Einführung in die Grundlagen der Psychologie PDF
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Paris Lodron Universität Salzburg
2024
Annika Etzler, Katharina Felber, Markus Meindl, Sarah Mühlburger, Verena Schätzle, Kathrin Schinnerl, Nicola Schlag, Marlene Schmidt, Simon Schrenk, Barbara Strasser-Kirchweger, Naara Ulmke, Julia Lackner, Julia Leiner, Paul Lengenfelder
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Summary
This is a learning script for the Bachelor's-level psychology admission exam in 2024 at the universities of Salzburg, Vienna, Graz, and Innsbruck. It introduces the fundamentals of psychology, covering various sub-disciplines and perspectives, as well as relevant historical contexts and research methods. The document is not a complete textbook, rather a summary of key concepts for the exam.
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Psycho...... logisch! Einführung in die Grundlagen der Psychologie Lernskript für die Aufnahmeprüfung Bachelor Psychologie 2024 Version: 17. April 2024 Herausgeber Fachbereich Psychologie Paris Lodron Universität Salzburg Autor:innen Annika Etzler, BSc; Katharina Felber, MSc; Mag. Markus Meindl;...
Psycho...... logisch! Einführung in die Grundlagen der Psychologie Lernskript für die Aufnahmeprüfung Bachelor Psychologie 2024 Version: 17. April 2024 Herausgeber Fachbereich Psychologie Paris Lodron Universität Salzburg Autor:innen Annika Etzler, BSc; Katharina Felber, MSc; Mag. Markus Meindl; Sarah Mühl- burger, BSc; Verena Schätzle, MSc; Kathrin Schinnerl, MSc; Nicola Schlag, MSc; Marlene Schmidt, MSc; Simon Schrenk, MSc; Barbara Strasser-Kirchweger, MSc; Naara Ulmke, BSc & Julia Lackner, MSc MSc; Dr. Julia Leiner; Dr. Paul Lengenfelder Danksagung Danke an alle Personen, die sich mit inhaltlichen Hinweisen, Unterlagen, Korrek- turarbeiten etc. in die Erstellung dieses Dokuments eingebracht haben: Ao. Univ.-Prof. Dr. Christian Allesch; Anita Bilke, BSc; Dr. Gabriela Gniewosz; Dipl.-Ing. Dr. Walter Roland Gruber; Assoz. Prof. Dr. Jochim Hansen; Univ.-Prof. Dr. Tobias Heed; Mag. Michael Huemer; Univ.-Prof. Dr. Florian Hutzler; Mag. Alice Krenn; Ao. Univ.-Prof. Dr. Anton Kühberger; Mag. Markus Meindl; Univ.-Prof. DDr. Belinda Pletzer; Univ.-Prof. Dr. Nathan Weisz Urheberrechte Sämtliche Nutzungsrechte liegen beim Fachbereich Psychologie der Paris Lodron Universität Salzburg. Diese Lernunterlage darf ausschließlich zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung zum Bachelorstudium Psychologie folgender Universitäten verwendet werden: Universität Salzburg, Universität Wien, Universität Innsbruck und Universität Graz 2 Vorbemerkungen zu diesem Lernskript Das vorliegende Skript wurde als Lerngrundlage für die Bacheloraufnahmeprüfung Psychologie, die an den Universitäten Salzburg, Wien, Graz und Innsbruck für das Studienjahr 2024/25 zum Einsatz kommt, vom Fachbereich Psychologie der Paris Lodron Universität Salzburg erstellt. Dieses Skript und dessen Kapitel sind nicht als Ersatz für ein Lehrbuch zu verstehen und haben nicht das Ziel, die wissenschaftliche Psychologie bzw. ein- zelne Forschungsbereiche daraus umfassend und vollständig darzustellen. Bitte beachten Sie dies beim Lesen und Lernen dieses Skripts, wenn Sie sich wundern, warum zahlreiche Themen nicht oder in nur geringem Ausmaß behandelt werden. Der Fokus liegt eher auf den klassischen Konzepten der jeweiligen Bereiche. Wel- che Standpunkte aktuell vertreten werden, wird im Studium vermittelt. Die wissenschaftliche Psychologie ist zudem eine Disziplin, die eine Vielzahl an Perspektiven auf das Erleben und Verhalten des Menschen hat und dieses aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln zu erklären versucht. Daraus entstehen zwischen den Forschungsgebieten und auch innerhalb der Forschungsgebiete oft widersprüchliche Aussagen oder Annahmen darüber, wie das Erleben und Verhal- ten des Menschen zu erklären ist, wie die Ergebnisse einer Studie zu interpretieren sind oder welche Methoden anderen vorzuziehen sind. Betrachten Sie die Inhalte dieses Skripts daher bitte ausschließlich als Auszug pro Forschungsthema, der nicht vollständig sein kann und zu dem es auch andere inhaltliche Standpunkte oder Interpretationen gibt. Im Studium selbst werden Sie diese Bereiche ausführlich kennenlernen – sowohl in der Breite als auch in der Tiefe. Das Lernskript soll Ihnen einen ersten Einblick in diese Bereiche geben und zeigen, wie vielfältig und wie interessant die wissenschaftliche Psychologie ist, wie sich verschiedene Bereiche entwickelt haben und mit welchen Methoden und In- halten sie sich beschäftigt. Beachten Sie bitte außerdem, dass sich manche Themen oder Persönlichkei- ten der Psychologie nicht eindeutig einem Kapitel zuordnen lassen und daher an mehreren Stellen im Lernskript vorkommen können. Entsprechende Querverweise sollen Ihnen dabei helfen, diese Inhalte miteinander zu verknüpfen und gemein- sam zu betrachten. Wir weisen darauf hin, dass auch die Fragen in Prüfungsteil A nicht getrennt nach Kapitel gestellt werden. Hinweise in diesem Lernskript zu externen Links (z. B. zu Onlinevideos) sind ausschließlich dazu gedacht, für Interessierte mehr Informationen zu liefern oder zu beschriebenen experimentellen Szenarien Videos der originalen Szenerie zu zeigen – die Inhalte dieser Videos sind aber nicht prüfungsrelevant, wenn sie über die Informationen dieses Skripts hinausgehen. 3 Hinweis zu den Fußnoten: Fußnoten mit der Kennzeichnung: A, B, C etc.A sind als Kommentare oder fortführende Hinweise zu betrachten, gehören nicht zum Lernstoff und sind daher nicht prüfungsrelevant. Alle Fußnoten mit fortlaufender Nummerierung: also 1, 2, 3 etc.1 sind Teil des Lerntextes und sind daher prüfungs- relevant. Falls Sie sich dazu entscheiden, dieses Skript zu drucken, möchten wir Sie darauf hinweisen, dass bei manchen Abbildungen die Farben von Relevanz sind. Dies trifft vor allem auf die Abbildungen des Kapitels „Biologische Psychologie“ zu, weswegen wir für dieses Kapitel einen Farbausdruck ausdrücklich empfehlen. Wenn Sie dieses Skript lieber ausgedruckt lernen wollen, aber keine gute Mög- lichkeit haben, sich dieses auszudrucken: Sie können dieses Skript als gebunde- nen Ausdruck zum Selbstkostenpreis per Email [email protected] bestellen. Die Kosten betragen e13,30 zzgl. Porto (+ e4,50 Porto Inland bzw. + e9,- Aus- landsendung EU). Für die Bestellung wird eine Rechnungs- und Lieferadresse be- nötigt. Die Zahlung erfolgt per Rechung (mittels Überweisung). A Diese Fußnoten wäre dementsprechend nicht prüfungsrelevant. 1 Diese Fußnoten würde zum Stoff gehören und wäre dementsprechend prüfungsrelevant. 4 Inhaltsverzeichnis 1 Was ist Psychologie? 9 1.1 Definition................................ 10 1.2 Teildisziplinen der Psychologie.................... 11 1.3 Ansätze der Psychologie....................... 14 1.4 Ziele der Psychologie......................... 15 1.5 Ethische Prinzipien in der Psychologie................ 18 2 Geschichte der Psychologie 19 2.1 Wurzeln der Psychologie: Philosophie und die Seele........ 20 2.1.1 Ursprünge des Seelenbegriffs................ 20 2.1.2 Die römische Antike und das Mittelalter........... 23 2.1.3 Rationalismus versus Empirismus.............. 25 2.2 Anfänge der wissenschaftlichen Psychologie............ 27 2.2.1 Die Vernunft als Schlüssel zur Wissenschaft........ 27 2.2.2 Einflussreiche Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert. 28 2.2.3 Die naturwissenschaftl. Neubegründung der Psychologie.. 32 2.3 Psychologie während des Nationalsozialismus........... 37 2.4 Ausdifferenzierung der Wissenschaft: Paradigmen und Schulen.. 39 2.4.1 Die Würzburger Schule.................... 40 2.4.2 Die Gestaltpsychologie.................... 40 2.4.3 Behaviorismus......................... 42 2.4.4 Tiefenpsychologie....................... 44 2.4.5 Kognitive Wende....................... 46 3 Psychologische Forschung und Methodenlehre 49 3.1 Einführung: Was ist die Methodenlehre?............... 50 3.1.1 Alltagspsychologie vs. wissenschaftliche Psychologie.... 50 3.1.2 Was gilt als wissenschaftlich?................ 51 3.1.3 Der wissenschaftliche Forschungsprozess.......... 53 3.2 Theorien und Hypothesen...................... 54 3.2.1 Anforderungen an wissenschaftliche Hypothesen...... 56 3.2.2 Arten von Hypothesen..................... 56 3.3 Operationalisierung und Untersuchungsplanung.......... 59 3.3.1 Was versteht man unter Operationalisierung?........ 59 3.3.2 Messung von Variablen und deren Eigenschaften...... 61 3.3.3 Stichproben.......................... 66 5 INHALTSVERZEICHNIS 3.3.4 Studiendesigns........................ 68 3.4 Die experimentelle Methode..................... 70 3.4.1 Sicherstellung der zeitlichen Abfolge............. 71 3.4.2 Ausschluss von Alternativerklärungen............ 72 3.4.3 Erwartungseffekte und deren Kontrolle............ 74 3.5 Deskriptive Statistik.......................... 77 3.5.1 Häufigkeiten und Häufigkeitsverteilungen.......... 77 3.5.2 Maße der zentralen Tendenz................. 80 3.5.3 Maße der Streuung...................... 81 3.5.4 Zusammenhangsmaße.................... 83 4 Biologische Psychologie 87 4.1 Was ist Biologische Psychologie................... 87 4.1.1 Warum braucht die Psychologie Biologie?.......... 87 4.1.2 Begriffsabgrenzung...................... 88 4.1.3 Bekannte Fälle aus der Geschichte der Hirnforschung... 90 4.2 Wie kommunizieren Neuronen?................... 92 4.2.1 Die Bausteine des Nervensystems.............. 92 4.2.2 Ruhe- und Aktionspotenzial.................. 96 4.2.3 Die synaptische Übertragung................. 101 4.2.4 Neurotransmitter........................ 103 4.3 Aufbau des Nervensystems...................... 104 4.3.1 Anatomische Bezugspunkte................. 105 4.3.2 Das Rückenmark....................... 107 4.3.3 Das Gehirn........................... 109 4.3.4 Das periphere Nervensystem................. 114 4.4 Das visuelle System.......................... 115 4.4.1 Aufbau des Auges....................... 115 4.4.2 Vom Lichteinfall zum neuronalen Signal........... 116 4.4.3 Vom Auge zum Gehirn.................... 119 5 Allgemeine Psychologie 121 5.1 Was ist Allgemeine Psychologie?................... 121 5.2 Wahrnehmung und Aufmerksamkeit................. 123 5.2.1 Was versteht man unter Wahrnehmung?........... 123 5.2.2 Theorien der Wahrnehmung................. 124 5.2.3 Aufmerksamkeit........................ 127 5.2.4 Visuelle Wahrnehmung.................... 131 5.3 Lernen................................. 137 5.3.1 Wie lernen wir?........................ 137 5.3.2 Habituation und Sensitivierung................ 139 5.3.3 Klassische Konditionierung.................. 140 5.3.4 Operante Konditionierung................... 143 5.3.5 Beobachtungslernen..................... 146 5.4 Gedächtnis.............................. 148 5.4.1 Enkodierung, Speicherung, Abruf.............. 149 6 INHALTSVERZEICHNIS 5.4.2 Das Drei-Speicher-Modell................... 150 5.4.3 Das Arbeitsgedächtnismodell................. 152 5.4.4 Das Langzeitgedächtnis.................... 154 5.4.5 Gedächtniseffekte....................... 156 6 Entwicklungspsychologie 161 6.1 Was ist Entwicklungspsychologie?.................. 162 6.2 Biologische Entwicklung....................... 163 6.2.1 Pränatale Entwicklung.................... 163 6.2.2 Entwicklung während der frühen Kindheit.......... 166 6.2.3 Entwicklung in der Adoleszenz................ 169 6.2.4 Entwicklung im Erwachsenenalter.............. 169 6.3 Kognitive Entwicklung......................... 171 6.3.1 Die kognitive Entwicklungstheorie nach Piaget....... 