Quick Guide UX Management (2nd Edition) PDF
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2021
Steffen Weichert, Gesine Quint, Torsten Bartel
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Summary
This quick guide provides a practical approach to UX management in a business context. It thoroughly explains UX concepts, their importance for businesses, and frameworks for implementing UX-focused strategies. The guide analyzes current UX maturity levels and outlines steps for building a strong user-centric culture within an organization.
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Steffen Weichert Gesine Quint Torsten Bartel Quick Guide UX Management So verankern Sie Usability und User Experience im Unternehmen . Auflage Quick Guide Quick Guides liefern schnell erschließbares, kompaktes und umsetzungs- orientiertes Wissen. Leser erhalten mit den Quick Guides verlässliche...
Steffen Weichert Gesine Quint Torsten Bartel Quick Guide UX Management So verankern Sie Usability und User Experience im Unternehmen . Auflage Quick Guide Quick Guides liefern schnell erschließbares, kompaktes und umsetzungs- orientiertes Wissen. Leser erhalten mit den Quick Guides verlässliche Fachinformationen, um mitreden, fundiert entscheiden und direkt han- deln zu können. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15709 Steffen Weichert Gesine Quint Torsten Bartel Quick Guide UX Management So verankern Sie Usability und User Experience im Unternehmen 2., erweiterte Auflage Steffen Weichert Gesine Quint usability.de GmbH & Co. KG usability.de GmbH & Co. KG Hannover, Deutschland Hannover, Deutschland Torsten Bartel usability.de GmbH & Co. KG Hannover, Deutschland ISSN 2662-9240 ISSN 2662-9259 (electronic) Quick Guide ISBN 978-3-658-34725-3 ISBN 978-3-658-34726-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-34726-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wies- baden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018, 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht aus- drücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Zeichnungen von Wibke Wurche Lektorat/Planung: Rolf-Günther Hobbeling Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhaltsverzeichnis 1 Worum geht es? 1 1.1 Warum ein Buch über User-Experience-Management? 2 1.2 Zielgruppe: Für wen ist dieses Buch? 9 1.3 Begriffe: User-Experience-Management, User, User Experience und User-Centered Design 12 1.3.1 U wie User-Experience-Management 12 1.3.2 U wie User 17 1.3.3 U wie User Experience 20 1.3.4 U wie User-Centered Design 25 Literatur 31 2 Das UX-Management-Framework: Was gehört dazu, wirklich nutzerzentriert zu sein? 33 Literatur 40 3 Der UX-Status-Quo: Wie bereit ist meine Organisation für User Experience? 41 3.1 UX-Reifegrad: Was ist das? 42 3.2 Wie lässt sich der aktuelle UX-Reifegrad einschätzen? 45 3.2.1 UX-Reifegrad Stufe 1: Fehlendes UX Bewusstsein 47 3.2.2 UX-Reifegrad Stufe 2: Ad-hoc UX 51 V VI Inhaltsverzeichnis 3.2.3 UX-Reifegrad Stufe 3: Projektbasierte UX 56 3.2.4 UX-Reifegrad Stufe 4: Gemanagte UX 60 3.2.5 UX-Reifegrad Stufe 5: Integrierte UX 65 3.2.6 UX-Reifegrad Stufe 6: Institutionalisierte UX 70 3.3 Die Probe aufs Exempel: 12 Leitfragen für ein besseres Verständnis des UX-Reifegrades Ihres Unternehmens 74 Literatur 77 4 Die UX-Vision: Wohin soll die Reise gehen? 79 4.1 Vorüberlegungen zur UX-Vision 81 4.2 UX-Vision erarbeiten – Dimension Produkt oder Service 85 4.2.1 Prototyp 85 4.2.2 Zeitungsartikel der Zukunft 87 4.3 UX-Vision erarbeiten – Dimension Nutzer 89 4.3.1 Empathy Map 89 4.3.2 Future-Journey-Map 91 4.4 UX-Vision erarbeiten – Dimension Unternehmen 92 4.4.1 Future-Ecosystem-Map 92 4.4.2 Code of conduct 94 4.5 Mit der UX-Vision arbeiten 95 Literatur 96 5 Menschen: Wie verändern sich Teamzusammensetzungen und Kompetenzen? 99 5.1 UX, wo bist du? Vom UX-Einzelkämpfer bis zum UX-Team100 5.1.1 Konstellation 1: Der UX-Einzelkämpfer 101 5.1.2 Konstellation 2: Zentrales UX-Team 110 5.1.3 Konstellation 3: UX im Projekt- oder Produktteam126 5.2 Das Who-ist-Who der wichtigsten UX Rollen 137 5.2.1 UX Manager 138 5.2.2 User Researcher 144 5.2.3 UX Designer 152 5.2.4 UX-Teamleiter 158 Inhaltsverzeichnis VII 5.2.5 Externe UX-Instanz 161 5.2.6 Produktverantwortlicher oder Projektleiter 166 5.2.7 Geschäftsführung/Management-Ebene 168 Literatur173 6 Prozesse: Wie verändern sich Vorgehensweisen?175 6.1 Verstehen 178 6.2 Explorieren 183 6.3 Entwerfen 184 6.4 Testen 188 6.5 Beispiel für Prozessveränderungen im agilen Kontext 190 Literatur196 7 Kultur: Wie verändert sich die Unternehmenskultur?199 7.1 Status-Quo bestimmen: Wie ist unsere aktuelle Unternehmenskultur?201 7.2 Ziele festlegen: Welche Unternehmenskultur ist für gute UX notwendig? 204 7.2.1 Arbeitserleichterung beim User wichtiger als Arbeitserleichterung bei uns 205 7.2.2 Qualität wichtiger als Geschwindigkeit 206 7.2.3 Austausch wichtiger als Kommunikation in eine Richtung207 7.2.4 Experimentieren und Lernen wichtiger als Fehlervermeidung208 7.2.5 Vertrauen wichtiger als Hierarchie 210 7.2.6 Faktor Mensch wichtiger als Zahlen 211 7.2.7 Visualisieren wichtiger als Diskutieren 212 7.2.8 Kompetenzen wichtiger als Rollen 213 7.3 Kulturwandel anstoßen: Welche Veränderungen nehmen wir vor? 215 Literatur217 VIII Inhaltsverzeichnis 8 Die UXM-Potentialfeld-Analyse: Wie es nach dem Reifegrad-Check weitergehen kann219 8.1 Vom Reifegradcheck zur Potentialfeld-Analyse 220 8.2 Die UXM-Potentialfelder 222 8.2.1 Potentialfeld 1: Vollständigkeit menschzentrierter Gestaltung222 8.2.2 Potentialfeld 2: Anwendungsfelder menschzentrierter Gestaltung 224 8.2.3 Potentialfeld 3: Kompetenzen und Rollen 227 8.2.4 Potentialfeld 4: UX-Entscheidungen und Kommunikation229 8.2.5 Potentialfeld 5: Messbarkeit von UX 233 8.2.6 Potentialfeld 6: Zielbild und Vision 237 8.2.7 Potentialfeld 7: UX-Wissensmanagement 239 8.3 Der UXM-Potentialfeld-Workshop 246 Literatur250 Ein letzter Tipp zum Schluss251 Über die Autoren Steffen Weichert ist Senior User Experience Consultant bei usability.de in Hannover. Seit 2007 leitet er Usability- und User Experience Projekte für national und international tätige Unternehmen in unterschiedlichen Branchen. Die strategische Beratung bei der Einführung von UX- Management-Prozessen gehört ebenso zu seinen Kerngebieten wie die Qualifizierung von Mitarbeitern in den zugehörigen Kompetenzen. Stef- fen Weichert ist außerdem Lehrbeauftragter der Universität Hildesheim im Fachgebiet Mensch-Maschine-Interaktion. Gesine Quint hat als Gründerin und Geschäftsführerin usability.de seit 2004 mit aufgebaut und bringt seitdem die nutzerzentrierte Sicht in komplexe Design- und agile Entwicklungsprozesse. Sie ist Mitautorin und Herausgeberin diverser Studien zu relevanten UX-Themen, initiiert seit 2007 den World Usability Day in Hannover und unterstützte als Mitglied der Nominierungskommission den Grimme Online Award mit ihrer UX-Expertise. IX X Über die Autoren Torsten Bartel ist Gründer und Geschäftsführer der Usability- und UX-Agentur usability.de und hat als einer der Ersten die Themen Usabi- lity und User-Experience in Deutschland etabliert. Er war an etlichen Projekten beteiligt, in denen Usability als Konzept in verschiedenen Unternehmen eingeführt wurde. Er hat bereits das Buch „Die Ver- besserung der Usability von Web Sites“ geschrieben und ist gefragter Speaker auf Konferenzen zu den Themen Usability und User Experience. Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1 Der UX-Kosmos ist seit den Ursprüngen in den 50er-Jahren deutlich unübersichtlicher geworden 4 Abb. 1.2 Verschiedene Zielgruppen haben unterschiedliche Fragen an das Thema User Experience 11 Abb. 1.3 Die UX von Produkten und Services ist abhängig von Einflüssen und Veränderungen im Unternehmen 14 Abb. 1.4 Der UX Manager bereitet die Bühne, auf der UX Designer, User Researcher und alle Produkt- und Projektverantwortlichen gut performen können 16 Abb. 1.5 Utility und Usability sind Teilmengen von User Experience. Ohne Utility und Usability keine User Experience 21 Abb. 1.6 User-Centered Design nach ISO 9241–210 26 Abb. 1.7 Zwingend notwendige „Zutaten“ für ein nutzerzentriertes Vorgehen und User Experience sind: Verstehen, Explorieren, Entwerfen und Testen 28 Abb. 2.1 Wie eine Landkarte gibt UX Management Sicherheit und Orientierung auf dem Weg zur UX-Vision 35 Abb. 2.2 Hauptstellschrauben des UX Managements: Menschen, Prozesse und Kultur 37 Abb. 3.1 UX-Reifegrad-Modell zur Bestimmung des Status-Quo: Wo stehen wir und wie viel Luft gibt es nach oben? 46 Abb. 3.2 UX-Reifegrad Stufe 1: Fehlendes UX-Bewusstsein 47 XI XII Abbildungsverzeichnis Abb. 3.3 UX-Reifegrad Stufe 2: Ad-hoc UX 51 Abb. 3.4 UX-Reifegrad Stufe 3: Projektbasierte UX 56 Abb. 3.5 UX-Reifegrad Stufe 4: Gemanagte UX 61 Abb. 3.6 UX-Reifegrad Stufe 5: Integrierte UX 66 Abb. 3.7 UX-Reifegrad Stufe 6: Institutionalisierte UX 71 Abb. 4.1 Empathy Map. (Status-Quo und Zukunft) 90 Abb. 4.2 Future-Journey-Map 92 Abb. 5.1 Konstellation 1: Der UX-Einzelkämpfer 102 Abb. 5.2 Konstellation 2: Zentrales UX-Team 110 Abb. 5.3 Konstellation 3: UX im Projekt- oder Produktteam 127 Abb. 6.1 Entscheidungsbaum: Wo gibt es Anknüpfungspunkte für Veränderungen an unseren Prozessen? 177 Abb. 6.2 Der Nutzer – das unbekannte Wesen? 