Summary

Die Studie untersucht die Industrialisierung, ihre Ursachen und Auswirkungen, sowie die historischen, wirtschaftlichen, und institutionellen Aspekte der Entwicklung. Es werden verschiedene Perspektiven auf die Industrialisierung diskutiert, darunter quantitative und qualitative Analysen. Die Studie erforscht die Bedeutung von technologischem Fortschritt, institutionellen Veränderungen und regionalen Unterschieden bei der Industrialisierung.

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THEMEN https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Unive...

THEMEN https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. XII Energie und Industrie: Wer entfesselte wann und wo Prometheus? 1 Industrialisierung Energie Industrialisierung und Industrie Wenn große Teile der Welt um 1910 anders aussahen als um 1780, dann war die wichtigste Ursache dieser physischen Verwandlung des Planeten die Industrie. Das 19. Jahrhundert war die Epoche der Aus- breitung der industriellen Produktionsweise sowie der damit verbunde- nen Gesellschaftsformen über große Teile der Welt. Es war jedoch nicht die Zeit einer einförmigen und gleichmäßigen Industrialisierung. Wo die Industrie sich verwurzelte und wo dies misslang, spät begonnen oder gar nicht erst versucht wurde – dies waren die jeweils lokalen Weichenstel- lungen, aus denen eine neue Geographie von Zentren und Peripherien, von dynamischen und stagnierenden Regionen entstand. Was aber ist «Industrialisierung»? Dieser so einfach anmutende Begriff löst bis heute Debatten aus. Obwohl der Begriff der Industrialisie- 앚 Kontroversen rung schon seit 1837 im Gebrauch war und derjenige der «Industriellen Revolution», 1799 erstmals belegt, 1884 wissenschaftliche Würden erhielt, haben sich die Historiker auf keinen einheitlichen Wortgebrauch einigen können.1 Die verzweigten Diskussionen über die Industrialisierung sind sehr unübersichtlich: Es gibt keine einzelne Frage, auf die sich die Debat- te konzentrieren würde; vielmehr muss immer wieder neu geklärt werden, worüber man gerade diskutiert. Außerdem trägt es zur Unübersichtlich- keit bei, dass die beteiligten Historikerinnen und Historiker jeweils eigene wirtschaftstheoretische Konzepte an das Thema herantragen. So sehen etwa die einen Industrialisierung als einen Prozess messbaren wirtschaft- lichen Wachstums, der vor allem von technologischen Neuerungen ge- trieben wurde, während andere den institutionellen Wandel für wichtiger https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 910 Energie und Industrie halten, in diesem Wandel einen mitverursachenden Faktor erkennen und sogar den Begriff der «Industriellen Revolution» durch den der «Institu- tionellen Revolution» ersetzen wollen.2 Einig sind sich die Industrialisie- rungsforscher in zwei Punkten: Zum einen lassen sich die industriewirt- schaftlichen und -gesellschaftlichen Veränderungen in der Welt, die um 1900 auf allen Kontinenten zu erkennen waren, auf einen Innovations- schub zurückführen, der seinen Ursprung nach 1760 in England hatte. Dem können selbst diejenigen zustimmen, die diese Innovationen für re- lativ undramatisch und daher den Begriff der industriellen Revolution für übertrieben halten. Zum anderen bestreitet keiner, dass Industrialisie- rung, zumindest in ihren Anfängen, niemals ein nationales, sondern stets ein regionales Phänomen gewesen ist. Auch wer die Bedeutung eines institutionell-rechtlichen Regelungsrahmens, wie ihn im 19. Jahrhundert die Nationalstaaten bereitstellen konnten, hoch bewertet, wird einräu- men, dass Industrialisierung sehr stark an die Ressourcenausstattung be- stimmter Standorte gebunden ist und dass sie nicht notwendig auch auf längere Sicht ganze Nationalgesellschaften prägen muss. Nur wenige Länder auf der Welt waren um 1920 «Industriegesellschaften». Selbst in europäischen Ländern wie Italien, Spanien oder Russland strahlten die Inseln industrieller Entwicklung keineswegs prägend auf die Gesamtge- sellschaft aus.3 Die interessantesten Diskussionen drehen sich heute um folgende Fragen: 앚 Erstens. Neue und raffiniertere Auswertungen des sehr fragmentarischen statistischen Materials haben erwiesen, dass das Wachstum der englischen Wirtschaft im letzten Quartal des 18. und im ersten Quartal des 19. Jahrhunderts langsamer und unregelmäßiger ver- lief, als Vertreter einer Urknall-Theorie seit jeher behauptet hatten. Es hat sich als schwierig erwiesen, Daten für eine dramatische Beschleuni- gung des Wirtschaftswachstums zu finden, sogar in den sogenannten Leitsektoren, etwa der Baumwollindustrie. Wenn aber die Industrialisie- rung selbst in ihren «revolutionären» englischen Anfängen sachte und allmählich begann, dann stellt sich die Frage, aus welchen älteren Konti- nuitäten sie sich entwickelt hat. Einige Historiker gehen inzwischen bis ins Mittelalter zurück und sehen seither mehrere Entwicklungsschübe, in deren Kontinuität die «Industrielle Revolution» sich einreiht. 앚 Zweitens. Selbst die größten Skeptiker, die sich bemü- hen, eine Industrielle Revolution quantitativ unsichtbar zu machen, müs- sen sich der Tatsache stellen, dass es zahllose qualitative Zeugnisse von https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Industrialisierung 911 Zeitgenossen gibt, die in der Ausbreitung der Industrie und ihren gesell- schaftlichen Folgen einen radikalen Umbruch, den Beginn einer «neuen Zeit» sahen. Dies war nicht nur in England und in denjenigen europäi- schen Ländern der Fall, die kurz danach eine ähnliche Entwicklung nah- men, sondern überall auf der Welt, wo die «große» Industrie ihren Einzug hielt, wo neue Arbeitsregime eingeführt wurden und sich neue soziale Hierarchien formierten. Es stellt sich also die Frage nach der Verbindung von quantitativen und qualitativen Aspekten bei der Beschreibung und Analyse der Industrialisierung. Die Vertreter der sogenannten Institu- tionenökonomik, die sich als eine (nicht allzu radikale) Alternative zur herrschenden neoklassischen Theorie sieht, haben dabei unter den quali- tativen Faktoren eine nützliche Unterscheidung zwischen «formgebunde- nen» Beschränkungen des wirtschaftlichen Handelns (vor allem in Verträ- gen, Gesetzen usw.) und «formlosen» Beschränkungen vorgenommen (also den in der jeweiligen Kultur weitergegebenen Normen, Werten, Konventionen usw.).4 Ein solches reicheres und vielfältigeres Bild der Industrialisierung ist fraglos willkommen. Doch besteht die Gefahr, dass zu viele Aspekte und Faktoren das Bild überfrachten und man auf die Eleganz «sparsamer» Erklärungsmodelle verzichten muss. 앚 Drittens. Die Industrialisierung gilt allgemein als das wichtigste Merkmal eines «europäischen Sonderweges» in der Geschich- te. Die Tatsache, dass am Ende des 19. Jahrhunderts unter den verschie- denen Großregionen des Planeten beispiellose Unterschiede des Wohl- stands und des allgemeinen Lebensniveaus festzustellen sind, lässt sich tatsächlich in erster Linie darauf zurückführen, dass manchen Gesell- schaften die industriegesellschaftliche Transformation gelang, anderen nicht.5 Daraus sind unterschiedliche Fragestellungen abgeleitet worden. Die einen wenden sich den Ursachen für dieses «Wunder Europas» (Eric L. Jones) zu und kommen dabei im Allgemeinen zu dem Ergebnis, dass England, Europa, der Westen (oder welche Einheit man auch immer für die hier wichtigste hält) über natürlich-geographische, wirtschaftliche und kulturelle Voraussetzungen verfügten, die in anderen Zivilisationen angeblich fehlten. Das ist eine bewährte Sichtweise, die bis zu Max We- bers kurz nach 1900 angestellten Studien über universale Wirtschaftsge- schichte und über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen zurückführt. Die anderen drehen den Spieß kontrafaktisch um, suchen nach ähnlichen Voraussetzungen vor allem in China und fragen dann, warum es dort nicht zum autonomen Durchbruch zu einem neuen Produktivitätsniveau des Wirtschaftens gekommen sei.6 Wenn es dort ähnliche Voraussetzun- https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 912 Energie und Industrie gen wie in Europa gegeben haben sollte, dann wäre zu klären, warum sie nicht genutzt wurden. 앚 Viertens. Die lehrbuchübliche Darstellung der Indus- trialisierung geht mit Walt W. Rostow davon aus, dass in einer National- ökonomie nach der anderen ein Abhebepunkt, eine Schwelle des take-off, erreicht worden sei, von der an sich die jeweilige Volkswirtschaft auf einem stabilen, in die Zukunft gerichteten Pfad eines «sich selbst tragen- den» Wachstums bewegt habe. Auf diese Weise erhält man eine Reihe von Zäsurdaten, mit denen für die verschiedenen Länder der Beginn ihrer ökonomischen Moderne markiert wird. Das ist eine immer noch annähe- rungsweise nützliche Vorstellung. Wenig Anklang findet heute Rostows Annahme, ein Standardmuster der Industrialisierung habe sich von Land zu Land zeitversetzt aus innerer Logik wiederholt. Dagegen spricht, dass die Beschleunigung wirtschaftlicher Dynamik immer aus spezifischen in- neren (endogenen) und aus äußeren (exogenen) Quellen gespeist wurde. Das Problem besteht darin, für einzelne Fälle das jeweils richtige Mi- schungsverhältnis zu ermitteln. Da es keinen Fall nicht-englischer, also «nachholender» Industrialisierung zumindest ohne einen gewissen Tech- nologietransfer gibt, spielen «transnationale» Verbindungen in der Indus- trialisierungsgeschichte stets eine Rolle. Schon im Großbritannien des frühen 19. Jahrhunderts wimmelte es von Technikspionen aus Europa und den USA. Vieles spricht dafür, dass das Ausbleiben einer breiteren Indus- trialisierung, jedenfalls vor 1914, in Ländern wie Indien, China, dem Os- manischen Reich oder Mexiko zu einem großen Teil durch das Fehlen politischer und kultureller Voraussetzungen für erfolgreichen Technolo- gieimport zu erklären ist. Nur durch die Aufnahme neuen Produktions- und Managementwissens hätten die hochentwickelten Gewerbetraditio- nen in diesen Ländern modernisiert werden können – wie es zuvor in dem Handwerkerland Frankreich geschehen war.7 Die einzelnen regionalen und manchmal auch nationalen Industrialisierungsprozesse unterschei- den sich im Grad ihrer Autonomie. Am einen Ende des Spektrums steht eine rein von ausländischem Kapital betriebene und so gut wie nicht über kleine Enklaven ausstrahlende Einpflanzung industrieller Produktionsfor- men, am anderen Ende die Möglichkeit, dass die durchdringende Indus- trialisierung einer ganzen Volkswirtschaft weithin unter eigener Regie und mit geringer «kolonialer» Beteiligung erfolgreich in Angriff genom- men wird, wie es in Japan geschah – außerhalb des Nordatlantiks im 19. Jahrhundert aber auch nur dort. https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Industrialisierung 913 Heutige Kontroversen zwi- 앚 Klassische Theorien schen Fachleuten können der Industrialisierung nicht darüber hinwegtäu- schen, dass in den letzten drei Jahrzehnten den älteren oder «klassischen» Konzepten von Industria- lisierung wenig grundsätzlich Neues hinzugefügt worden ist. Gemeinsam ist diesen Konzepten, Industrialisierung als Teil einer umfassenderen so- zialökonomischen Transformation zu sehen. 