171 6.3.2 Theory of Mind........................ 177 6.3.3 Die Entwicklung von Moral im Jugendalter.......... 178 6.3.4 Kognitive Entwicklungen im Erwachsenenalter....... 182 6.4 Soziale Entwicklung.......................... 184 6.4.1 Bindung............................ 185 6.4.2 Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung.. 187 6.4.3 Die Suche nach Identität................... 188 7 Sozialpsychologie 189 7.1 Was ist Sozialpsychologie?...................... 189 7.2 Soziale Kognition: Die subjektive Konstruktion von Realität..... 190 7.2.1 Schemata........................... 192 7.2.2 Priming............................. 194 7.2.3 Kontrolliertes vs. automatisches Denken........... 195 7.3 Sozialer Einfluss und Intragruppenprozesse............. 200 7.3.1 Soziale Erleichterung versus Soziale Hemmung....... 200 7.3.2 Einfluss von Mehrheiten.................... 203 7.3.3 Einfluss von Minderheiten................... 205 7.3.4 Gehorsam gegenüber Autoritäten.............. 207 7.3.5 Bewusste soziale Einflussnahme............... 210 7.3.6 Soziale Rollen und Normen.................. 213 7.4 Intergruppenprozesse......................... 219 7.4.1 Ferienlagerexperiment der Sherifs.............. 219 7.4.2 Minimalgruppenparadigma nach Tajfel............ 222 7.4.3 Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung.......... 225 7.5 Prosoziales Verhalten......................... 227 7.5.1 Evolutionspsychologische Erklärung............. 228 7.5.2 Empathie-Altruismus-Hypothese............... 229 7.5.3 Soziale-Austausch-Theorie.................. 231 7.5.4 Situative Determinanten prosozialen Handelns....... 231 7 INHALTSVERZEICHNIS 8 Differentielle und Persönlichkeitspsychologie 233 8.1 Was ist Differentielle und Persönlichkeitspsychologie?....... 233 8.1.1 Was ist Persönlichkeit?.................... 235 8.1.2 Allgemeine vs. Differentielle vs. Persönlichkeitspsychologie 237 8.2 Theorien der Persönlichkeit...................... 238 8.2.1 Trait-Theorien......................... 238 8.2.2 Psychodynamische Theorie der Persönlichkeit....... 243 8.2.3 Humanistische Theorien der Persönlichkeit......... 246 8.2.4 Soziale Lerntheorie und kognitive Theorien......... 249 8.3 Persönlichkeitsdiagnostik....................... 254 8.3.1 Persönlichkeitsfragebögen.................. 255 8.3.2 Psychologisch-diagnostisches Interview........... 259 8.3.3 Verhaltensbeobachtung und -beurteilung.......... 261 8.3.4 Objektive Persönlichkeitstests (OPT)............. 262 8.3.5 Projektive Tests........................ 264 Literaturverzeichnis 266 Bildnachweis 282 8 Kapitel 1 Was ist Psychologie? Abbildung 1.1: Die Psychologie richtet den Blick auf das Erleben und Verhalten von Individuen und betrachtet dabei auch Entwicklungsprozesse, Persönlichkeits- eigenschaften und den Einfluss des sozialen Gefüges Welche Prozesse sind am Denken und Handeln eines Menschen beteiligt? Wel- che Faktoren können die Wahrnehmung und das Denken eines Menschen ver- ändern? Wie lernen wir sprechen? Wie wichtig sind zwischenmenschliche Bezie- hungen für unser Wohlbefinden? Warum vergessen wir Dinge? Wie kann Neues effektiv gelernt und behalten werden? Wie verändern Schäden am Gehirn unser Erleben, Denken und Handeln? Wodurch kann die Persönlichkeit eines Menschen beschrieben werden? Was ist Gewissenhaftigkeit und wie kann sie erfasst wer- den? Wodurch entstehen psychische Störungen und wie können sie behandelt werden? Wie kann ein Unternehmen das am besten geeignete Personal finden? 9 KAPITEL 1. WAS IST PSYCHOLOGIE? Das alles sind Beispiele für Fragen, die in der Psychologie aufgeworfen werden und auf die vermutlich auch Sie – da Sie dieses Skript in Händen halten – Antwor- ten finden möchten. Dieses Lernskript hat Themen zum Inhalt, die üblicherweise in den ersten Semestern des Psychologiestudiums gelehrt werden und kann Ihnen eine Idee geben, wohin die Reise gehen könnte, wenn Sie ein Psychologiestudium beginnen. Nach einem ersten Überblick über die Psychologie sowie grundlegende Begrif- fe in diesem Kapitel folgt ein Kapitel zur Geschichte der Psychologie (Kapitel 2), in dem wichtige Meilensteine in der Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft behandelt werden, und ein Kapitel zur Forschungsmethodik in der Psychologie (Kapitel 3), in dem erläutert wird, worauf bei der Durchführung von psychologi- schen Studien geachtet werden muss und erste statistische Methoden behandelt werden. Im Anschluss ist das Skript nach Grundlagenfächern der Psychologie ge- gliedert. Mehr zu dieser Aufteilung in Grundlagenfächer finden Sie in Kapitel 1.2. Zu den Grundlagenfächern zählen die Biologische Psychologie (Kapitel 4), die All- gemeine Psychologie (Kapitel 5), die Entwicklungspsychologie (Kapitel 6), die So- zialpsychologie (Kapitel 7) sowie die Differentielle und Persönlichkeitspsychologie (Kapitel 8). 1.1 Definition Das Wort Psychologie setzt sich aus den beiden griechischen Wörtern „psyche“ (= Seele, Gemüt) und „logos“ (= Kunde, Wissenschaft) zusammen und bedeutet damit wörtlich übersetzt Seelenkunde (siehe auch Kapitel 2.1.1). Allgemein ver- steht man unter Psychologie die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen (Gazzaniga, Heatherton, & Halpern, 2017). Darunter fallen auch kogni- tive Prozesse, also Prozesse, welche das Denken betreffen (siehe Infobox 1.1). Infobox 1.1: Was ist Kognition? Der Begriff ist aus dem Lateinischen von „cognoscere“ abgeleitet, was „(er-)kennen“ bedeutet. Kognition ist ein Sammelbegriff für mentale Fähigkeiten und Prozesse mit denen Informationen aufgenommen, verarbeitet und gespeichert werden. Dazu gehören u. a. Aufmerksamkeit, Wahr- nehmung, Gedächtnis, Schlussfolgern sowie Denken und Problemlösen (Neisser, 2014). Dieser Begriff wird in den einzelnen Kapiteln dieses Lernskripts noch häufig vorkommen und gehört gewissermaßen zum Standardvokabular der Psychologie. 10 KAPITEL 1. WAS IST PSYCHOLOGIE? 1.2 Teildisziplinen der Psychologie Die Psychologie als empirische Wissenschaft ist sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientiert: Psychologinnen und Psychologen sind bestrebt, auf Ba- sis wissenschaftlicher Forschungsmethoden allgemeine Gesetzmäßigkeiten psy- chischer Prozesse und Strukturen und ihrer verhaltenssteuernden Wirkungen zu ergründen, um darauf aufbauend Schlussfolgerungen für Verhaltensveränderung in unterschiedlichsten Praxisfeldern ableiten zu können. Kennzeichnend für die wissenschaftliche Psychologie ist es, dass sie eine bereichsübergreifende Wis- senschaft darstellt, die Elemente aus den Geistes-, Sozial- und insbesondere Na- turwissenschaften vereint. Vor allem der naturwissenschaftliche Fokus wurde in den letzten Jahren stärker, erkennbar durch die immer mehr Bedeutung findende kognitive Neurowissenschaft. Diese versucht, psychologische Prozesse anhand neuronaler Mechanismen, also der Art und Weise wie das menschliche Gehirn or- ganisiert ist, zu erklären (Mausfeld, 2010). Innerhalb der Psychologie kann zwischen Methoden-, Grundlagen- und Anwen- dungsfächern unterschieden werden. Diese Aufteilung ist wichtig als Ordnungssys- tem innerhalb der Psychologie – für die Forschung als auch für die Lehre und häu- fig in den Curricula für das Psychologiestudium anzutreffen. Die Methodenfächer bilden das Grundgerüst psychologischer Forschung und beinhalten Themen wie Ethik, Wissenschaftstheorie, Methodenlehre und Statistik. Zu den Grundlagen- fächern, deren Inhalte den Hauptbestandteil dieser Lernunterlage bilden, zählen folgende Teildisziplinen der Psychologie: Biologische Psychologie: Inhalt der Biologischen Psychologie sind die physi- schen Abläufe im Körper, die den psychischen Phänomenen zugrunde lie- gen. Von besonderem Interesse sind dabei jene Prozesse, welche im Ner- vensystem ablaufen (Kapitel 4). Allgemeine Psychologie: Die Allgemeine Psychologie beschäftigt sich mit jenen Prozessen, die allen Menschen gemein sind und untersucht allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten. Dazu gehören beispielsweise Wahrnehmung, Denken, Lernen, Gedächtnis, Sprache, Emotion und Motivation (Kapitel 5). Entwicklungspsychologie: In der Entwicklungspsychologie beschäftigt man sich mit den Veränderungen psychischer Prozesse im Laufe des gesamten Le- bens. Sie untersucht, in welchem Alter sich spezielle kognitive Funktionen entwickeln oder welche Faktoren auf die Entwicklung des Menschen Einfluss nehmen (Kapitel 6). Sozialpsychologie: In der Sozialpsychologie werden soziale Einflüsse untersucht. Von Interesse ist, welche Wirkung die Interaktion mit anderen Personen auf das Erleben, Fühlen und Verhalten hat (Kapitel 7). Differentielle und Persönlichkeitspsychologie: Die Differentielle und Persön- lichkeitspsychologie untersucht Unterschiede im Erleben und Verhalten zwi- schen verschiedenen Personen und innerhalb einer Person, z. B. zu ver- 11 KAPITEL 1. WAS IST PSYCHOLOGIE? schiedenen Zeitpunkten. Auch die Frage, wie die Persönlichkeit durch Gene, Umwelt und den kulturellen Kontext beeinflusst wird, ist von Belang (Kapitel 8). Es sei angemerkt, dass die Aufteilung in die Grundlagenfächer künstlich ist und sich die verschiedenen Richtungen teilweise unabhängig voneinander entwickelt haben. Verschiedene Themen der Psychologie können daher häufig nicht exakt einem Grundlagenfach zugeordnet werden. Es ergeben sich Überschneidungen und die Inhalte stehen in Beziehung zueinander. Zudem kann ein Phänomen Inhalt mehrerer Grundlagenfächer sein, wobei sich die verschiedenen Grundlagenfächer unterschiedlichen Aspekten des Phänomens widmen. Verdeutlicht werden kann dies anhand des Themas Wahrnehmung und Sie finden in Tabelle 1.1 eine Über- sicht über die einzelnen Grundlagenfächer und deren allgemeine Fragestellungen sowie eine konkrete Fragestellung zur Wahrnehmung. Auch in diesem Lernskript wird Ihnen dieses Thema in den verschiedenen Kapitel begegnen und aus unter- schiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden. Tabelle 1.1: Grundlagenfächer der Psychologie Grundlagenfach allgemeine Fragestellung Beispielfrage zur Wahrnehmung Biologische Wie ist... im Körper (bzw. Wie funktionieren unsere Augen und wie Psychologie im Gehirn) verankert? werden visuelle Informationen im Gehirn verarbeitet? Allgemeine Auf welchen allgemeinen Wie funktioniert unsere visuelle Wahrneh- Psychologie psychischen Prozessen mung? beruht... ? Entwicklungs- Wie entwickelt sich... ? Wie und wann lernen wir, verschiedene Ei- psychologie genschaften unserer Umwelt wahrzuneh- men? Sozialpsychologie (Wie) wird... vom sozialen Beeinflusst die Anwesenheit anderer Per- Gefüge / von anderen be- sonen die (visuelle) Wahrnehmung? (vgl. einflusst? Experiment von Muller et al. (2004) in Ka- pitel 7.3.1) Differentielle und Ist... bei allen gleich? / Nimmt eine extrovertierte Person eine so- Persönlichkeitspsy- Welche Varianten gibt es? ziale Situation anders wahr als eine intro- chologie vertierte Person? Vor allem in den ersten Semestern nehmen die Grundlagenfächer einen Groß- teil des Studiums ein. Neben den Grundlagenfächern gibt es auch eine Reihe von Anwendungsfächern. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie das psychologi- sche Wissen in verschiedenen Berufsfeldern auch praktisch zur Anwendung brin- gen. Dadurch ergeben sich auch andere Fragestellungen, nämlich wie man das psychologische Wissen in den einzelnen Anwendungsfeldern sinnvoll einsetzen kann. An dieser Stelle werden exemplarisch Anwendungsfächer genannt: Pädagogische Psychologie Die Pädagogische Psychologie befasst sich mit der Beschreibung und Erklärung psychologischer Komponenten in Erziehungs- 12 KAPITEL 1. WAS IST PSYCHOLOGIE? und Bildungsprozessen. Mögliche Fragestellungen können sein: Wie lässt sich die Lernmotivation steigern? Wie kann Wissen effektiv vermittelt wer- den? Wie können Talente gefördert werden? Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie: In der AOW-Psycholo- gie (Arbeit, Organisation, Wirtschaft) wird das Erleben und Verhalten von Personen im Beruf und in Unternehmen betrachtet, Marktforschung betrie- ben und Unternehmen in verschiedenen Bereichen wie beispielsweise in der Personalauswahl oder im Marketings beraten. Mögliche Fragestellungen können sein: Wie kann das Personal eines Unternehmens sinnvoll gefördert werden? Wie kann das Konsumverhalten von Personen beeinflusst werden? Klinische Psychologie: Betätigungsfelder der Klinischen Psychologie sind psy- chische Störungen und deren Prävention, Behandlung und Rehabilitation. Mögliche Fragestellungen können sein: Wie entsteht abweichendes Verhal- ten bzw. psychische Störungen? Wie können psychische Störungen diagno- stiziert werden? Gesundheitspsychologie: Die Gesundheitspsychologie beschäftigt sich mit der Entwicklung und Umsetzung gesundheitserhaltender und -fördernder Maß- nahmen – dabei werden biologische, psychische und soziale Faktoren be- rücksichtigt. Themen der Gesundheitspsychologie sind beispielsweise Er- nährung und Bewegung, Rauchen und Alkoholkonsum sowie Stress. Psychologische Diagnostik: Eine Sonderrolle nimmt die Psychologische Dia- gnostik ein: Sie wird in den Curricula häufig als Anwendungsfach angeführt. Man kann sie allerdings auch als Fertigkeit ansehen, die in den verschie- densten Anwendungfächern von Psycholog:innen eingesetzt wird, um Ent- scheidungen fundiert zu treffen. Mithilfe von diagnostischen Verfahren wer- den Fragestellungen in den verschiedenen Anwendungsbereichen überprüft (z. B. Kann eine Legasthenie der Grund für die Lernschwierigkeiten eines Kindes sein? Verfügt eine Person über die notwendigen Persönlichkeitsei- genschaften für das Erlernen oder die Ausübung eines Berufes? Liegt eine psychische Erkrankung vor und wenn ja, welche?). Die theoretische (grundlagenorientierte) Psychologie und die praktische (an- gewandte) Psychologie erscheinen mitunter als zwei voneinander unabhängige Bereiche. Im Idealfall sollten jedoch Grundlagenforschung und Anwendung der Psychologie einem Zwei-Stufen-Modell folgen, indem die durch die theoretische Psychologie erlangten Erkenntnisse in der praktischen Psychologie ihre Anwen- dung finden. Doch auch in den Anwendungsfächern wird Forschung betrieben. Ein Beispiel dafür ist die Therapieevaluation. Es wird dazu geforscht, welche Strate- gien und Methoden bei der Behandlung und Therapie einer bestimmten psychi- schen Erkrankung Wirkung zeigen. Im praktischen Feld werden diese Methoden bei entsprechender Evidenz angewandt und anschließend im Hinblick auf deren Nützlichkeit evaluiert. 13 KAPITEL 1. WAS IST PSYCHOLOGIE? 1.3 Ansätze der Psychologie Neben der Unterteilung der Psychologie in verschiedene Teildisziplinen, können in- nerhalb der Psychologie auch verschiedene Perspektiven/Ansätze unterschieden werden, welche sich im Laufe der Geschichte der Psychologie entwickelt haben. Sie stellen verschiedene Sichtweisen hinschtlich psychologischer Themenberei- che dar. In diesem Sinne verfolgen diese Ansätze andere Blickwinkel und können unterschiedliche Erkärungen für das Erleben und Verhalten der Menschen liefern. Je nach Ansatz gibt es verschiedene Theorien und teils auch unterschiedliche Me- thoden, welche zur Untersuchung des menschlichen Erlebens und Verhaltens ein- gesetzt werden. Im Kapitel zur Geschichte der Psychologie (Kapitel 2) erfahren Sie mehr zur Entstehung der verschiedenen Ansätze und der Beziehung der Ansätze untereinander. An dieser Stelle soll lediglich ein Überblick geschaffen werden. Wel- che Ansätze unterschieden werden können, wird in den einzelnen Lehrbüchern (vgl. Myers, 2005; Grabowski, Smith, & Nolen-Hoeksema, 2007; Gerrig, Dörfler, & Roos, 2018) unterschiedlich dargestellt. In diesem Lernskript werden der psy- chodynamische Ansatz, der behavioristische Ansatz, der humanistische Ansatz, der kognitive Ansatz und der biologisch-neurowissenschaftliche Ansatz näher be- trachtet. Psychodynamischer Ansatz: Die Grundannahme des psychodynamischen An- satzes ist, dass das Verhalten durch starke innere Kräfte (Triebe) beeinflusst wird. Verhalten ist der Versuch, den Konflikt zwischen den persönlichen Be- dürfnissen und den sozialen Erfordernissen zu lösen. Dieser Ansatz wurde am deutlichsten von Sigmund Freud (siehe auch Kapitel 2.4.4 und Kapitel 8.2.2), der auch als Begründer dieser Richtung gilt, vertreten, seitdem aber auch von anderen Psychologen und Psychologinnen weiterentwickelt. Durch die Verdeutlichung, dass unbewusste Prozesse menschliches Verhalten be- einflussen, hat der psychodynamische Ansatz viele Bereiche der Psycholo- gie nachhaltig beeinflusst. Behavioristischer Ansatz: Der behavioristische Ansatz erklärt Verhalten durch beobachtbare Reize und Reaktionen, sowie beobachtbare Konsequenzen, welche auf die Reaktionen folgen. Als Begründer des Behaviorismus gilt John Watson (siehe auch Kapitel 2.4.3 und Kapitel 5.3.3). Mentale Prozesse, welche nicht direkt beobachtet werden können, werden im behavioristischen Ansatz nicht berücksichtigt. Stattdessen fokussiert man sich auf die genaue und exakte Beschreibung und Überprüfung dessen, was z. B. bei Lernpro- zessen beobachtet werden kann. Humanistischer Ansatz: Der humanistische Ansatz entwickelte sich ab 1950 als Alternative zu den psychodynamischen und behavioristischen Ansichten. In diesem wird der Mensch als ein aktives Wesen gesehen, dessen Hauptauf- gabe es ist, nach positiver Entwicklung zu streben. Bekannte Vertreter wie Carl Rogers und Abraham Maslow (siehe auch Kapitel 8.2.3) betonten die natürliche Tendenz eines Individuums zu geistiger Weiterentwicklung und 14 KAPITEL 1. WAS IST PSYCHOLOGIE? Gesundheit. Der humanistische Ansatz verfolgt eine holistische Herange- hensweise. Das bedeutet, dass der Mensch als Ganzes im Mittelpunkt steht und neben Wissen über Psyche, Körper und Verhalten auch soziale und kul- turelle Faktoren miteinbezogen werden. Kognitiver Ansatz: Der kognitive Ansatz rückt die nicht direkt beobachtaren Vor- gänge wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Denken, Entscheiden und Erin- nern in den Mittelpunkt. Nach diesem Ansatz ist Verhalten – im Gegensatz zum Behaviorismus – nur bedingt das Resultat externer Bedingungen. Men- schen handeln, weil sie mit der Fähigkeit des Denkens ausgestattet sind und von dieser Gebrauch machen. Der kognitive Ansatz ist in den letzten Jahr- zehnten immer mehr zum dominierenden Ansatz der Psychologie geworden, was vor allem in der Allgemeinen Psychologie (siehe Kapitel 5) deutlich wird. Biologisch-neurowissenschaftlicher Ansatz: Der biologische Ansatz geht da- von aus, dass psychische Phänomene auf biochemische Vorgänge im Kör- per zurückgeführt werden können. Daran beteiligt sind u. a. Gene, das Ner- vensystem und das Hormonsystem. Fortschritte in der Hirnforschung und die Entwicklung von Verfahren, mit denen Prozesse im Gehirn sichtbar gemacht werden können, haben schließlich zur Entwicklung der kognitiven Neurowis- senschaften (siehe auch Kapitel 4.1.2) geführt. Diese Ansätze müssen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern können sich auch ergänzen, indem die verschiedenen Ansätze unterschiedliche Aspekte von komplexen psychischen Phänomenen im Blick haben können. Werden mehre- re Perspektiven für die Erklärung eines Phänomens betrachtet, spricht man auch von einem eklektischen Ansatz. Darüber hinaus stellen die verschiedenen An- sätze nicht nur verschiedene Sichtweisen für die Erklärung menschlichen Verhal- tens zur Verfügung, es haben sich aus diesen Ansätzen auch verschiedene An- sätze zur Behandlung von psychischen Störungen entwickelt, wie beispielsweise die Verhaltenstherapie, welche sich stark am behavioristischen Ansatz orientiert, oder die Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers, welcher ein humanistisches Menschenbild zugrunde liegt. 1.4 Ziele der Psychologie Die wissenschaftliche Psychologie verfolgt vier Ziele: Erleben und Verhalten...... beschreiben,... erklären,... vorhersagen und... verändern. Diese Ziele können sowohl in der Forschung als auch in den Anwendungsfel- dern angetroffen werden. 15 KAPITEL 1. WAS IST PSYCHOLOGIE? Beschreiben Damit Verhalten erklärt, vorhergesagt und verändert werden kann, muss zunächst der Ist-Zustand beobachtet und beschrieben werden. Informationen über die psy- chischen Phänomene sollen möglichst genau und systematisch erfasst werden. Die so erfassten Informationen werden auch Daten genannt. Dabei kommen ver- schiedene Methoden zur Datenerhebung zum Einsatz, wie beispielsweise Beob- achtungen, Befragungen, Tests und Experimente (vgl. Kapitel 3.4 und 8.3). Die Verhaltensbeschreibung sollte dabei möglichst objektiv sein – das bedeu- tet, dass die Beschreibung auf Basis des tatsächlich beobachteten Verhaltens, un- abhängig von Erwartungen und Vorstellungen des Beobachtenden erfolgt (Gerrig et al., 2018; vgl. Kapitel 3.3.2). Zwei verschiedene Personen, die das gleiche Ver- halten beobachten, sollen zu gleichen Beschreibungen kommen. Vor allem in der Forschung stellt sich häufig auch die Frage, wie die psychi- schen Phänomene überhaupt sichtbar gemacht werden können, um sie zu be- schreiben (vgl. Kapitel 3.3.2). Wie können Angst, Einstellungen oder Intelligenz beschrieben werden? Die Aufgabe von Psychologinnen und Psychologen ist es daher auch, Tests und Techniken zum Messen der psychischen Phänomene zu entwickeln. Doch auch in der praktischen Anwendung hat das Ziel zu beschreiben Bedeutung. Denken Sie beispielsweise an die Behandlung von psychischen Stö- rungen. Bevor Sie dazu übergehen können eine Person zu behandeln, müssen Sie ein klares Bild von der Person und ihren Problemen/Konflikten erhalten. Erklären Erklärungen gehen über das Beobachtbare hinaus. Psychologinnen und Psycho- logen wollen wissen, warum sich Personen auf eine bestimmte Art verhalten, ver- suchen Muster zu erkennen und entwickeln entsprechende Theorien anhand de- rer das Verhalten erklärt werden kann. In der Regel wird davon ausgegangen, dass Verhalten durch die Kombination mehrerer, verschiedener Faktoren erklärt werden kann. Erklärende Faktoren können in dispositionale und situative Fakto- ren unterteilt werden. Unter dispositionalen Faktoren versteht man zeitlich stabile Merkmale, welche innerhalb der Person liegen. Dazu gehören beispielsweise die genetische Ausstattung, erlernte Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Bedürfnisse, In- teressen oder auch Persönlichkeitsmerkmale. Unter situativen Faktoren versteht man Faktoren, welche von der Umwelt auf das Individuum einwirken. Dazu zählen beispielsweise Verhaltensweisen anderer Personen, mit denen das Individuum in Kontakt steht, das Wetter oder ganz generell Situationen, denen das Individuum ausgesetzt ist (Gerrig et al., 2018). Die verschiedenen Teildisziplinen der Psycho- logie fokussieren sich in ihren Erklärungen in unterschiedlichem Ausmaß auf dis- positionale und situative Faktoren. Die Persönlichkeitspsychologie beispielsweise hat ihren Fokus primär auf den dispositionalen Faktoren, während sich die Sozial- psychologie in erster Linie mit situativen Faktoren beschäftigt. In diesem Lernskript werden Ihnen viele Theorien zur Erklärung des menschlichen Erlebens und Ver- haltens begegnen. Die in der Forschung erlangten Erklärungen finden wiederum in der praktischen Arbeit Anwendung, wenn es beispielsweise darum geht, zu ergrün- 16 KAPITEL 