon anerkannte der Wiener Kongress von 1815 die Schweiz als unabhängigen Staat und es wurde deren dauernde Neutralität garantiert. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Schweiz aus 22 Kantonen. Ab 1830 gelangte in der Mehrheit der Kantone eine starke nationale Bewegung mit liberalen, demokratischen und zentralistischen Zügen an die Macht. Hinter diesem nationalen Aufbruch stand ein sozialer Umbruch mit wachsender Industrialisierung, veränderter Landwirtschaft und grösserer Armut. Es bildeten sich zwei Kantonsgruppen: konservative, bäuerliche und ausschliesslich katholische Kantone einerseits, die 1845 den sogenannten Sonderbund gründeten (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug, Freiburg, Wallis), andererseits die zahlenmässig weit überlegenere Gruppe der liberalen, industriali- sierten Kantone. Die zweite Gruppe trug im letzten Bürgerkrieg der Schweiz, dem Sonderbundskrieg von November 1847 (ca. 150 Tote), den Sieg davon. Dies ermöglichte 1848 die Annahme einer neuen Bundesverfassung. Mit dieser Bundesverfassung wurde die frühere Eidgenossenschaft definitiv zu einem Bundesstaat, so wie er sich in seinen Grund- zügen noch heute präsentiert, in dem die Staatsgewalt zwischen dem Bund und den Kantonen aufgeteilt ist. Die Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 stellte eine Totalrevision dieser Bundesverfassung von 1848 dar. 1999 wurde die Bundesverfassung erneut einer Totalrevision unterzogen. Diese trat auf den 1. Januar 2000 in Kraft. Mit der Totalrevision von 1999 wurden nur wenige und untergeordnete inhaltliche Änderungen vorgenommen. Die Bundesverfassung wurde primär neu gegliedert und übersichtlicher gestaltet. Sie gliedert sich neu in sechs Hauptab- schnitte: − Der erste Titel enthält die allgemeinen Bestimmungen über die Eidgenossenschaft und die Kantone. Er nennt die 26 Kantone und die vier Landessprachen. Er legt den Zweck der Eidgenossenschaft (Freiheit, Unabhängigkeit, gemeinsame Wohlfahrt, Chancen- gleichheit, Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, friedliche und gerechte inter- nationale Ordnung) und die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns fest. − Der zweite Titel besteht aus einem umfassenden Grundrechtskatalog, den Bürger- rechten (wer das Bürgerrecht einer Gemeinde und des Kantons hat, hat auch das Schweizer Bürgerrecht) und aus Sozialzielen. − Der dritte Titel regelt das Verhältnis zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden (Födera- lismus). Er geht von der Partnerschaft zwischen Bund und Kantonen aus und gewähr- leistet die Gemeindeautonomie. Ebenfalls in diesem Titel sind die Gesetzgebungs- kompetenzen des Bundes im Einzelnen festgelegt. Wird keine Zuständigkeit des Bundes begründet oder macht der Bund von seiner Kompetenz nicht Gebrauch, so können die Kantone tätig werden. Ebenfalls in diesem Titel ist die Finanzordnung geregelt. − Der vierte Titel enthält die politischen Rechte. 2 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen − Der fünfte Titel umschreibt die Bundesbehörden (Bundesversammlung, Bundesrat und Bundesverwaltung, Bundesgericht) und regelt ihre Wahl und ihre Kompetenzen. − Der sechste Titel enthält Bestimmungen für die Revision der BV und Übergangsbestim- mungen. Notizen 3 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.2 DIE STAATSFORM DER SCHWEIZ Deklaration der Lernziele Richt- oder Lernziel erfüllt − Sie sind in der Lage, den Staatsaufbau der Schweiz detailliert zu beschrei- ben und dessen Hintergründe und Funktionsweise korrekt zu erklären. − Sie können die politische Gliederung und Organisation der Schweiz strukturiert erläutern und staatliches Handeln den verschiedenen Gewalten korrekt zuordnen. − Sie sind in der Lage, die verschiedenen Volksrechte auf Bundesebene ver- ständlich zu erklären und anhand theoretischer Beispiele wirksam einzu- setzen. − Sie können die Aufgaben des Parlaments korrekt beschreiben, die Hand- lungsinstrumente der Parlamentarier verständlich erklären und anhand theoretischer Beispiele wirksam einsetzen. − Sie sind in der Lage, Funktion und Bedeutung der politischen Parteien kor- rekt zu beschreiben. − Sie können die wichtigsten Standpunkte der vier wählerstärksten Parteien korrekt benennen. − Sie sind in der Lage, anschaulich aufzuzeigen, wie ein Bundesgesetz ent- steht. 1.2.1 Der Bundesstaat Wie bereits erwähnt, ist die Schweiz mit der Zeit zu einem Bundesstaat zusammenge- wachsen. Die Kantone (früher meist eigenständige Staaten) haben sich verbunden und einen neuen Staat, nämlich die Schweiz, gegründet. Die Kantone behielten als Gliedstaaten weiterhin ihre «Staatseigenschaft» (Föderalismus), traten aber gewisse Befugnisse an den Bundesstaat ab. Das Subsidiaritätsprinzip resp. das schweizerische Föderalismusprinzip besagt, dass die obere poli- tische Ebene (Bund/Kanton) nur das regeln soll, was die tiefere politische Ebene (Kanton/Gemeinde) im Interesse des Ganzen nicht selbstständig regeln kann. Es macht keinen Sinn, dass jeder Kanton sein eigenes Strassenverkehrsgesetz erlässt, also ist dies Sache des Bundes. Durch das Subsidiari- tätsprinzip wird soweit als möglich die Selbstständigkeit der tieferen politischen Ebenen aufrecht- erhalten (vgl. Art. 5a BV). Das Gegenstück zum Föderalismus ist der Zentralismus. Hier wird alles zentral und auf höchster Stufe geregelt. Freiräume für die unteren Behörden existieren nicht. Die Schweiz vereinigt heute 26 Kantone (Art. 1 BV). Die nächsttiefere politische Einheit ist meist ein Bezirk oder Amt. Alle Kantone vereinigen eine Anzahl Gemeinden. Auch hier wird versucht, das Prinzip des Föderalismus zu verwirklichen. 