179 Abb. 6.3 Verstehen, Explorieren, Entwerfen und Testen finden vor, während und nach einem Entwicklungsabschnitt in einem parallelen UX-Strang statt 192 Abb. 7.1 Kombination aus Kultursäule, Status-Quo und Idee für Veränderung216 Abb. 8.1 UX-Potential: Wir vernachlässigen wichtige „Zutaten“ für gute UX 222 Abb. 8.2 UX-Potential: Wir fokussieren nur auf einige unserer Anwendungsfelder225 Abb. 8.3 UX-Potential: Uns fehlen Kennzahlen für die Messung von UX 234 Abb. 8.4 UX-Potential: In Sachen UX-Wissensmanagement können wir besser werden 240 Abb. 8.5 Template für die Prüfung von UX-Potentialfeldern in einem Workshop248 1 Worum geht es? If the user can’t use it, it doesn’t work Susan Dray. Zusammenfassung Für viele deutsche Unternehmen sind Usability und User Experience (UX) inzwischen zwingend erforderliche Eigenschaften für die eigenen Produkte und Services. Es ist der Nutzer, der über den Erfolg entscheidet. Angesichts eines sich stets weiterentwickelnden Berufsfeldes wird es zugleich wichtiger und schwieriger, den Überblick über das Themenfeld User Experience zu behalten. Sie erfahren in diesem Kapitel, worin sich Usability von User Experience unterscheidet, in wel- chen Fällen beides für Sie relevant sein kann und inwiefern User- Experience-Management bei der Transformation in Richtung eines nutzerorientierten Unternehmens oft das fehlende Puzzlestück ist. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden 1 GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 S. Weichert et al., Quick Guide UX Management, Quick Guide, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34726-0_1 2 S. Weichert et al. 1.1 arum ein Buch über User-Experience- W Management? „Weißt Du noch, wie sie damals war? Als sie noch jung war?“ So beginnen Gespräche zwischen Eltern, wenn sie sich Bilder von ihrer Tochter im Kindesalter ansehen. Und wissen Sie noch wie es war, als sie noch jung war … die User-Experience-Disziplin? Mindestens bis in die 1950er- Jahre lassen sich die Spuren zurückverfolgen (vgl. ). Damals nannte es zwar noch niemand User Experience, aber auch bei den Vorreiter- Disziplinen Human-Factors, Usability-Engineering und Software Ergo- nomie stand der Nutzer1 im Fokus und eine wesentliche Erkenntnis der damaligen Pioniere hat ihre Relevanz bis heute nicht verloren: Es ist der Nutzer, der maßgeblich über den Erfolg oder Misserfolg eines Produkts oder eines Service entscheidet. Im Jahr 1993 war es dann soweit. Don Norman führte den Begriff User Experience ein und machte damit deutlich: Das Erlebnis eines Menschen mit einem Produkt oder einem Service umfasst weit mehr als Usability und Interface-Gestaltung. Und heute? Eine stark zunehmende Zahl Angestellter in UX-Positionen in Unternehmen, insgesamt immer mehr Unternehmen mit UX-Teams und mehr Länder weltweit, in denen sich UX als Disziplin manifestiert (vgl. ), zeigen: Die professionelle Beschäftigung mit User Experience steckt schon lange nicht mehr in den Kinderschuhen. Vorbei sind die Zeiten, in denen man nach einem Experten für nutzerzentrierte Ent- wicklung suchen musste und in denen es auch bei der Auswahl der rich- tigen Vorgehensweise um überschaubare Entscheidungen ging. Nun hin- gegen sind wir in einer zum Teil unübersichtlichen Welt der Möglichkeiten angekommen: 1 Es sind im Folgenden bei allen Berufsbezeichnungen, Rollen und Menschen immer Personen männlichen und weiblichen Geschlechtes gemeint. Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir nur die männliche Form. 1 Worum geht es? 3 Berufsbezeichnungen: UI Designer, User Researcher, User-Experience- Designer, Usability-Tester, UX-Lead, Interaction Designer, Usability Engineer, Design Thinker, … Insgesamt 210 verschiedene Berufs bezeichnungen ermittelte eine Studie bereits im Jahr 2014 und regel- mäßig kommen neue Einträge auf dieser Liste hinzu (vgl. ). Personalverantwortliche stehen dadurch vor der Frage: „Stecken hinter all diesen Bezeichnungen wirklich verschiedene Kompetenzen? Und wie wählen wir daraus das richtige Personal für uns aus?“ Prozesse: UX-Design-Prozess, Design-Thinking-Prozess, Agile UX-Flow, User-Centered Design, … Auch bei den Prozessen und zugehörigen Schaubildern wächst die Auswahl. Starke inhaltliche Überschneidungen lassen dabei oft vermuten, dass der Wunsch nach etwas Eigenem mehr im Vordergrund steht als die Entdeckung eines grundlegend neuen Ansatzes. Die Frage bleibt: Gibt es überhaupt so etwas wie den einen User-Experience-Prozess? Methoden: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit enthält ein Methoden- Quartett zum spielerischen Kennenlernen von User-Experience- Methoden (vgl. ) insgesamt 55 Methoden-Karten. Und selbst wenn bei einer solch großen Auswahl klar ist, welche Methode für eine bestimmte Fragestellung die richtige ist, folgen weitere Überlegungen: Führen wir den Usability-Test im Labor oder als Remote-Test durch? Sollte der Test moderiert oder unmoderiert stattfinden? Am Desktop, Tablet oder Smartphone? Sollten wir zusätzlich Eye Tracking einsetzen oder nicht? Berührungspunkte: Welche Berührungspunkte zwischen Anwender und Unternehmen sind die wichtigsten? Es gibt nicht mehr nur die eine Website, mit der ein Unternehmen Einfluss auf das Erlebnis der Kunden hat. Jeder sogenannte Touchpoint zwischen Nutzer und Unternehmen kann potenziell zur User Experience beitragen – sei es der Newsletter, die mobile Website, der Social-Media-Kanal, das Anschreiben in der Post oder der Mitarbeiter in der Service-Hotline. Software: Auch die Auswahl an Software ist groß: Top-Listen ent- halten mitunter mehr als 20 Empfehlungen allein für die besten Prototyping-Tools (vgl. ). Ähnlich umfangreich ist die Menge an Software auch für andere User-Experience-Methoden wie Card Sorting oder User-Journey-Mapping. Und unklar bleibt auch hier: Mit wel- chem der vielen Werkzeuge bestücken wir den UX-Werkzeugkasten? 4 S. Weichert et al. Keine Frage: Der UX-Kosmos ist seit den Ursprüngen in den 50er- Jahren deutlich unübersichtlicher geworden. Jeder, der das Ziel verfolgt, gute User Experience entstehen zu lassen, sieht sich automatisch mit einem regelrechten Markt der Möglichkeiten konfrontiert (vgl. Abb. 1.1). Interessant ist zu beobachten, wie Unternehmen mit der zunehmenden Komplexität umgehen. Unsicherheit oder sogar Aktionismus scheinen die Denk- und Entscheidungsmuster von Verantwortlichen oder User- Experience- Interessierten im Unternehmen entscheidend mitzube stimmen: „Wenn plötzlich alle über das Thema sprechen und schreiben, dann muss doch auch irgendetwas Brauchbares für uns dabei sein.“ „Es gibt ein neues Prototyping-Tool? Muss ich haben! Ein neues Werkzeug hilft doch auf jeden Fall beim Versuch eine bessere User Experience abzu- liefern, oder nicht?“ Abb. 1.1 Der UX-Kosmos ist seit den Ursprüngen in den 50er-Jahren deutlich un- übersichtlicher geworden 1 Worum geht es? 5 „User-Centered Design, Wireframes, Brainstorming und Usability-Test? Klingt irgendwie altertümlich und nach 90er-Jahren. Design Thinking hört sich doch viel cooler an.“ „Klar, unsere Anwender sind uns enorm wichtig. Wir haben keinen direk- ten Kontakt zu ihnen, aber solange wir uns immer wieder daran erinnern, für welche unserer Zielgruppen wir das alles machen, machen wir doch de facto UX – oder etwa nicht?“ „Was wir brauchen, ist so ein UX’ler. Er sollte Interviews mit Nutzern führen können, verschiedene Prototyping Tools beherrschen und gute Designvorschläge machen können. Wer informiert die Personalabteilung?“ Angesichts dieser fast panisch anmutenden Überlegungen ist das Plä- doyer dieses Buches: Überlassen wir das Thema User Experience nicht dem Zufall. Zu komplex und vielfältig sind die Möglichkeiten inzwischen geworden. Es bedarf einer Instanz im Unternehmen, die User Experience ermöglicht, vorantreibt, steuert und misst: User-Experience-Management. Abschließend deshalb eine dreigeteilte Sammlung von Argumenten für UX und für UX Management. Es gibt drei gute Gründe dafür, das Thema User Experience nicht dem Zufall zu überlassen, sondern UX Management als essenziellen Bestandteil unter- nehmerischen Handelns zu verstehen: 1. User Experience nimmt an Bedeutung kontinuierlich zu. 2. Die Rentabilität von User Experience wird immer noch unterschätzt. 3. Insbesondere deutsche Unternehmen haben Aufholbedarf in Sachen User Experience. Grund 1: User Experience nimmt an Bedeutung kontinuierlich zu Weiter steigende Relevanz: Die Technisierung unserer Gesellschaft und somit die Anlässe, dass Menschen Software und Maschinen ver- wenden, nimmt weiterhin stark zu. Nicht zuletzt die rapide Entwicklung des Internets und die Durchdringung des privaten und beruflichen Alltags mit entsprechenden Geräten, Diensten und 6 S. Weichert et al. Anwendungen führt dazu, dass das Thema User Experience von nie- mandem mehr ignoriert werden kann und inzwischen der ent- scheidende Erfolgsfaktor ist. Nutzer erwarten eine gute Experience: Inzwischen existieren zahl- reiche Produkte und Services mit einer sehr guten UX. Im Umkehrschluss heißt das: Ein negatives Erlebnis fällt nicht nur auf, sondern führt dazu, dass sich Nutzer abwenden, nach Alternativen su- chen und damit klammheimlich verschwinden. Unter Umständen teilt ein enttäuschter Nutzer seine Erfahrung sogar mit der Welt und berichtet Freunden und Kollegen davon. Das ist nicht gerade ge- schäftsfördernd, aber in diesem Fall erfährt das Unternehmen zu- mindest überhaupt davon. Nutzer entscheiden sich anhand der wahrgenommenen UX: Die große Menge an Produkten und Dienstleistungen erlaubt es Nutzern, ihre Kauf-Entscheidung auf Basis der wahrgenommenen User Experience zu treffen. Ein Beispiel: Der Erfolg von Kaffeebars in Innenstädten bestand letztendlich nicht darin, Kaffee zu verkaufen. Das war im Grunde schon immer irgendwie möglich, nur mussten Kaffeetrinker ihr geliebtes Heißgetränk unter Umständen beim Kaffeehändler am Bahnhof oder umgeben von Burgergeruch im Fastfood-Restaurant kaufen. Das Erfolgsrezept von Starbucks und an- deren Kaffeeläden bestand vor allem darin, sich an der Experience zu orientieren, die Kaffeehäuser in Italien bieten. Gemütliche Sessel, leise Hintergrundmusik und frisch geröstete Bohnen tragen zu einem Gesamterlebnis bei, das die Entscheidung beim Nutzer, wo er seinen Kaffee kauft, wesentlich mit beeinflusst. Unternehmen entscheiden sich anhand der UX: Auch für Unternehmen stellt die User Experience – beziehungsweise sogar be- reits die Usability als wesentliche Teilmenge von UX – das wichtigste Einkaufkriterium bei der Beschaffung von Unternehmenssoftware dar (vgl. , S. 132 f.). Der Konkurrenzdruck steigt – selbst für Traditionsunternehmen und -branchen: Deutsche Ingenieurskunst, besonders gute Technologien oder jahrelange Tradition reichen nicht mehr aus, um sich am Markt zu behaupten. Selbst scheinbar sichere Branchen wie 1 Worum geht es? 7 das Hotelgewerbe oder die Autoindustrie müssen inzwischen schauen, wie sie mit neuen Entwicklungen wie der Sharing Community um- gehen. Es entstehen neue Produkte und Services, die bestenfalls von vornherein am Nutzer ausgerichtet sein sollten. Umgekehrt gibt die Orientierung am Nutzer zumindest einigermaßen Sicherheit von neu aufkommenden Bedürfnissen frühzeitig mitzubekommen und darauf reagieren zu können. Grund 2: Die Rentabilität von UX wird unterschätzt UX reduziert Entwicklungszeiten: Durch den Einsatz von User- Centered Design (siehe Abschn. 