1. WAS IST PSYCHOLOGIE? den, warum Kinder (noch) Schwierigkeiten bei der Perspektivenübernahme haben oder warum sich eine Person zwanghaft verhält. Vorhersagen In der Psychologie versteht man unter Vorhersagen Aussagen über die Wahr- scheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Verhalten auftreten wird. Wurde eine zu- treffende Erklärung für das zuvor beschriebene Verhalten gefunden, erlaubt diese Erklärung meist auch eine Vorhersage über zukünftiges Verhalten. Eine treffende Erklärung für ein Verhalten hilft also auch bei der Vorhersage von zukünftigem Ver- halten in ähnlichen Situationen. Dieses kann dann wiederum beobachtet und die vermutete dahinterliegende Theorie überprüft werden. Dazu ist es wichtig, dass wissenschaftliche Vorhersagen exakt formuliert werden, um auch getestet und ge- gebenenfalls zurückgewiesen werden zu können (Gerrig et al., 2018). In der Pra- xis spielt das Ziel des Vorhersagens beispielsweise bei der Personalauswahl eine wichtige Rolle, da man mithilfe entsprechendener Auswahlverfahren versucht vor- herzusagen, ob eine Passung zwischen den Eigenschaften einer Person und den beruflichen Anforderungen besteht. Verändern Das Ziel der Verhaltensänderung ist häufig das Hauptanliegen praktisch arbeiten- der Psychologinnen und Psychologen. Es findet sich insbesondere in der Therapie von psychischen Störungen wieder, aber auch anderweitig wollen Psychologinnen und Psychologen das Verhalten von Menschen ändern. Zum Beispiel stellen sich Gesundheitspsychologen und -psychologinnen die Frage, wie man Menschen da- zu bewegen kann, mehr Sport zu treiben und sich gesünder zu ernähren. Mit der Möglichkeit der Verhaltensänderung geht eine große Verantwortung einher, da die Einflussnahme auf das Verhalten immer zum Wohl der Person geschehen muss und kein Schaden entstehen darf (Bourne & Ekstrand, 2005). Dadurch ist das Ver- ändern von Erleben und Verhalten auch immer eine ethische Frage, da Personen mit psychischen Erkrankungen nicht zwangsläufig eine Veränderung ihrer Situa- tion wünschen. Folglich benötigt der/die Psychologe/Psychologin einen Behand- lungsauftrag von der betreffenden Person. Erst dadurch wird eine psychologische Intervention ethisch vertretbar. 17 KAPITEL 1. WAS IST PSYCHOLOGIE? 1.5 Ethische Prinzipien in der Psychologie Psychologinnen und Psychologen haben durch ihren Beruf eine große Verantwor- tung sowohl gegenüber anderen Personen als auch gegenüber der Gesellschaft im Allgemeinen und müssen daher in der Wissenschaft wie auch in der Praxis ethi- sche Prinzipien beachten. Im Bereich der Forschung müssen Studien zum Beispiel häufig erst von einer Ethikkommission hinsichtlich der Erfüllung ethischer Stan- dards positiv begutachtet werden. In der Praxis kann beispielsweise das vorhan- dene Machtverhältnis zwischen Psychologinnen und Psychologen auf der einen Seite und Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite eine mögliche Gefah- renquelle für unethisches Verhalten sein. Die American Psychological Association (APA) hat fünf ethische Grundsätze formuliert, an die sich Psychologinnen und Psychologen in Forschung, Praxis und Lehre halten sollen (American Psychologi- cal Association, 2017): Wohltätigkeit und Nicht-Schaden: Psychologinnen und Psychologen verfolgen stets das Wohl aller Personen und Tiere, mit denen sie durch ihre Praxis oder Forschung Kontakt haben und versuchen Schaden zu verhindern oder zu minimieren. Loyalität und Verantwortung: Psychologinnen und Psychologen sind sich be- wusst über das Vertrauen, das ihnen entgegengebracht wird, und welche Verantwortung sich daraus gegenüber der Gesellschaft und Einzelpersonen ergibt. Sie halten sich an berufliche Verhaltensstandards und tauschen sich mit anderen Berufsgruppen und Institutionen aus, um stets im besten Inter- esse, derer zu handeln, mit denen sie arbeiten. Integrität: Psychologinnen und Psychologen dürfen in keiner Form unrechtmäßi- ge Handlungen, wie Betrug, absichtliche Falschdarstellung von Fakten und Täuschung ausführen und sind in Forschung, Lehre und Praxis bestrebt, nach Prinzipien der Ehrlichkeit, Genauigkeit und Wahrhaftigkeit zu handeln. Vor allem ältere psychologische Untersuchungen haben nur in sehr mangel- haftem Ausmaß auf Integrität geachtet. Das Milgram-Experiment (Milgram, 1963, siehe auch Kapitel 7.3.4) beispielsweise würde daher heutzutage in der ursprünglichen Form nicht mehr durchgeführt werden dürfen. Gerechtigkeit: Psychologinnen und Psychologen erkennen, dass jede Person in gleichem Ausmaß von den Erkenntnissen der Psychologie und deren An- wendung profitieren sollte. Sie erkennen die Grenzen ihrer eigenen Kompe- tenz und ihres Wissens, ihre mögliche Unvoreingenommenheit und sorgen dafür, dass diese nicht zu ungerechtem Verhalten führen. Respekt für die Rechte und Würde von Personen: Psychologinnen und Psycho- logen respektieren die Würde aller Menschen und ihr Recht auf Privatsphäre, Vertraulichkeit und Selbstbestimmung, sowie individuelle, kultur- oder rollen- spezifische Unterschiede. Letztere sind im Kontakt mit Personen zu berück- sichtigen und darauf basierende Vorurteile zu eliminieren. 18 Kapitel 2 Geschichte der Psychologie Abbildung 2.1: „Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte“ (Hermann Ebbinghaus, 1908; nach Herzog, 2012, S. 11) Im Laufe der historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie gab es zahlreiche psychologische Strömungen, in denen verschiedene Grundannah- men kontrovers diskutiert wurden – zum Beispiel die Trennung oder Zusammen- gehörigkeit von Leib und Seele (siehe Kapitel 2.1.1), die Auffassung von Wahrneh- mung und Bewusstsein (Kapitel 2.2.3) oder auf welchen Prozessen menschliches Verhalten beruht (Kapitel 2.4).B B Die Struktur und Inhalte dieses Kapitels basieren auf mehreren Säulen: Einerseits auf den Vorlesungsunterlagen der VO Geschichte der Psychologie des Fachbereichs Psychologie der Uni- versität Salzburg, die von Ao. Univ.-Prof. Dr. Christian Allesch erstellt und von Mag. Markus Meindl in Kooperation mit Christian Allesch erweitert wurden, andererseits auf dem Lehrbuch von Schön- pflug (2013). Zusätzlich wurden intensive Gespräche mit Mag. Markus Meindl geführt, deren Inhalte in dieses Kapitel eingearbeitet wurden. 19 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Die diversen Standpunkte dieser Kontroversen werden verschiedenen psycho- logischen Schulen beziehungsweise Paradigmen (siehe Infobox 2.1) zugeordnet. Immer wieder kommt und kam es im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie zu einem Paradigmenwechsel, also Veränderun- gen von aktuell vorherrschenden Auffassungen innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie. Die folgenden Seiten sollen einen Überblick über die historische Entwicklung der Psychologie als Forschungsgegenstand liefern, beginnend mit den philosophi- schen Wurzeln der Psychologie. Infobox 2.1: Paradigma Ein psychologisches Paradigma beschreibt ein vorherrschendes Denkmuster, Grundannahmen sowie akzeptierte Experimentalmethoden. Es bildet die Grundlage der wissenschaftlichen Orien- tierung und steuert damit die wissenschaftliche Realitätsauslegung – was derzeit als „wahr“ oder „gültig“ angesehen wird. 2.1 Wurzeln der Psychologie: Philosophie und die Seele Verschiedene Kulturen beschäftigten sich schon 1000 v. Chr. mit dem Konzept der menschlichen Seele. Das Verständnis von „der Seele“ war auf sehr vagen Vorstel- lungen begründet, die zwangsläufig zur Entwicklung von Mythen über das Seelen- leben führten. Der Begriff „Seele“ ist aus der wissenschaftlichen Psychologie mittlerweile weit- gehend verschwunden beziehungsweise durch andere Konzepte abgelöst oder er- weitert, aber diese anfänglichen Überlegungen zum Konzept der menschlichen Seele stellten zentrale Weichen für die heutige Psychologie. 2.1.1 Ursprünge des Seelenbegriffs Eine frühe Kultur, die sich mit dem Konzept der Seele beschäftigte, war die der Or- phiker – ein Volk aus dem alten Griechenland (ca. 600 v. Chr.). Sie gingen davon aus, dass der Mensch aus zwei grundlegenden Teilen besteht: dem stofflichen Körper und der unstofflichen Seele. Diesem Verständnis nach waren die beiden Teile voneinander getrennt. Starb der Körper, war es möglich, dass die Seele al- leine weiterlebte. Darauf aufbauend formulierten die Orphiker Annahmen über das Schicksal der Seele: Ein Körper besitzt genau eine Seele. Die Seele ist unsterblich. Die Wanderung der Seele von einem zum anderen Körper wird als Kreis- lauf von Leben und Tod gesehen. Eine Seele braucht nicht zwingend einen Körper. 20 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Die Orphiker sprachen der Seele nicht nur eine höhere Stellung als dem – im Vergleich – minderwertigeren Körper zu, sondern betrachteten den Körper auch als Gefängnis der Seele. Die Seele wurde zwar nicht als unfehlbar angesehen, sie war nach orphischer Auffassung jedoch in der Lage, sich im Schuldfall (Unkeuschheit, Geiz; vgl. Merkelbach, 1951) durch Sühne wieder schuldfrei zu machen, wohinge- gen es dem Körper unmöglich war, sich aus seiner Unvollkommenheit zu befreien. Das dualistische Denken der Orphiker fand sich nicht nur in der Zweiteilung von Körper und Seele wieder, sondern auch in der Teilung zwischen Diesseits, welches als unvollkommen, schlecht und Unglück bringend angesehen wurde, und Jenseits, welches für Vollkommenheit, Güte und Glück stand. Der Körper wurde als Teil des Diesseits und die Seele als Teil des Jenseits angesehen. Bei Ver- gehen, die erst gebüßt werden mussten, wurde nach orphischer Auffassung die Seele vom Körper im Diesseits zurückgehalten und somit das menschliche Leben als Kampf zwischen Seele und Körper betrachtet. Den orphischen Lehren entspre- chend sollte alle Schönheit und Wahrheit im Jenseits zu finden sein: in der Heimat der Seele, wo es dieser möglich war, ihrer ursprünglichen göttlichen Natur gleich- zukommen. Um etwa 300 v. Chr. bekam die Psychologie durch die Begründung unterschied- licher Akademien beziehungsweise Denkschulen in der griechischen Antike eine erste – erst retrospektiv erkennbare – Systematik. Dort wurde von Philosophen Na- turkunde, Grammatik, Rhetorik, Dialektik und Ethik gelehrt. Diese Gemeinschaften bestanden über mehrere Generationen hinweg; ihre Mitglieder setzten sich mit phi- losophischen Fragen auseinander. Durch die Wissensweitergabe von Lehrern an ihre Schüler2 , die dann wiederum Lehrer der nächsten Schülergeneration wurden, entwickelten sich unterschiedliche Betrachtungsweisen zwischen den Denkschu- len. Psychologische Lehren fielen damals unter die Ethiklehren. Der Begriff Psy- chologie entstand erst im Mittelalter an den Universitäten (Gundlach, 2004). In den folgenden Absätzen werden antike Philosophen, die zu den einfluss- reichsten Denkern zählen und mit ihren Lehren den Weg der modernen Psycholo- gie geebnet haben, auszugsweise dargestellt. Platon (427–347 v. Chr.) lehrte eine dualistische Sicht der Seele, welche auf den orphischen Lehren begründet war. Seiner Auffassung nach haucht die un- sterbliche Seele dem Körper, der auch als „Wohnstatt der Seele“ verstanden wird, Leben ein. Die Existenz der Seele besteht unabhängig vom Körperlichen und wird als beständig und vollkommen betrachtet. Im Gegensatz dazu gilt der Körper als trügerisch und unvollkommen sowie der Seele untergeordnet. Diese vollkomme- ne Beschreibung der Seele erklärt auch, warum Platons Lehren als dualistisch (eben aufgrund der Zweiteilung) und idealistisch bezeichnet werden. Gemäß Pla- tons Verständnis ist die Seele kein einheitliches Konstrukt, sondern setzt sich aus drei Teilseelen zusammen (Schönpflug, 2013): 2 ausschließlich