4 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Die staatlichen Aufgaben werden von drei verschiedenen Organen (Gewaltentrennung) wahrgenommen. Man nennt diese − Legislative oder gesetzgebende Gewalt − Exekutive oder ausführende Gewalt − Judikative oder richtende Gewalt Da die Schweiz aus Bund, Kantonen und Gemeinden besteht, haben wir auf all diesen Ebenen eine Aufteilung in diese drei Gewalten: Legislative Exekutive Judikative Gemeinde Gemeindeversammlung Gemeinderat Friedensrichter Einwohner- oder Grosser Stadtrat (Bezirk, Amt) - - Bezirks- /Amtsgericht Kanton Landsgemeinde Regierungsrat Obergericht Grosser Rat (Kleiner Rat) Kantonsgericht Kantonsrat Staatsrat Bund National- und Ständerat Bundesrat Bundesgericht (= Bundesversammlung) Notizen 5 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.2.2 Die politische Organisation des Bundesstaates Schweiz 1.2.2.1 Das Volk Das Schweizer Volk ist laut Bundesverfassung der Souverän des Landes, also die oberste politische Instanz. Es umfasst alle mündigen Frauen und Männer mit Schweizer Bürger- recht – das sind rund 5,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger, was knapp zwei Dritteln der Wohnbevölkerung entspricht. Unter 18-jährige und ausländische Staatsangehörige haben auf Bundesebene keine politischen Rechte. Die Schweiz wird gemeinhin als direkte Demokratie bezeichnet. Dies bedeutet, dass das Volk direkt über politische Geschäfte befinden kann. Als Gegenstück zur direkten Demo- kratie existiert die indirekte Demokratie (Beispiel Deutschland). Dort wählen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Parlamentarier, die dann ohne Einflussmöglichkeiten des Volkes über die politischen Geschäfte beschliessen. Selbstverständlich kann das Volk auch in einer direkten Demokratie wie der Schweiz nicht über alles und jedes entscheiden. Nur bei Geschäften von einer gewissen Bedeutung be- steht eine direkte, rechtlich verbindliche Einflussmöglichkeit des Volkes. Die Volksrechte auf Bundesebene sind: − Das Wahlrecht: Bei den Nationalratswahlen haben alle mündigen Schweizer:innen ab 18 Jahren das aktive und passive Wahlrecht; das heisst, sie dürfen sowohl wählen als auch sich selbst zur Wahl stellen. Die Ständeratswahlen sind nicht auf Bundesebene geregelt; für sie gelten kantonale Vorschriften. − Das Stimmrecht: Wer wählen darf, ist auch stimmberechtigt. Für alle Änderungen der Verfassung sowie für den Beitritt zu bestimmten internationalen Organisationen gilt das obligatorische Referendum: Das heisst, darüber muss eine Volksabstimmung statt- finden. Zur Annahme einer solchen Vorlage braucht es das sogenannte doppelte Mehr – nämlich erstens das Volksmehr, also die Mehrheit der gültigen Stimmen im ganzen Land, und zweitens das Ständemehr, also eine Mehrheit von Kantonen, in denen die Stimmenden die Vorlage angenommen haben. Geänderte oder neue Gesetze und ähnliche Beschlüsse des Parlaments sowie bestimmte völkerrechtliche Verträge kommen nur dann zur Abstimmung, wenn dies mit dem fakultativen Referendum (siehe unten: «Das Referendumsrecht») verlangt wird. Zur Annahme einer derartigen Vorlage genügt das Volksmehr. − Das Initiativrecht: Stimmberechtigte können einen Volksentscheid über eine von ihnen gewünschte Änderung der Verfassung verlangen. Damit eine Initiative zustande kommt, braucht es innert einer Sammelfrist von 18 Mona- ten die Unterschriften von 100’000 Stimmberechtigten. Das Volksbegehren kann als all- gemeine Anregung formuliert sein oder – was viel häufiger der Fall ist – als fertig aus- gearbeiteter Text vorliegen, dessen Wortlaut Parlament und Regierung nicht mehr ver- ändern können. Die Behörden reagieren auf eine eingereichte Initiative manchmal mit einem (meist nicht so weit gehenden) Gegenvorschlag – in der Hoffnung, dieser werde von Volk und Ständen eher angenommen. 6 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Seit 1987 gibt es bei Abstimmungen über Volksbegehren die Möglichkeit des doppelten Ja: Man kann also sowohl die Initiative als auch den Gegenvorschlag gutheissen; mit einer Stichfrage wird ermittelt, welcher der beiden Texte in Kraft tritt, falls beide das Volks- und Ständemehr erreichen. Volksinitiativen gehen nicht vom Parlament oder von der Regierung aus, sondern vom Volk. Sie gelten als Antriebselement der direkten Demokratie. − Das Referendumsrecht: Das Volk hat das Recht, über Parlamentsentscheide im Nach- hinein zu befinden. Bundesgesetze, Bundesbeschlüsse, soweit Verfassung oder Gesetz dies vorsehen, sowie gewisse Staatsverträge unterliegen dem fakultativen Referendum: Das heisst, darüber kommt es zu einer Volksabstimmung, falls dies 50’000 Stimmbe- rechtigte verlangen. Die Unterschriften müssen innert 100 Tagen nach der Publikation des Erlasses vorliegen. Das vetoähnliche Referendumsrecht wirkt für den politischen Prozess insgesamt verzögernd und bewahrend, indem es vom Parlament oder von der Regierung ausgehende Veränderungen abblockt oder ihre Wirkung hinausschiebt – man bezeichnet das Referendumsrecht darum häufig als Bremse in der Hand des Volkes. − Das Petitionsrecht: Alle urteilsfähigen Personen – also nicht allein Stimmberechtigte – haben das Recht, schriftlich Bitten, Anregungen und Beschwerden an Behörden zu richten. Diese sind verpflichtet, solche Petitionen zur Kenntnis zu nehmen. Eine Antwort darauf ist nicht vorgeschrieben, doch wird in der Praxis grundsätzlich jede Petition behandelt und beantwortet. Gegenstand einer Petition kann jede staatliche Tätigkeit sein. 1.2.2.2 Das Parlament Die beiden Kammern Nationalrat und Ständerat bilden zusammen die legislative Gewalt auf Bundesebene. Die Wahl der Mitglieder im Parlament obliegt den Stimmberechtigten, die alle vier Jahre erfolgt (Art. 145 BV). Die Verteilung der Sitze im Nationalrat richtet sich nach der Bevölkerungsstärke der Kantone (Art. 149 Abs. 4 BV), der Ständerat hingegen setzt sich unabhängig davon aus grundsätzlich je zwei Abgeordneten pro Kanton zusammen (siehe Art. 150 Abs. 2 BV). Die beiden Kammern sind gleichberechtigt, d.h. keine Kammer kann ohne die Zustimmung der andern etwas beschliessen (Art. 148 Abs. 2 BV). Die überwiegende Zahl der zu behandelnden Geschäfte (Bundesgesetze, Bundesbeschlüs- se, Kenntnisnahme von Berichten des Bundesrates) wird von den beiden Räten getrennt behandelt (Art. 156 Abs. 1 BV). Die beiden Ratspräsidenten, die jedes Jahr neu gewählt werden, teilen diese Geschäfte dem einen oder andern Rat zur Erstbehandlung zu. Beide Räte bestellen Kommissionen (Art. 153 Abs. 1 BV), welche die ihnen zugewiesenen Geschäfte vorberaten. Nach Beendigung ihrer Arbeit erstatten sie ihrem Rat Bericht und stellen Anträge. Die von den Kommissionen vorbereiteten Geschäfte werden während den Sessionen vom Ratsplenum diskutiert und verabschiedet. Das Ergebnis dieser Beratung wird dem andern Rat zur Behandlung und Beschlussfassung überwiesen. Abweichende Beschlüsse gehen im sogenannten Differenzbereinigungsverfahren an den ersten Rat zurück. All diese Rege- lungen finden sich im Bundesgesetz über die Bundesversammlung (ParlG). 