앚 Karl Marx und die Marxisten (seit 1867): Industrialisie- rung als Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus durch Akkumu- lation und Konzentration des Kapitals, Fabrikorganisation und die Er- richtung von Produktionsverhältnissen, die auf freier Lohnarbeit und der Aneignung des Mehrprodukts dieser Arbeit durch die Besitzer der Pro- duktionsmittel beruhten, später ergänzt durch Theorien über die Ver- wandlung von Wettbewerbskapitalismus in monopolistischen (oder orga- nisierten) Kapitalismus.8 앚 Nikolaj Kondrat’ev (1925) und Joseph A. Schumpeter (1922/1939): Industrialisierung als zyklisch strukturierter Wachstumspro- zess einer kapitalistischen Weltwirtschaft mit wechselnden Leitsektoren, der an ältere Prozesse anschließt.9 앚 Karl Polanyi (1944): Industrialisierung als Teil einer um- fassenden «Großen Transformation»: Loslösung einer sich autonomisie- renden Marktsphäre aus der «Einbettung» von Tausch in die sozialen Zusammenhänge einer Bedarfsdeckungswirtschaft und überhaupt Über- windung der Abhängigkeit des Ökonomischen von äußeren gesellschaft- lichen, kulturellen und politischen Bedingungen.10 앚 Walt W. Rostow (1960): Industrialisierung als zeitver- setzt, aber universell realisierter Durchgang durch fünf Stadien, von de- nen das dritte Stadium, der take-off, das wichtigste ist: der Start in ein dauerhaftes, «exponentielles» Wachstum, das aber nicht mit einem be- stimmten qualitativen Umbau der Gesellschaft verbunden sein muss, also systemneutral oder kontextarm ist.11 앚 Alexander Gerschenkron (1962): Industrialisierung als lernende Überwindung von Hindernissen durch «Nachzügler» unter Nut- zung von Vorteilen des Nachahmens und bei Herausbildung jeweils spezi- fischer nationaler Formen und Entwicklungspfade: Vielfalt im Rahmen allgemeiner Einheitlichkeit des Gesamtprozesses.12 앚 Paul Bairoch (1963): Industrialisierung als Fortsetzung einer vorausgegangenen landwirtschaftlichen Revolution und folgende https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 914 Energie und Industrie langsame Ausbreitung industrieller Wirtschaftsformen über die Welt bei Marginalisierung anderer, sich nicht industrialisierender Ökonomien.13 앚 David S. Landes (1969): Industrialisierung als ein vom Wechselspiel zwischen technologischer Innovation und wachsender Nachfrage getriebener Prozess wirtschaftlichen Wachstums, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Nachahmung des Pionierlan- des Großbritannien auf dem Kontinent zu einem gesamteuropäischen Entwicklungsmodell führte.14 앚 Douglass C. North und Robert Paul Thomas (1973): In- dustrialisierung als Nebenprodukt einer sich über Jahrhunderte hinweg in Europa aufbauenden institutionellen Rahmenordnung, die individuelle Verfügungsrechte garantierte und damit die effiziente Verwendung von Ressourcen ermöglichte.15 Nicht alle diese Theorien stellen sich exakt dieselbe Frage, nicht alle ver- wenden den Begriff der Industriellen Revolution.16 Gemeinsam ist ihnen (mit der Ausnahme von North/Thomas) eine grobe Chronologie, in wel- cher die Zeit zwischen 1750 und 1850 den ungefähren Rahmen des großen Übergangs bildet. Einige betonen die Tiefe und Dramatik des Bruchs (Marx, Polanyi, Rostow, Landes); man könnte ihre Versionen «heiße» Theorien nennen. Andere sind eher «kalt» und sehen eine lange Vorge- schichte und einen eher sachten Übergang (Schumpeter, Bairoch, North/ Thomas). Die Ausgangslage vor der Transformation wird unterschiedlich charakterisiert: als feudale Produktionsweise, Agrargesellschaft, traditio- nale Gesellschaft, Vormoderne. Entsprechend wird der (vorläufige) End- zustand auf verschiedenartige Weise gefasst, sei es nun als Kapitalismus allgemein, als industrieller Kapitalismus, als wissenschaftlich-industrielle Welt oder wie bei Karl Polanyi, der sich für die Industrie selbst weniger interessiert als für Regelungsmechanismen innerhalb der Gesellschaft, als Herrschaft des Marktes. Schließlich unterscheiden sich die Theorien auch darin, inwieweit sie von ihren Urhebern tatsächlich global angewendet werden. Die Theoreti- ker sind dabei meist etwas großzügiger als die Historiker. Marx erwartete einen homogenisierenden Fortschritt eines den Feudalismus revolutionär zersetzenden industriellen Kapitalismus in vielen Teilen der Welt; erst in seinen späten Jahren machte er Andeutungen über einen möglichen asia- tischen Sonderweg («asiatische Produktionsweise»). Unter den neueren Theoretikern waren Rostow, Bairoch und Gerschenkron am ehesten be- reit, sich etwa zu Asien zu äußern, Rostow allerdings in einer sehr schema- https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Industrialisierung 915 tischen, an strukturellen Besonderheiten nationaler Pfade wenig interes- sierten Weise. Es ging keineswegs allen Theoretikern um die dichoto- mische Frage, warum der Okzident sich dynamisierte und der Orient (angeblich) statisch blieb, also um das «Warum Europa?»-Problem, das seit der Spätaufklärung und Hegel immer wieder diskutiert wird. Nur North/Thomas (eher implizit) und vor allem David Landes, besonders in seinen späteren Schriften, halten diese Frage für zentral.17 Bairoch sieht keine in sich abgeschlossenen und als Monaden vergleichbaren Zivili- sationsräume, sondern untersucht, darin Fernand Braudel ähnelnd, in großer Ausführlichkeit Interaktionen zwischen Ökonomien, Interaktio- nen, die er für das 19. und 20. Jahrhundert als «Unterentwicklung» thema- tisiert. Er nimmt, anders als gleichzeitig Rostow, nicht an, die ganze Welt werde schließlich demselben Entwicklungsmuster folgen, sondern betont eher die Divergenzen. Gerschenkron kann sein Modell der nachholenden Kompensation von Entwicklungsrückständen ohne Probleme auf Japan anwenden; Nicht-Industrialisierung interessiert ihn ebensowenig wie Schumpeter (übrigens ein Gegensatz zu Max Weber, dem Schumpeter sonst in vielem nahesteht).18 Die Vielfalt der Theorien, die seit Adam Smiths Pionierwerk über den Wohlstand der Nationen von 1776 vorgelegt wurden, spiegelt die Komple- xität der Fragestellungen, zwingt aber auch zu einem ernüchternden Schluss, wie ihn Patrick O’Brien 1998 gezogen hat: «Fast drei Jahrhunder- te der empirischen Forschung und des Nachdenkens durch eine Abfolge der besten Köpfe in den Geschichts- und Sozialwissenschaften haben zu keiner allgemeinen Theorie der Industrialisierung geführt.»19 Als Ökonom muss O’Brien dies bedauern, als Historiker ist er darüber nicht allzu un- glücklich: Welcher große Entwurf könnte der Vielfalt der Erscheinungen gerecht werden und sich dennoch die Schlichtheit und Eleganz guter Theorie bewahren? Ein Wachstum des Brut- 앚 Die britische toinlandsprodukts von Industrielle Revolution 8 Prozent im Jahr, wie Chi- na es um 2000 herum erlebt hat (das Wachstum der Industrieländer nach 1950 lag im langfristigen Durchschnitt bei 3 Prozent), war im Europa des 19. Jahrhunderts vollkom- men unvorstellbar. Insofern das chinesische Wachstum heute weithin von der Expansion der Industrie getrieben wird, erst danach von den «post- industriellen» Sektoren Dienstleistungen und Telekommunikation, setzt https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 916 Energie und Industrie sich die Industrielle Revolution in der Tat mit gesteigerter Kraft bis in die Gegenwart fort. Die Industrie war nie revolutionärer als heute. Dies ist freilich nicht der Begriff der Industriellen Revolution, den die Historiker verwenden.20 Ihnen zufolge handelte es sich um einen komplexen Prozess wirtschaftlichen Umbaus, der sich zwischen 1750 und 1850 – auf ein Jahr- zehnt mehr oder weniger muss man sich nicht festlegen – auf der bri- tischen Hauptinsel (nicht in Irland) abspielte. Alles andere sollte man «Industrialisierung» nennen und kann es zunächst formal bestimmen als ein über mehrere Jahrzehnte stetig anhaltendes Wachstum der realen Er- zeugung (output) pro Kopf innerhalb einer Volkswirtschaft von mehr als 1,5 Prozent pro Jahr. Damit sollte im Idealfall eine entsprechende oder etwas höhere Zunahme des durchschnittlichen Realeinkommens der Be- völkerung verbunden sein.21 Dieses Wachstum erfolgt auf der Grundlage eines neuen Energieregimes, das fossile Energiequellen für die materielle Produktion erschließt und bekannte Energiespender besser nutzt. Cha- rakteristisch ist außerdem, dass in der Organisation der Produktion der mechanisierte Großbetrieb, also die Fabrik, zwar nicht alle anderen For- men ablöst, aber doch eine dominierende Stellung erringt. Industrialisie- rung steht meist unter «kapitalistischen» Vorzeichen, muss es jedoch nicht: Im 20. Jahrhundert waren einige «sozialistische» Länder mit ihrer Industrialisierung zeitweise durchaus erfolgreich. Es wäre auch übertrie- ben zu erwarten, dass Industrialisierung alle Bereiche einer Volkswirt- schaft durchdringt. Das mag heute selbstverständlich sein, kam aber im 19. Jahrhundert so gut wie nie vor. Komplett durchmodernisierte «Indus- triegesellschaften» gab es damals nirgends auf der Welt. Neben den USA, Großbritannien und Deutschland wären um 1910 herum wenige andere Länder mit dem Begriff «Industriegesellschaft» auch nur annähernd rich- tig beschrieben. Beachtliche industrielle Anlagen und manche Anzeichen für ein industriell erzeugtes Wachstum fanden sich damals aber schon in primär agrarisch geprägten Gesellschaften wie Indien, China, Russland oder Spanien. Von Industrialisierung sollte man daher auch sprechen, wenn dieser Prozess auf wenige Sektoren und/oder Regionen beschränkt blieb. Nicht alle Wege zum Reichtum der Nationen führen über die Indus- trie. Wirtschaftlich offensichtlich erfolgreiche Länder wie die Niederlan- de, Dänemark, Australien, Kanada und Argentinien hatten mit den hoch industrialisierten Ländern gemeinsam, dass sie in allen Produktionsbe- reichen und im Verkehr neue Technologien anwandten und im späten 19. Jahrhundert bereits etwa die Hälfte der Beschäftigten außerhalb der https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Industrialisierung 917 Landwirtschaft tätig waren. Dennoch suchte man hier vergebens «Indus- triereviere». Auch steht nicht hinter jedem großen Militärapparat eine industrielle Basis, die ihn langfristig tragen und gleichzeitig auch noch Grundbedürfnisse des zivilen Lebens befriedigen kann. Es ist wichtig, sich in weltgeschichtlicher Absicht die Rangfolge der Aspekte deutlich zu machen. Die ökonomische Grundtatsache der Moderne ist nicht das in- dustrielle Wachstum als solches, sondern die allgemeine Verbesserung