männliche Lehrer und Schüler 21 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Die erste Teilseele, die begehrende/versorgende Seele, sitzt im Unter- leib und ist auf körperliche Begierden ausgerichtet (Essen, Trinken, Fort- pflanzung). Die zweite Teilseele, die zielstrebige/entschlossene Seele, ist in der Brust verortet und steht in Zusammenhang mit Emotionen. Der dritte und höchste Seelenteil, die denkende/vernünftige Seele, ist im Kopf angesiedelt. Die Vernunftseele hat die Aufgabe, Begierden und Temperament zu kontrollieren und führt dadurch die drei Seelenteile zu einer vollständigen Seele zusammen. Aristoteles (384–322 v. Chr.) war ein Schüler Platons (siehe Abbildung 2.2) und gründete später seine eigene Schule. An- fangs war er der dualistischen Ansicht über die Seele, wie sie von Platon ver- treten wurde, noch zugewandt, aber im Verlauf der Zeit kam er zu der Ansicht, dass man die Seele nicht ohne den Kör- per betrachten könne, sondern diese zwei Einheiten untrennbar miteinander verbun- den seien. Für Aristoteles stellte die Seele die Vervollständigung des Körpers dar, die diesen erst zum Lebewesen macht. Ari- stoteles sprach sich für verschiedene Ar- ten der Seele bei Pflanzen, Tieren und Menschen aus. Die vegetative Seele oder auch Pflanzenseele besitzt die Grundfä- higkeit zu Ernährung, Wachstum und Fort- pflanzung, wohingegen die animalische Abbildung 2.2: Während der in den Seele oder Tierseele über die Grundfä- Himmel zeigende Platon (li.) ein Ver- higkeiten hinaus die Sinneswahrnehmung, fechter eines idealistischen Weltbil- Begierde und Fortbewegung formt. Die des war, stand für den auf den Boden dritte Seelengruppe wird als denkende zeigenden Aristoteles (re.) die unmit- Seele oder Geistseele bezeichnet und telbare sinnliche Erfahrung der Um- formt zusätzlich die Fähigkeit zur Logik. welt im Mittelpunkt Diese dritte Seelengruppe besitzen nur Menschen. Aristoteles ging davon aus, dass die Seele den Organen Form und Gestalt und somit auch ihre Zweckmäßigkeit gibt (z. B. formt die Seele das Auge und ein Auge ist zur visuellen Wahrnehmung der Umwelt bestimmt). Neben den verschiedenen Auffassungen und Abhandlungen zum Seelenbe- griff versuchten andere Gelehrte, Menschen aufgrund verschiedener Merkmale zu charakterisieren. Grundlage dafür waren meist konkrete Verhaltensweisen, die Menschen zeigten und sich in Klassen zusammenfassen ließen. So formulier- te z. B. Theophrast, welcher der aristotelischen Schule entstammte, 30 Charak- terskizzen, darunter „der Geizige“, „der Mitteilungsbedürftige“ und „der Taktlose“. 22 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) war Begründer und Namensgeber des hip- pokratischen Eids – der grundlegenden ärztlichen Ethik – und versuchte mit der Vier-Säfte-Lehre medizinische Erklärungen für Krankheiten zu finden. Erst ca. 600 Jahre später wurde von Galen (ca. 129–199 n. Chr.) der Bezug der hippokrati- schen Vier-Säfte-Lehre zur Persönlichkeit hergestellt, indem er die Temperamen- tenlehre entwarf, in welcher ein funktioneller Zusammenhang von physischen und psychischen Phänomenen postuliert wurde (Eckardt, 2017). Je nachdem welcher Körpersaft dominant ist, wird dem Menschen einer der folgenden Temperamentty- pen zugewiesen: Sanguiniker: Der vorherrschende Körpersaft ist das Blut. Sanguiniker werden als freudvolle, schnell und stark erregbare Menschen beschrie- ben. Phlegmatiker: Der vorherrschende Körpersaft ist der Schleim. Phlegmati- ker zeichnen sich durch langsame und schwache Reaktionen aus, jedoch sind sie dabei freundlich. Choleriker: Der vorherrschende Körpersaft ist die gelbe Galle. Choleriker gelten als temperamentvoll, zudem sehr schnell und stark erregbar und leicht zu verärgern. Melancholiker: Der vorherrschende Körpersaft ist die schwarze Galle. Melancholiker zeichnen sich durch starke Gefühle von Traurigkeit aus, nei- gen zu Schwermut und Trübsinn. Die Theorie Galens brachte menschliche Verhaltensweisen mit Körpersäften in Verbindung und er postulierte damit eine Persönlichkeitstypologie, die bis ins 20. Jahrhundert bedeutsam war (siehe Kapitel 8.2). 2.1.2 Die römische Antike und das Mittelalter Im Gegensatz zu den Griechen gründeten die alten Römer keine eigenen Schulen, aus denen philosophisch-psychologische Lehren hervorgingen. Unter den Römern gab es jedoch Gelehrte, welche die griechischen Lehren weitertrugen. Durch den Einzug des Christentums ins römische Reich wurde das Streben nach Erkenntnis und die Erforschung der Psyche und des Geistes abgelöst von dem Ziel, möglichst fromm und rechtgläubig zu leben. Bis ins Mittelalter waren alle philosophischen Lehren, die in dieser Zeit von Kirchenlehrern vorgetragen wurden, mit einem auf Gott bezogenen Hintergrund versehen. Augustinus (354–430 n. Chr.) war ein christlicher Kirchenvater, der auch als ausgezeichneter Philosoph bekannt war. Für Augustinus lag im christlichen Glau- ben die höchste Form der Erfahrung. Sein Glaube spiegelte sich auch in seiner Erkenntnistheorie wider. Die Einigkeit von Körper, Geist und Seele beschrieb Au- gustinus als Natur des Menschen, wobei Geist und Seele für ihn ineinandergrei- fende Begriffe waren. Platonische Vorstellungen über das Verhältnis von Körper und Seele sowie einer hierarchischen Anordnung von Seelen(teilen) wurden von Augustinus weitergetragen und im christlichen Sinne ausgeführt. 23 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Er verstand Körper und Seele als zwei gegensätzliche Substanzen, die jedoch von Natur aus zusammengehören: Der Körper als Materie stellt den „äußeren Men- schen“ dar, während die Seele als etwas Immaterielles (Geistiges) den „inneren Menschen“ darstellt. Die Seele war für Augustinus nicht in einem Körperteil veror- tet, sondern im gesamten Körper gegenwärtig. Obwohl er ein Einwirken des Kör- pers auf die Seele für unmöglich hielt, sah er das Nervensystem als relevantes Organ beziehungsweise Vermittler für die Wirksamkeit der Seele an: Reize in der Außenwelt rufen körperliche Reaktionen hervor, die wiederum die Aufmerksamkeit der Seele erregen. Nach Augustinus steht die seelische Substanz von der Wertig- keit her über dem Körper, denn sie ist dem Göttlichen geöffnet (Schwarz, 1955). Im Verlauf des Mittelalters behielten die verschiedenen Ordensgemeinschaften (z. B. die Benediktinermönche) nicht nur die Treue zum Glauben, sondern auch die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft bei. Forschung passierte vorwiegend durch Klöster- und Stiftsschulen. Das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis führte gegen Ende des Mittelalters zu enormem wissenschaftlichen Aufschwung und der damit einhergehenden Gründung von Universitäten. An den damaligen Universi- täten wurde eine überschaubare Menge an Fächern gelehrt. Neben dem Studium der Medizin, Rechtswissenschaft und Theologie war es die Philosophie, die über allen Fächern stand und sich in die Teildisziplinen Metaphysik, Natur- und Moral- philosophie aufteilte. Für einen Aufschwung der Philosophie sorgten die Schriften von Thomas von Aquin (1225–1274). Er war ein Kirchenlehrer, Theologe und Philosoph, der im 13. Jahrhundert an Universitäten unterrichtete und die Schriften der alten Grie- chen kommentierte. Seine Argumentationen stützten sich größtenteils auf Lehren des Aristoteles und schafften es, eine Schnittstelle zwischen Glauben und Wis- senschaft zu erzeugen. Thomas von Aquin war ein Hauptvertreter der Scholastik, also der Vereinigung von aristotelischem Denken mit der christlichen Lehre. Auf- bauend auf der Philosophie von Aristoteles beschrieb er drei Arten von Seelen: 1. Vegetation: unbewegliche, nicht schmerzempfindliche Natur 2. Tiere: sensitive, über Sinneswahrnehmungen verfügende, bewegliche und schmerzempfindliche Natur 3. Menschen: intellektive Natur, die mit Denkvermögen ausgestattet ist und Sinneswahrnehmungen strukturieren kann Nach Aquins Verständnis wird die menschliche Seele von Gott aus dem Nichts erschaffen, indem er im Schöpfungsakt dem Embryo an Stelle der sensitiven Form eine intellektive Form, die Geistseele einflößt. Die Geistseele ist im Vergleich zu vegetativen und sensitiven Seelen nicht an die tragende Materie, also den Körper, gebunden. Als von Gott Geschaffenes kann diese nach dem Tod des Körpers nicht vergehen. Der Tod beendet lediglich ihr Dasein in dieser Welt, womit die Seele Platz in einer anderen Wirklichkeit findet (Peitz, 2013). 24 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE 2.1.3 Rationalismus versus Empirismus Im Zeitalter der Aufklärung (ca. 1650–1800) gab es zwei vorherrschende Strömun- gen, innerhalb derer sich das (philosophische) Denken entwickelte und die somit das Menschenbild dieser Zeit prägten: der auf logischem Denken basierende Ra- tionalismus und der auf Erfahrungen basierende Empirismus. Rationalismus Die im Rationalismus vertretene Kernannahme besagt, dass es neben der körperlichen Welt auch eine Welt des Verstandes gibt, in der die Vernunft regiert. Vernunft führt zu logi- scher Ordnung und Vollkommenheit. Es domi- nierte die Vorstellung, dass Wissen nicht durch Körperliches erfahrbar ist, weil Empfindungen nicht als vertrauenswürdige Quelle angesehen werden können, sondern ausschließlich durch die Nutzung des Verstandes erkannt werden kann. Einer der wichtigsten Vertreter des Rationa- lismus im 17. Jahrhundert war der französische Philosoph René Descartes (1596–1650; siehe Abbildung 2.3). Für ihn galt einzig die Vernunft Abbildung 2.3: René Descar- als Basis und bewährte Methode für den Erkennt- tes, ein Hauptvertreter des Ra- nisgewinn. Von ihm stammt auch der bekann- tionalismus te Ausspruch „cogito ergo sum“: Ich denke, al- so bin ich. Er lieferte einen maßgeblichen Bei- trag zur Prägung des dualistischen Menschen- bildes (siehe Infobox 2.2), das die gleichzeiti- ge Verschiedenheit und Verflochtenheit von Kör- per und Geist betont, ein Bild, das bis heute im Sprachgebrauch und im Denken Fortbestand hat (wenn z. B. zwischen „physischen“ und „psychi- schen“ Krankheitsursachen unterschieden wird). Descartes beschäftigte, wie die Vorstellung einer körperlichen, stofflichen Welt (die res ex- tensa) mit der geistigen Welt (die res cogitans), die dem Stofflichen enthoben ist, in Einklang ge- bracht werden könne. Er vermutete die Verbin- dung der beiden Entitäten über die Zirbeldrü- Abbildung 2.4: Bei Descartes se (siehe Abbildung 2.4), die seiner Auffassung nahm die Zirbeldrüse eine zen- nach den Mechanismus darstellt, der den stoffli- trale Rolle ein chen Körper über Gefühle mit dem Geist verbin- det: An die Seele werden von in der Zirbeldrüse 25 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE lokalisierten Animalgeistern Bilder übermittelt. Durch die Neigung der Zirbeldrü- se drückt diese auf unterschiedliche Nervenenden, welche körperliche Reaktionen auslösen. Er war außerdem ein Verfechter davon, den menschlichen Körper als „Maschine“ zu betrachten (mechanistisches Menschenbild) und trennte zwischen intellektueller Wahrnehmung, die er als Weg zur Wahrheit betrachtete, und der sinnlichen Wahrnehmung, die er primär als vorteilhafte natürliche Funktion des menschlichen Körpers ansah (vgl. Hatfield, 2014). Infobox 2.2: Dualismus vs. Monismus Dualismus und Monismus stellen zwei Sichtweisen auf das Leib-Seele-Problem dar. Darunter versteht man die Frage, wie sich mentale Zustände zu den körperlichen Zuständen verhalten. Das Menschenbild des Dualismus geht davon aus, dass Leib und Seele voneinander unabhän- gige Einheiten sind und wurde beispielsweise von Descartes vertreten. Die Gegenposition zum Dualismus stellt der Monismus dar, welcher eine Einheit von Körper und Seele propagiert. Einer der Hauptvertreter des Monismus war der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632– 1677). Empirismus Für den Empirismus charakteristisch ist der Zwei- fel an der Existenz einer objektiven Welt. Der em- piristische Zugang zum Ursprung des Wissens liegt allein in dem, was wahrgenommen werden kann. Ein Erkenntnisprozess kann nur durch das Studium subjektiver Eindrücke durch (Sinnes-)- Erfahrung und nicht allein durch Vernunft erfol- gen. Dieser Zugang zur Wirklichkeit kann einer- seits über die Beobachtung, andererseits über das Experiment erfolgen (Liesen, 2010). Der Em- pirismus geht davon aus, dass der menschliche Geist bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt ist und Erkenntnis nur durch sinnliche Erfahrung der stofflichen Welt möglich ist. Es stehen zwei Abbildung 2.5: John Locke Quellen der Erkenntnis zur Verfügung: Die Sen- sation, die Wahrnehmung äußerer Reize über die Sinne, und die Reflexion, Be- wusstseinsvorgänge, Tätigkeiten des Geistes und Beobachtung des eigenen Den- kens. Einer der wichtigsten Empiristen war der englische Philosoph und Natur- wissenschafter John Locke (1632–1704; siehe Abbildung 2.5), welcher auch die erste empiristische Erkenntnistheorie verfasste (Schönpflug, 2013). Er beschrieb den Prozess der Erkenntnis in vier Stufen: Sinnliche Erfahrung führt zu partikulären Ideen (1.), welche dann abstrahiert (2.) und verbalisiert werden (3.), wodurch ein Diskurs über unterschiedliche Erfahrungen möglich wird (4.). 