7 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen National- und Ständerat obliegen unter anderem folgende Aufgaben: − Gesetzgebung (Art. 164 BV) − Genehmigung völkerrechtlicher Verträge (Art. 166 BV) − Beschlüsse über Ausgaben des Bundes, Festsetzung des Voranschlags und Abnahme der Staatsrechnung (Art. 167 BV) − Wahl des Bundesrates, der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers, der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts sowie des Generals (Art. 168 BV) − Oberaufsicht über die anderen Bundesbehörden (Art. 169 BV) Den Parlamentsmitgliedern sind konkrete Mittel vorgegeben, wie sie auf die Beschluss- fassung ihres Rates Einfluss nehmen können. Man unterscheidet hier den Antrag, die parlamentarische Initiative, die Motion, das Postulat, die Interpellation und die Anfrage: − Antrag: Der Antrag gibt jedem Ratsmitglied die Möglichkeit, Änderungen zu einem in Beratung stehenden Geschäft vorzuschlagen. − Parlamentarische Initiative: Mit einer parlamentarischen Initiative kann vorgeschlagen werden, dass eine Kommission einen Entwurf für einen Erlass der Bundesversammlung ausarbeitet. Dieses Recht steht jedem Ratsmitglied und jeder Fraktion zu. Kommissio- nen können mit einer parlamentarischen Initiative ihrem Rat direkt Erlassentwürfe unterbreiten. Lehnt der Rat eine parlamentarische Initiative ab, wird sie abgeschrieben. Stimmt der Rat einem von der zuständigen Kommission ausgearbeiteten Erlassentwurf zu, überweist er ihn dem anderen Rat zur Beratung. − Motion: Die Motion beauftragt den Bundesrat verbindlich, einen Gesetzes- oder Be- schlussentwurf vorzulegen oder eine Massnahme zu treffen. Findet ein Motions- vorschlag die Zustimmung des Rates, in dem er eingereicht wurde, geht die Motion an die andere Kammer. Erst wenn auch diese zugestimmt hat, wird die Motion für den Bundesrat verbindlich. − Postulat: Das Postulat beauftragt den Bundesrat, zu prüfen, ob ein Gesetzes- oder Be- schlussentwurf vorzulegen oder eine Massnahme zu treffen ist, und darüber einen Bericht vorzulegen. Findet ein Postulatsvorschlag die Zustimmung des Rates, in dem er eingereicht wurde, wird das Postulat dem Bundesrat überwiesen. Eine Zustimmung des zweiten Rates ist nicht erforderlich. − Interpellation: Die Interpellation gibt den Mitgliedern der Bundesversammlung die Möglichkeit, vom Bundesrat Auskunft über wichtige innen- und aussenpolitische Ereignisse und über Angelegenheiten des Bundes zu verlangen, wobei der Interpellant oder die Interpellantin im Rat eine Diskussion darüber verlangen kann. − Anfrage: Die Anfrage gibt den Mitgliedern der Bundesversammlung gleich wie die Inter- pellation die Möglichkeit, vom Bundesrat Auskunft über wichtige innen- und aussenpoli- tische Ereignisse und über Angelegenheiten des Bundes zu verlangen, wobei Anfragen im Gegensatz zu Interpellationen im Rat nicht behandelt werden. 8 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen − Fragestunde: Die Fragestunde dient der Behandlung aktueller Fragen. Sie findet zwei- mal pro Session ausschliesslich im Nationalrat statt. Jedem Ratsmitglied steht das Recht zu, dem Bundesrat schriftlich eine kurze Frage zu stellen, die vom zuständigen Bundesratsmitglied in der kommenden Sessionswoche im Nationalrat mündlich beant- wortet wird. Das Ratsmitglied, das die Frage eingereicht hat, darf mündlich eine sachbe- zogene Zusatzfrage stellen, die sofort beantwortet wird. 1.2.2.3 Die Regierung Die Regierung des Bundesstaates Schweiz ist der Bundesrat. Dieser zählt sieben Mitglieder. Die Mitglieder des Bundesrates werden nach jeder Gesamterneuerung des Nationalrates von der vereinigten Bundesversammlung (gemeinsame Sitzung von National- und Ständerat) neu gewählt (Art. 175 Abs. 2 BV). Die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates ist seit 1. Januar 2016 (Stand Juli 2024): 2 FDP, 2 SP, 2 SVP, 1 Die Mitte. Die Mitglieder des Bundesrates stehen je einem Departement vor. Der Bundesrat verteilt die Departemente unter sich (Art. 177 Abs. 2 und 3 BV). Die Beschlüsse des Bundesrates sind Kollegialbeschlüsse, d.h. alle Mitglieder tragen die Beschlüsse mit und sollten ihre persönliche Meinung in der Öffentlichkeit nicht äussern (Kollegialitätsprinzip - Art. 177 Abs. 1 BV). Als Stabstelle ist dem Bundesrat die Bundeskanzlei zugeordnet. Sie wird von einer Bundes- kanzlerin oder einem Bundeskanzler geleitet (Art. 179 BV). Im Gegensatz zu ausländischen Beispielen ist die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler der Schweiz weder Leitung noch Teil der Regierung, nimmt aber an den Verhandlungen der Regierung (des Bundesrates) mit beratender Stimme teil. FDP = FDP.Die Liberalen; SP = Sozialdemokratische Partei; SVP = Schweizerische Volkspartei; Die Mitte = Fusion der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) mit der Bürgerlich-Demokra- tischen Partei (BDP). 1.2.2.4 Das Gericht Auf Bundesebene wird die oberste judikative Gewalt durch das Bundesgericht ausgeübt. Die Hauptaufgabe des Bundesgerichts besteht in der Beurteilung von Rechtmitteln, die gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide in Rechtssachen des Bundes ergriffen werden. Durch seine Urteile, die es als letzte schweizerische Instanz fällt, kann das Bundesgericht eine einheitliche Anwendung des materiellen Bundesrechts fördern. Die 40 Richter:innen und die 18 nebenamtlichen Richter:innen erfüllen ihre Aufgaben in einer der acht Abteilungen des Gerichts in Lausanne oder in Luzern. Sie werden dabei von rund 160 Gerichtsschreiber:innen und gut 190 weiteren Mitarbeitenden unterstützt. Das Bundesgericht kann in der Regel erst angerufen werden, wenn ein letztinstanzliches kantonales Urteil oder ein Entscheid des Bundesstraf-, Bundesverwaltungs- oder Bundes- patentgerichts vorliegt. Das Bundesgericht ist in der Schweiz für praktisch sämtliche Rechtsbereiche letztinstanzlich zuständig. 