1.3.4) verwenden Entwicklerteams 50 % weniger Zeit auf Anpassungen und Korrekturen von Produkten und Services (vgl. ). UX reduziert Schulungs- und Supportkosten: Da UX auch alle Aspekte von Usability umfasst (siehe Abschn. 1.3.3), sorgt ein intuitiv und einfach zu bedienendes Produkt automatisch dafür, dass weniger Kosten für Schulungen, Hilfesysteme und Support anfallen. UX reduziert Fehler bei der Bedienung: Durch Prototyping und Usability-Tests vermeiden Unternehmen, die auf UX setzen, Fehler auf Anwenderseite, denn Probleme bei der Bedienung werden früh- zeitig aufgedeckt und behoben. Dadurch tauchen weniger Falscheingaben auf und die Datenqualität von Nutzereingaben erhöht sich. Unternehmen, die auf UX setzen, sind profitabler: Unternehmen, die gezielt auf UX setzen, sind am erfolgreichsten. Das zeigt unter an- derem eine regelmäßige Erhebung unter US-Firmen (vgl. , S. 4). Bei der betrachteten Aktienentwicklung erreichten Unternehmen mit „dediziertem“ UX Management ein Plus von 108 % und übertrafen damit die UX-Nachzügler und Skeptiker, die ein Aktienplus von 28 % aufwiesen. Unternehmen mit UX Management lagen in der Erhebung außerdem deutlich über dem Schnitt des Aktienindex S&P 500, der sich im Messzeitraum nur um 72 % steigerte. 8 S. Weichert et al. Grund 3: Insbesondere deutsche Unternehmen haben Aufholbedarf in Sachen User Experience US-amerikanische Studien zur Entwicklung von User Experience in Unternehmen und Organisationen starten sinngemäß sehr häufig mit einer positiven Bilanz: „In den letzten Jahren hat sich die UX-Disziplin enorm weiterentwickelt. Verantwortlichkeiten und Zuständigkeit für UX im Unternehmen liegen nicht mehr allein in der Hand von Einzelkämpfern. Vom Produktverantwortlichen bis zur Geschäftsleitung: Auf allen Ebenen ist User Experience zu einem der wichtigsten Ziele unternehmerischen Handelns geworden.“ Als deutscher Leser ist man schon an dieser Stelle geneigt hin- zuzufügen: „Überall? Nein! Ein von unbeugsamen Ingenieuren be- völkertes Land hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leis- ten.“ Denn: Deutschland hinkt im Ländervergleich in Sachen UX hinterher: In einer Erhebung unter US-amerikanischen Firmen zu den größten Herausforderungen für das Arbeitsumfeld von UX-Professionals wurde unter anderem auch die mangelnde UX-Reife des eigenen Unternehmens genannt – wenn auch nur von 11 % der Befragten (vgl. ). Was dieses grundsätzliche UX Mindset angeht, liegt Deutschland jedoch noch weiter zurück: Bei einer Befragung mit dem gleichen Fragenset in Deutschland waren es 22 % der Befragten, die in ihren Unternehmen einen Mangel an UX-Reife als das größte Problem be- trachteten (vgl. ). Deutsche Unternehmen wollen UX, scheitern aber an UX Management: Eine Lücke zwischen der Zielsetzung UX auf der einen und den notwendigen Kompetenzen zur Umsetzung auf der anderen Seite ergab unter anderem eine Studie des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien Bitkom (vgl. ). Hier attestierten mehr als 75 % der Studienbefragten, dass UX in ihrem Unternehmen ein wichtiges Thema sei. Jedoch: Nur etwa 25 % gaben an, zu wissen, wie sie das Thema User Experience angehen sollten. Erneut ein Hinweis auf fehlende Expertise im Bereich UX Management. Schauen wir uns nun in den folgenden Kapiteln genauer an, welche Zielgruppen von UX Management profitieren, was genau UX 1 Worum geht es? 9 Management ist und wie die damit zusammenhängenden Begriffe User, User Experience und User-Centered Design zu verstehen sind. 1.2 Zielgruppe: Für wen ist dieses Buch? Das Buch richtet sich an jeden, der mit User Experience zu tun hat und darunter nicht nur die Arbeit an einem Produkt oder Service versteht, sondern den Blick auf die eigene Organisation als Ganzes wirft. Diese Beschreibung kann auf sehr unterschiedliche Rollen im Unternehmen zutreffen, etwa Entwickler, User Researcher, UX Designer, Produktver- antwortliche, UX-Teamleiter, Geschäftsführer und UX-Berater. Wenn es Personas für die Zielgruppen dieses Buches gäbe, hätten diese eine der folgenden Kernfragestellungen an das Thema UX Management: Ute ist Software-Entwicklerin bei einer Bank. Sie hat den Anspruch zu einer guten UX beizutragen, vermisst jedoch entsprechende Rahmen- bedingungen: „Alle reden bei uns von Kundenorientierung. Aber das, was wir an Software hier bauen, ist doch aktuell nur eine Ansammlung von Funktionen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Anwender damit zurechtkommen, aber das müssen andere entscheiden. Was mich aber richtig nervt? Eine Abteilung weiß hier im Haus nicht, was die andere tut. In- zwischen haben wir fünf verschiedene Varianten der Adressenverwaltung in unserer Software.“ Manuela ist User Researcher in einem zentralen UX-Team eines Hörbuch-Streamingdienstes und fühlt sich nicht ernst genommen: „Ich frage mich, warum die Ergebnisse unseres UX-Teams eigentlich nie so rich- tig akzeptiert werden. Wir testen jetzt zum dritten Mal einen Prototypen, weil der Produktverantwortliche das Konzept nach den letzten Optimierun- gen doch noch einmal wesentlich verändert hat. Eine richtige Zusammen- arbeit mit dem Produktteam haben wir nie hinbekommen. Ob das über- haupt geht?“ Marius ist UX Designer bei einer Online-Tauschbörse. Er ist sich be- wusst, dass nicht alle Designentscheidungen mit Kreativität zu tun haben. Oft fehlen ihm aber entscheidende Informationen zu den Nutzern: „Ich habe Anforderungen, ausführliche Briefings und eine klare Zielvorgabe. 10 S. Weichert et al. Wenn ich aber jemanden frage, welches die meist genutzten Funktionen sind, weiß niemand die Antwort. Warum können wir so etwas nicht herausfinden?“ Paul ist Produktverantwortlicher für ein Matching-Tool, mit dem Bewerber anhand eines Quiz herausbekommen, wie geeignet sie für eine Stellenausschreibung sind. Er zweifelt an, dass die Zusammenarbeit mit UX-Experten gut funktionieren kann und wer genau gebraucht wird: „Mit Scrum haben wir jetzt einen guten Entwicklungsprozess, aber wie be- kommen wir die Nutzerperspektive da rein? Für Usability-Tests haben wir bei unseren Sprints doch gar keine Zeit. Ich fände es bei diesem Thema aber auch schwierig, unsere Nutzer gar nicht einzubeziehen. Benötige ich da jetzt einen Experten für User Research oder kann das auch jemand bei uns im Team übernehmen?“ Franz ist UX-Teamleiter eines gerade neu aufgesetzten UX-Teams bei einer Krankenkasse. Er fragt sich, ob sich seine Gruppe mit dem aktuel- len Tätigkeitsfeld den richtigen Aufgaben widmet: „Das Ziel ist mir klar, digitale Transformation und so. Gerade die jüngeren Versicherten haben wenig Verständnis, warum sie ihre Mitgliedsbescheinigung bei uns nicht herunterladen können, sondern per Post beantragen müssen. Jetzt habe ich Budget und sogar ein UX-Team, aber was nun? Wie richte ich das Team aus? Übernimmt der Designer den Prototypen oder der Entwickler? Fehlt uns nicht jemand, der Usability-Tests durchführen kann? Wie kann darüber hi- naus die Koordination mit den anderen Standorten funktionieren, die arbei- ten ja an ganz ähnlichen Themen?“ Gerd ist Geschäftsführer eines international tätigen Herstellers für Dokumentenmanagement-Software. Er wüsste gerne, wo das eigene Unternehmen in Sachen UX steht und welche Veränderungen zugunsten der Weiterentwicklung vor allem durch das Management vorangetrieben werden müssen: „Wir haben tolles Personal, viele Methoden und agile Pro- zesse. Aber eine Strategie, wie wir Software mit guter UX entwickeln können, haben wir irgendwie nicht. Allein hier an unserem deutschen Standort sind die Abteilungen ja sehr unterschiedlich in ihrer Herangehensweise an das Thema. Bei den Kollegen in Spanien und Finnland bin ich mir noch un- sicherer. Auch wie wir im Vergleich zu den Mitbewerbern dastehen, ist mir nicht klar. Wahrscheinlich sind die in Sachen UX schon viel erfahrener als wir. Eine Art Standortbestimmung wäre schön.“ 1 Worum geht es? 11 Christopher ist UX-Berater in einer Spezialagentur für Usability und User Experience und berät unterschiedliche Kunden. Er bemerkt ein neues Tätigkeitsfeld, in dem er sich noch nicht 100 %ig zuhause fühlt: „Als Berater in unterschiedlichen Kontexten bemerke ich, dass Unternehmen nicht mehr nur Methoden für ein bestimmtes Projekt bei mir beauftragen. Schon die Anfragen sind jetzt viel umfänglicher. Statt ‚Wir benötigen einen Usability-Test‘ heißt es jetzt immer öfter ‚Wie können wir User Experience nachhaltig im Unternehmen verankern?‘“ Für diese Fälle fehlt mir definitiv noch Sicherheit darüber, was ich den Unternehmen empfehlen kann. Für alle genannten Zielgruppen Abb. 1.2 bietet dieses Buch Hilfe- stellungen und Denkanstöße, mit welchen Fragen es sich zu beschäftigen gilt, wenn UX in einem Unternehmenskontext gelingen soll. Wie bei den Zielgruppen werden auch an verschiedenen anderen Stel- len im Buch konkrete Fallbeispiele ein Thema zusätzlich vertiefen. Alle Fallbeispiele sind dabei zwar anonymisiert, basieren aber auf tatsächlich erlebten Situationen und Erfahrungen der Autoren in der Zusammen- Abb. 1.2 Verschiedene Zielgruppen haben unterschiedliche Fragen an das Thema User Experience 12 S. Weichert et al. arbeit mit Unternehmen beim UX Management. Das Buch verfolgt mit der Mischung aus Impulsen und Fallbeispielen dabei nicht den Anspruch, allgemeingültige Antworten zu geben. Dafür sind die Ausgangssituationen und Anknüpfungspunkte an das Thema zu unterschiedlich. Das über- geordnete Ziel besteht vielmehr darin, einen guten Gesamtüberblick über das Thema zu geben und konkrete Ansatzpunkte und Ideen zu liefern, welche Veränderungen Sie unkompliziert angehen können und sollten. 