26 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE David Hume (1711–1776), ein weiterer Vertreter des Empirismus, sah die As- soziation als alleiniges Prinzip der geistigen Ordnung an: Elementare Sinnesemp- findungen fügen sich durch Verbindung von Ideen zu immer umfassenderen Er- kenntnissen zusammen. Dies geschieht nach zwei grundlegenden Assoziations- prinzipien: dem Prinzip der Ähnlichkeit und dem Prinzip der Kontiguität. Diese Überlegungen bildeten den Beginn der Assoziationstheorie (Schönpflug, 2013). 2.2 Anfänge der wissenschaftlichen Psychologie 2.2.1 Die Vernunft als Schlüssel zur Wissenschaft Eine wichtige Persönlichkeit auf dem Weg der Etablierung der Psychologie als Wissenschaft im 18. Jahrhundert war Immanuel Kant (1724–1804). Kant griff den Grundsatz des Empirismus, dass Erkenntnis durch sinnliche Erfahrung entsteht, auf und ergänzte diesen Ansatz mit der Verbindung zum Denken. Kant ging davon aus, dass die reine empirische Beobachtung nicht alle Informationen enthalten kann, sondern dass Sinneseindrücke mit den Vorstellungen des Verstandes ver- knüpft werden müssen, um Erkenntnis zu erlangen. Er betonte die Wichtigkeit von Eindeutigkeit, Gewissheit und Beständigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse und hob hervor, dass die Gegenstände der Psychologie (z. B. Gedanken, Stimmungen etc.) nicht exakt darstellbar bzw. „mathematisierbar“ seien. Ohne Messung und mathematische Formulierung war für Kant eine exakte Wissenschaft nicht mög- lich, weshalb seiner Meinung nach die Psychologie lediglich als beschreibende und nicht exakte Wissenschaft angesehen werden könne (vgl. Fahrenberg, 2022). Daher käme der (empirischen) Psychologie ein geringerer Stellenwert unter den Wissenschaften zu (Kant, 1790, S. 47).3 Nach der Zeit der Aufklärung folgten erste Entwicklungen, in denen sich die Psychologie als eigenständige Wissenschaft zu etablieren be- gann. Ein Grund dafür war, dass das Interesse an der Lehre über das menschliche Verhalten in der Gesellschaft auf immer breiteres Interesse stieß. Die erste deutschsprachige psychologische Zeitschrift, die auch als Vorreiter psychologischer Fachzeitschriften gesehen werden kann, begrün- dete Karl Philipp Moritz (1756–1793, siehe Ab- bildung 2.6) Ende des 18. Jahrhunderts mit seinem Magazin für Erfahrungsseelenkunde (Meier, 1997). Er verstand sein Magazin als Mög- lichkeit, empirische Erkenntnisse über Seelenge- sundheit und -krankheit zu bündeln, also die Ge- Abbildung 2.6: Karl Philipp Mo- sellschaft mit Fakten anstatt mit „Anekdoten und ritz 3 Diese Annahme Kants wurde jedoch bereits eine Generation später widerlegt. Beispielsweise konnte Herbart (siehe Kapitel 2.2.3) die Assoziationstheorie mathematisch darstellen. 27 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Tratsch“ zu versorgen. Das Magazin erschien für zehn Jahre regelmäßig und war ein wichtiger Wegbereiter für die Populärpsychologie, aber auch für die wissen- schaftliche Psychologie (Schönpflug, 2013). So kam es, dass neben ihm auch Ärzte, Philosophen, Pastoren und andere Gelehrte Beiträge in den Rubriken See- lennaturkunde, Seelenzeichenkunde, Seelenkrankheitskunde und Seelenheilkun- de verfassten. Die einzelnen Bereiche beschäftigten sich mit unterschiedlichen Teilgebieten: Seelennaturkunde: Thema war die Beschreibung von psychischen Phänome- nen – es wurden beispielsweise Überlegungen hinsichtlich der Natur von Kindheitserinnerungen oder Träumen angestellt. Seelenzeichenkunde: Es wurden Typisierungen, Charaktermerkmale und ihre Ka- tegorisierung diskutiert. Dies entspricht heute dem Gebiet der Persönlich- keitspsychologie und Psychologischen Diagnostik. Seelenkrankheitskunde: Diese Rubrik kann als Vorreiter der klinischen Psycho- logie betrachtet werden. Zum Gegenstand wurde hier normabweichendes Verhalten (z. B. harte Strafen, Misshandlungen oder Mord). Dies entspricht heute dem Gebiet der Psychopathologie. Seelenheilkunde: Beiträge dieser Rubrik beschäftigten sich mit der Heilung von Seelenkrankheiten. Dies entspricht heute dem Gebiet der Psychotherapie. 2.2.2 Einflussreiche Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert Im Folgenden werden auszugsweise weitere Entwicklungen und Strömungen im 18. und 19. Jahrhundert vorgestellt, welche die Entwicklung der Psychologie als Disziplin beeinflusst haben. Ausdruckspsychologie: Physiognomik und Phrenologie Die Ausdruckspsychologie war eine erste – mittlerweile veraltete – psychologische Lehre, die sich mit der körperlichen Erscheinung und der damit einhergehenden psychologischen Bedeutung befasste. Zur Ausdruckspsychologie zählte unter an- derem die Physiognomik, deren Ziel es war, anhand der Ausdrucksmerkmale des Gesichts und des Körpers einer Person auf deren Charaktereigenschaften zu schließen. Die Physiognomik beruht auf der Annahme, dass sich Seelisches im Körperlichen ausdrückt. Johann Caspar Lavater (1741–1801), Hauptvertreter der Physiognomik, entwickelte Regeln zur Diagnose von Charakterzügen aus dem Gesichtsausdruck (siehe Abbildung 2.7). Intelligenz ließe sich seiner Vorstellung nach beispielsweise an einer hohen Stirn erkennen, oder die Form der Nase als relevantes Merkmal im Zusammenhang mit dem Drang zur Selbstverwirklichung interpretieren. Lavater lieferte mit seiner Verbindung von körperlichen Merkma- len und Charaktereigenschaften ein einfach anwendbares Kategorisierungssystem für Persönlichkeitsausprägungen, das in der akademischen Psychologie allerdings nur mehr von historischem Interesse ist. 28 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Abbildung 2.7: Ein Ausschnitt aus J.C. Lavaters Werk Physiognomische Fragmen- te, 1789 Eine weitere Richtung, die anhand von körperlichen Merkmalen auf psychologi- sche Fähigkeiten schloss, war die Phre- nologie. Ein Arzt, der mit dieser Leh- re in Zusammenhang gebracht wird, ist Franz Joseph Gall (1758–1828). Er ging von der Annahme aus, dass sich aufgrund der Form und Größe des Schädels die Ausprägung der darunterliegenden Hirn- areale abschätzen ließe. Dabei brachte er die unterschiedlichen Hirnareale mit be- stimmten Charaktereigenschaften und Fä- higkeiten in Verbindung (siehe Abbildung 2.8). Gall erklärte sich durch die Schä- delausprägungen nicht nur Unterschiede hinsichtlich menschlicher Charaktereigen- Abbildung 2.8: Verortung der Fähig- schaften, sondern auch die Neigung zu keiten nach Franz Joseph Gall kriminellem und pathologischem Verhalten (Schönpflug, 2013). Er ging also davon aus, dass man von der Schädelform auf den Charakter schließen könne. Diese Annahmen stellten sich als falsch heraus. Unabhängig davon konnte aber später gezeigt werden, dass spezifischen Cortexarealen konkrete Aufgaben etc. zugeord- net werden können (beispielsweise das Broca-Areal, siehe Abbildung 4.3). 29 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Der Positivismus Der Positivismus fordert von allen Wissenschaften die vorurteilsfreie Erfassung von ausschließlich überprüfbaren Tatsachen. Ausserdem sollten sie sich auf Er- fahrung als einzige Quelle der Erkenntnis beschränken. Als Begründer gilt Augus- te Comte (1798–1857), der auch als Begründer der Soziologie gilt. Schönpflug (2013) führt folgende Annahmen beziehungsweise Forderungen des Positivismus an: Wissenschaftliche Analyse hat sich auf Tatsachen und deren beobachtba- re Beziehungen zu stützen. Metaphysische Deutungen sind wissenschaftlich nicht zulässig. Maßstab der Wahrheit ist die Gewissheit, welche durch die Übereinstim- mung der Forschenden entsteht. Wissenschaft ist grundsätzlich unvollendet. Es bleibt stets eine Wirklich- keit, die durch Wissen nicht erfasst wird. Das alleinige Sammeln von Beobachtungen ist für eine Wissenschaft nicht ausreichend! Aus Beobachtungen sind Theorien abzuleiten. Positive Wissenschaft dient dem technischen und sozialen Fortschritt. Die positivistische Forderung nach nachvollziehbaren Beobachtungen führte zum Einsatz quantitativer Methoden der Zählung und Messung in naturwissen- schaftlich orientierten Richtungen. Am deutlichsten wurde die Doktrin des Positi- vismus im amerikanischen Behaviorismus (vgl. Kapitel 2.4.3) weitergeführt: Er er- kennt ausschließlich das beobachtbare Verhalten als möglichen Gegenstand einer wissenschaftlichen Psychologie an und lehnt die nicht der objektiven Beschreibung zugänglichen Bewusstseinsinhalte als wissenschaftliche Erkenntnisgrundlage ab. Der Darwinismus Bis ins 18. Jahrhundert nahm man an, dass Arten unveränderlich seien. Danach verbreiteten sich Theorien, die höhere Gattungen als Abkömmlinge niederer Gat- tungen ansahen. Diese Theorien stießen auf heftigen Widerstand, vor allem, weil sie im Widerspruch zur biblischen Schöpfungsgeschichte standen. Charles Dar- win (1809–1882) entwickelte eine Theorie, nach der die einzelnen Gene sponta- nen Veränderungen (Mutationen) unterworfen sind und sich neue Genkombina- tionen durch die Paarung von Individuen ergeben. Die Erscheinungen und Fähig- keiten eines Individuums variieren daher und sind je nach Beschaffenheit unter- schiedlich gut der Umgebung angepasst. Nach seiner Evolutionstheorie bedeu- tet eine bessere Anpassung an die Umwelt mehr Nahrung, Schutz und bessere Chancen, Nachwuchs hervorzubringen und aufzuziehen. Während sich also gut angepasste Arten fortpflanzen können, sterben unzureichend angepasste Arten aus (Selektion).4 4 Der Ausdruck „Survival of the Fittest“ meint das Überleben jener, die am besten angepasst sind, nicht – wie man vielleicht meinen könnte – der Stärksten. 