9 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Die Bundesrichter:innen werden von der vereinigten Bundesversammlung für eine Amts- dauer von sechs Jahren gewählt. Die Präsidentin oder der Präsident und der Vizepräsident oder die Vizepräsidentin werden alle zwei Jahre ebenfalls vom Parlament gewählt. Da die Gerichtsorganisation auf kantonaler Ebene grundsätzlich Sache der Kantone ist, haben die jeweiligen Gerichte in den Kantonen unterschiedliche Namen, obwohl sie ver- gleichbare Aufgaben erfüllen. 1.2.3 Die politischen Parteien und ihre Bedeutung Parteien sind politische Gesinnungsgruppen, die auf die Gestaltung des Staates Einfluss ausüben wollen. Die Bundesverfassung trägt der besonderen Rolle der Parteien im politi- schen Prozess Rechnung, indem sie diese als Mitwirkende an der Meinungs- und Willens- bildung des Volkes speziell erwähnt (Art. 137 BV). Ihre konkreten Aufgaben und ihre Orga- nisation sind aber weder in der Verfassung noch gesetzlich geregelt. Parteien sind in der Regel in der Rechtsform eines Vereins organisiert. Sie verfügen über Statuten, in denen die wichtigsten Ziele und die Organisationsstruktur festgelegt sind. Parteien erfüllen wichtige Aufgaben: − Sie beeinflussen die politische Willensbildung durch Parteiprogramme, Parteitage, Stellungnahmen in den Medien, öffentliche Diskussionen und Veranstaltungen, z.B. Demonstrationen. − Sie mobilisieren die Bürger bei Wahlen und Abstimmungen. − Sie sind ein Bindeglied zwischen dem Volk und den staatlichen Einrichtungen. − Sie beteiligen sich mit von Ihnen ausgewählten Kandidierenden an den Wahlen für Par- lamente, Regierungen und Gerichte. Obwohl die Parteizugehörigkeit keine Wahlvoraus- setzung ist, werden in der Regel nur Personen gewählt, die von einer Partei unterstützt werden. Auch bei der Besetzung hoher Verwaltungsstellen durch die Regierung spielt die Parteizugehörigkeit oft eine wichtige Rolle. Die vier Bundesratsparteien (Stand Juli 2024) und wofür sie (ein)stehen: FDP. Die Liberalen (FDP) Die FDP setzt sich für eine liberale Wirtschaftsordnung und günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft ein. Dazu gehören für sie möglichst wenig staatliche Eingriffe in den Markt und niedrige Steuern, aber auch ein leistungsfähiges Bildungssystem und gut ausgebaute Infrastrukturen. In der Aussenpolitik vertritt die FDP gegenüber der EU und internationalen Organisationen eine vorwiegend integrationsfreundliche Haltung. Sozialdemokratische Partei (SP) Die SP tritt ein für einen weiteren Ausbau des Sozialstaates, den Schutz der sozial Schwä- cheren und der Umwelt sowie für einen Staat, der mit Förderungsprogrammen in die Ge- staltung der Wirtschaft eingreift. Der Staat soll durch Gesetze und Vorschriften die soziale Gerechtigkeit und materielle Sicherheit verwirklichen. Aussenpolitisch ist sie für eine aktive schweizerische Rolle (vor allem auch in der Entwicklungspolitik) und für einen Beitritt zur EU. 10 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Schweizerische Volkspartei (SVP) Wie die FDP setzt sich die SVP für eine freie Marktwirtschaft ein. In der Landwirtschafts- politik unterstützt sie jedoch, ähnlich wie die Mitte, massive staatliche Eingriffe zum Schutz der Bauern. In aussenpolitischen Fragen setzt sich die SVP für die Souveränität der Schweiz und den uneingeschränkten Erhalt der direkten Demokratie ein. Sie ist gegen eine Integra- tion in supranationale Organisationen. Gesellschaftspolitisch vertritt sie konservative Posi- tionen. Sie ist für eine Einschränkung der Zuwanderung und gegen neue Gesetze und Re- gulierungen, die höhere Steuern und Gebühren mit sich bringen. Die Mitte Die Mitte setzt sich für eine soziale Marktwirtschaft mit staatlichen Interventionen zuguns- ten der Arbeitnehmenden, des Gewerbes und der Landwirtschaft ein. In Fragen der Lebensgestaltung und Erziehung vertritt sie eher konservative Positionen; der Schutz der Familie ist ihr ein besonders wichtiges Anliegen. In der Europapolitik vertritt die Mitte eine gemässigt integrationsfreundliche Haltung. Notizen 11 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.2.4 Die Entstehung eines Bundesgesetzes 1. Jemand macht den ersten Schritt: zum Beispiel einzelne Stimmberechtigte oder Inter- essensgruppen, Parlamentsmitglieder oder Teile der Verwaltung, Kantone oder der Bundesrat – oder wer auch immer ein neues Gesetz für nötig hält. 2. Der erste Entwurf. Der Bundesrat setzt oft eine 10- bis 20-köpfige Kommission ein. Diese besteht auch aus Vertretenden der an der neuen Regelung Interessierten und hat die Aufgabe, einen ersten Gesetzesentwurf zu formulieren. 3. Die Vernehmlassung. Der Entwurf geht zur sogenannten Vernehmlassung an die Kan- tone, Parteien und Verbände sowie an weitere besonders interessierte Gruppierungen. Sie alle können dazu Stellung nehmen und Änderungsvorschläge machen. 4. In der Verwaltung. Die Bundesverwaltung überarbeitet den Entwurf und unterbreitet diesen dem Bundesrat. 5. Im Bundesrat. Der Bundesrat überprüft den Text; entweder weist er ihn zur nochma- ligen Bearbeitung zurück oder er überweist ihn als Botschaft zur parlamentarischen Behandlung an den Nationalrat und den Ständerat. 6. Die erste Kommission. Die Ratspräsident:innen entscheiden, in welcher Kammer der neue Gesetzestext zuerst zur Debatte kommt. Eine vorberatende Kommission des ent- sprechenden Rats – meist ist es eine der neun ständigen Sachbereichskommissionen – diskutiert den Text und stellt ihn und ihre Überlegungen dazu dem gesamten ersten Rat vor. 7. Die Behandlung in der ersten Kammer. Der Erstrat hat drei Möglichkeiten: Er kann erstens das neue Gesetz für überflüssig halten und darauf nicht eintreten. Er kann zweitens den Text zur Überarbeitung an den Bundesrat oder an die Kommission zurückweisen, das heisst, einen neuen Entwurf verlangen. Er kann drittens auf die Vorlage des Bundesrats eintreten, das Gesetz im Detail beraten und schliesslich einen Entscheid fällen. 