1.3 Begriffe: User-Experience-Management, User, User Experience und User-Centered Design In den folgenden Abschnitten führen wir User-Experience-Management sowie die drei wichtigsten damit zusammenhängenden Begriffe ein. Nicht ohne Grund kommt dabei vier Mal der Begriff User vor, der durch die bewusste Reduktion auf Abkürzungen wie UX, UX Design, UCD oder UI auch gerne einmal vernachlässigt wird. Dabei sollte unter keinen Umständen vergessen werden, wofür der Buchstabe U in diesem Zu- sammenhang steht, denn es ist der User, der über den Erfolg oder Miss- erfolg von Produkten und Services entscheidet. Im Folgenden erfahren Sie deshalb mehr über die vier wichtigsten mit „U wie User“ beginnen- den Begriffe in diesem Zusammenhang. 1.3.1 U wie User-Experience-Management Beginnen wir mit der diesem Buch zugrundeliegenden Definition von UX Management: Definition UX Management UX Management umfasst die Summe aller Führungsaufgaben, die durch Veränderungen in den Bereichen Personal, Prozesse und Unternehmens- kultur die systematische Integration von User Experience in einem Unter- nehmen oder einer Organisation ermöglicht und zugehörige Rahmen- bedingungen kontinuierlich optimiert. 1 Worum geht es? 13 Es gibt dabei grundsätzlich zwei Perspektiven, aus denen Sie auf das Thema User-Experience-Management schauen können (vgl. ): 1. Produktperspektive: Wie schaffen wir es, die beste User Experience für ein bestimmtes Produkt oder einen bestimmten Service zu ge- währleisten? 2. Unternehmensperspektive: Wie schaffen wir es, User Experience in unserem Unternehmen oder unserer Organisation zu verankern und produkt-, projekt- und abteilungsübergreifend zu managen? Lange Zeit wurde UX Management überwiegend oder ausschließlich aus der Produktperspektive betrachtet. Wer das tut, nimmt jedoch be- stimmte Rahmenbedingungen im Unternehmen als gegeben hin und ak- zeptiert den Status-Quo. Nur in eine Richtung auf ein Produkt, einen zu gestaltenden Service oder das aktuell zu bewerkstelligende Projekt zu schauen, lässt eine wichtige Betrachtungsweise unberücksichtigt: Die Sicht auf das Unternehmen oder die Organisation. Typische „Issos“ sind dann: „Wir haben hier nun mal die Personalzusammensetzung, die wir haben. Is so.“ „Entscheidungen werden bei uns im Haus nun mal so gefällt. Is so.“ „Mehr Budget ist nun mal nicht vorhanden. Is so.“ „Wir entwickeln Anwendungen nun mal so. Is so.“ „Das fällt nun mal in die Zuständigkeit einer anderen Person. Is so.“ „Wir haben nun mal keinen direkten Kontakt zu den Anwendern. Is so.“ „Ich muss mich jetzt erstmal auf dieses eine Projekt hier konzentrieren. Für Anknüpfungsstellen an andere Projekte habe ich keine Zeit. Is so.“ Diese „Issos“ zu akzeptieren hieße jedoch, sich in eine imaginäre Blase zu begeben, um sich ausschließlich auf das geliebte Produkt oder den zu gestaltenden Service zu konzentrieren. Zweifelsohne existierende Ein- flüsse und Veränderungen außerhalb dieser Blase (vgl. Abb. 1.3) würden einfach nicht berücksichtigt werden. Diese sehr eingeschränkte Perspektive und das bewusste Ausblenden orga- nisationaler Einflussgrößen würde jedoch mit Hinblick auf User Experience Stillstand bedeuten. Ihr Unternehmen würde sich was Nutzerzentrierung an- 14 S. Weichert et al. Abb. 1.3 Die UX von Produkten und Services ist abhängig von Einflüssen und Veränderungen im Unternehmen geht nicht weiterentwickeln. Ob, wie und in welcher Geschwindigkeit sich die User Experience Ihrer Produkte und Services entwickelt, wäre dem Zufall überlassen. Im schlimmsten Fall würden Sie sogar ignorieren, dass in den vielen Jahren, in denen UX als Disziplin existiert, nützliche Erfahrungen ge- macht wurden. Erfahrungen mit unterschiedlichen Team-Konstellationen, Erfahrungen, wie User Experience und verschiedene Entwicklungsprozesse zusammenpassen und Erfahrungen, wie man einen Veränderungsprozess so einleitet und begleitet, dass auch die Unternehmenskultur ausreichend mit- gesteuert wird. An diesen Überlegungen setzt UX Management an. Mit einem funktionierenden UX Management und entsprechender Ver- antwortlichkeit schaffen Sie in Ihrem Unternehmen oder Ihrer Organisation Rahmenbedingungen, die es überhaupt erst ermöglichen und dauerhaft sicherstellen, dass Produkte und Services mit einer guten Experience entstehen. 1 Worum geht es? 15 Anhand eines UX-Management-Framework (Kap. 2) stellen wir Ihnen in diesem Buch konkrete Ansätze vor, … wie Sie Ihren UX-Status-Quo bestimmen und feststellen können, wie bereit Ihr Unternehmen aktuell für nutzerzentrierte Vorgehens- und Denkweisen ist, Kap. 3 … wie Sie eine Vision für die UX Ihrer Produkte und Services und eine greifbare Zielvorstellung für die notwendigen Rahmenbedingungen im Unternehmen entwickeln, Kap. 4 … wie Sie in den drei Bereichen Menschen (Kap. 5), Prozesse (Kap. 6) und Kultur (Kap. 7) aktiv Einfluss auf Veränderungen nehmen kön- nen, damit sich Ihr Unternehmen vom Status-Quo in Richtung UX- Vision bewegt. … wie Sie verschiedene UX-Potentiale prüfen und das für Sie ergiebigste Themenfeld identifizieren und bearbeiten können (Kap. 8). UX Management ist dabei keine Tätigkeit, die nebenbei passiert. Je- mand muss es tun! Auf die Frage, wer das vielfältige Aufgabenfeld des UX Managers übernimmt, ist deshalb zu antworten: Der zuständige UX Ma- nager oder das zuständige UX Management: Definition UX Manager UX Manager umfasst eine Rolle, die von einer oder mehreren Personen aus- gefüllt werden kann. Der UX Manager plant, leitet und steuert auf Unter- nehmensebene alle Aktivitäten, die zu einer guten User Experience führen. Er agiert überwiegend im Hintergrund und sorgt durch gezielte Ver- änderungen in der Organisation für optimale Rahmenbedingungen, in denen alle am Produkt oder Service beteiligten Menschen reibungslos auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten können: Die bestmögliche UX. Ein UX Manager – also die Person oder der Personenkreis, der für UX Management verantwortlich ist – ist dabei vergleichbar mit dem Ma- nagement einer Musik-Band bei der Planung der Fan-Experience für das nächste Rock-Konzert. Der Band-Manager steht nicht selbst auf der Konzert-Bühne, sondern agiert in der Regel im Hintergrund. Er sorgt für die richtigen Rahmenbedingungen, in denen andere optimal performen 16 S. Weichert et al. können. Regelmäßig schaut er, ob die Fan-Experience so gut ist, wie alle sie sich vorgestellt haben. Er ist immer dann zufrieden, wenn er sieht, dass seine Band alle Voraussetzungen hat, um das bestmögliche Konzert- Erlebnis zu fabrizieren. Die Konzertbesucher danken es mit Jubel. Sie haben zwar von dem, was immer wieder nebenbei und hinter der Bühne passiert, nichts mitbekommen, aber das Ergebnis kann sich hören lassen (vgl. Abb. 1.4). Der UX Manager ist also nicht zwingend derjenige, der operativ in der Produktentwicklung und an der User Experience arbeitet. Die Kernauf- gabe des UX Managers besteht vielmehr darin, das Optimum aus den vorhandenen Ressourcen herauszuholen. Er identifiziert dazu unter- nehmensweit Chancen und ermöglicht Dinge, welche die UX- Schaffenden gar nicht sehen oder erkennen können, weil sie zu konzen triert am Produkt oder Service arbeiten. Er orchestriert und schafft einen Rahmen, in dem andere ihre Virtuosität in verschiedenen Disziplinen optimal verwirklichen können. Abb. 1.4 Der UX Manager bereitet die Bühne, auf der UX Designer, User Resear- cher und alle Produkt- und Projektverantwortlichen gut performen können 1 Worum geht es? 17 Beim UX Manager handelt es sich dabei nicht um eine starre Berufs- bezeichnung, sondern zunächst vor allem um eine Rolle und eine klare Verantwortlichkeit. Die Erfahrung zeigt, dass selbst ohne die Besetzung dieser Rolle entsprechende Aufgaben zu großen Teilen vom UX-Personal mit übernommen werden. Es sind dann Researcher, Designer und Produktverantwortliche, die sich plötzlich mit strategischen Fragen der Organisationsentwicklung auseinandersetzen müssen, obwohl sie weder Mandat, noch die notwendigen Kompetenzen, geschweige denn die Zeit für diese abteilungsübergreifende Arbeit haben. Das in diesem Buch be- schriebene Aufgabenfeld wird schnell deutlich machen: UX Management ist eben kein Teilzeitjob, der neben anderen operativen Tätigkeiten über- nommen werden kann. Vielmehr ist UX Management ein Vollzeit- Aufgabenbereich, der neben Kompetenz und Ressourcen vor allem Durchhaltevermögen und Motivation erfordert. Hürden, Rückfälle, Frustration und Resignation gehören dazu. Auf der anderen Seite ver- sprechen Geduld, Durchsetzungsvermögen und die richtige Heran- gehensweise auf Kurz oder Lang zufriedene Nutzer und die Anerkennung der Kollegen. 