30 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Da Überleben aus der darwinistischen Perspektive ein Resultat geglückter An- passung ist, ging Darwin davon aus, dass es eine gemeinsame Komponente zwi- schen Tier und Mensch geben muss. Dies hatte insofern einen bedeutsamen Einfluss auf die Psychologie, als dass es zu einer Aufwertung des Mensch-Tier- Vergleichs und somit zur Grundlegung der Vergleichenden Psychologie sowie des Tierversuchs in der Psychologie kam (Schönpflug, 2013). Fortschritt in Medizin und Physiologie Im 19. Jahrhundert kam es zu einem enormen Fortschritt im Bereich der Medi- zin und der Physiologie. Die Theorie der Körpersäfte (siehe Kapitel 2.1.1) wurde von der Zelltheorie abgelöst, die Evolutionstheorie verstärkte das Interesse an ver- gleichender Anatomie und Physiologie und es kam zu ersten Erkenntnissen der Humangenetik. Durch Fortschritte der Physik und Chemie wurden Erkenntnisse über das Nervensystem, das Herz-Kreislauf-System, das Hormonsystem und wei- tere Stoffwechselfunktionen möglich. Die Entdeckung von Röntgenstrahlung und Radioaktivität führte außerdem bald zu diagnostischen und therapeutischen An- wendungen und somit zu weiteren Erkenntnissen. Aufschwung der Universitäten Mit dem wirtschaftlichen und technischen Fortschritt, den das 19. Jahrhundert mit sich brachte, kam auch der Aufschwung der Universitäten. Die meisten Univer- sitäten wurden verstaatlicht, somit oblag auch die Berufung von Professoren dem Staat. Vor allem in Europa, aber auch von amerikanischen Universitäten, wurde ein liberales Universitätsmodell basierend auf den Schriften von Wilhelm von Hum- boldt (1767–1835) umgesetzt. Das liberale deutsche Universitätsmodell stand für eine ganzheitliche Ausbildung, die sowohl Forschung als auch Lehre umfasste und im Kontext akademischer Freiheit, unabhängig von wirtschaftlichen und staatlichen Interessen, stattfinden sollte (Tenorth, 2017). Es erlaubte Hochschulen, ihre For- schungsgegenstände und die vorherrschenden theoretischen Auffassungen selbst zu bestimmen, was zur Ausdifferenzierung unterschiedlicher Ausbildungsschwer- punkte führte und den internationalen Austausch der Forschenden förderte. Der fakultative Aufbau der Universitäten jedoch hatte Bestand. Die Ausbildung an ei- ner theologischen, juristischen oder medizinischen Fakultät hatte ein klares Berufs- bild zur Folge, wohingegen sich verschiedenste Einzeldisziplinen an den philoso- phischen Fakultäten ausdifferenzierten. Die Philosophie erstreckte sich inhaltlich von der Mathematik über die Sprachwissenschaft bis hin zu den Geisteswissen- schaften und Pädagogik. Aufgrund der immer vielseitiger werdenden inhaltlichen Ausrichtung der Philosophie wurde es für die Lehrenden immer schwieriger, sich präzise Kenntnisse über all die unterschiedlichen Disziplinen anzueignen. Aus ei- ner Wissenschaft entwickelten sich viele Einzeldisziplinen, an die Stelle von Uni- versalgelehrten traten Spezialisten. Wichtige physiologische Erkenntnisse und der Einsatz mathematischer Methoden gehen auf diese Zeit zurück. Auch in den The- menbereichen der Psychologie und der Naturwissenschaften führte dies zu der Entwicklung zahlreicher neuer Theorien (Schönpflug, 2013). 31 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE 2.2.3 Die naturwissenschaftliche Neubegründung der Psycho- logie – Wegbereiter der experimentellen Psychologie Die Ausdifferenzierung der Philosophie in einzelne Disziplinen stellte die Psycho- logie vor die Frage, welches der Fachgebiete wissenschaftlichen Anforderungen genügte. Dies hatte die Neuausrichtung der Psychologie, die bisher auf subjekti- ve Bewusstseinszustände ausgelegt war, zur Folge. Eine wichtige Persönlichkeit in diesem Zusammenhang war der deutsche Philosoph, Psychologe und Pädago- ge Johann Friedrich Herbart (1776–1841). Er beschäftigte sich intensiv mit der Mathematisierung der Psychologie und ging davon aus, dass auch Bewusstseins- inhalte genauso empirisch erforschbar seien wie die äußere Welt anderer Wis- senschaften. Seines Erachtens nach verfügten Vorstellungen – also die Inhalte des Bewusstseins – über einen „kraftähnlichen“ Charakter. Diese Kräfte können stärker und schwächer werden, sich mit anderen Kräften vereinen oder durch an- dere Kräfte gehemmt werden. In der Folge entwickelte er mathematische Modelle über die Statik und Mechanik der Vorstellungen und widerlegte damit die Annah- me Kants, dass die Psychologie nicht exakt darstellbar bzw. „mathematisierbar“ sei. Mit seinen Überlegungen stellte Herbart die Psychologie auf ein empirisches Fundament und war maßgeblich daran beteiligt, dass die Psychologie Einzug in die Naturwissenschaften hielt. Hermann von Helmholtz: Sinnesphysiologische Forschung Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Psychologie allgemein und auch das Denken und die Wahrnehmung immer mehr aus einem empiristisch-naturwissenschaftlich- en Standpunkt betrachtet. Einen wichtigen Beitrag dazu lieferte der Neurophysio- loge und Mediziner Hermann von Helmholtz (1821–1894), indem er die physio- logischen und neuronalen Grundlagen des Sehvermögens untersuchte. In seinem Werk Handbuch der physiologischen Optik beschäftigte er sich vom anatomischen Aufbau des Auges über die Netzhautzellen und die Beschreibung der reizüber- tragenden Sehnerven bis hin zu dem Zusammenspiel des gesamten optischen Systems und der Farbwahrnehmung (siehe auch Kapitel 5.2.4). Dies ermöglichte erstmals die Unterteilung in verschiedene Sinne, die über verschiedene Sinnessys- teme Reize aufnehmen und stand im Widerspruch zur Theorie eines menschlichen „Gesamtsinns“ (Schönpflug, 2013). Neben weiteren bedeutenden Forschungsleistungen gilt Helmholtz als Pionier in der Erforschung der Nervenleitgeschwindigkeit, wobei diese Erkenntnisse nicht durch Schätzungen auf Basis eines theoretischen Modells, sondern durch phy- siologische Messungen auf apparativer Grundlage erfolgten. Helmholtz war über- zeugt, dass sowohl physiologische als auch anorganische Parameter beobachtbar und somit messbar seien. Er gelangte jedoch zu der Erkenntnis, dass in jeder Be- obachtung, selbst durch exakte Messung gestützt, immer auch mögliche Einflüsse der beobachtenden Person enthalten seien und frühere Erfahrungen, Erwartungen und Vorurteile die Beobachtung beeinflussen können. Diese Erkenntnis ist in der Psychologie heute noch von großer Bedeutung (vgl. Spektrum Lexikon der Neuro- wissenschaft, o. J.). 32 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Gustav Theodor Fechner: Psychophysik Einen weiteren Schritt in Richtung der Mes- sung von Wahrnehmung und psychischem Erleben unternahm Gustav Theodor Fech- ner (1801–1887). Er begründete die Psycho- physik, die sich in die äußere und innere Psychophysik teilt: Die äußere Psychophysik beinhaltet die Beziehung zwischen Sinnes- reiz (Physik) und Sinnesempfindung (Psycho- logie – dem subjektiven Empfinden). Die in- nere Psychophysik beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Körpererregung (Physio- logie) und Sinnesempfindung (Psychologie – dem subjektiven Empfinden). Somit wird im Rahmen der inneren Psychophysik die Bezie- hung der körperlichen Innenwelt zum Geisti- gen untersucht: Wie nehmen Menschen phy- siologische Veränderungen subjektiv wahr? Die äußere Psychophysik hingegen fokussiert Abbildung 2.9: Gustav Theodor sich auf die Beziehung der körperlichen Au- Fechner ßenwelt zum Empfinden, z. B. wie ein physi- kalischer Reiz subjektiv wahrgenommen wird (vgl. Schönpflug, 2013). In seinen Experimenten befragte Fechner Menschen hinsichtlich der Wahrneh- mung von physikalischen Größen, beispielsweise sollten sie Gewichtsmaße ver- gleichen und angeben, welches von zwei als schwerer empfunden wird. Diese Me- thode wurde als Methode der ebenmerklichen Unterschiede bezeichnet – heute wird dieses experimentelle Vorgehen als Grenzmethode bezeichnet (siehe auch Kapitel 5.2.2). Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem psychologischen Schwel- lenbegriff (also der Frage, wie stark ein Reiz sein muss, dass man diesen noch wahrnimmt) thematisierte Fechner zudem das Phänomen der unbewussten Wahr- nehmung. So gehörte er zu den Ersten, welche die Möglichkeit einer unbewussten Wahrnehmung nicht nur postulierten, sondern auf Basis physiologischer Experi- mente die Reizstärke eines nicht bewussten Stimulus mathematisch quantifizieren konnten. Fechner hat als erster Forscher die psychologische Theorieentwicklung konse- quent vom Experiment her betrieben. Er wird daher vielfach als Begründer einer ei- genständigen, naturwissenschaftlich orientierten Psychologie angesehen. Für ihn war die Psychophysik jedoch nur die notwendige „materielle“ Untermauerung einer philosophischen Theorie der Seele. Eine Trennung von Psychologie und Philoso- phie lag Fechner fern. Seine Erkenntnisse waren maßgeblich für die Entwicklung der Psychologie, wobei er die Gründung der naturwissenschaftlichen Psychologie als eigenständige Disziplin nicht intendierte. 33 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Wilhelm Wundt und die experimentelle Psychologie Den wahrscheinlich bedeutendsten Beitrag zur Entwicklung der modernen Psychologie liefer- te Wilhelm Wundt (1832–1920; siehe Abbil- dung 2.10), der im Jahr 1879 das erste aus- gewiesene Labor für experimentelle Psy- chologie an der Universität Leipzig gründe- te und damit das aufkommende Gebiet der Psychologie revolutionierte. Zu Beginn wurde das Labor von ihm als Privateinrichtung ge- führt und war mit von Wundt persönlich ange- schafften Instrumenten bestückt. Es etablierte sich aber bald zu einem mit wissenschaftlichen Geldern ausgestattetem Labor. Wundt war ein Verfechter unterschiedlichster experimenteller Methoden und legte Wert darauf, die Psycho- logie als empirische Geisteswissenschaft – in der Philosophie verankert – zu betrachten. Mit Abbildung 2.10: Wilhelm Wundt der Einrichtung seines Labors ging die Ausbil- dung von Doktoranden einher, von denen ei- nige, beeinflusst von Wundts Ideen, selbst eigene Labore rund um den Globus gründeten (siehe ab Seite 35). In seinen Forschungsarbeiten beschäftigte er sich mit der Wahrnehmung und Verarbeitungsgeschwindigkeit von Reizen in Abhängigkeit unterschiedlicher Quan- tität und Qualität. Ein zentraler Begriff ist die Apperzeption – die Aufnahme des Inhaltes einer Wahrnehmung, einer Erinnerung oder eines Denkprozesses. Dies kann aktiv und willentlich oder auch passiv und unvorbereitet geschehen. Die Auf- merksamkeit auf Sinneseindrücke, Gefühle, Vorstellungen usw. ermöglicht „schöp- ferische Synthese“, in der durch Verbindung, Verschmelzungen, Verdichtungen etc. qualitativ neue Gebilde entstehen, die durch willentliche Funktion in den Fokus des Bewusstseins kommen (vgl. Fahrenberg, 2012). Nach Wundt erforscht die – vorwiegend experimentell betriebene – physiologi- sche Psychologie die elementaren Tatbestände des Seelischen. Komplexere Tat- bestände wie Denken, Sprache und Sitten sind nach Wundts Meinung allerdings dem Experiment nicht zugänglich. In diesem Sinne veröffentlichte er ab 1900 das zehnbändige Werk Völkerpsychologie, das sich mit der Entwicklung des mensch- lichen Geistes und dem Entstehen allgemeiner geistiger Erzeugnisse beschäftigt und das zur damaligen Zeit bekannte kulturpsychologische Wissen zusammen- fasst. Wundts Konzeption war also multiperspektivisch dahingehend, dass er sowohl das experimentelle Paradigma als auch das interpretative Paradigma (z. B. Völ- kerpsychologie) berücksichtigte. In diesem Sinne setzte er einerseits eine expe- 34 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE rimentelle Strategie zur kontrollierten Selbstbeobachtung (Introspektion, siehe In- fobox 2.3) und andererseits die Methode der Inhaltsanalyse (Vergleich und Inter- pretationen von geistigen Objektivationen der kulturellen Gemeinschaft) ein. Somit würde die Reduzierung Wundts Beitrag zur Wissenschaft lediglich auf die experi- mentelle Psychologie seinem Schaffen nicht gerecht werden. Infobox 2.3: Introspektion Der Begriff Introspektion bedeutet „Innenschau“– ein Vorgehen, das mitunter auch als Selbstbe- obachtung beschrieben wird und dazu dient, Wissen über die eigenen gegenwärtigen (geistigen) Zustände zu erlangen, ohne sich auf externe Quellen wie etwa andere Personen stützen