8. Die zweite Kommission. Dieses Vorgehen wiederholt sich in der zweiten Kammer. Zu- nächst begutachtet die entsprechende vorberatende Kommission den von der ersten Kammer verabschiedeten Text. 9. Die Behandlung in der zweiten Kammer. Dann befindet der gesamte zweite Rat darüber; er hat dabei dieselbe Wahl wie der erste Rat: Er kann das neue Gesetz durch Nichteintreten grundsätzlich ablehnen, er kann es an den Bundesrat oder an seine Kommission zurückweisen, er kann es Punkt für Punkt beraten und einen Beschluss fassen. 10. Die Differenzbereinigung in der ersten Kammer. Falls die Beschlüsse von National- und Ständerat voneinander abweichen, kommt es zum sogenannten Differenzbereinigungs- verfahren. Die Kommission des ersten Rats beurteilt die einzelnen Unterschiede und macht daraufhin dem Gesamtrat einen Vorschlag – zum Beispiel in einem Punkt die 12 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Version des Zweitrats gutzuheissen, in einem anderen aber auf der eigenen Fassung zu beharren. 11. Die Differenzbereinigung in der zweiten Kammer. Nach der Diskussion und Abstimmung im ersten Rat befasst sich die vorberatende Kommission des zweiten Rats mit den noch verbleibenden Differenzen und stellt ihrem gesamten Rat einen Antrag. 12. Die Einigungskonferenz. Wenn es nach drei Beratungen je Rat immer noch unterschiedliche Versionen des neuen Gesetzestextes gibt, tritt die Einigungskonferenz zusammen – sie besteht aus Mitgliedern der beiden Kommissionen von National- und Ständerat – und sucht einen Kompromiss. 13. Die Schlussabstimmungen in den beiden Kammern. Der schliesslich gefundene Kom- promissvorschlag kommt in beiden Räten zur Schlussabstimmung. 14. Das fakultative Referendum. Das vom Parlament beschlossene neue Gesetz tritt in Kraft, falls nicht innerhalb von 100 Tagen das Referendum ergriffen wird. Damit dieses gültig ist, braucht es die Unterschriften von 50’000 Stimmberechtigten, die eine Volks- abstimmung verlangen. 15. Die Volksabstimmung. Eine Volksabstimmung ist bei Gesetzen fakultativ – das heisst, sie wird durchgeführt, falls das Referendum dagegen zustande kommt. Für Verfas- sungsänderungen hingegen ist die Volksabstimmung obligatorisch. 16. Das Inkrafttreten. Wird das Referendum nicht ergriffen oder wird das Gesetz in der Re- ferendumsabstimmung angenommen, wird es in der amtlichen Sammlung mit dem Hinweis auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens veröffentlicht. Wird das Gesetz in der Re- ferendumsabstimmung abgelehnt, tritt es nicht in Kraft. Für Verfassungsänderungen ist nicht allein die Zustimmung der Mehrheit der Stimmenden nötig, sondern auch die Mehrheit der Stände (Kantone). Notizen 13 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Nachfolgende Darstellung verbildlicht das komplizierte Gesetzgebungsverfahren etwas: 14 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.3 DER AUFBAU DER RECHTSORDNUNG Deklaration der Lernziele Richt- oder Lernziel erfüllt − Sie können Ursprung und Wesen des «Rechts» verständlich erklären. − Sie können den Aufbau der Rechtsordnung verständlich beschreiben. − Sie können Funktion und Einteilung der Grundrechte verständlich auf- zeigen. − Sie sind in der Lage, den Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht verständlich zu erklären und rechtliche Sachverhalte diesen beiden Hauptgruppen des Rechts korrekt zuzuordnen. 1.3.1 Ursprung und Wesen des Rechts Die Einsicht, dass ohne gewisse Regeln das menschliche Zusammenleben nicht funktio- nieren kann, ist sehr alt. Aus dieser Einsicht ist im Verlaufe der Jahrhunderte das geworden, was wir heute den Rechtsstaat nennen. Obwohl für uns der Umgang mit Gesetzen, d.h. mit geschriebenem Recht, zur Selbstverständlichkeit geworden ist, hatten die wenigsten früheren Kulturen geschriebenes Recht. Die Entwicklung, dass man Rechtssätze aufschreibt und dass diese nur Geltung haben, wenn sie in schriftlicher Form (z.B. als «Gesetzbuch») veröffentlicht worden sind, ist relativ neu. Rechtsstaat: Ein Rechtsstaat zeichnet sich im Wesentlichen durch folgende drei Elemente aus: 1. Das Legalitätsprinzip: Dieses Prinzip besagt, dass die Organe des Staates streng an das Gesetz und die Verfassung gebunden sind. Der Staat darf bspw. ohne gesetzliche Grundlage nicht in die Rechte einer Person eingreifen. 2. Die Gewaltentrennung: siehe dazu vorne in Kapitel 1.2.1 «Der Bundesstaat». 3. Die Beachtung von Grundrechten: siehe dazu hinten Kapitel 1.3.3 «Die Grundrechte». Lange Jahrhunderte hindurch wurde das, was Recht war, mündlich überliefert. Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz begann man erst Anfang des 19. Jahrhunderts Gesetze in Form von Büchern aufzuschreiben. Das kontinentaleuropäische Recht ist sehr stark vom römischen Recht beeinflusst. In der Zeit um die Geburt Christi bis rund zwei Jahrhunderte danach erreichte das römische Recht seine Blütezeit. Mit dem Verschwinden des (West-)Römischen Reiches verlor das römische Recht an Bedeutung. Erst im Mittelalter entdeckte man in den Klöstern wieder Schriften von berühmten römischen Juristen. Diese Aufzeichnungen beeinflussten dann die europäischen Juristen im 18. und 19. Jahrhundert sehr stark, sodass viele rechtliche Regelungen der Römer zu geltendem Recht in Europa und der Schweiz wurden. Mittels Recht wird Ordnung geschaffen, sodass das Zusammenleben der Menschen im Idealfall reibungslos funktioniert. Recht besteht aus Verhaltensregeln, deren Beachtung vom Staat erzwungen werden kann. Natürlich ist es ein generelles Anliegen des Rechts- staats, dass diese Verhaltensregeln den Einzelfall möglichst gerecht regeln. Dabei gilt ins- besondere, unterschiedliche Interessen gegenseitig abzugrenzen. 