1.3.2 U wie User Trivial? Nicht ganz. Natürlich verstehen wir unter User den Anwender eines Produkts. Allerdings haben wir in diesem Buch einen etwas breite- ren Blickwinkel gewählt und nicht nur bedienbare Produkte im Visier, sondern auch Services wie einen Kinobesuch oder den Abschluss einer Versicherung. Um die Komplexität aber überschaubar zu halten, werden wir ausschließlich vom User, Anwender oder Nutzer sprechen, und damit auch Menschen einschließen, die eine Dienstleistung in Anspruch nehmen. Beispiele für User sind: Anton verwendet beim Laufen eine App, mit der er seine sportlichen Aktivitäten prüfen kann. Anton ist deshalb der User der App. Emma plant einen Kinobesuch, reserviert die Kinokarte online, steht eine Weile im Kino an, holt die Karte mit ihrer Reservierungsnummer 18 S. Weichert et al. ab und geht mit Popcorn bestückt in den Kinosaal. Emma ist in die- sem Beispiel User der entsprechenden Anwendungen. Mila erfasst ihre Arbeitszeiten und Tätigkeiten am Ende eines Arbeitstages im SAP Arbeitsblatt CATS. Ihr Teamleiter Jens druckt am Ende des Monats eine Stunden-Übersicht aus und schaut in unregel- mäßigen Abständen in die bisher für ein Projekt erfassten Zeiten sei- ner Mitarbeiter. Jens und Mila sind User. Inge arbeitet als Redakteurin im Online-Marketing-Team einer Universität. Sie erhält von den Fakultäten die neuen Semester-Termine und Inhalte und stellt sie auf den entsprechenden Seiten ein. Seit dem Relaunch letztes Jahr hat sie ein speziell für sie konfiguriertes Content- Management-System bekommen. Inge ist User des CMS. Nadine hat sich ein Elektrofahrzeug gekauft. Sie interagiert mit dem Fahrzeug, verwendet die Elektronik zur Einstellung des Fahrersitzes und nutzt Dienste, um ihr Auto zu lokalisieren, wenn sie sich nicht mehr sicher ist, wo sie geparkt hat. Nadine ist User des Elektrofahrzeugs und aller dazugehörigen Anwendungen. Aus den Beispielen geht hervor: Definition User Mit User oder Anwender ist immer der Mensch gemeint, der im direkten Kontakt zum Produkt oder Service steht und zwar, um damit ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Daraus folgt im Umkehrschluss wer NICHT der User ist. Auch hier- für einige Beispiele: Lars arbeitet im Außendienst eines Software-Zulieferers für die Autoindustrie. Er fährt seit über 20 Jahren in Autowerkstätten und hilft dort den Werkstattleitern bei Updates und Problemen einer Fehlerdiagnose-Software. Von vielen Demonstrationen, Schulungen und Gesprächen kennt er die Diagnose-Software wie seine Westentasche. Lars ist dennoch KEIN User der Software. 1 Worum geht es? 19 Anita ist Produktverantwortliche für eine medizinische Software. Sie hat früher schon als Praktikantin im Unternehmen gearbeitet, dann im Helpdesk und schließlich in der Konzeption und Entwicklung. Wer wissen möchte, wo eine Funktion zu finden ist, kann jederzeit Anita fragen. Sie kennt die Software sehr gut, sie ist aber KEIN User. Johanna ist Produktmanagerin bei einer Genossenschaft und ver- antwortlich für die Digitalisierung des Lohnmeldeverfahrens. Gemeinsam mit ihren Kollegen Tobias, Gilberto, Claudia und Silke startet sie das Projekt mit einem Zielgruppenworkshop. Jeder schreibt aus seiner Perspektive User Stories auf Karten und stellt sie an- schließend den Kollegen für eine gemeinsame Priorisierung vor. Johanna, Tobias, Gilberto, Claudia und Silke sind KEINE User des Lohnmeldeverfahrens. Nina arbeitet im Support eines Touristik-Konzerns. Täglich gibt sie den Mitarbeitern der Reisebüros Auskünfte zu Reisedetails, die eigent- lich in den zur Verfügung gestellten Systemen enthalten sind. Sie weiß dadurch sehr genau Bescheid, wo bei den Mitarbeitern in den Reisebüros der Schuh drückt und an welchen Stellen diese un- zureichend vom Buchungssystem abgeholt werden. Nina ist dennoch KEIN User der Buchungsplattform. Mit dieser Gegenüberstellung von Anwendern und Nicht-Anwendern verbinden wir eine Empfehlung: Unterscheiden Sie zwischen User und Nutzungsexperten Ein häufiges Missverständnis besteht darin, dass für ein nutzerzentriertes Vorgehen bereits das Einnehmen der Nutzer-Perspektive ausreicht. Es ist jedoch ein enormer Unterschied, ob Sie einen Produkt-Experten mit viel Kontakt zu Anwendern befragen oder die Anwender selbst einbeziehen und beobachten. Grundsätzlich gilt: Je direkter der Kontakt zu den echten Anwendern, desto besser. Denn nur auf diese Weise bekommen sie heraus, was bereits gut funktioniert, was darüber hinaus benötigt wird und warum eine Funktion unter Umständen gar nicht verwendet wird. 20 S. Weichert et al. Mit dieser Unterscheidung werden bereits zwei wesentliche Tätigkeits- felder für den UX Manager deutlich: 1. Identifizieren Sie Projekte oder Situationen in Ihrem Unternehmen, in denen Anforderungen und Entwürfe nicht auf Daten basieren, die im direkten Kontakt zu Usern erhoben wurden (Abschn. 5.2.2). Die Einschätzung „Wir kennen unsere Anwender sehr gut.“ reicht nicht aus. 2. Halten Sie nach Konsensüberschätzungen Ausschau. Mit Kon sensüberschätzung ist in der Psychologie eine kognitive Verzerrung gemeint, bei der Menschen fälschlicherweise eine zu große Übereinstimmung zwischen den eigenen Verhaltensweisen und denen anderer Menschen annehmen. Achten Sie darauf, dass niemand in diese Falle tappt, denn: Als Mitarbeiter des Unternehmens sind Sie in nahezu allen Fällen nicht die User des zu verkaufenden Produkts oder des angebotenen Service. 1.3.3 U wie User Experience Wie das folgende Fallbeispiel zeigt, umfasst User Experience das gesamte Erlebnis, das ein Nutzer vor, während und nach der Beschäftigung mit einem Produkt oder Service hat. Fallbeispiel User Experience als Summe positiver und negativer Erfahrungen Johanna möchte ihrer KFZ-Versicherung einen Marderschaden an ihrem Fahrzeug melden. Sie ruft die Website auf dem Smartphone auf und freut sich über die eindeutig auf mobil optimierten Einstiege. Sie findet sofort den Button Schaden melden und ein Formular öffnet sich. Leider ist dieses Formular ganz offensichtlich nicht mehr Teil der Optimierung gewesen, so- dass es ihr schwerfällt, die kleinen Formularelemente zu bedienen. Gänzlich irritiert ist Johanna, als sie nach dem Unfallgegner sowie nach dessen Name und Adresse gefragt wird. „Wieso Unfall?“, fragt sie sich. Da die Ver- sicherung diese Angaben als Pflichtfelder gekennzeichnet hat, versucht Jo- hanna es über einen Trick und trägt unter Name und Nachname „Max Mar- der“ ein. Schließlich bricht sie aber den Prozess auf dem Smartphone ab und ruft vorsichtshalber die Schaden-Hotline an. Nach kurzer Wartezeit nimmt ein sehr freundlicher Mitarbeiter den Schadenfall auf und Johannas Ärger über die Probleme mit dem Schadenformular im Internet ist durch die freundliche Beratung erst einmal wieder relativiert. 1 Worum geht es? 21 Alle Eindrücke, Gefühle und Erfahrungen entlang der Kontaktpunkte zum Unternehmen ergeben also in der Summe die vom Anwender emp- fundene User Experience. Ein fehlendes Textfeld spielt dabei ebenso eine Rolle, wie die Kommunikation zwischen Nutzer und Unternehmen über die Hotline. Die User Experience eines Produktes oder Services setzt sich dabei aus Utility und Usability zusammen beziehungsweise geht noch über die Summe aus beidem hinaus (vgl. Abb. 1.5). Die Utility meint den Nutzen eines Produkts oder Services und ist die absolute Grundvoraussetzung. Erst, wenn dieser Mehrwert grundsätzlich gegeben ist, kann darauf die Nutzerfreundlichkeit aufbauen und schließ- lich zu einer insgesamt positiven User Experience führen. Die exakte Unterscheidung ist somit: Utility: Das Produkt oder der Service bietet mir einen Mehrwert und enthält alle Funktionen oder Inhalte, die ich benötige, um mein Ziel irgendwie zu erreichen. Beispiel Online-KFZ-Schadenmeldung: Eine Online-Schadenmeldung bietet dem Versicherten den Mehrwert, den Schaden orts- und zeit- Abb. 1.5 Utility und Usability sind Teilmengen von User Experience. Ohne Utility und Usability keine User Experience 22 S. Weichert et al. unabhängig melden zu können. Der Mehrwert wird für einige Be- troffene wiederum kleiner, wenn ein Eingabefeld für einen spezifischen Schaden fehlt und der Versicherte doch wieder zum Telefonhörer oder Briefumschlag greifen muss. Usability: Ich kann mein Ziel nicht nur irgendwie, sondern mit einem angemessenen Aufwand und dadurch insgesamt zufriedenstellend erreichen. Beispiel Online-KFZ-Schadenmeldung: Gute Usability ist gegeben, wenn das Formular alle Schadenkategorien enthält und das Ziel leicht erreicht wird. Die Kontaktaufnahme zur Hotline ist nicht nötig. User Experience: Ich erreiche mein Ziel mit einem angemessenen Aufwand und es stellt sich zusätzlich ein positives Gefühl wie Spaß, Freude oder noch größere Zufriedenheit ein. Meine Erwartungen wer- den nicht nur erfüllt, sondern bestenfalls sogar übertroffen. Beispiel Online-KFZ-Schadenmeldung: Nicht nur das Formular ist voll- ständig und lässt sich leicht bedienen. Positiv fällt auch auf, dass die Kundenansprache der Versicherung online, in Briefen und am Telefon stets wertschätzend und freundlich ist. Auch das Zusammenspiel zwi- schen Website und Schadenmeldung per App ist wie aus einem Guss, weil die Versicherung alle potenziellen Berührungspunkte des Ver- sicherten nicht nur einzeln gestaltet, sondern außerdem ihr Zu- sammenspiel betrachtet. UX beinhaltet also Usability und Utility geht aber über die Summe der beiden Komponenten hinaus, sodass wir diesem Buch die folgende Defi- nition zugrunde legen: Definition User Experience User Experience beschreibt das vollständige Erlebnis das ein Nutzer vor, während und nach der Interaktion mit Produkten oder Services an allen Kontaktpunkten zu einem Unternehmen hat. Eine positive User Experience erzeugt beim Anwender Emotionen wie Vorfreude, Freude, Spaß oder Zufriedenheit indem Erwartungen optimal erfüllt oder sogar übertroffen werden. Wesentliche Einflussfaktoren auf ein positives Nutzungserlebnis sind neben dem wahrgenommenen Nutzen (Utility) und der Nutzerfreund- lichkeit (Usability) auch das visuelle Erscheinungsbild (Ästhetik). 1 Worum geht es? 23 Die starke Abhängigkeit der User Experience von den Bausteinen Uti- lity und Usability soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden: 1. Ohne Utility keine User Experience: „Sehr einfach zu bedienen, sieht auch extrem fancy aus, aber ich brauche es ehrlich gesagt nicht.“ Diese Aussage in einem Usability-Test fasst zusammen, was passiert, wenn durch ein Produkt oder einen Service kein Mehrwert geschaffen wird. In diesem Fall wurde eine Anwendung erdacht und umgesetzt, die komplett an den Bedürfnissen der Anwender vorbei geht. UX Management sorgt für die notwendigen Kompetenzen und die Etablierung von User Research, um die Bedürfnisse der Anwender so zu erheben, dass Produkte und Services diese optimal berück- sichtigen können. 