zu müssen. Es kann sich dabei um körperliche Empfindungen (z. B. Schmerzen), Sinneserfahrun- gen (z. B. visuelle Eindrücke), Einstellungen (z. B. Überzeugungen) oder Emotionen (z. B. Trauer) handeln (Barz, 2019). Sein neuartiges und systematisches Vorgehen in der experimentellen Psycho- logie machte Wundt neben seinem Schüler, Edward Titchener, auch zum Mitbe- gründer der ersten psychologischen Schule: dem Strukturalismus, der sich mit der Struktur des menschlichen Geistes auseinandersetzt (siehe Infobox 2.4). Zu den Schülern von Wilhelm Wundt, die in verschiedensten Bereichen der Psychologie einflussreiche Positionen einnahmen, zählen unter anderem: James McKeen Cattell: Mitbegründer der Testpsychologie Oswald Külpe: Begründer der Würzburger Schule der Denkpsychologie Ernst Meumann: Begründer der Pädagogischen Psychologie Hugo Münsterberg: zentrale Figur in der Arbeits- und Wirtschaftspsychologie Lightner Witmer: Gründer der ersten psychologischen Klinik in den USA (in der nicht nur medizinisches Fachpersonal, sondern auch Psycholog:innen arbei- ten durften) und Leitfigur der Klinischen Psychologie Infobox 2.4: Strukturalismus und Funktionalismus Leitgedanken des Strukturalismus sind, dass ein Mensch über subjektive Erfahrungen verfügt und sich die Struktur des Geistes aus grundlegenden (strukturierten) Elementen zusammen- setzt, die miteinander in Verbindung stehen. Menschliche Äußerungen und Verhaltensweisen werden nicht als isolierte Einzelerscheinungen, sondern auf Basis eines systematischen Zusam- menhangs, der ihre Struktur bestimmt, betrachtet (Kaminski, 2022). Die Gegenströmung zum Stukturalismus bildet der Funktionalismus. Beim Funktionalismus steht die Erklärung der Funk- tion des Bewusstseins beziehungsweise innerer mentaler Zustände im Vordergrund. Die Psyche wird als funktionalistisches System betrachtet, das im Dienst von Bedürfnissen steht und einer entsprechenden Zweckbestimmung folgt (vgl. Brüntrup, 2012) 35 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Zeitgenossen Wundts und deren Einflüsse auf die moderne Psychologie Ein Zeitgenosse von Wundt war der einflussreiche Psychologe und Mitbegründer der experimentellen Psychologie Hermann Ebbinghaus (1850–1909). Er widme- te sich der Erforschung des Gedächtnisses. Sein Interesse galt dabei vor allem Lern- und Vergessensvorgängen. Angelehnt an die psychophysischen Experimen- te Fechners formulierte Ebbinghaus die logarithmischen Kurven des Lernens und Vergessens. Ebbinghaus selbst war in Berlin tätig und für sein präzises methodi- sches Vorgehen bekannt, das zur damaligen Zeit ein Novum darstellte. Er entwi- ckelte zum Beispiel die Untersuchungsmethode mit sogenannten sinnlosen Silben anhand derer er im Zuge seiner Experimente Fehlerquellen, die sich aus Erfah- rung, Wissen und Inhalten ergeben, zu minimieren versuchte, um Lern- und Ver- gessensprozesse exakter untersuchen zu können (siehe auch Kapitel 5.4.5). Eine zentrale Rolle für die Anfänge der Psychologie in den USA und im Weite- ren für die wissenschaftliche Psychologie weltweit spielte William James (1842–1910). James etablierte das Fach Psychologie an US-amerikanischen Uni- versitäten und gilt als Begründer der amerikanischen Psychologie als Wissen- schaft. Er lieferte zahlreiche wissenschaftliche Beiträge, welche die Psychologie prägten. Unter anderem beschäftigte sich William James mit der Funktion des menschlichen Bewusstseins, Emotionen und der Wahrnehmung und emotionalen Interpretation von Reizen sowie der Theorie des „Selbst“, das er in Bewusstsein („I“) und reflektierte Identität („Me“) unterteilte. Darüber hinaus gilt er als wichtiger Vertreter des Funktionalismus (siehe Infobox 2.4). Geisteswissenschaftl. Konzeptionen der Psychologie – eine Gegenposition zur naturwissenschaftlich-experimentellen Psychologie Gegen den „erklärenden“ Ansatz der naturwissenschaftlich orientierten Psycho- logie entwickelte Wilhelm Dilthey (1833–1911) eine „beschreibende und zerglie- dernde Psychologie“, die später auch als „verstehende“ oder „geisteswissenschaft- liche“ Psychologie bezeichnet wurde. Ihr Ziel ist das Verstehen des Seelischen aus Motivations- und Sinnzusammenhängen – anstatt Erklärung durch Rückfüh- rung auf Kausalzusammenhänge. Ihre Methode, die Hermeneutik, bezeichne- te ursprünglich die Entschlüsselung von Gleichnissen in der Theologie. Schleier- macher (1977) versteht unter Hermeneutik, „die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen“. Unmittelbar nach dem Erscheinen der Ideen über eine beschreibende und zer- gliedernde Psychologie (1894) kam es zur direkten Auseinandersetzung zwischen Dilthey und den Experimentalpsychologen: Seitens der Wundtschen Schule ver- teidigte Hermann Ebbinghaus den experimentellen Ansatz mit der Schrift Über er- klärende und beschreibende Psychologie (1896), in der er Diltheys Ansichten als „seltsame Polemik“ abtat, die „durchaus gegenstandslos“ sei. Die beiden Positio- nen markieren eine charakteristische Spaltung der deutschsprachigen Psychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 36 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Gründung psychologischer Fachgesellschaften und Fachzeitschriften Als weiterer zentraler Schritt der Etablierung von Psychologie als eigenständige Wissenschaft ist die Gründung von Fachgesellschaften und Fachzeitschriften zu betrachten. Im Jahr 1892 kam es durch Granville Stanley Hall in den USA zur Grün- dung der American Psychological Association.C Im Jahr 1904 folgte in Deutschland die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.D Beide Fachgesell- schaften existieren bis heute und unterstützen das Ziel, die Verbreitung der wis- senschaftlichen Psychologie zu fördern. Zwischen 1901 und 1910 folgten diverse weitere europäische Fachgesellschaften. Psychologische Forschungsarbeiten wurden als wissenschaftliche Artikel ab 1881 in der Zeitschrift Philosophische Studien veröffentlicht. Spezifisch psycholo- gische Fachzeitschriften, zum Beispiel das American Journal of Psychology (1887), die Zeitschrift für Psychologie (1890) oder das Psychological Review (1894) wur- den sukzessive ins Leben gerufen und zählen noch heute zu wichtigen Fachzeit- schriften der Psychologie. 2.3 Psychologie während des Nationalsozialismus Die politische Ideologie während des Nationalsozialismus ging auch an der Psy- chologie des 20. Jahrhunderts nicht spurlos vorbei und machte sich sowohl in der akademischen als auch der angewandten Psychologie bemerkbar (Geuter, 1985; Graumann, 1985). Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und Emigration Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 veränderte sich die Situation der akademischen Psychologie aufgrund der Rassendiskriminierung an deutschen und österreichischen Universitäten drastisch (Lück & Guski-Leinwand, 2014). Die Regelungen für Studierende waren politisch und rassistisch diskriminierend. Zu- lassungen wurden aufgrund der politischen Ausrichtung der Studierenden verwei- gert. Jüdischen Studierenden beziehungsweise Studierenden mit jüdischen Eltern oder Großeltern wurde die Inskription verwehrt, was mit einem Abfall der Dokto- ratsabschlüsse einherging. Durch einen Gesetzeserlass, der die Entlassung von Staatsbeamten jüdischer Abstammung und politisch unerwünschter Personen er- möglichte, verloren etliche namhafte Psychologen und Psychologinnen ihre Pro- fessur an deutschen Universitäten, unter anderen: Charlotte Bühler (eine bedeu- tende Entwicklungspsychologin), Max Wertheimer (siehe auch Kapitel 2.4.2) und William Stern. Manche legten bereits vor Gesetzesbeschluss ihr Amt nieder und emigrierten in die USA, wie beispielsweise Kurt Lewin (siehe auch Kapitel 2.4.2). Der dadurch entstandene „Wissensverlust“ bedeutete beachtliche Einbußen für die damalige universitäre, deutschsprachige Psychologie (Schönpflug, 2017). C American Psychological Association: https://apa.org D Deutsche Gesellschaft für Psychologie: https://www.dgps.de 37 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Nach und nach war der Einfluss der Nationalsozialisten auch in den Lehrinhal- ten an den Universitäten zu erkennen. Wolfgang Köhler (siehe auch Kapitel 2.4.2) widersetzte sich den NS-Praktiken und protestierte beispielsweise gegen die Ent- lassung jüdischer Professoren. Jedoch entschloss auch er sich – nachdem sein In- stitut Zielscheibe nationalsozialistischer Angriffe geworden war – 1935 in die USA zu emigrieren. Sigmund Freud (siehe auch Kapitel 2.4.4) emigrierte 1938 nach London, nachdem seine Schriften bereits 1933 in Berlin verbrannt worden waren. Insgesamt emigrierten circa 35 Prozent der Universitätslehrenden und immerhin 15 Prozent der Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie größtenteils in die USA. Viele wurden inhaftiert (z. B. Viktor Frankl, Heinrich Düker) oder sogar ermordet (z. B. Otto Selz, Kurt Huber) (Graumann, 1985). Auch die Ausbildung an den Universitäten selbst wurde umstrukturiert. Ziel der neuen Diplomordnung war einerseits der Paradigmenwechsel von freigestalte- ten theoretischen und experimentellen Studien hin zu stärkerer Praxisorientierung des Curriculums sowie andererseits der Wechsel von einer akademischen in eine staatliche Steuerung. In Prüfungsfächern wie Charakterologie oder Genetischer Psychologie wurde eine bevorzugte Behandlung nationalistischer und antisemiti- scher Ansichten gelehrt. Mehr und mehr Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie traten aufgrund politischer Meinungsverschiedenheiten aus der Ge- sellschaft aus, andere Mitglieder wurden aufgrund ihrer jüdischen Abstammung von Kongressen ausgeschlossen (Schönpflug, 2017). Inhaltliche Neuausrichtung in der NS-Zeit Vor allem die Rassenpsychologie geriet während dieser Zeit in den Forschungs- fokus der Psychologie. Diese verortete geistig-seelische Unterschiede zwischen Menschen in Abhängigkeit der Rassenzugehörigkeit. Psychologische Eigenschaf- ten (z. B. Intelligenz) verschiedenen Bevölkerungsgruppen zuzuordnen, war zwar keine Neuheit der wissenschaftlichen Psychologie, jedoch kam in der Zeit des Na- tionalsozialismus eine Bewertung dieser Untersuchungen hinzu, und nicht arische Gruppierungen wurden als „minderwertig“ klassifiziert, wohingegen die Überlegen- heit der „nordischen“ und „westischen“ Rasse propagiert wurde (Geuter, 1985). Einen Aufschwung erlebte vor und während des zweiten Weltkrieges die Psy- chologische Diagnostik, da im Bereich der Wehrmacht Leistungstests zur Auslese von Luftwaffensoldaten und potentiellen Führungskandidaten entwickelt werden mussten5. Hier zeichnete sich erstmals die Anwendung von Psychologie in der Praxis ab. Dies führte auch zur erstmaligen Einführung einer Diplomprüfungsord- nung für Psychologie an den Hochschulen (Lück & Guski-Leinwand, 2014). Weiterentwicklungen nach dem Krieg Neben der Vertreibung wichtiger psychologischer Persönlichkeiten aus Deutsch- land und Österreich und der Zerstörung von Instituten und Laboratorien während 5 Dies war nicht nur auf Deutschland beschränkt. In den USA kam es schon im Zuge des ersten Weltkriegs zu einer massiven Stärkung des Stellenwerts der psychologischen Diagnostik, wodurch zahlreiche Entwicklungen angestoßen wurden (Bandalos, 2018). 38 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE des Krieges, kam es nach Kriegsende auch zur Auflösung der Deutschen Gesell- schaft für Psychologie durch die Besatzungsmächte. Die einst emigrierten Profes- sorinnen und Professoren blieben aus – vielfach hatten sie ihre Forschung in den Zielländern bereits erfolgreich fortgeführt. Nichtsdestotrotz begann auch auf insti- tutioneller Ebene der Wiederaufbau. So kam es