15 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Da nicht für jeden konkreten Einzelfall eine Regel erstellt werden kann, müssen allgemeine Gesetze auf den konkreten Einzelfall angewandt werden. Zwangsläufig spielen dabei immer auch persönliche Wertungen der Richter:innen eine Rolle. Dass diese Wertungen nicht in jedem Fall von allen Beteiligten als gerecht empfunden werden, liegt in der Natur der Sache. Wenn nun aber ein Urteil als unhaltbar erscheint, kann es grundsätzlich bei der nächsthöheren Instanz angefochten werden. 1.3.2 Verfassung, Gesetz, Verordnung Mehrmals schon war von Gesetzen oder der Bundesverfassung die Rede. Die Bundesver- fassung (BV) ist so etwas wie das Grundgesetz. Sie enthält die wichtigsten Grundregeln, die in der Schweiz gelten. Die Bundesverfassung darf nur mit Zustimmung von Volk und Stän- den geändert werden (vgl. 1.2.2.1 Das Volk). Die Gesetze führen die Verfassungsartikel näher aus. Gesetze werden vom Parlament auf- grund der Verfassung erlassen. Sie müssen grundsätzlich eine verfassungsmässige Grundlage haben. Der Begriff «Gesetz» wird verschieden gebraucht. Oft meint man damit die Summe aller Vorschriften oder Normen, die in einem Staat gelten. Formal zählen aber nur diejenigen Erlasse zu den Gesetzen, die von einem Parlament ausgehen. Verordnungen schliesslich sind die Ausführungsbestimmungen zu den Gesetzen und wer- den grundsätzlich von der Exekutive, im Bund also vom Bundesrat, erlassen. Zeitlich gesehen muss aufgrund dieses Aufbaus also zuerst eine Verfassungsnorm geschaffen werden (sofern noch keine passende existiert), danach entstehen ein Gesetz und schliesslich eine Verordnung. Es versteht sich von selbst, dass die Verordnung nicht gegen das Gesetz und das Gesetz nicht gegen die Verfassung verstossen darf, wobei Bundesgesetze und Völkerrecht in jedem Fall angewandt werden müssen. 1.3.3 Die Grundrechte Ein Element des Rechtsstaates sind die Grundrechte. Grundrechte sind die von der Verfas- sung und von internationalen Menschenrechtskonventionen gewährleisteten grundle- genden Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Man unterscheidet drei Arten von Grundrechten: die Freiheitsrechte, die Rechtsgleichheit und die rechtsstaatlichen Garantien sowie die sozialen Grundrechte. Ein Eingriff in die Grundrechte braucht immer eine rechtliche Grundlage, muss durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig sein, wobei der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar ist (Art. 36 BV). Die Freiheitsrechte schützen jede einzelne Person in ihrer Freiheitssphäre gegenüber Ein- griffen des Staates. Freiheitsrechte sind jene Rechte des Individuums, in die der Staat nicht eingreifen darf bzw. nur unter den in Art. 36 BV genannten Voraussetzungen. 16 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Die Bundesverfassung garantiert folgende Freiheitsrechte ausdrücklich: − Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit (Art. 10 BV): Niemandem darf ohne seinen Willen in die physische Freiheit (Gesundheit, Bewegungsfreiheit) oder in die psychische Freiheit (Willens- und Entscheidungsfreiheit) eingegriffen werden. − Recht auf Ehe und Familie (Art. 14 BV): Niemand darf durch staatliche Massnahmen beeinträchtigt werden, eine Ehe einzugehen oder eine Familie zu gründen. − Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV): Recht jeder einzelnen Person, in ihrer religiösen Überzeugung sowie in deren Verbreitung nicht durch staatliche Vorschriften eingeschränkt zu werden. − Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV): Alle dürfen ihre Meinung haben und diese frei äussern und verbreiten. Allgemein zugängliche Quellen dürfen von jeder Person frei empfangen werden. Allerdings berechtigt die Meinungsfreiheit nicht etwa zur Ehrverletzung oder ähnlichen Delikten. − Medienfreiheit (Art. 17 BV): Die freie Verbreitung von Informationen und Darbietungen ist gewährleistet (bspw. keine vorgängige Zensur). − Sprachenfreiheit (Art. 18 BV): Alle haben das Recht, ihre Muttersprache zu sprechen. − Wissenschaftsfreiheit (Art. 20 BV): Niemand darf in seiner wissenschaftlichen Lehre und Forschung durch staatliche Massnahmen gehindert werden. − Kunstfreiheit (Art. 21 BV): Jede Person hat das Recht, künstlerisch tätig zu werden. − Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV): Der Staat darf nicht Massnahmen gegen die Ein- berufung, die Organisation oder Durchführung von Versammlungen treffen. − Vereinigungsfreiheit (Art. 23 BV): Man darf ohne Beeinträchtigung des Staates Vereini- gungen gründen, an Vereinigungstätigkeiten teilnehmen, einer Vereinigung beitreten bzw. aus einer Vereinigung austreten. − Niederlassungsfreiheit (Art. 24 BV): Recht aller Schweizer:innen, sich an jedem Ort des Landes niederzulassen. Keine Schweizer Bürger:innen dürfen aus der Schweiz ausge- wiesen werden. − Eigentumsgarantie (Art. 26 BV): Das Privateigentum wird geschützt. Damit wäre eine generelle Ersetzung des Eigentums durch staatliche Nutzungsrechte (vgl. kommunistische Staaten) nicht vereinbar. Wenn aus irgendeinem öffentlichen Interesse enteignet werden muss, so hat die enteignete Person Anspruch auf Entschädigung. Anspruch auf finanzielle Abgeltung für die Enteignung hat nicht nur, wem bspw. Land weggenommen wird (= formelle Enteignung), sondern auch wem der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Gebrauch einer Sache vom Staat untersagt oder besonders schwer eingeschränkt wird, oder wer durch öffentliches Handeln wirtschaftlich mehr benachteiligt ist, als alle anderen, also ein Sonderopfer erbringen muss (materielle Enteignung). − Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV): Geschützt wird die private Tätigkeit, die auf Erwerb aus- gerichtet ist. Die Wirtschaftsfreiheit umfasst insbesondere die freie Wahl des Berufes sowie den freien Zugang zu einer privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit und deren freie Ausübung. − Koalitionsfreiheit (Art. 28 BV): Die Arbeitnehmer:innen und die Arbeitgeber:innen sowie ihre Organisationen haben das Recht, sich zum Schutz ihrer Interessen zusammenzu- schliessen, Vereinigungen zu bilden und solchen beizutreten oder fernzubleiben. 