der Daseinsbedingungen auf der Welt (ablesbar etwa an der Lebenser- wartung) bei zunehmender Polarisierung zwischen den Extremen von Reichtum und Armut im Verhältnis der verschiedenen Regionen der Erde. Die Industrielle Revolution ereignete sich in England. Nur dort kam jene besondere Kombination von Voraussetzungen zusammen, die ein neues Niveau wirtschaftlicher Leistung ermöglichte. Die wichtigsten Fak- toren, die dabei eine Rolle spielten, lassen sich leicht aufzählen: die Exis- tenz eines großen nationalen, nicht durch Zollschranken zerschnittenen Wirtschaftsgebiets; innerer Frieden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts; günstige geographische Voraussetzungen für billigen Transport, insbeson- dere in der Küstenschifffahrt; eine hochentwickelte Tradition der Fein- mechanik und Werkzeugmacherei; ein umfangreicher Kolonialhandel, der die Versorgung mit Rohstoffen erleichterte und Absatzmärkte bereit- stellte; eine ungewöhnlich produktive Landwirtschaft, die es sich leisten konnte, Arbeitskräfte freizusetzen; ein Interesse an Verbesserungen (im- provement) in großen Teilen der gesellschaftlichen Elite, in kleineren Kreisen sogar eine ausgesprochen unternehmerische Bewusstseinshal- tung, vor allem unter religiösen Abweichlern.22 Im Vergleich mit anderen Ländern kann man aus dieser langen Liste drei Punkte als besonders wichtig hervorheben: 앚 Erstens. In England war als Folge eines wirtschaftlichen Wachstums, das sich über das gesamte 18. Jahrhundert hinzog, eine unge- wöhnlich große Binnennachfrage nach Gütern des «gehobenen Bedarfs» entstanden, also nach Produkten, die zwischen elementaren Lebensnot- wendigkeiten und seltenem Luxus lagen. Die sich allmählich herausbil- denden Mittelschichten wurden zu Trägern eines Konsums, der sich nicht, wie in Kontinentaleuropa, auf die Aristokratie und die Spitzen der Kaufmannschaft beschränkte. Vor allem französischen Beobachtern des Geschehens auf den britischen Inseln fiel dies immer wieder auf: Anders als in Frankreich gab es in Großbritannien bereits so etwas wie einen Massenmarkt für Gewerbeprodukte.23 https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 918 Energie und Industrie 앚 Zweitens. Großbritannien war zu Beginn des 18. Jahr- hunderts stärker als jedes andere Land Europas, intensiver auch als die Niederlande, in den überseeischen Handel verwickelt. Insbesondere die dreizehn Kolonien in Nordamerika wurden immer mehr zu wichtigen Ab- nehmern gewerblicher Erzeugnisse von den Britischen Inseln, deren Hei- matmarkt die wachsende Produktion allein nicht aufnehmen konnte. Umgekehrt sicherten die britischen Welthandels- und Schifffahrtsbezie- hungen, ob kolonial oder nicht, den Zugang zu einem fundamentalen Rohstoff wie der Baumwolle, die anfangs primär von den westindischen Inseln kam und dann bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts überwiegend von versklavten Afrikanern auf neu erschlossenem Land in den Südstaaten der USA preisgünstig produziert wurde. Solcher Handel war keine letzte Ursache der Industriellen Revolution, wohl aber ein wichtiger ergänzen- der Faktor, ohne den die technischen Neuerungen ihre volle ökonomische Wirkung nicht entfaltet hätten. In einer geschlossenen, «nationalöko- nomischen» Wirtschaft wären die inputs der Industriellen Revolution nur viel teurer zu haben gewesen. Im 19. Jahrhundert ergänzte Großbri- tannien seine Rolle als «Werkstatt der Welt» durch seine Funktion als wichtigster Organisator und Verteilungspunkt des Handels mit jenen Rohstoffen und Halbfertigprodukten, die für die Industrialisierung auf dem europäischen Kontinent benötigt wurden; auch diese Mittlerposition hatte frühneuzeitliche Wurzeln. Diese Zusammenhänge harren noch ge- nauer Erforschung. Klar ist aber, dass die Industrielle Revolution unter Ausblendung weltwirtschaftlicher Zusammenhänge nicht erklärt werden kann. Sie war nicht allein «hausgemacht».24 앚 Drittens. Auch Frankreich und China waren Länder mit einer großen wissenschaftlichen Tradition und viel technologischer Er- fahrung. In England und Schottland hatten sich aber die getrennten Milieus der «Theoretiker» und «Praktiker» mehr als anderswo einander angenähert. Man begann allmählich eine gemeinsame Sprache der Pro- blemlösung zu finden, hatte in der Newtonschen Physik eine leicht ins Praktische zu transponierende Denkweise an der Hand und schuf sich Institutionen, die den Prozess technischer Innovationen verstetigten, be- sonders das Patentrecht. So entstand in Großbritannien erstmals, was ein weiteres definitorisches Merkmal von Industrialisierung überhaupt sein könnte: die Normalisierung technischer Neuerungen. Anders als in frühe- ren Epochen der Geschichte brachen Innovationswellen nicht ab oder versickerten folgenlos. «Große» Erfindungen standen nicht allein, sie er- gaben sich zum Teil aus einem kleinschrittigen Prozess des Tüftelns und https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Industrialisierung 919 Verbesserns und regten dann selbst wieder Neben- und Folgeerfindungen an. Techniken wurden eingeübt und durch Praxis angeeignet. Kein wirk- lich wichtiges Wissen ging verloren. Dieser große Prozess eines schub- weise verlaufenden, aber doch kontinuierlichen Innovationsstroms und seiner Umsetzung in eine Technikkultur begann in England, wo bereits im frühen 18. Jahrhundert ein ungewöhnlich hohes und weitverbreitetes Niveau technischer Kompetenz erreicht war, das durch die Industrielle Revolution stabilisiert wurde. All dies geschah nicht in einem abgeschot- teten Land. Wissenschaftliches und technisches Wissen zirkulierte im 18. Jahrhundert in ganz Europa und auch über den Nordatlantik hinweg, und technologische Führerschaft, einmal errungen, blieb kein englisches Monopol. Auf mehreren Gebieten hatten französische, deutsche, schwei- zerische, belgische oder nordamerikanische Wissenschaftler und Ingeni- eure ihre britischen Kollegen bald eingeholt und sogar überholt.25 Hätte man um 1720 einem welterfahrenen Beobachter die künftige In- dustrielle Revolution utopisch ausgemalt und ihn gefragt, wo eine solche Entwicklung am ehesten zu erwarten wäre, dann hätte er gewiss England genannt, daneben sicher auch die Niederlande und Flandern, Nord- frankreich, Zentraljapan, das chinesische Yangzi-Delta, möglicherweise auch die Gegenden um Boston und Philadelphia. Alle diese Regionen hatten gemeinsam, dass dort in unterschiedlichen Varianten Bewegung in die Ökonomie gekommen war: eine allgemeine und sich zusehends ausbreitende Hochschätzung von Arbeit und Gewerbefleiß; eine hohe und weiter wachsende Produktivität der Landwirtschaft; eine hochentwi- ckelte spezialisierte agrarische Produktion für den Markt, oft verbunden mit anspruchsvoller Weiterverarbeitung und Veredelung; eine erhebliche Bedienung von Exportmärkten; ein leistungsfähiges, teils in bäuerlichen Haushalten, teils in größeren «Manufakturen» organisiertes textilprodu- zierendes Gewerbe. Dies alles unter institutionellen Bedingungen freier, also weder versklavter noch leibeigener Arbeit, einer gewissen – in Japan und China weniger prononcierten – Garantie von Eigentum an Produk- tivkapital und «bürgerlicher» geschäftlicher Umgangsformen, zum Bei- spiel des Vertrauens unter Marktpartnern und der Verlässlichkeit von Verträgen. England hatte schon um 1720 in mancher Hinsicht die Nase vorn, aber es war weder damals noch später ein singulärer Fall, eine von Tatkraft brummende Insel in einem Meer agrarischer Stagnation. Nicht für alle der genannten Gegenden ist diese plausible Hypothese bisher hinreichend bestätigt worden; man wird weitere Forschungsergebnisse abwarten müssen. Als deren theoretische Grundlage wird heute das Kon- https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 920 Energie und Industrie zept der industrious revolution diskutiert, einer Revolution des Fleißes. Es beruht auf der Beobachtung, dass während der Industriellen Revoluti- on die Produktion stieg, während die Realeinkommen nicht in gleichem Maße nachzogen. Dies sei, so die Theorie, in Nordwesteuropa, Japan und dem kolonialen Nordamerika bereits im Jahrhundert vor dem Beginn der Industrialisierung ähnlich gewesen: Haushalte hätten ihre Konsum- ansprüche und damit ihren Bedarf gesteigert und seien dafür bereit ge- wesen, mehr als früher zu arbeiten. Man produzierte mehr, um mehr konsumieren zu können. An diese von der Nachfrage angetriebene Dyna- mik habe die Industrielle Revolution dann anknüpfen können. Zugleich bedeutet dies, dass die Belastung der körperlich arbeitenden Bevölke- rung wahrscheinlich schon vor dem Beginn der Industrialisierung zu- nahm und nicht erst dann sprunghaft anstieg, als glückliche Bauern in finsteren Fabriken verschwanden.26 Ein besonderer Aspekt des umfas- 앚 Kontinuitäten senderen Konzepts der industrious revolution ist die «Proto»-Industriali- sierung, die in den frühen 1970er Jahren entdeckt wurde und die bis heu- te die Forschung beschäftigt. Darunter ist, stark vereinfachend gesagt, die Expansion der Erzeugung von Gütern für über-lokale Märkte in dörf- lichen Haushalten zu verstehen.27 Diese Produktion erfolgte typischer- weise außerhalb älterer städtischer Zunftorganisationen, sie wurde, etwa unter dem «Verlagssystem», von städtischen Unternehmern organisiert, und sie setzte das Vorhandensein von überschüssiger Arbeitskraft sowie die Bereitschaft zu Selbstausbeutung in der dörflichen Familie voraus. Sie gedieh dort am besten, wo die lokale Machtkonstellation den Bauern einen gewissen Spielraum für «unternehmerische» Entscheidungen ließ, doch gibt es auch Fälle, wo eine hausgewerbliche Verdichtung durch «feudale» Grundbesitzer gefördert und durch den Kollektivismus einer Dorfgemeinde nicht behindert wurde.28 Man hat verschiedene Formen solcher Proto-Industrie in zahlreichen Ländern gefunden, auch in Japan, China, Indien sowie in Russland, für das sie am Beispiel des Baumwoll- und des Kleineisengewerbes besonders gut erforscht worden ist. Die Ver- mutung, es habe sich dabei um ein notwendiges Durchgangsstadium zur Industrialisierung gehandelt, hat sich indes nicht bestätigt. Gerade auf England scheint das Modell nicht besonders gut zu passen. Die Indus- trielle Revolution wuchs nicht gleichsam linear aus einer breiten Proto- Industrialisierung hervor.29 Die ersten drei Quartale des 18. Jahrhunderts https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Industrialisierung 921 waren in England und im schottischen Süden eine Zeit solch lebendiger produktiver Entfaltung, dass die Installation der ersten in der großbetrieb- lichen Produktion einsetzbaren Dampfmaschinen weniger als völliger Neubeginn denn als konsequente Fortsetzung älterer Trends erschien. Gewiss, es gab Proto-Industrie, daneben aber auch eine breite Steigerung von Produktion und Produktivität