2. Ohne Usability keine User Experience: Neben dem Mehrwert, den ein Produkt oder Service grundsätzlich bieten muss, ist die Usability eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für UX. Der Grund liegt auf der Hand: Ein schwer zu bedienendes Produkt oder ein unver- ständlicher Service erzeugen unweigerlich negative Emotionen wie Frustration und Ärger. Die Chancen, dass sich beim Nutzer an- genehme Gefühle einstellen, wenn er sein Ziel nur mühsam erreicht, sind gleich Null. Dieser Fall tritt beispielsweise dann ein, wenn ein zu großes Gewicht auf Faktoren wie Rechtssicherheit oder ausschließlich auf Design gelegt wurde. In der Evaluation mit Anwendern ist dann zu hören „Sieht toll aus, aber ich habe keine Ahnung, wie ich hier zu meinem Ziel kommen soll.“ Ein Produkt kann dabei gleichzeitig nütz- lich und trotzdem schwer zu bedienen sein. Wer in einer Großstadt an einem Bahnsteig ein U-Bahn-Ticket kaufen möchte, empfindet den Automaten dort als sehr nützlich, denn er ermöglicht es zum Ziel – einer Fahrkarte – zu gelangen. Das notwendige Gerät ist einsatzbereit, alle Funktionen sind vorhanden und trotzdem ist der Ärger groß, wenn aufgrund mangelnder Usability die einzige Bahn innerhalb der nächsten Stunde hinter einem abfährt, weil am Bildschirm nicht klar war, welche Zone auszuwählen ist. Das Nutzungserlebnis Fahr kartenkauf wird hier in negativer Erinnerung bleiben. 24 S. Weichert et al. Die hier aufgeführten Beispiele für das Zusammenspiel von Utility, Usability und User Experience sollen auch deutlich machen, dass eine zu starke Konnotation von User Experience mit dem Design-Begriff durch- aus mit Vorsicht zu genießen ist. Gerade die Bezeichnungen UX Design und Design Management beinhalten die Gefahr, dass aufgrund des deut- schen Verständnisses vom Designbegriff die Erwartung geweckt wird, User Experience sei überwiegend eine Frage der richtigen Gestaltung und kann durch die Rolle eines Designers allein gelöst werden. Ohne Utility und Usability keine positive UX Auch wenn User Experience den Begriff Usability seit seiner Einführung durch Don Norman nicht nur erweitert, sondern weitestgehend ersetzt hat: Betrachten Sie Utility und Usability weiterhin als zwingend notwendige Komponenten von UX. Schaffen Sie durch UX Management also Rahmen- bedingungen, in denen Produkte oder Services entstehen können, die ein echtes Bedürfnis Ihrer Zielgruppe bedienen und einfach zu bedienen sind. Niemandem ist geholfen, wenn Sie sich bei Ihren Produkten oder Services zu stark auf Markenkommunikation oder ästhetische Gestaltung konzen trieren, Ihre Nutzer aber am Ende ihre Kernaufgaben aufgrund mangeln- der Utility und Usability gar nicht erledigen können. Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass UX nicht nur mit dem Blick auf Methoden, Zahlen, Prozesse oder Kompetenzen erfasst werden sollte. Vielmehr handelt es sich bei User Experience immer auch um eine grundsätzliche Einstellung gegenüber Menschen. Whitney Hess brachte dies wunderbar auf den Punkt: User Experience is the establishment of a philosophy about how to treat people (Whitney Hess ). Unter Menschen können Sie in diesem Zusammenhang zwei Gruppen von Personen verstehen. Auf der einen Seite Ihre Nutzer, denn natürlich geht es in erster Linie darum, Ihre Zielgruppen im Blick zu haben. Der Blickwinkel sollte sich darüber hinaus aber auch auf die Menschen in Ihrem Unternehmen ausweiten. Also den Personenkreis, der sich zum 1 Worum geht es? 25 Ziel gesetzt hat, eine gute User Experience zu entwickeln: Wer UX wirk- lich ernst nimmt, behandelt also auch diese Gruppe von Menschen gut und schafft entsprechende Rahmenbedingungen. Der UX Manager hilft dabei. 1.3.4 U wie User-Centered Design User-Centered Design (UCD) beschreibt ein Vorgehen, bei dem durch die konsequente Einbeziehung der Nutzer Produkte und Services mit einem hohen Grad an User Experience entstehen. Der in der ISO 9241–210 (vgl. ) beschriebene Prozess (vgl. Abb. 1.6) folgt dabei fünf Prinzipien. 1. Vor der Definition von Anforderungen wird ein gutes Verständnis der Nutzer, ihrer Aufgaben und des Nutzungskontexts aufgebaut. 2. Nutzer werden bei der Konzeption und Entwicklung einbezogen. Abb. 1.6 User-Centered Design nach ISO 9241–210 26 S. Weichert et al. 3. Entwürfe werden durch Nutzer evaluiert und auf Basis der Ergebnisse angepasst. 4. Der Prozess ist iterativ, das heißt jeder Abschnitt kann mehrfach durchlaufen werden. 5. Der Fokus liegt auf der gesamten User Experience, beinhaltet also Berührungspunkte vor, während und nach der Beschäftigung mit einem Produkt oder Service. UCD gibt somit die Antwort auf das Wie. Wie machen wir es? Wie funktioniert UX Management zunächst einmal mit dem Fokus auf ein Produkt oder einen Service bevor wir uns der Unternehmens- perspektive widmen? Definition User-Centered Design User-Centered Design bezeichnet ein Vorgehen, das durch die direkte Ein- beziehung der Nutzer, frühe Visualisierung in Form von Prototypen und ein iteratives Vorgehen sicherstellt, dass die Erwartungen der Nutzer erfüllt oder übertroffen werden und das Nutzungserlebnis positiv ausfällt. Ausgehend vom Grundgedanken des UCD sind inzwischen einige Va- rianten und Weiterentwicklungen entstanden, die sich bei genauerer Be- trachtung jedoch vor allem in einer leicht veränderten Zielsetzung und nicht in einer grundsätzlich anderen Herangehensweise vom UCD unter- scheiden. Beispielhaft sollen hier drei genannt werden: Human-Centered Design: In der deutschen Fassung der ISO 9241–210 hat inzwischen der Begriff menschzentrierte Gestaltung die ursprüngliche Übersetzung benutzerorientierte Gestaltung abgelöst. Hintergrund war die vermeintliche Beschränkung des Begriffs User auf digitale Produkte und insbesondere Software. Um auch die Interaktion mit physikalischen oder nicht-digitalen Objekten wie zum Beispiel Lichtschaltern oder Leitern einzuschließen, wurde User durch Human ersetzt. Die Gefahr hierbei besteht darin, dass eben nicht die Nutzer, 1 Worum geht es? 27 sondern andere irgendwie am Prozess beteiligte Menschen einbezogen werden. Für die Zielsetzung UX ist das nicht ausreichend. Design Thinking: Die Kreativitätstechnik Design Thinking adaptiert wesentliche Ideen des UCD enthält aber insgesamt mehr Schritte, nämlich Verstehen, Beobachten, Sichtweisen definieren, Ideenfindung, Prototypen entwickeln und Testen. Eine grundsätzlich andere Vorgehensweise als beim User-Centered Design ist nicht auf Anhieb zu erkennen, denn auch in nutzerzentrierten Projekten müssen Ideen entwickelt, entworfen und getestet werden. Der wesentliche Unterschied besteht daher nicht im Vorgehen, sondern vor allem in der Zielsetzung, dem Zeitrahmen und den beteiligten Personen: Durch den bewussten Einsatz in cross-funktionalen Teams fördert Design Thinking vor allem Innovationen und bietet die Möglichkeit, auch sehr übergeordnete Fragen und Probleme aus Nutzerperspektive anzugehen, etwa „Wie könnte der Einsatz von Augmented Reality in Reisebüros die Urlaubsbuchung zukünftig verändern?“ Service Design: Mit dem Ziel, Dienstleistungen zu gestalten, teilt sich Service Design in nur drei Phasen, bietet darin aber wiederum eine starke Überschneidung zum UCD. In der Situationsanalyse werden zunächst Nutzeranforderungen erhoben und das Problemfeld defi- niert, in der Ideenfindungsphase werden Lösungsansätze für das Problem entwickelt und in der dritten Phase Service Design werden schließlich die Ideen zu einem Dienstleistungskonzept zusam mengeführt. Dieser kleine Exkurs in verwandte Vorgehensweisen zeigt: Die grund- sätzlichen Ideen und Vorgehensweisen des UCD sind auch in diesen Adaptionen enthalten. Deshalb verstehen wir UCD in diesem Buch nicht als Prozess, sondern wie eine Zutatenliste, die aus folgenden vier zwingend notwendigen Bestandteilen besteht: Verstehen, Explorieren, Entwerfen und Testen (vgl. Abb. 1.7). Egal, welche individuellen Geschmacksrichtungen der UX Manager also dem zu kreierenden „Gericht“ UX Management beifügt: An diesen vier Grundbestandteilen führt kein Weg vorbei: 28 S. Weichert et al. Abb. 1.7 Zwingend notwendige „Zutaten“ für ein nutzerzentriertes Vorgehen und User Experience sind: Verstehen, Explorieren, Entwerfen und Testen Verstehen (Abschn. 6.1) Den Anwender verstehen: Was macht ihn aus? Was ist ihm in Bezug auf das Produkt oder den Service wichtig? Den Nutzungskontext verstehen: In welchem Kontext nutzt der User das Produkt oder den Service? Was schätzt er bei uns? Was findet er bei der Konkurrenz besser gelöst? Den Prozess verstehen: Wie geht der Anwender aktuell vor? Warum nutzt er bestimmte Funk- tionen und andere nicht? Defizite und Lücken verstehen: Was fehlt dem User zu seinem Glück? Aufgaben verstehen: Welches ist das ganz konkrete Anliegen des Nutzers, bei dem wir durch unser Produkt oder unseren Service helfen können? Wie gut unter- stützen wir die wichtigsten Aufgaben bereits? 1 Worum geht es? 29 Neue Bedürfnisse verstehen: Wo gibt es bei den Anwendern Anknüpfungsmöglichkeiten für Inno- vation? Welche völlig neuen Herangehensweisen sollten wir für unsere Zielgruppe im Blick haben? Anknüpfungspunkte an Business-Ziele verstehen: Wie lassen sich interne Restriktionen und Ziele mit den gewonnenen Erkenntnissen über die Anwender in Einklang bringen? Explorieren (Abschn. 6.2) Verschiedene Teilaspekte des Nutzerbedürfnisses explorieren: Gibt es ein konkretes Problem, das wir lösen sollten oder eher ein vages Bedürfnis, das wir konkretisieren müssen? Welche Aspekte kön- nen wir dabei vernachlässigen? Warum? Verschiedene Lösungsräume explorieren: Durch entsprechende Ideation-Methoden werden verschiedene Lö- sungen entwickelt. Entwerfen (Abschn. 