17 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Die Rechtsgleichheit und die rechtsstaatlichen Garantien geben dem Individuum einen Anspruch, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben gleich und gerecht behandelt zu werden. Sie beinhalten das Verbot der formellen Rechtsverweigerung und den Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) stand in der Vergangenheit vor allem wegen der Gleichbe- rechtigung von Mann und Frau in der Diskussion. So musste der Kanton Appenzell Inner- rhoden den Frauen deshalb den Zugang zur Landsgemeinde gewähren, weil dies nach An- sicht des Bundesgerichtes die Rechtsgleichheit erfordert. Für die Arbeitswelt ist Art. 8 Abs. 3 Satz 3 BV besonders von Bedeutung, weil dort der gleiche Lohn von Mann und Frau für gleichwertige Arbeit verankert ist. Die sozialen Grundrechte sind in der Verfassung verankerte Ansprüche der einzelnen Person auf staatliche Leistungen. Grundsätzlich begegnet man hierzulande der Einräumung von sozialen Grundrechten mit Skepsis (Verwerfung eines Rechts auf Wohnung 1970, Verwerfung eines Rechtes auf Bildung 1973). Die wichtigsten Beispiele für soziale Grundrechte in der Schweiz sind das Recht auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) und der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht (Art. 19 BV). Notizen 18 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.3.4 Öffentliches Recht – Privatrecht Die Rechtsordnung wird in zwei Hauptgruppen aufgeteilt. Man unterscheidet zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Die einzelnen Gesetze werden jeweils einem dieser Bereiche zugeordnet. Die Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht hat Konsequenzen für den Prozessweg, denn je nachdem muss dieses oder jenes Gericht angerufen werden. Zusätzlich gelten bei den jeweiligen Verfahren teilweise andere Rechtsgrundsätze. Das öffentliche Recht regelt grundsätzlich die Rechtsbeziehung zwischen dem Staat als Inhaber der hoheitlichen Gewalt und den übrigen Rechtssubjekten. Beispiel: Jemand will auf seinem Grundstück ein Gewerbegebäude bauen. Diese Person hat dazu ein Baubewilligungsgesuch einzureichen. Ihr Projekt muss den gesetzlichen Anforderungen der Raumplanung entsprechen. Unter Umständen ist eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen. All dies sind Vorschriften des öffentlichen Rechts, da sie der Staat der einzelnen Person, konkret der Bauherrschaft, auferlegt. Das Privatrecht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen den Personen untereinander. Beispiel: Zwecks Baus des obigen Gewerbegebäudes schliesst die Bauherrschaft zahl- reiche Verträge ab. Sie beauftragt zuerst ein Architekturbüro mit der Projektie- rung. Dann wird eine Bauunternehmung mit den Aushub- und Maurerarbeiten betraut. Schliesslich kommen weitere Handwerksbetriebe zum Einsatz. Bei Streitigkeiten zwischen den Handwerksbetrieben und der Bauherrschaft kommt Privatrecht zur Anwendung. Das Zivilgesetzbuch (ZGB) und das Obligationenrecht (OR) sind die wichtigsten zwei Gesetze, die klar dem Privatrecht zugeordnet werden können. Andere Gesetze wie Strafgesetz, Ausländerrecht, Asylrecht, Steuergesetz usw. fallen unter das öffentliche Recht. Notizen 19 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.4 DIE RECHTSPFLEGE Deklaration der Lernziele Richt- oder Lernziel erfüllt − Sie können die verschiedenen Verfahrensarten überblickmässig beschrei- ben, die Grundsätze, von denen diese beherrscht werden, nachvollziehbar erläutern und klar unterscheiden, wann welches Verfahren zur Anwendung gelangt. 1.4.1 Allgemeines Um festzustellen, wer Recht hat, braucht es einen Weg, wie dabei zu verfahren ist. Eine Verfahrensordnung ist notwendig. Das Gebot der Rechtssicherheit und der Schutz vor Will- kür verlangen, dass die Verfahrensordnung genau festgelegt ist und formell streng ange- wandt wird. Nur so können die Parteien und Behörden Prozesse führen und ihre Erfolgs- aussichten einigermassen abschätzen. Der Nachteil dabei ist allerdings, dass die Verfahren relativ kompliziert und langwierig sind. 1.4.2 Zivil-, Straf-, Verwaltungsverfahren Die Schweizer Rechtsordnung kennt grundsätzlich drei verschiedene Verfahrensarten. Es sind dies − der Zivilprozess − der Strafprozess − das Verwaltungsverfahren Für diese einzelnen Verfahren sind jeweils andere Behörden zuständig und sie werden teil- weise auch von anderen Prinzipien beherrscht. 1.4.2.1 Der Zivilprozess Ein Zivilprozess liegt immer dann vor, wenn es darum geht, Ansprüche aus dem Privatrecht durchzusetzen (ZGB, OR). Dabei sind immer zwei gleichberechtigte Parteien vorhanden, die eine Streitigkeit vor den Richter tragen. Beispiele: In einer Ehescheidung klagt der eine Ehegatte gegen den anderen auf Schei- dung. Folglich sind die Ehegatten die Parteien. In einer Streitigkeit vor Arbeitsgericht klagt bspw. ein Arbeitnehmer die Arbeit- geberin ein. Hier bilden Arbeitgeberin und Arbeitnehmer die gleichberechtigten Parteien. 20 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen Verfahrensgrundsätze: Im Zivilprozess beurteilt das Gericht grundsätzlich nur die Sachen, die von den Parteien vorgetragen werden. Das Gericht darf deswegen beispielsweise nicht über die Anträge der Parteien hinausgehen, sondern muss die Rechtslage so beurteilen, wie sie die Parteien ihm schildern. Es sind die Parteien, die bestimmen, wann sie was gegen wen vor Gericht geltend machen. Beispiel: «Vergisst» in einem Prozess eine Partei, sich auf die Verjährung zu berufen, so darf das Gericht die Verjährung nicht von Amtes wegen beachten. Es muss der anderen Partei die Forderung zusprechen. Verfahrensablauf: Einem Zivilprozess geht grundsätzlich ein Schlichtungsverfahren oder eine Mediation voraus. In der Regel wird anschliessend – kommt es zu keiner Einigung – die streitige Angelegenheit mittels einer Klage vor ein Gericht gebracht. Nachdem die Parteien die Beweise vorgelegt haben, entscheidet das Gericht und erlässt daraufhin das Urteil, das dann eventuell an die nächsthöhere Instanz weitergezogen werden kann. Klage: Die Klage muss meistens schriftlich abgefasst werden und enthält ein Begehren («Der Beklagte soll CHF 10'000.