in der handwerklichen oder manufak- turiellen Produktion, etwa in den Messer- und Scherenschmieden von Sheffield.30 Proto-Industrialisierung hat in einigen anderen Fällen die spätere fabrikmäßig organisierte Industrialisierung erleichtert. Unter wiederum anderen Umständen stabilisierten sich proto-industrielle Ver- hältnisse, ohne sich aus innerer Dynamik heraus selbst überflüssig zu machen. Sucht man noch langfristigere Kontinuitäten, dann sieht man die In- dustrielle Revolution in einer längeren Reihe von Aufschwüngen, durch welche Teile des west- und südeuropäischen Wirtschaftslebens seit dem Mittelalter hindurchgegangen waren; auch der islamische Nahe und Mittlere Osten am Ende des ersten Milleniums, China unter der Song- Dynastie im 11. und 12. und dann wieder unter den Qing-Kaisern im 18. Jahrhundert oder das maritime Südostasien zwischen etwa 1400 und 1650 hatten außergewöhnliche Wirtschaftsblüten erlebt. Wenn man die Industrielle Revolution mit den Aufschwungsphasen früherer Zyklen ver- gleicht, fällt ihr Wachstumseffekt nicht völlig aus dem Rahmen. Neu war, dass die Industrielle Revolution und die sich ihr anschließenden nationalen und regionalen Industrialisierungen einen langfristig stabilen Wachstumstrend begründeten, um den herum die zyklischen Ausschläge der «langen Wellen» und Konjunkturen dann pendelten. Mit der Indus- triellen Revolution und den anderen gesellschaftlichen Veränderungen, die mit ihr verbunden waren, endete die Epoche einer prinzipiell statio- nären Wirtschaft, bei der Produktivitätsgewinne und Wohlstandszuwäch- se nach einer Weile immer wieder durch Gegenkräfte, insbesondere das Wachstum der Bevölkerung, zunichte gemacht worden waren. In Ver- bindung mit demographischen Entwicklungen, die weithin eine eigene Dynamik aufwiesen, erreichten die Industrielle Revolution und die darauffolgenden Industrialisierungen schon während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein endgültiges Entrinnen aus der «malthusiani- schen Falle».31 Obwohl es gegen die Einwände aus den beiden extrem unterschied- lichen Lagern der quantifizierenden Wachstumsskeptiker und der mit kulturellen Faktoren argumentierenden Anhänger einer «institutionel- https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 922 Energie und Industrie len» Revolution weiterhin gerechtfertigt bleibt, von einer einzigartigen englischen Industriellen Revolution zu sprechen, vermittelt das techni- sche, aus der Luftfahrt entlehnte Bild des take-off ein zu dramatisches Bild. Einerseits brach wirtschaftliche Dynamik nicht urplötzlich in stag- nierende Zustände ein: Schon das ganze 18. Jahrhundert hindurch ver- zeichnete die britische Wirtschaft ein langfristiges und stetiges Wachs- tum. Andererseits war das Wachstum in den ersten Dekaden des 19. Jahr- hunderts weniger spektakulär, als man lange angenommen hat.32 Erst mit der Zeit entfielen in Großbritannien verschiedene Bremsen der neuen Dynamik, bis sie sich nach etwa der Jahrhundertmitte frei entfalten konnte. Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren eine Zeit scharfer gesellschaftlicher Konflikte, eine Periode des Übergangs, eher eine Inkubationszeit der Industrialisierung als ihr eigentlicher «Durch- bruch». Das wirtschaftliche Wachstum hielt nur knapp mit der Zunahme der Bevölkerung Schritt; aber immerhin drückte eine wachsende Bevöl- kerung nicht, wie fast immer zuvor in der Geschichte, den bestehenden Lebensstandard hinunter. Das Elend einiger Gruppen von Arbeitern er- reichte freilich einen Tiefpunkt. Die neuen Technologien, darunter die Nutzung der Kohle als Energiequelle, verbreiteten sich erst langsam. Bis 1815 herrschten noch Kriegsbedingungen mit all ihren finanziellen Las- ten für das Land. Unter einem antiquierten politischen System, das seit 1688 nicht prinzipiell geändert worden war, waren Regierungen nur sehr eingeschränkt in der Lage, Institutionen zu schaffen, die sich den neuen Erfordernissen von Wirtschaft und Gesellschaft anpassten. Dies wurde erst mit der Reform der politischen Ordnung 1832 möglich. Dadurch wurde dem Einfluss unkontrollierter «Interessen» auf die politische Ent- scheidungsbildung, besonders den speziellen Wünschen von Großgrund- besitzern und Monopolkaufleuten, ein Riegel vorgeschoben. Der Frei- handel und die automatische Regulierung des Geldangebots durch den Goldstandard erhöhten die Rationalität des Systems. Erst nach dem symbolischen Jahr 1851, als die Weltausstellung im Kristallpalast zum öffentlichen Debüt des industriellen United Kingdom wurde, gelang der Übergang von der Industriellen Revolution zur eigentlichen britischen Industrialisierung. Erst danach wuchs das Pro-Kopf-Einkommen spür- bar, wurden Dampfmaschinen in Fabriken, auf Schiffen und auf Schie- nen zum wichtigsten Medium energetischer Transmission, brachte ein Trend zu sinkenden Nahrungsmittelpreisen das Machtmonopol der land- besitzenden Aristokratie ins Wanken.33 Den anfänglichen Vorsprung Großbritanniens vor dem europäischen https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Industrialisierung 923 Kontinent sollte man nicht überschätzen. Die berühmten britischen Erfin- dungen verbreiteten sich schnell, und schon 1851 wurde der Welt im Kris- tallpalast deutlich, dass die USA in der Technologie des Maschinenbaus Großbritannien überholt hatten.34 Trotz anfänglicher Ausfuhrverbote wur- de britische Technik innerhalb kurzer Zeit auf dem Kontinent und in Nordamerika bekannt, vor allem durch britische Ingenieure und Arbei- ter.35 Nach den Zeitskalen der Wirtschaftsgeschichte ist ein «Rückstand» von drei oder vier Jahrzehnten keineswegs spektakulär. Manchmal benö- tigen schon einzelne Erfindungen einen solchen Zeitraum, um sich ent- falten und verbreiten zu können. Immer wieder hat man versucht, die Zeitpunkte des jeweiligen nationalen take-off säuberlich zu datieren. Das ist weithin ein Scheinproblem. In einigen Ländern begann die Industriali- sierung in der Tat plötzlich, in anderen fast unmerklich; in einigen fasste die Wirtschaft sogleich Wachstumstritt, in anderen brauchte sie mehrere Anläufe. Dort, wo sich der Staat der Industrialisierung annahm wie in Russland nach etwa 1885 unter dem Finanzminister Sergej J. Vitte, war der Einschnitt tiefer als dort, wo dies nicht der Fall war. Die Reihenfolge der einzelnen europäischen Länder ist selbst beim Verzicht auf exakte Datie- rung einigermaßen klar: Belgien und die Schweiz waren frühe Industriali- sierer, Frankreich begann nach 1830, Deutschland nach 1850, die übrigen Länder Europas wesentlich später. Wichtiger als eine solche Einreihung in eine Marschkolonne ist das Gesamtbild. Es zeigt einen grundsätzlichen Widerspruch. Auf der einen Seite ging jedes europäische Land seinen eigenen industriellen Entwicklungsweg. Davon, dass ein «britisches Mo- dell» – das übrigens den Zeitgenossen im Ausland keineswegs klar und eindeutig vor Augen stand – einfach nur kopiert worden wäre, kann in kei- nem einzigen Fall die Rede sein. Die britischen Umstände waren so singu- lär, dass eine solche direkte Imitation kaum möglich gewesen wäre.36 Tritt man aber einen Schritt zurück, dann erkennt man auf der anderen Seite in der Vielfalt der nationalen Pfade zunehmende Verflechtungen innerhalb einer pan-europäischen Industrialisierung. Nach der Jahrhundertmitte er- hielt Industrialisierung fast überall die Unterstützung der Regierungen, Handelsaustausch und internationale Abmachungen (einschließlich des Freihandels) trugen zur Integration eines gesamteuropäischen Marktes bei, und die kulturelle Homogenität des Kontinents machte den techni- schen und wissenschaftlichen Austausch immer einfacher.37 Um 1870 waren einige europäische Ökonomien so weit, dass sie begannen, der briti- schen Industrie Märkte streitig zu machen. Zu dieser Zeit wurde auch allgemein sichtbar, was außer günstigen natürlichen Voraussetzungen un- https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 924 Energie und Industrie bedingt zu erfolgreicher Industrialisierung gehörte: zum einen eine Land- reform, welche die Bauern von außerökonomischen Zwängen befreite, zum anderen Investitionen in die Schaffung von «Humankapital», also in ein Bildungswesen innerhalb der ganzen Spanne zwischen Massenalpha- betisierung und staatlichen Forschungsanstalten. Dass gut ausgebildete Arbeitskräfte einen Mangel an Land und Bodenschätzen kompensieren können, ist eine bis heute gültige Lehre, die zuerst in einigen europäi- schen Ländern und in Japan während des letzten Drittels des 19. Jahrhun- derts gezogen wurde.38 Es war ein Vorzug der industriellen Produktionsweise, dass sie in minde- stens einem Sinne nicht revolutionär war: Sie vernichtete nicht sämtliche früheren Formen der Wertschöpfung und schuf keine radikal neue Welt. Anders gesagt: Industrie kam und kommt in zahlreichen unterschiedlichen Formen daher und kann sich nicht-industrielle Produktionsweisen leicht untertan machen, ohne sie unbedingt zerstören zu müssen. Die Große In- dustrie mit ihren Tausenden von Beschäftigten in einem einzigen Werk- komplex war fast überall eher die Ausnahme denn die Regel: Neben der immer weitere Bereiche erobernden Massenproduktion – vermutlich eine Erfindung der Chinesen, die in Keramik oder Holzarchitektur bereits seit Jahrhunderten eine arbeitsteilige, modularisierte und serielle Herstellungs- weise ausprobiert hatten39 – hielt sich das, was man flexible production ge- nannt hat.40 Wo sie besonders erfolgreich war, vollzog sich Industrialisie- rung in einer Dialektik von Zentralisierung und Dezentralisierung.41 Erst die stalinistische Politik einer Industrialisierung unter zentraler Plankon- trolle schuf seit den späten 1920er Jahren ein radikales Gegenmodell, das nur begrenzt erfolgreich war. Der Elektromotor, der in allen Größen ge- baut werden kann, und überhaupt die Energie aus der Steckdose gaben am Ende des 19. Jahrhunderts der kleinbetrieblichen Produktion neuen Schwung. Das Grundmuster war überall dasselbe, auch in Japan, Indien oder China: Um die großen Unternehmen mit ihren auffälligen Fabriken lagerten sich Kränze von kleineren Zulieferern und Konkurrenten. In deren Betrieben herrschten oft, wenn der Staat nicht eingriff, Arbeitsver- hältnisse, die wesentlich schlimmer waren als die in der Großindustrie mit ihren geregelten Prozeduren, ihrem Bedarf an Facharbeitern und ihrem zuweilen patriarchalischen Selbstbild. https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Industrialisierung 925 Man hat oft von einer 앚 Die Zweite «Zweiten Industriellen wirtschaftliche Revolution Revolution» gesprochen und damit vor allem den Wechsel der Leitsektoren im späten 19. Jahrhundert von Baumwolle und Eisen zu Stahl («Big Steel» in einer viel größeren Dimension als die An- fänge vor 1880), Chemie und Elektrizität gemeint. Mit