6.3) Mit verschiedenen Prototypen eine erleb- und testbare Version des zu entwickelnden Produkts oder Services schaffen. Die Prototypen werden zur Kommunikation mit Projektbeteiligten, Entscheidern, Nutzern und im Team verwendet, um ein gemeinsames Verständnis des zu entwickelnden Produkts sicherzustellen und Missverständnisse zu vermeiden. „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“. Abhängig vom Einsatzzweck kommen Prototypen mit unterschied- licher Fidelity und unterschiedlichem Grad an Interaktivität und ent- haltenen Details zum Einsatz. Testen (Abschn. 6.4) Mithilfe der oder des Prototypen prüfen Nutzer, ob sie ihre wichtigs- ten Aufgaben und Ziele reibungslos erledigen können. Dafür bearbeiten sie anhand des Prototypen realistische Szenarien. 30 S. Weichert et al. Aufgabe des UX Managers ist es, Rahmenbedingungen herzustellen, in denen diese vier Grundbestandteile nutzerzentrierter Entwicklung in der richtigen Menge und im richtigen Verhältnis möglich sind. (vgl. Kap. 6). Was Sie aus diesem Kapitel mitnehmen sollten Mit User Experience ist das vollständige Erlebnis gemeint, das ein Anwender vor, während und nach der Interaktion mit einem Produkt oder Service hat. Jedes Produkt und jeder Service hat eine User Experience. Ziel sollte es sein, dass sie positiv ausfällt und beim Anwender Emotionen wie Vorfreude, Freude, Spaß oder hohe Zufriedenheit hervorruft. Verschiedene Faktoren haben einen Einfluss auf das wahrgenommene Nutzungserlebnis, unter anderem der Nutzen (Utility), die Nut zer freundlichkeit (Usability) und die Ästhetik. Aufgrund einer komplexer werdenden UX-Disziplin ist eine Instanz nötig, die UX über Einzel-Projekte hinaus mit Blick auf Rahmenbedingungen im Unternehmen steuert: UX Management. UX Management umfasst die Summe aller Führungsaufgaben, die durch Veränderungen in den Bereichen Personal, Prozesse und Un ter nehmenskultur die systematische Integration von User Experience in einem Unternehmen oder einer Organisation ermöglicht und zugehörige Rahmenbedingungen kontinuierlich optimiert. Das Management der User Experience im Unternehmen ist ein eigen- ständiger Aufgabenbereich, für den die Verantwortlichkeit klar geregelt sein muss. Die Rolle des UX Managers wird von einer oder mehreren Personen aus- gefüllt und beinhaltet als Hauptaufgabe die Sicherstellung von Rah menbedingungen, in denen Produkte und Services nach dem Prinzip des User-Centered Design entstehen. User-Centered Design ist kein Modewort, sondern beschreibt in der ISO 9241–210 die notwendigen Schritte für Produkte und Services mit einer sehr guten User Experience. Zu einem nutzerzentrierten Projektvorgehen gehören die vier Schritte Verstehen, Explorieren, Entwerfen und Testen. 1 Worum geht es? 31 Literatur 1. Bitkom. (2017). Usability & User Experience – Software näher zum Nutzer bringen. Leitfaden. https://www.bitkom.org/Bitkom/Publikationen/Us ability-User-Experience-Software-naeher-zum-Nutzer-bringen.html. Zu- gegriffen am 04.01.2018. 2. DIN. (2010). DIN EN ISO 9241-210:2010. Ergonomie der Mensch-System- Interaktion Teil 210: Prozess zur Gestaltung gebrauchstauglicher interaktiver Systeme. Berlin: Beuth. 3. Dray, S. (2014). „If the user can’t use it, then it doesnt work at all.“ https:// www.youtube.com/watch?v=MK48d7RZ2Lk. Zugegriffen am 04.01.2018. 4. GUXPA. (2016). Usability Quartett in neuer Auflage. https://www.germa- nupa.de/berufsverband-german-upa/aktuelles/usability-quartett-neuer- auflage. Zugegriffen am 04.01.2018. 5. GUXPA. (2017). Status-Quo UX – Deutschland vs. Amerika?! Auswertung der Befragung deutscher UX-Professionals. https://germanupa.de/ berufsverband-g erman-u pa/aktuelles/status-q uo-u x-d eutschland-v s- amerika-0. Zugegriffen am 04.01.2018. 6. Hess, W. (2011). Design Principles: The Philosophy of UX. Präsentation im Rahmen der An Event Apart in Boston, MA 2011. https://www.slideshare. net/whitneyhess/design-principles-the-philosophy-of-ux/4-User_Expe- rience_is_the_establishment. Zugegriffen am 04.01.2018. 7. Innes, J. (2015). UX strategy: Fad or new world order? http://uxpamagazine. org/ux-strategy/. Zugegriffen am 04.01.2018. 8. Keshtcher, Y. (2017). 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Zugegrif fen am 04.01.2018. 14. UIG. (2012). Gebrauchstauglichkeit von Anwendungssoftware als Wett- bewerbsfaktor für kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Abschluss- bericht des Forschungsprojekts. https://www.usability-in-germany.de/kos/ WNetz?art=File.download&id=267&name=UIG_Abschlussbericht.pdf. Zugegriffen am 04.01.2018. 15. Watermark. (2015). The 2015 customer experience ROI study. Demonstrating the business value of great customer experience. https://www.watermarkcon- sult.net/docs/Watermark-Customer-Experience-ROI-Study.pdf. Zuge griffen am 04.01.2018. 2 Das UX-Management-Framework: Was gehört dazu, wirklich nutzerzentriert zu sein? User Experience is strategy, not design Peter Merholz. Zusammenfassung Die Vermutungen, wie eine gute User Experience erreicht werden kann, sind mannigfaltig und reichen von „Wir benötigen bessere Styleguides“ bis „Wir benötigen gut ausgebildetes Personal“. In diesem Kapitel sprechen wir Klartext: Sie erfahren, an welchen Stell- schrauben Sie tatsächlich drehen sollten und wo es dabei über die Aus- wahl der richtigen Methodik hinausgeht. Denn: Wer die Transformation zu einem nutzerzentrierten Unternehmen vollständig vollziehen möchte, ist mit einem Veränderungsprozess konfrontiert, der die drei Dimensio- nen Menschen, Prozesse und Unternehmenskultur betrifft und der darü- ber hinaus Budget, Infrastruktur und eine klare Zusage des Managements erfordert. Wie sich diese Grundvoraussetzungen auf Ihr Vorhaben über- tragen lassen, erfahren Sie in diesem Kapitel. „Sie sind doch User-Experience-Experte. Wollen Sie jetzt auch Prozess- beratung bei uns machen?“ Diese Frage kommt mitunter auf, wenn Unter- nehmen erste Erfahrungen mit UX-Dienstleistern machen. Die Er- © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden 33 GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 S. Weichert et al., Quick Guide UX Management, Quick Guide, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34726-0_2 34 S. Weichert et al. wartungshaltung war: „Schaut Euch unser Produkt an. Setzt eine Eurer Methoden ein und nennt uns einige einfach und schnell umzusetzende Opti- mierungen.“ Doch dann wird nach und nach deutlich: User Experience betrifft viel mehr als die Auswahl einer einzelnen Methode und hört mit einem Blick auf das Produkt oder den Service nicht auf. Auch isolierte Einzelmaßnahmen oder schnell umsetzbare aber wenig nachhaltige Ver- änderungen führen allein nicht zu guter User Experience. Vielmehr müssen sich Unternehmen, die User Experience nicht dem Zufall überlassen wollen, mit einem ganzheitlichen Veränderungsprozess auseinandersetzen, der das gesamte Unternehmen betrifft und von UX Management beeinflusst werden kann. Andernfalls bleibt UX ein Lippen- bekenntnis oder Marketinglabel, mit dem die Ausrichtung an Nutzern lediglich suggeriert aber nicht gelebt wird. UX Management findet entlang eines kontinuierlichen Veränderungs- prozesses statt, betrifft die Dimensionen Mensch, Prozesse und Kultur und erfordert Budget, Ressourcen sowie eine eindeutige Zusage des Ma- nagements. Alle Maßnahmen des UX Managements dienen dabei dazu, das Unter- nehmen oder die Organisation von einem Ist-Status in Richtung einer gemeinsam definierten UX-Vision zu bewegen. Klingt nach Strategie? Ist es auch. Viele der in diesem Buch behandelten Themen und Impulse lassen sich genauso unter dem Schlagwort UX-Strategie lesen. Durch den Begriff UX Management soll jedoch ein gängiges Missver- ständnis im Zusammenhang mit Strategie umgangen werden. UX- Strategie suggeriert mitunter, dass für die Etablierung einer nutzer- zentrierten Denk- und Handlungsweise im Unternehmen zunächst die Entwicklung eines umsetzbaren Plans nötig ist. Schlimmstenfalls kommt es sogar zu der Annahme: „Wir benötigen ein Strategiepapier“ oder „Wir entwickeln jetzt erst einmal die UX-Strategie und dann geht es los.“ Ein aufwendig erstelltes Strategiepapier ist jedoch nicht die richtige Antwort auf die große Herausforderung User Experience nachhaltig im Unternehmen zu verankern und auf unvorhergesehene Entwicklungen angemessen zu reagieren. 2 Das UX-Management-Framework: Was gehört dazu, wirklich … 35 Deshalb folgt das breiter gefasste Konzept UX Management gemäß dem Management-Prinzip Kaizen (vgl. ) dem Gedanken der kontinuierlichen Verbesserung. Man legt einen Anfang fest und setzt dann auf regelmäßige kleine Schritte in eine definierte Richtung. Auf- gefallene Probleme werden dabei unmittelbar korrigiert. UX Management geht dabei von einem Delta zwischen einem Ist- Zustand und einem angestrebten Idealzustand in der Zukunft aus und setzt vor allem auf einen pragmatischen Ansatz. Im Vordergrund stehen alle – auch kurzfristig – umsetzbaren Maßnahmen, die einen ohnehin stattfindenden kontinuierlichen Veränderungsprozess aktiv mitgestalten. Das Verständnis von Managen als Tätigkeit wirft dabei automatisch wichtige Fragen nach den beteiligten Menschen auf: Wer managt? Wie managt man? Was genau ist zu tun? Verstehen Sie also UX Management als die Orientierung gebende „Landkarte“, die Ihrem Unternehmen oder Ihrer Organisation dabei hilft, von einer Ausgangssituation in Richtung eines gewünschten Ziel- zustands voranzukommen (vgl. Abb. 2.1). Abb. 2.1 Wie eine Landkarte gibt UX Management Sicherheit und Orientierung auf dem Weg zur UX-Vision 36 S. Weichert et al. Auf dem Weg gilt es für Sie, Treiber und Abkürzungen zu identifizieren und Barrieren aufzulösen. Wer sich mit UX Management beschäftigt, beschäftigt sich also immer auch mit den folgenden Dimensionen: UX-Status-Quo: Der Blick auf die Frage „Wo stehen wir heute?