-- bezahlen») und eine entsprechende Begründung. Die Beweismittel müssen ebenfalls angegeben werden. Der Beklagte erhält grundsätzlich Gelegenheit, zur Klage Stellung zu nehmen. Beweis: Als Beweismittel kommen normalerweise Urkunden (= Schriftstücke), Parteiaussagen und Zeugenaussagen (beides unter Wahrheitspflicht), Expertisen (bspw. wird ein Arzt oder eine Ärztin zur Beurteilung der Höhe eines «Körperschadens» beigezogen) und Augenscheine (das Gericht schaut sich persönlich am Schauplatz des Geschehens um) infrage. Inwieweit ein Beweismittel den Beweis tatsächlich erbringt, beurteilt das Gericht, d.h. es nimmt eine Beweiswürdigung vor. Es ist also denkbar, dass es einen Zeugen für unglaubwürdig hält und deswegen seiner Aussage keine Beweiskraft zuerkennt. Die Beweiswürdigung darf aber nicht willkürlich erfolgen. 1.4.2.2 Der Strafprozess Der Strafprozess kommt zur Anwendung, wenn jemand gegen das Strafgesetzbuch oder ein Nebenstrafgesetz (Bsp.: Strassenverkehrsgesetz) verstossen hat. Parteien sind norma- lerweise der Staat im Gewand der Staatsanwaltschaft und die fehlbare Person. Verfahrensgrundsätze: Hier muss das Gericht die absolute Wahrheit herausfinden, d.h. es kann sich nicht mit dem begnügen, was die Parteien vorbringen. Der ganze Verfahrensab- lauf ist dem Parteiwillen weitgehend entzogen. Die Behörden (Polizei und Staatsanwalt- schaft) werden grundsätzlich von Amtes wegen tätig und nicht erst, wenn sie von einer Par- tei angerufen werden (ausser es handelt sich um sogenannte Antragsdelikte). Verfahrensablauf: Einem Strafprozess geht zuerst ein eingehendes Ermittlungsverfahren voraus. Dieses wird von den Behörden (Polizei und Staatsanwaltschaft) durchgeführt. Ist das Verfahren soweit gediehen, dass ein Überblick über die Tatbestände besteht, so wird beim zuständigen Gericht Anklage erhoben und das eigentliche Strafprozessverfahren durchgeführt, das mit einem Urteil (Bestrafung, Freispruch) endet, aber auch weiterge- zogen werden kann. 21 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.4.2.3 Das Verwaltungsverfahren Beim Verwaltungsverfahren geht es um die Anwendung von öffentlichem Recht bzw. Ver- waltungsrecht. Parteien sind hier der Staat im Gewand einer Verwaltungsbehörde (Bun- desamt, kantonale Amtsstelle, sozialversicherungsrechtliche Instanz wie Ausgleichskasse oder Arbeitsamt) einerseits und die betroffene Person andererseits. Verwaltungsrecht: Zum Verwaltungsrecht gehören Steuerrecht, Raumplanungsrecht, Baurecht, Sozialversicherungsrecht, Umweltschutzrecht usw. Verfahrensgrundsätze: Auch hier kann die Behörde oft von Amtes wegen tätig werden und ist an die Parteianträge nicht gebunden. Zusätzlich taucht hier das Institut der Verfügung auf. Das gesamte rechtsrelevante Handeln von Verwaltungsbehörden wird grundsätzlich in die Form einer Verfügung gekleidet, die durch ein Rechtsmittel anfechtbar ist. Man will damit der Gefahr der Willkür des Staates gegenüber dem Individuum Einhalt gebieten. Verfügungen können sein: Bewilligung zur Führung eines gastgewerblichen Betriebes, Renten- verfügung der AHV, Führerausweisentzug des Strassenverkehrsamtes, Steuerveranlagung durch die Steuerbehörde usw. Rechtsmittel: Mit einem Rechtsmittel kann die Überprüfung einer Verfügung durch die zuständige Rechtsmittelinstanz (verfügende Behörde, übergeordnete Behörde, Verwaltungsgericht) verlangt werden. Verfahrensablauf: Beginn eines allfälligen Verwaltungsverfahrens bildet wie erwähnt die Verfügung. Nur dort, wo eine Verfügung vorliegt, besteht auch ein Interesse an deren Über- prüfung durch eine Rechtsmittelinstanz. Wird eine Verfügung innert vorgeschriebener Frist bei der zuständigen Rechtsmittelinstanz angefochten (das Rechtsmittel ergriffen), überprüft die Rechtsmittelinstanz die Verfügung auf ihre Rechtmässigkeit hin. Beispiele: Die Gemeinde erteilt eine Baubewilligung. Der Nachbar des zu bebauenden Grundstücks ist damit nicht einverstanden und erhebt Einspruch. Dieser Ein- spruch wird vom Gemeinderat mittels einer Verfügung abgelehnt. Jetzt hat der Nachbar die Möglichkeit, gegen diese Verfügung Beschwerde beim Verwal- tungsgericht einzureichen. Das kantonale Lebensmittelinspektorat schliesst ein Restaurant wegen diver- sen Verstössen gegen die Lebensmittelgesetzgebung. Die Schliessung hat in Form einer Verfügung zu erfolgen, die bei einer anderen Instanz (Regierungs- rat/Verwaltungsgericht) anfechtbar ist. Notizen 22 Recht 1 Staatsrechtliche Grundlagen 1.4.3 Die Vollstreckung Recht haben und Recht durchsetzen sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Ein Urteil muss in der Praxis auch durchgesetzt werden. Grundsätzlich gilt bei der Vollstreckung Folgendes: − Urteile auf Geldleistung: Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (SchKG) − Urteile auf andere Leistungen: Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) Wann immer eine Geldleistung vollstreckt werden soll, muss dies auf dem Betreibungswege geschehen. Bei den anderen Urteilen gibt es regelmässig ein gerichtliches Vollstreckungsverfahren, es sei denn, das urteilende Gericht hat bereits konkrete Vollstreckungsmassnahmen angeordnet. Ist einmal ein Vollstreckungsentscheid ergangen, so kann man an die eigentlichen Vollstreckungsorgane gelangen. Dies können kantonale Behörden, Gemeindebehörden, kantonale Aufsichtsbehörden oder die Polizei sein. Beispiel: Der Mieter eines Restaurants bezahlt den Mietzins nicht, deswegen wird der Vertrag gekündigt. Nachdem der Mieter diese Kündigung angefochten hat und das Gericht sie für gültig erklärt hat, weigert sich der Mieter trotzdem, das Restaurant aufzugeben. Hat das urteilende Gericht für diesen Fall nicht bereits konkrete Vollstreckungsmassnahmen angeordnet, muss die Eigentümerin nun beim zuständigen Gericht ein Ausweisungsbegehren stellen. Wird dieses gut- geheissen, erhält der Mieter eine Frist, innert der er das Restaurant geräumt haben muss. Danach ist die Eigentümerin berechtigt, den Mieter mithilfe der Polizei und mit Gewalt hinauszuweisen. Notizen 23