dieser Verschie- bung der Sektoren war auch eine Verlagerung industrieller Dynamik von Großbritannien nach Deutschland und in die USA verbunden, die beide in den neuen Technologien einen erheblichen Vorsprung aufzuweisen hatten.42 Sinnvoller als eine solche Verengung auf das Technologische ist es, mit Werner Abelshauser von einer viel breiter angelegten «Zweiten wirtschaftlichen Revolution» zu sprechen.43 Sie bildete den modernen «Konzern» aus, wie er im 20. Jahrhundert zur dominierenden Unterneh- mensform werden sollte. Dieser neue Veränderungsschub, der auf die 1880er und 1890er Jahre zu datieren ist, war nach der Ansicht Abelshau- sers noch bedeutender als die ursprüngliche Industrielle Revolution. Er war dies auch deshalb, weil er von unmittelbarer globaler Wirkung war, während die erste Industrielle Revolution ihre eigene Fernwirkung nur langsam entfaltet hatte. In dieser neuerlichen Zäsur im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts kam zum Wechsel der Leittechnologien mehreres hinzu: die vollständige Mechanisierung der Produktion in den fortge- schrittenen Volkswirtschaften, also die Auflösung vorindustrieller «Nes- ter»; der Übergang vom individuellen Eigentümer-Unternehmer zum an- gestellten Manager als vorherrschender Sozialform und kulturellem Leit- typus; damit verbunden der Aufstieg der anonymen Kapitalgesellschaft, die sich über die Börse finanziert; die zunehmende Bürokratisierung der privaten Wirtschaftsverwaltung und das Aufkommen der Kontorangestell- ten mit «weißem Kragen»; Konzentration und Kartellbildung und damit das Zurückdrängen des klassischen Wettbewerbsmechanismus; das Ent- stehen multinationaler Konzerne, die, unterstützt durch Markenzeichen, den Vertrieb ihrer Waren weltweit in eigene Regie nahmen und zu diesem Zweck in Zusammenarbeit mit zahlreichen lokalen Partnern globale Ver- marktungsnetze gründeten. Vor allem dieser letzte Punkt war es, der den Formwechsel der indus- triellen Produktionsweise weltweit relevant machte. In einem Land wie China tauchten in den 1890er Jahren amerikanische und europäische «Multis» wie Standard Oil of New Jersey oder die British-American Tobacco Corporation (BAT) auf und begannen mit einer bis dahin bei- https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 926 Energie und Industrie spiellosen direkten Durchdringung des Konsumgütermarktes. Als «verti- kal» integrierte Konzerne kontrollierten sie ihre eigenen Rohstoffquellen ebenso wie die Weiterverarbeitung und den Absatz ihrer Produkte. Aus der reinen Industrie wurde nun business, ein neuer transnationaler Kom- plex geschäftlicher Steuerung, bei dem Industrieunternehmen stärker als zuvor mit Banken kooperierten und verflochten waren. Dieses business war zuerst in den USA Big Business. Japan, das mit seiner eigenen Indus- trialisierung erst Mitte der 1880er Jahre begann, hatte hier einen beson- deren Startvorteil, denn einige der großen Kaufmannshäuser der Toku- gawa-Zeit hatten sich in die neue Ära hinübergerettet und erfanden sich gewissermaßen neu als zaibatsu: große, stark diversifizierte Unternehmen, oft in Familienbesitz, die große Teile der Wirtschaft unter ihre gemein- same oligopolistische Kontrolle brachten. Sie ähnelten weniger den großen vertikal integrierten Konglomeraten, die am Ende des 19. Jahrhun- derts einzelne Bereiche der amerikanischen Industrie unter sich aufteil- ten, als holding companies mit eher dünn verflochtenen unterschied- lichen Engagements. Seit etwa 1910 wurden dann die großen zaibatsu wie Mitsui, Mitsubishi oder Sumitomo straffer und zentraler organisiert. In der Folge wurde Japan neben den USA und Deutschland, doch anders als Großbritannien oder Frankreich, zu einem Land der großen vertikal und horizontal integrierten Konzerne.44 Die Diskussion der letzten 앚 Die Große Gabelung zwei oder drei Jahrzehnte über die Industrialisierung, vornehmlich in Zeitschriften und Sammelbänden geführt und noch nicht zu einer neuen Synthese konzentriert, ist auf Distanz zu den großen Theorieentwürfen gegangen.45 Die Forschung ist punktuell und beschei- den geworden und hält sich meist an die konventionellen Konzepte von Wachstum. Der einflussreichste historische Globaltheoretiker der 1970er und 1980er Jahre, Immanuel Wallerstein, beteiligte sich an der Debatte nicht. Er zitiert eine lange Reihe von ziemlich alten Einwänden gegen das Konzept einer Industriellen Revolution und hält es für «zutiefst irrefüh- rend», da es von der eigentlich zentralen Frage ablenke, der nach der Ent- wicklung der Weltwirtschaft insgesamt.46 Eine Rückkehr der Großen Theorie in die Industrialisierungsdebatte wurde um das Jahr 2000 herum paradoxerweise durch intensive historische Forschung herbeigeführt, allerdings nicht solche über Europa. Regionalexperten fanden heraus, dass China und Japan, aber auch Teile Indiens und der muslimischen https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Industrialisierung 927 Welt im 17. und 18. Jahrhundert keineswegs jenem Stereotyp des armen, stagnierenden Asien entsprachen, das die europäische Sozialwissenschaft auf dünnster Wissensgrundlage seit ihren Anfängen unbefragt perpetuiert hat. Einige Voraussetzungen der Industriellen Revolution habe es dort durchaus gegeben. Manche Autoren sind mittlerweile im Eifer ausglei- chender Gerechtigkeit in ein anderes Extrem verfallen und malen das vor- moderne Asien in allzu glühenden Farben aus, sodass das «Wunder Euro- pas» entweder als optische Täuschung, als europäische Propagandalüge oder als Ergebnis zufälliger Verkettungen ohne innere Notwendigkeit er- scheint: Eigentlich, so heißt es hier, hätte die Industrielle Revolution in China passieren müssen.47 So weit kann man nicht gehen. Aber die neue Aufwertung des «frühneuzeitlichen» Asien haucht der «Warum Europa?»- Debatte, in der seit langem fast alles gesagt zu sein schien, neues Leben ein. Es genügt nun nicht länger, Listen von Vorzügen und Leistungen Eu- ropas aufzustellen (von Römischem Recht und Christentum über Buch- druck, exakte Naturwissenschaften, rationale Wirtschaftsgesinnung und kompetitives Staatensystem bis zum «individualistischen Menschenbild») und dann pauschal festzustellen, das alles fehle anderswo. Je näher Euro- pa und Asien für die frühe Neuzeit aneinanderrücken, je geringer die qua- litativen und quantitativen Unterschiede werden, desto rätselhafter wird die spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts unverkennbare Große Gabelung (great divergence) der Welt in wirtschaftliche Gewinner und Verlierer.48 Schien bislang der Erfolg Europas in den Tiefen von geogra- phisch-ökologischer Begünstigung (wie bei Eric L. Jones)49 oder eigen- tümlichen kulturellen Veranlagungen (wie in der Max-Weber-Tradition, bei David Landes und den meisten anderen Autoren) programmiert zu sein, so taucht nun erneut die detektivische Frage auf, was denn die spezi- fische Differenz Europas ausgemacht habe. Der Zeitpunkt, an dem diese Differenz tatsächlich wirksam wurde, rückt um so weiter ins 19. Jahrhundert hinein, je später der relative «Nie- dergang Asiens» angesetzt wird. Nachdem man eine Weile den euro- päischen Sonderweg früh beginnen, ja ins «Mittelalter» rutschen lassen wollte (so Eric L. Jones, zuletzt noch Michael Mitterauer), in eine Zeit, in der andere Historiker mit guten Gründen China (besonders im 11. Jahr- hundert) und Teile der muslimischen Welt für sozioökonomisch und kul- turell führend halten, verschiebt sich der Zeitpunkt der Gabelung nun wieder in jene Epoche, in der gemeinhin die Industrielle Revolution situ- iert wird. Die Große Gabelung, dafür spricht in der Tat vieles, trat erst im 19. Jahrhundert ein. Das Thema erhält dadurch eine Aktualität und Dring- https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 928 Energie und Industrie lichkeit, die es vor zwanzig Jahren noch nicht besaß, dass der soziökono- mische Graben zwischen Europa und Asien sich heute zu schließen be- ginnt. Der Aufstieg Chinas und Indiens (an Japan hat man sich inzwi- schen mit einer gewissen Gelassenheit gewöhnt) wird in Europa als Teil von «Globalisierung» wahrgenommen. In Wahrheit verbergen sich dahin- ter auch genuine Industrielle Revolutionen, die das «nachholen», ohne es genau zu wiederholen, was Europa im 19. Jahrhundert erlebte. 2 Energieregime: Das Jahrhundert der Kohle Energieregime Im Jahre 1909 fühlte sich Max 앚 Energie als Weber veranlasst, alle Regis- kulturelles Leitmotiv ter der Kritik und Polemik gegen «energetische Kultur- theorien» zu ziehen, wie sie von dem Chemiker, Philosophen und Nobel- preisträger des gleichen Jahres Wilhelm Ostwald ins Gespräch gebracht worden waren. Nach Ostwald, wie Weber ihn referiert, wird «jeder Kul- turumschwung […] durch neue energetische Verhältnisse verursacht», «bewusste Kulturarbeit» sei «vom Bestreben zur Erhaltung der freien Energie» geleitet.50 Gerade als die Geisteswissenschaften sich um ihre methodische Emanzipation von den Naturwissenschaften bemühten, wurde ihr ureigenstes Thema, die Kultur, einer monistischen Theoriekon- zeption einverleibt. Man muss nicht in die von Max Weber identifizierten Theoriefallen tappen, wenn man dennoch Energie als einen wichtigen Faktor der materiellen Geschichte betrachtet. Zu Webers Zeiten gab es die Disziplin der Umweltgeschichte noch nicht. Sie vor allem hat uns, vor dem Hintergrund aktueller Energieprobleme, die Bedeutung dieses Fak- tors gelehrt. Energetische Kulturtheorien passen gut in das 19. Jahrhundert. Kaum ein naturwissenschaftlicher Begriff beschäftigte die Wissenschaftler stär- ker und zog das Publikum mehr in seinen Bann als derjenige der Energie. Aus den frühen Experimenten mit tierischer Elektrizität, die Alessandro Volta im Jahre 1800 zur Konstruktion der ersten elektrischen Stromquelle geführt hatte, war um die Mitte des Jahrhunderts eine umfassende Wis- senschaft von der Energie geworden. Auf ihrer Grundlage wurden kosmo- logische Systeme errichtet, vor allem seit Hermann Helmholtz 1847 seine https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Energieregime 929 epochemachende Abhandlung Über die Erhaltung der Kraft vorgelegt hat- te. Die neue Kosmologie beruhte nicht länger auf den Spekulationen der romantischen Naturphilosophie. Sie gab sich eine feste Grundlage in der Experimentalphysik und formulierte ihre Gesetzmäßigkeiten so, dass sie empirischer Überprüfung standhielten. Der Schotte James Clark Maxwell fand die Grundsätze und Grundgleichungen der Elektrodynamik und beschrieb die Fülle der elektromagnetischen Erscheinungen, nachdem Michael Faraday schon 1831 die elektromagnetische Induktion nach- gewiesen und den ersten Dynamo konstruiert hatte.51 Die neue Physik der Energie, die in enger Wechselbeziehung zur Optik weiterentwickelt wurde, führte zu einem großen Strom technischer Umsetzungen. Eine Schlüsselfigur der Epoche wie William Thompson (seit 1892: Lord Kelvin, der erste Lord aus der Wissenschaft) brillierte gleichzeitig als Wissen- schaftsmanager und imperialer Politiker, als physikalischer Grundlagen- forscher und praxisnaher Techniker.52 An die Seite der Schwachstrom- technik der transkontinentalen Nachrichtenverbindungen, mit denen zum Beispiel die Brüder Siemens ihr erstes Geld verdienten, trat seit 1866, als Werner Siemens das dynamoelektrische Prinzip entdeckte, die Stark- stromtechnik.53 Von heroischen Erfindern wie Siemens oder dem Ameri- kaner Thomas Alva Edison bis zu amateurhaften Elektrobastlern wirkten Tausende von Fachleuten an der Elektrifizierung immer größerer Teile der Welt mit. Seit den 1880er Jahren waren Kraftwerke in Gebrauch und wurden städtische Stromsysteme geschaffen. In den neunziger Jahren wurden kleine Drehstrommotoren serienreif und konnten billig in großen Stückzahlen produziert werden.54 Aber schon in der ersten Jahrhundert- hälfte dienten die für die Lebenspraxis wichtigsten Erfindungen der Er- zeugung und Verwandlung von Energie. Denn nichts anderes war die Dampfmaschine: eine Apparatur zur Umwandlung toter Materie in tech- nisch nutzbare Kraft.55 Energie wurde zu einem Leitmotiv des ganzen Jahrhunderts. Was vor- dem nur als Elementargewalt, besonders in Gestalt von Feuer, bekannt war, wurde nun zu einer unsichtbaren, aber leistungsfähigen Kraft von ungeahnten Wirkungsmöglichkeiten. Nicht länger der frühneuzeitliche Mechanismus, sondern der dynamische Kraftzusammenhang war das naturwissenschaftliche Leitbild des 19. Jahrhunderts. Andere Wissen- schaften lehnten sich daran an. Mit viel größerem Erfolg als die von Max Weber aufs Korn genommene energetische Kulturtheorie hatte dies zuvor schon die politische Ökonomie getan. Nach 1870 litt die neoklassische Ökonomie an so etwas wie einem Physikneid und bediente sich daher https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 930 Energie und Industrie reichlich bei energetischen Vorstellungen.56 Ironischerweise wurde genau in jenem Moment, als die Energie tierischer Körper wirtschaftlich an Be- deutung verlor, die energievolle Körperlichkeit des Menschen entdeckt. An einem Universum der unbegrenzten und, wie Helmholtz gezeigt hatte, nicht verschwindenden Kraft mussten auch die Körper teilhaben. Aus der noch abstrakt philosophischen «Arbeitskraft» der klassischen politischen Ökonomie wurde unter dem Einfluss der physikalischen Thermodynamik der «menschliche Motor», der als kombiniertes Muskel- und Nervensys- tem in geplante Arbeitsvorgänge eingepasst werden konnte und dessen Verhältnis von Energieaufnahme und Energieabgabe sich experimentell und exakt ermitteln ließ. Karl Marx stand mit seinem Begriff der Arbeits- kraft bereits seit der Mitte des Jahrhunderts unter dem Einfluss des Helmholtzianismus, und auch Max Weber befasste sich am Beginn seiner Laufbahn ausführlich mit Fragen der Psychophysik industrieller Arbeit.57 Es war kein Zufall, dass Europäer und Nordamerikaner sich im 19. Jahrhundert von Energie so überaus fasziniert zeigten. In einem ihrer wichtigsten Aspekte war die Industrialisierung ein Wechsel im Energie- regime. Jedes Wirtschaften erfordert Energiezufuhr. Fehlender Zugang zu billiger Energie ist einer der gefährlichsten Engpässe, den eine Gesell- schaft erleben kann. Selbst bei relativ reichen Ressourcen waren vor- industrielle Gesellschaften unter allen denkbaren kulturellen Bedingun- gen auf wenige Energiequellen außerhalb menschlicher Arbeitskraft an- gewiesen: Wasser, Wind, Feuerholz, Torf sowie Arbeitstiere, die Futter in Muskelkraft umsetzen. Im Rahmen dieser Begrenzungen war die Energie- versorgung nur durch Extensivierung des Landbaus und des Holzein- schlags oder durch die Verwendung nährstoffreicherer Feldfrüchte mög- lich. Es bestand immer die Gefahr, dass die Zunahme der erreichbaren Energie mit dem Wachstum der Bevölkerung nicht Schritt halten würde. Gesellschaften unterschieden sich darin, in welchen Proportionen sie die erreichbaren Energieformen nutzten. So hat man geschätzt, dass in Euro- pa um 1750 Holz die Quelle von etwa der Hälfte des Energiekonsums war, in China zur gleichen Zeit aber nur von höchstens acht Prozent. Umge- kehrt war menschliche Arbeitskraft in China um ein Mehrfaches wichti- ger als in Europa.58 https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Energieregime 931 Mit der Industrialisierung kam, ge- 앚 Erschließung wiss nicht von heute auf morgen, fossiler Energie aber doch allmählich, eine neue Energiequelle hinzu, der fossile Brennstoff Kohle, der in Europa seit dem 16. Jahrhundert zunehmend Verwendung gefunden hatte, in England mehr als anderswo.59 Man sollte die Geschwindigkeit des Wechsels nicht überschätzen. In Europa insge- samt lieferte Kohle bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts nur einen winzi- gen Bruchteil der genutzten Energie. Erst danach ging der Anteil der tra- ditionellen Energiequellen zurück, während die Bedeutung der modernen Energielieferanten Kohle, später Öl, daneben auch der durch Staudämme und neuartige Turbinen besser nutzbaren Wasserkraft dramatisch zu- nahm.60 Die uns heute bekannte Pluralität der Energieformen ist ein Erbe der Industrialisierung. Sie folgte auf die jahrtausendelange Dominanz des Brennstoffs Holz, der noch im 19. Jahrhundert in Europa in Mengen ver- braucht wurde, die aus heutiger Sicht unglaublich anmuten.61 Neben der aufsteigenden Kohle und dem absteigenden Holz hielt sich bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein in Verkehr und Mühlenbetrieb der Wind. Brennbares Gas wurde zunächst aus Kohle gewonnen. Die frühen Gas- laternen in den Straßen der Großstädte wurden mit dieser Art von Gas betrieben. Erdgas, das heute ein Viertel des weltweiten Energiebedarfs deckt, wurde im 19. Jahrhundert noch nicht genutzt. Anders als bei Kohle, die der Menschheit seit langem bekannt war, lässt sich die Geschichte des Erdöls genau datieren: Am 28. August 1859 wurde in Pennsylvania erst- mals mit kommerzieller Absicht eine Erdölquelle erfolgreich angebohrt. Die Aktion löste, ein Jahrzehnt nach dem kalifornischen Goldrausch, unverzüglich einen Ölrausch aus. Seit 1865 machte dann ein junger Geschäftsmann namens John D. Rockefeller Öl zur Grundlage von Big Business. Um 1880 hatte seine zehn Jahre zuvor gegründete Standard Oil Company den wachsenden Weltölmarkt unter nahezu monopolistischer Kontrolle – eine Stellung, die niemals ein Einzelner auf dem Kohlemarkt errang. Petroleum wurde anfangs vor allem zu Schmierölen und Kerosin, einem Brennstoff für Lampen und Öfen, weiterverarbeitet. Erst die Ver- breitung des Automobils verlieh dem Eröl nach etwa 1920 wirkliches Ge- wicht in der globalen Energiebilanz. Unter den auf der Welt verwendeten Brennstoffen erreichte die Kohle das Maximum ihrer relativen Bedeutung im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.62 Tierische Energie blieb wei- ter gefragt, die des Kamels und des Esels (zwei ungewöhnlich kostengüns- tigen Verkehrsmitteln) im Transport, des Ochsen und des Wasserbüffels https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 932 Energie und Industrie in der Landwirtschaft, des (indischen) Elefanten im Regenwald. Zur «landwirtschaftlichen Revolution» in Europa gehörte die vermehrte Er- setzung von menschlicher Kraft durch die von Pferden. Die Zahl der Pfer- de in England verdoppelte sich zwischen 1700 und 1850. In der englischen Landwirtschaft stieg die pro menschlicher Arbeitskraft zur Verfügung ste- hende Pferdeenergie zwischen 1800 und 1850, also auf dem Höhepunkt der Industriellen Revolution, um 21 Prozent. Erst nach 1925 ging in Groß- britannien die Zahl von Pferden pro Hektar zurück, ein Prozess, der in den USA, dem Vorreiter dieser Entwicklung, schon einige Jahrzehnte frü- her begonnen hatte. Die Ersetzung von Pferden durch Traktoren erwei- terte die Anbauflächen ohne neue Landerschließung, da weniger Boden für die Erzeugung von Pferdefutter (Gras, Hafer) erforderlich war.63 Im- merhin wurde um 1900 noch ein Viertel der agrarischen Fläche der USA zur Ernährung von Pferden genutzt. Die Reisökonomien Asiens, in denen tierische Traktion kaum eine Rolle spielte und Mechanisierung schwieri- ger war, besaßen diesen wichtigen Puffer für eine effizienzsteigernde Modernisierung der Landwirtschaft nicht. Die industrielle Zivilisation des 19. Jahrhunderts beruhte auf der Er- schließung fossiler Brennstoffe und auf der immer effizienteren tech- nisch-mechanischen Umsetzung der aus ihnen gewonnenen Energie.64 Der Einsatz der kohleverzehrenden Dampfmaschine brachte dabei einen autonomen spiralförmigen Prozess in Gang, denn erst dampfgetriebene Aufzüge und Ventilatoren erlaubten es, unterirdische Kohlelager in grö- ßeren Tiefen zu erreichen und auszubeuten. Am Anfang der Entwicklung von Dampfmaschinen hatte überhaupt die Suche nach besseren Pum- pen zum Entwässern von Minenschächten gestanden. Die erste, noch schlecht funktionierende Dampfpumpe war 1697 konstruiert worden. 1712 wurde Thomas Newcomens erste dampfgetriebene Vakuumpumpe, also die erste Kolbendampfmaschine überhaupt, in einem Kohleberg- werk installiert.65 Der Ingenieur James Watt (1736–1819) und sein Ge- schäftspartner und Kapitalgeber Matthew Boulton (1728–1809) debütier- ten mit ihrer kleineren und besseren Dampfmaschine nicht in einer Tex- tilfabrik, sondern in einer Zinnmine in Cornwall, einer entlegenen und später industriell nicht besonders wichtigen Gegend Englands, die das fruchtbarste Experimentierfeld für die frühen Dampfmaschinen war. Der entscheidende technische Durchbruch gelang dem unentwegt experi- mentierenden James Watt dann 1784 mit einer Konstruktion, die nicht nur vertikale, sondern rotierende Bewegung erzeugen konnte und dies mit einem ungewöhnlich hohen Nutzeffekt tat.66 Damit war die Dampf- https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Energieregime 933 maschine als Antrieb für Maschinen technisch ausgereift, auch wenn während des gesamten 19. Jahrhunderts die Effizienz (also der Anteil der freigesetzten Energie, der mechanisch nutzbar war) dieses Maschinen- typs erhöht und sein Kohleverbrauch gesenkt werden konnte.67 1785 kam Watts Maschine erstmals in einer englischen Baumwollspinnerei zum Einsatz. Es dauerte allerdings noch Jahrzehnte, bis die Dampfmaschine zur wichtigsten Energiequelle in der Leichtindustrie wurde. Noch 1830 nutzten die meisten Textilfabriken in Sachsen, einem der wichtigsten In- dustriegebiete auf dem europäischen Kontinent, hauptsächlich Wasser- kraft. Vielerorts rentierte sich die Umstellung auf Dampf erst mit einem Eisenbahnanschluss, der die Anlieferung billiger Kohle ermöglichte.68 Der Kohlebergbau wurde überhaupt zum Schlüssel der Industrialisie- rung. Kohlevorkommen mit technisch fortgeschrittenen Methoden, also unter Nutzung von Dampfkraft, abzubauen und die Kohle dann per Dampfeisenbahn und Dampfschiff billig zu den Orten ihres Verbrauchs transportieren zu können, war eine wichtige Voraussetzung für indus- triellen Erfolg insgesamt. Die größten Schwierigkeiten, sich Kohle zu beschaffen, hatte Japan, das über wenige eigene Vorräte verfügte. Es überrascht daher nicht, dass in Japan die Periode der Dampfmaschine ungewöhnlich kurz war. Die erste fest installierte, also nicht auf einem Schiff schwimmende Dampf- maschine wurde 1861 in einem staatlichen Eisenwerk in Nagasaki in Betrieb genommen; sie war aus den Niederlanden importiert worden. Bis dahin stammte der größte Teil der gewerblich genutzten Energie von Was- serkrafträdern. Auf diese Weise wurden auch, wie zunächst ebenfalls in England, die ersten Baumwollspinnereien angetrieben. Die verschiede- nen Energieformen bestanden eine Weile nebeneinander. Als Mitte der achtziger Jahre die japanische Industrialisierung in Schwung kam, wurden innerhalb weniger Jahre Japans Fabriken mit Dampfmaschinen ausgestattet. Bereits Mitte der neunziger Jahre war der quantitative Höhepunkt in der industriellen Verwendung von Dampfkraft erreicht. Die japanische Wirtschaft nutzte als eine der ersten in größtem Stile die Elek- trizität, die teils aus Wasserkraft, teils aus Kohle gewonnen wurde und für die Industrie große Vorteile bot. Als in den sechziger Jahren die ersten Dampfmaschinen in Japan in Betrieb genommen wurden, hatte Japan gegenüber Großbritannien einen energietechnischen Rückstand von etwa achtzig Jahren. Um 1900 war dieser Rückstand vollkommen aufgeholt. Ja- pan hatte die energetische Entwicklung des Westens im Zeitraffertempo nachvollzogen.69 https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 934 Energie und Industrie Die Entwicklung der Kohleproduktion, wie sie sich statistisch darstel- len lässt, ist auf der einen Seite ein Indikator für das Niveau industrieller Entwicklung, auf der anderen Seite weist sie aber auch auf die Ursachen solcher Entwicklungen hin. Die Zahlen sind mit einer gewissen Skepsis zu betrachten, denn niemand hat zum Beispiel die Produktion nicht-me- chanisierter Kohlegruben in China jemals auch nur zu schätzen versucht; allerdings ist deren Produktion wohl auch so gut wie nie industrieartigen Verwendungen zugeführt worden. Für die erfasste Steinkohleproduktion auf der Welt war die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Wendepunkt. Sie wuchs zwischen 1850 und 1914 von maximal 80 Millionen Tonnen auf über 1300 Millionen Tonnen pro Jahr, also während eines Zeitraums von sechs Jahrzehnten um etwa den Faktor sechzehn. Am Anfang dieser Periode war Großbritannien mit 65 Prozent der Förderung der mit Abstand größte Produzent, am Vorabend des Ersten Weltkrieges hatte es diese Position an die USA (43 Prozent) abgegeben und stand nun vor Deutschland (15 Pro- zent) auf Platz zwei (25 Prozent). Neben diesen drei Riesenproduzenten waren alle anderen von nachrangiger Bedeutung. Es gab einige Aufstei- ger, die innerhalb weniger Jahre einen respektablen Kohlebergbau eta- blierten, vor allem Russland, Indien und Kanada. Doch kam selbst der größte unter diesen kleinen Produzenten, nämlich Russland, im Durch- schnitt der Jahre 1910–1914 nur auf 2,6 Prozent der Weltproduktion.70 Manche Länder, etwa Frankreich, Italien oder Südchina, konnten nicht vermeiden, die Defizite ihrer natürlichen Ausstattung durch Kohleimpor- te aus Überschussregionen wie den meeresnahen Förderrevieren Groß- britanniens, dem Ruhrgebiet oder Vietnam zu decken. Hatte man in den sechziger Jahren das Schreckgespenst einer bevorste- henden Erschöpfung der Kohlevorkommen auf der Welt an die Wand malen können, so sorgte ein halbes Jahrhundert später die Erschließung zahlreicher neuer Lagerstätten für ein hinreichendes Angebot und damit zugleich für eine Zersplitterung des Kohlemarktes, auf dem Großbritan- nien seine alte Dominanz nicht länger verteidigen konnte.71 Einige Regie- rungen erkannten die Notwendigkeit von Energiepolitik, andere nicht. In Russland unterblieb der Ausbau einer hinreichenden Montanbasis, weil die Regierung unter dem Architekten der spätzarischen Modernisierung, Finanzminister Sergej J. Vitte (seit 1892 im Amt), einseitig Hightech-Pro- jekte in Stahlindustrie und Maschinenbau förderte.72 In Japan hingegen entwickelte der Staat den Kohlebergbau im Gleichschritt mit der Indus- trie. Obwohl das Land keineswegs die großen Vorräte der USA oder Chinas besaß, reichte die heimische Produktion in der ersten Phase der https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Energieregime 935 Industrialisierung nach 1885 doch für den Eigenbedarf aus. Erst in einer zweiten Phase, als sich die metallverarbeitende Industrie weiterentwickelt hatte, genügte die Qualität der japanischen Kohle nicht mehr. Die Man- dschurei war unter anderem deshalb für Japan als Kolonialgebiet so inter- essant, weil dort höherwertige, für die Verkokung besser geeignete Kohlen zu gewinnen waren. Solche Vorkommen wurden nach 1905 in der Eisen- bahnkolonie der Südmandschurischen Eisenbahngesellschaft gefördert.73 Es gibt wenige deutlichere Beispiele für «Ressourcenimperialismus», also die Unterwerfung anderer Länder zum Zweck der Aneignung industriell notwendiger Rohstoffe.74 China bietet das Beispiel einer umgekehrten kolonialen Situation. Ener- giemangel war ein chronisches Problem des dicht bevölkerten und über große Strecken nahezu ganz entwaldeten Landes. Nun besitzen Nord- und Nordwestchina riesige Kohlevorkommen, die bis zum heutigen Tage erst teilweise erschlossen sind. Diese Vorkommen blieben nicht unbekannt und ungenutzt. Sie wurden schon früh zur Eisenherstellung in großem Stil verwendet. Seriöse Schätzungen besagen, dass Chinas Eisenproduktion um das Jahr 1100 herum die ganz Europas (außerhalb Russlands) um 1700 übertroffen haben könnte.75 Warum diese Produktion nicht fortgesetzt wurde, wissen wir noch nicht. Jedenfalls war die Kohleproduktion in Chi- na im 18. und 19. Jahrhundert wenig erheblich, zumal die Lagerstätten im Nordwesten fernab der Handelszentren lagen, die sich nach der Öffnung von 1842 in Küstennähe als Treaty Ports herausbildeten. Der Vorteil der kurzen Wege und guten Wasserstraßen, der die englische Kohle so früh kostengünstig nutzbar gemacht hatte, fehlte in China. Als dort nach 1895 der großbetrieblich und maschinell betriebene Kohlebergbau begann, ex- portierten die von japanischen Firmen kontrollierten Kohlegruben ihre Produktion direkt nach Japan oder nutzten sie in nahegelegenen Eisen- und Stahlfabriken, die ebenfalls in japanischer Hand waren. Wenn die entstehenden industriellen Ballungsräume in China, vor allem Shanghai, nach etwa 1914 an Energiemangel litten, der die industrielle Entwicklung vermutlich gebremst hat, dann lag dies nicht nur an unzureichender Pro- duktion und kolonialer Ausbeutung, sondern auch an dem politischen Chaos im Land, das z. B. die Eisenbahnen immer wieder unbenutzbar machte. China war ein potenzieller Energieriese, der in der ersten Phase seiner Industrialisierung die eigenen fossilen Energieträger nur sehr be- grenzt nutzen konnte. Anders als in Japan gab es keine Zentralregierung, die Fragen der Energieversorgung Priorität in einer wirtschaftspolitischen Steuerung des industriellen Aufbaus hätte geben können. https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 936 Energie und Industrie Insgesamt hatte sich bis zum frühen 앚 Ein globaler 20. Jahrhundert ein tiefer Energiegra- Energiegraben ben in der Welt aufgetan. Um 1780 waren alle Gesellschaften der Erde auf die Nutzung von Energie aus Biomasse angewiesen. Sie unterschieden sich dabei durch die unterschiedlichen Präferenzen, die sie entwickelten oder unter jeweils besonderen natürlichen Bedingungen entwickeln muss- ten. Um 1910 oder 1920 zerfiel die Welt in die Minderheit derjenigen, die sich Zugang zu fossilen Energiespeichern geschaffen und die für deren Nutzung nötigen Infrastrukturen etabliert hatten, und die Mehrheit derer, die unter wachsendem Knappheitsdruck mit den traditionellen Energie- quellen auskommen mussten. Deutlich wird der Abstand zwischen dem «Westen» und der übrigen Welt, wenn man sich die Verteilung der Welter- zeugung von Kohle ansieht. Im Jahre 1900 entfielen auf Asien gerade einmal 2,82 Prozent, auf Australien 1,12 Prozent und auf Afrika 0,07 Prozent der Weltförderung.76 Auf Länderbasis umgelegt, verschieben sich die Proportio- nen. Dann war im Durchschnitt der Jahre 1910 bis 1914 Japan ein größerer Kohleproduzent als Österreich-Ungarn, und Indien folgte mit geringem Ab- stand.77 Der Pro-Kopf-Verbrauch an kommerziell angebotener Energie lag um 1910 in den USA vermutlich um das Hundertfache über demjenigen Chinas. Neue Technologien der Hydroelektrik ermöglichten es wasser- reichen Ländern zudem, das alte Prinzip der Wassermühle auf ein neues Niveau zu heben. War die Dampfmaschine zunächst ein leistungsfähigerer Energieerzeuger als das Wasserrad, so wurde sie von diesem in seiner neuen Gestalt als Wasserturbine bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder überholt.78 Für Länder wie die Schweiz, Norwegen, Schweden und bestimmte Regionen Frankreichs bot die Staudamm- und Turbinentechnik seit den 1880er Jahren die Chance, einen Mangel an Kohle zu kompensie- ren. Außerhalb des Westens nutzte allein Japan diese neuen Möglichkeiten. Unter bestimmten ökologischen Bedingungen fehlten jegliche Alternativen. Im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika gab es in riesigen Gebieten weder Kohle noch energetisch nutzbare Wasserreserven. Ein Land wie Ägypten, das wenig Kohle besitzt und die schwache Strömung des Nils kaum für Wasserräder nutzen konnte, war dadurch im Vergleich zum was- serreichen Japan stark benachteiligt: Hier musste man sich in der ersten Phase der Industrialisierung, als Verarbeitungsbetriebe der Exportwirtschaft angelegt und Bewässerungsanlagen teilweise mechanisiert wurden, haupt- sächlich auf menschliche und tierische Antriebskraft stützen.79 Als im frühen 20. Jahrhundert ausgerechnet im Mittleren Osten Erdöl gefördert https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Energieregime 937 wurde, etwa in dem so gut wie industrielosen Iran, der 1912 erstmals Öl ex- portierte, geschah dies ausschließlich für Ausfuhrzwecke und ohne jegliche Verbindung zu einheimischen Wirtschaftsformen. Die Dampfmaschine fand viele Verwendungen. Sie wurde nicht nur in der industriellen Warenproduktion eingesetzt. In den Niederlanden wur- den Dampfpumpen ab etwa 1850, also relativ spät, zur Drainage und Pol- deranlage verwendet. 1896 wurden nur noch 41 Prozent der trockengeleg- ten Oberflächen durch Windmühlen drainiert. Die höheren Kosten wur- den weniger durch größere Leistungsfähigkeit als durch den Vorteil ausgeglichen, dass Dampfmaschinen besser steuerbar waren. So ver- schwand mit der Zeit die holländische Windmühlenszenerie, wie sie aus vielen Gemälden des 17. und 18. Jahrhunderts bekannt ist. Insgesamt spricht vieles dafür, den Wechsel des Energieregimes als eines der wich- tigsten Merkmale der Industrialisierung zu betrachten. Dieser Wechsel erfolgte aber nicht abrupt, also revolutionär, und nicht so früh, wie der Blick auf Großbritannien vermuten lässt. Eine auf breiter Basis minera- lisch fundierte Energiewirtschaft gab es weltweit erst im 20. Jahrhundert, nachdem in Russland, den USA, Mexiko, im Iran, Arabien und anderen Ländern Erdöl gefördert und neben der Kohle als neuer Energieträger in den industriellen Ökonomien verwendet wurde.80 Der energiereiche und sich selbst als «energisch» entwerfende Westen trat der übrigen Welt auch so entgegen. Die Kulturheroen der Epoche waren nicht kontemplative Müßiggänger, religiöse Asketen oder stille Ge- lehrte, sondern Praktiker einer energiegeladenen vita activa: nimmermüde Eroberer, unerschrockene Reisende, ruhelose Forscher, imperatorische Wirtschaftskapitäne. Überall, wo sie hinkamen, beeindruckten, erschreck- ten oder blufften okzidentale Kraftnaturen mit ihrer persönlichen Dy- namik, in der sich der Energieüberschuss ihrer Heimatgesellschaften widerspiegeln sollte. Die tatsächliche Übermacht des Westens wurde naturalisiert und zur anthropologischen Überlegenheit stilisiert. Der Ras- sismus der Epoche machte sich nicht allein an der Hautfarbe fest. Er ord- nete die «Menschenrassen» auch auf einer Skala physischer und geistiger Energiepotenziale. Charakteristisch für die nichteuropäische Welt wurde daher spätestens um die Jahrhundertwende die Wahrnehmung des Wes- tens als «jung», die der eigenen Tradition und der gegenwärtigen Macht- haber als «alt», passiv und leblos. Patrioten der jüngeren Generation in außereuropäischen Ländern sahen es als ihre Hauptaufgabe, die eigenen Gesellschaften zu dynamisieren, schlummernde Energien zu wecken und ihnen eine politische Richtung zu geben. Im Osmanischen Reich traten https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 938 Energie und Industrie «Jungtürken» auf den Plan, in China nannte sich die Zeitschrift, von der seit 1915 die stärksten Impulse politischer und kultureller Erneuerung aus- gingen, «Neue Jugend» (Xin qingnian). Nationalismus und manchmal auch die sozialistische Revolution wurden um diese Zeit fast überall in Asien als Vehikel der Selbstenergetisierung entdeckt. 3 Pfade wirtschaftlicher (Nicht-)Entwicklung Pfade wirtschaftlicher (Nicht-)Entwicklung Auch wenn es kein eindeutiges statistisches Maß für den Grad von Industrialisierung gab und gibt, so war doch am Vorabend des Ersten Weltkriegs ungefähr klar, wer in Europa zur «industrialisierten Welt» gehörte und wer nicht. In absoluten Zahlen der industriellen Pro- duktion gerechnet, gab es nur zwei Industriegiganten: Deutschland und das Vereinigte Königreich, es folgten mit beträchtlichem Abstand Russ- land und Frankreich, dann in einer dritten Größenklasse Österreich-Un- garn und Italien. Nach der Industrieleistung pro Kopf der Bevölkerung kalkuliert, sah die Reihenfolge etwas anders aus: Hier stand Großbritan- nien vor Deutschland an der Spitze. Belgien und die Schweiz wiesen das- selbe Industrialisierungsniveau auf wie das Deutsche Reich, Frankreich und Schweden folgten mit größerem Abstand. Keines der übrigen Länder Europas erreichte auch nur ein Drittel des britischen Pro-Kopf-Niveaus der industriellen Produktion; Russland war nach dieser Messgröße zu Spanien und Finnland ins untere Feld verbannt.81 Diese gemessenen und oft geschätzten Größen sagen selbstverständlich noch nichts über das Pro-Kopf-Einkommen und den daraus zu folgernden durchschnittlichen Lebensstandard eines Landes aus. Eine differenzierte Betrachtung Euro- pas zeigt, dass von einem «industriellen Europa», das als Ganzes einem wirtschaftlich unmodernisierten Rest der Welt (mit Ausnahme der USA) gegenüberstand, nicht die Rede sein kann. Bis etwa 1880 hatte 앚 Exportorientierung, eine in alle Welt- vornehmlich in Lateinamerika teile ausgreifende imperiale Geolo- gie, eine Wissenschaft von eminent praktischer Bedeutung, auf sämt- lichen Kontinenten Lagerstätten mineralischer Rohstoffe aufgespürt: https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Pfade wirtschaftlicher (Nicht-)Entwicklung 939 Mangan, den wichtigsten Stahlveredler, in Indien und Brasilien; Kupfer in Chile, Mexiko, Kanada, Japan und im Kongo; Zinn in Malaya und In- donesien. Mexiko war vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg der größte Silberproduzent der Welt, Südafrika war es für Gold geworden. Chile war der wichtigste Ursprung des für die Sprengstoffherstellung zeit- weise unentbehrlichen Salpeters und führte 1879–83 sogar einen Krieg gegen Peru und Bolivien um Salpetervorkommen im gemeinsamen Grenzgebiet. Viele dieser Bodenschätze waren auch reichlich in Nord- amerika zu finden, dem mit Rohstoffen für die Industrie am besten aus- gestatteten aller Kontinente. Spezielle Lagerstätten wurden außerhalb Europas selten zum Ansatzpunkt einer industriellen Entwicklung nach westeuropäischem Muster. Sie wurden oft von ausländischem Kapital er- schlossen und in Enklaven für Exportzwecke ausgebeutet, ohne dass sich daraus eine umgestaltende Wirkung für die jeweilige Volkswirtschaft ins- gesamt ergeben hätte. Das gleiche gilt für Produktion und Export agrari- scher Rohstoffe für industrielle Zwecke: Kautschuk für die Gummi-, Palmöl für die Seifenherstellung usw. Allerdings wurde Britisch-Malaya in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg dank Zinn und Kaut- schuk eine verhältnismäßig reiche Kolonie. Die Rohstoffproduktion lag hier nicht nur in der Hand internationaler Konzerne, daneben spielte die chinesische Minderheit eine wichtige unternehmerische Rolle. Durch ihre neuartige Nachfrage riefen die Industrien Europas und der USA in vielen Ländern der Welt, ob nun formell kolonisiert oder nicht, Sektoren der Exportproduktion ins Leben. In Lateinamerika wurde damit nach Jahrhunderten die Dominanz von Edelmetallen im Handel mit der übrigen Welt gebrochen. Neue Produkte nahmen in zahlreichen Ländern die Position von Silber oder Gold im Außenhandel ein. Im klassischen Sil- berland Peru wurde nach 1890 Kupfer, das die Elektroindustrie in großem Umfang benötigte, besonders wichtig und machte 1913 ein Fünftel der Ex- porterlöse aus. In Bolivien sank die Bedeutung des Silbers, während die von Zinn stieg. Schon 1905 trug Zinn mit 60 Prozent zur bolivianischen Ausfuhr bei. Chile hatte zunächst als Kupferproduzent den Weltmarkt be- treten, verlegte sich dann aber auf Salpeter, der 1913 insgesamt 70 Prozent seines Exports ausmachte.82 Trotz des Wandels der Produktpalette blieb die Konzentration des Exports auf wenige Produkte ein Kennzeichen vie- ler lateinamerikanischer Ökonomien. Vom Export – auch von agrarischen Rohstoffen wie Kaffee, Zucker, Bananen, Wolle oder Kautschuk – gingen durchaus Wachstumseffekte aus, doch war ein solches Modell des export- getriebenen Wachstums umso anfälliger gegenüber Preisschwankungen https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 940 Energie und Industrie auf den Weltmärkten, je stärker man sich auf wenige Produkte konzen- trierte. So erlebte Peru bereits in den achtziger Jahren, also noch vor dem Beginn der großen weltweiten Expansion tropischer Rohstoffproduktion, einen Zusammenbruch seines Guano-Booms. Nur Argentinien hatte vor 1914 eine breite, die Risiken streuende Diversifikation seiner Exporte er- reicht. Es war damals immerhin mit weniger als 10 Prozent der Bevölke- rung Lateinamerikas der erfolgreichste Exporteur, der fast ein Drittel der Exporteinkünfte des Subkontinents erwirtschaftete.83 Auch beeinflusste es den makroökonomischen Erfolg von Exportorientierung, ob (1) die Pro- duktion in arbeitsintensiv bewirtschafteten Familienbetrieben erfolgte, die Exporterlöse im Lande blieben und relativ gleich in der Gesellschaft verteilt wurden, oder ob (2) Plantagen und Bergwerke dominierten, meist von schlecht behandelten Lohnarbeitern bewirtschaftet und im Besitz von ausländischen Unternehmern, die große Teile des Gewinns außer Landes transferierten. Im Allgemeinen waren Strukturen vom Typ (2) für die volkswirtschaftliche und soziale Gesamtentwicklung weniger günstig als solche vom Typ (1). Wenn es unter Verhältnissen von Typ (2) Wachs- tum gab, dann war es oft auf isolierte Enklaven beschränkt und wirkte nicht belebend auf andere Bereiche der Ökonomie. Nur Südafrika bildete eine größere Ausnahme von dieser Regel.84 Nicht jedes Land der Erde nutzt seine Chancen am besten, wenn es sich industrialisiert. Im 20. Jahrhundert gibt es mehrere Beispiele für fehlgeschlagene, die lokalen Besonderheiten missachtende Industrialisie- rungsstrategien. Im Falle von Exportökonomien stellt sich stets und auf allen Kontinenten die Frage, ob Gewinne aus dem Exportbereich zu In- vestitionen in die industrielle Fertigung genutzt, anders gefragt: ob Pro- duktivitätsgewinne aus den Exportenklaven in Nicht-Export-Sektoren der Wirtschaft übertragen wurden. Von Ansätzen einer einigermaßen eigen- ständigen Industrialisierung kann nur dann die Rede sein, wenn solche Industrien vorzugsweise den heimischen Markt bedienen. Dies war in Lateinamerika nicht vor 1870 der Fall. In einigen Ländern verteilten sich Exporterlöse so in der Gesellschaft, dass die heimische Kaufkraft stieg. Die Ausbreitung der Eisenbahn löste traditionell hemmende Transport- probleme, und die Übernahme elektrischer Technologien behob Energie- engpässe. Wie fast überall sonst auf der Welt war die Textilindustrie auch dort, wo es die Rohstoffe Baumwolle oder Wolle vor Ort nicht gab, der Vorreiter industrieller Entwicklung. Jeder brauchte Kleidung, und wenn Regierungen der Peripherie für Zollschutz kämpften, dann in erster Linie gegenüber Textilimporten. Der relativ hohe Grad von Urbanisierung in https://doi.org/10.17104/9783406615016-907 Generiert durch Universitätsbibliothek LMU München, am 10.01.2025, 22:47:52. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Pfade wirtschaftlicher (Nicht-)Entwicklung 941 manchen Teilen Lateinamerikas schuf zudem einen räumlich konzen- trierten Markt, in dessen Nähe sich Textilfabriken ansiedelten. Um 1913 hatte von allen Republiken Lateinamerikas Argentinien, wo allerdings die Textilindustrie eine nachrangige Rolle spielte, das höchste Industrialisie- rungsniveau, gefolgt von Chile und Mexiko. Auf dem gesamten Subkonti- nent gab es aber so gut wie keine Schwerindustrie. Es dominierte eine eher kleinbetrieblich organisierte Nahru

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