“ lohnt in zweierlei Weise. Zusammen mit einem definierten Ziel lässt sich feststellen: Wie groß ist das Delta zwischen der Situation heute und unserer Idealvorstellung? Wo stehen wir und was ist ein sinnvoller nächster Schritt? Aber auch: Wie bereit ist unser Unternehmen grund- sätzlich für das Thema User Experience? Der Status-Quo ergibt sich aus dem aktuellen UX-Reifegrad des Unternehmens sowie der aktuel- len UX Ihrer Produkte oder Services. Zur Einschätzung des eigenen UX-Reifegrades gibt Kap. 3 Hilfestellungen. UX-Vision: Die UX-Vision beschreibt einen angestrebten Zustand in der Zukunft. Wie soll es sich für Ihre Nutzer in Zukunft anfühlen, wenn sie Ihre Produkte oder Services verwenden? Und mit Blick auf das Unternehmen oder die Organisation: Wie soll es sich für Ihre Mitarbeiter in Zukunft anfühlen, wenn sie in einem Unternehmen arbeiten, das von einer nutzerzentrierten Denkweise geprägt ist? Ein klares Bild von einem positiven Zustand in der Zukunft wird Ihnen bei der Ausrichtung und Fokussierung aller UX-Tätigkeiten helfen. Wie Sie ein solches Bild entwerfen können, zeigen die Beispiele in Kap. 4. Treiber: Es gibt in der Regel Treiber, die Sie auf dem Weg zur UX- Vision voranbringen. Das können Erfolgsgeschichten aus nutzer- zentrierten Projekten oder ein neuer Mitarbeiter sein, der bereits nutzer- zentrierte Denkansätze aus seiner Tätigkeit in anderen Unternehmen mitbringt. Regelrechte Turbo-Treiber sind Anknüpfungspunkte zwischen User Experience und Unternehmensstrategie. Wenn beispielsweise das UX-Team weiß, welche Fragen dem Management gerade Kopfzerbrechen bereiten und sehr unkompliziert Lösungen dazu liefern kann, ist dies ein starker Treiber. Barrieren: Barrieren bestehen oft in unnötigen Hierarchien oder bürokratischen Abstimmungsprozessen und können in der Unterneh menskultur so fest verankert sein, dass ein wirklich nutzerzentriertes 2 Das UX-Management-Framework: Was gehört dazu, wirklich … 37 Vorgehen nahezu unmöglich ist und Anwender und ihre A nforderungen im schlimmsten Fall weitestgehend unbekannt bleiben. Eine typische Barriere stellt zum Beispiel eine aufgrund von Verfügbarkeit und Zeit schwer einzubeziehende Zielgruppe dar. Auch die grundsätzliche Erlaubnis, in direkten Kontakt zu den Anwendern zu gehen, kann am Anfang eine zu eliminierende Barriere sein. Damit ergibt sich automatisch die Frage, wie Sie mit UX Management den Veränderungsprozess auf dem Weg zu einem nutzerzentrierten Unternehmen aktiv beeinflussen können. Die in Kap. 5, 6 und 7 thema- tisierten drei Hauptstellschrauben in der UX-Management-Maschinerie (vgl. Abb. 2.2) sind Menschen, Prozesse und Kultur und umfassen fol- gende Fragestellungen: Menschen (Kap. 5): Die Komponente Menschen umfasst die Frage nach den notwendigen Kompetenzen, nach der Verortung von User- Experience-Expertise im Unternehmen sowie die Planung von gezielten Entwicklungsmöglichkeiten in Form von Trainings und Weiterbildungen. Abb. 2.2 Hauptstellschrauben des UX Managements: Menschen, Prozesse und Kultur 38 S. Weichert et al. Das bedeutet: Es nützt der Wunsch nach der besten User Experience nichts, wenn an den entscheidenden Stellen niemand verfügbar ist, der weiß, wie es geht oder die Verantwortung übernimmt. Prozesse (Kap. 6): Die Komponente Prozesse fragt: Wie sieht der aktu- elle Entwicklungsprozess bei Ihnen aus und wie lassen sich die zwingend notwendigen Grundzutaten des User-Centered Design Verstehen, Ex- plorieren, Entwerfen und Testen darin integrieren? Das bedeutet: Es nützt der effizienteste Entwicklungsprozess nichts, wenn dabei ausschließlich Business-Ziele verfolgt werden und Ergebnisse entstehen, die Probleme bereiten oder gar nicht verwendet werden. Kultur (Kap. 7): Bei der Stellschraube Unternehmenskultur geht es um die Frage nach dem Werte- und Einstellungssystem der Mitarbeiter sowie impliziten und expliziten Regeln im Unternehmen. Wie kommt es bei- spielsweise zu Entscheidungen und welche Kommunikationsregeln gel- ten? Was wird generell im Unternehmen nicht gern gesehen? Wofür wird belohnt? Diese Fragen nach dem Einfluss der internen Kultur sind vom UX Management aufzugreifen und notwendige Veränderungen der be- stehenden Kultur in die Wege zu leiten. Das bedeutet: Selbst das beste Personal wird unter Einsatz der richtigen nutzerzentrierten Methoden nicht zum Ziel kommen, wenn die Ergebnisse der Arbeit aufgrund der Unternehmenskultur nicht akzeptiert oder weiterverfolgt werden. Zusammengefasst enthält das hier beschrieben UX-Management- Framework die folgenden Bestandteile: 1. Status-Quo UX-Reifegrad: Unser Unternehmen befindet sich, was den UX-Reifegrad angeht ungefähr auf Stufe … 2. Status-Quo UX: Die UX unserer Produkte lässt sich idealerweise an- hand von Daten aus Umfragen oder Tests wie folgt zusammenfassen: … 3. UX-Vision: Unsere gemeinsame Vorstellung von einem idealen Zustand in der Zukunft ist … 4. Barrieren: Barrieren erwarten wir aktuell auf dem Weg vom Status- Quo zu unserer UX-Vision an folgenden Stellen … 5. Treiber: Damit wir uns unserer UX-Vision nähern, gibt es ver- schiedene positive Einflussfaktoren, nämlich … 6. Menschen: Notwendige Veränderungen in den Bereichen Personal, Abteilungsstruktur, Rollen und Verortung von UX-Kompetenzen im Unternehmen sind … 2 Das UX-Management-Framework: Was gehört dazu, wirklich … 39 7. Prozesse: Notwendige Veränderungen im Entwicklungsprozess sind … 8. Kultur: Notwendige Veränderungen in der Unternehmenskul tur sind … Das Framework hilft dabei, die Rahmenbedingungen für gut ge- lingende UX und nutzerzentrierte Denkweisen im Unternehmen voll- ständig zu begreifen und nicht dem Zufall zu überlassen. Dafür bringt ein funktionierendes UX Management bisher getrennt funktionierende Prozesse und Abteilungen im Unternehmen zugunsten der Ausrichtung zusammen. Labovitz verbindet zu Recht mit dem sogenannten Align- ment die große Chance, dass jede Einheit im Unternehmen auch immer das übergeordnete Ziel hinter der eigenen Arbeit erkennt und Silos da- durch aufgelöst werden: „Alignment gives you the power to get and stay competitive by bringing together previously unconnected parts of your organization into an inter- related, easily comprehensible model. The main thing for the organization as a whole must be a common and unifying concept to which every unit can contribute. Each department and team must be able to see a direct relation- ship between what it does and this overarching goal“. Indem Sie ein funktionierendes UX Management in Ihrem Unter- nehmen oder Ihrer Organisation etablieren, entsteht eine Instanz, die aktiv zu der hier geforderten Ausrichtung und Fokussierung beiträgt. Was Sie aus diesem Kapitel mitnehmen sollten Zum Aufgabenfeld des UX Managements gehören die Erhebung des UX- Status-Quo, die Entwicklung einer UX-Vision und die aktive Gestaltung des dazwischenliegenden Weges. Der UX-Status-Quo beinhaltet nicht nur die aktuelle User Experience der Produkte und Services sondern auch die derzeitigen Rahmenbedingungen, in denen an der User Experience gearbeitet wird. Die UX-Vision beschreibt den gewünschten Zielzustand: Wie soll die UX der Produkte und Services zukünftig aussehen? Wie sollen die Rahmen- bedingungen im Unternehmen zukünftig sein, damit eine gute UX sichergestellt ist? 40 S. Weichert et al. Das UX Management gibt – wie eine Landkarte – Mitarbeitern im Unter- nehmen Sicherheit und Orientierung auf dem Weg in Richtung der UX-Vision. Das UX Management identifiziert Barrieren und nutzt Treiber, um in einem ohnehin stattfindenden ständigen Veränderungsprozess aktiv im Sinne der User Experience Einfluss auf den Verlauf zu nehmen. Die drei Hauptstellschrauben für UX Management sind Menschen, Pro- zesse und Unternehmenskultur. Literatur 1. Gabler. (2018). Kaizen. Definition. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/defi- nition/kaizen-40485#authors. Zugegriffen am 04.01.2018. 2. Labovitz, G., & Rosansky, V. (1997). The power of alignment. How great com- panies stay centered and accomplish extraordinary things. New York: Wiley. 3. Merholz, P. (2012). UX is strategy; not design. http://talks.ui-patterns.com/ videos/ux-is-strategy-not-design-peter-merholz. Zugegriffen am 04.01.2018. 3 Der UX-Status-Quo: Wie bereit ist meine Organisation für User Experience? Step by step, oh, baby, … New Kids on the Block. Zusammenfassung Für die Etablierung von User Experience in einer Organisation sind die einzelnen Schritte stark abhängig von der Aus- gangssituation. Als wichtigste Vorbereitung auf alle weiteren Aktivitäten behandelt dieses Kapitel deshalb die Bestimmung des sogenannten UX-Reifegrades. Sie erfahren, wie Sie die Bereitschaft Ihres Unter- nehmens für User Experience eigenständig einschätzen können und wel- che Möglichkeiten Sie haben, Optimierungspotenzial zu identifizieren und die nächsten Schritte festzulegen. Es geht los. Aber wie? Um UX Management in Ihrer Organisation zu etablieren, sodass das Nutzungserlebnis Ihrer Anwender mit Ihrem Ser- vice oder Produkt als herausragend in Erinnerung bleibt, gibt es sehr unterschiedliche Vorgehensweisen und Erfahrungswerte. Egal, welchen Weg Sie einschlagen: Mit einer wichtigen Vorbereitung sind Sie auf der © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden 41 GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 S. Weichert et al., Quick Guide UX Management, Quick Guide, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34726-0_3 42 S. Weichert et al. sicheren Seite und minimieren das Risiko bei Ihrem Vorhaben zu schei- tern. Treten Sie zunächst einen Schritt zurück und beurteilen Sie den UX-Status-Quo. Zwei Bestandteile ergeben den UX-Status-Quo: 1. Die aktuelle User Experience Ihrer Produkte und Services. 2. Die Bereitschaft Ihres Unternehmens oder Ihrer Organisation für nutzerzentrierte Entwicklung. In diesem Buch wollen wir mit dem Schwerpunkt auf den zweiten Be- standteil – Bereitschaft des Unternehmens – einen Weg aufzeigen, wie Sie mit Blick auf die aktuelle Situation im Haus erheben können, wo Sie sich in Sachen UX-Reife einordnen sollten. Sobald Sie wissen, wo Sie stehen, wird es Ihnen sehr leicht fallen, eine UX-Vision zu entwickeln und die richtigen Maßnahmen auszuwählen, die die Transformation im Unternehmen vorantreiben. 3.1 UX-Reifegrad: Was ist das? Woran erkennen Sie, wie bereit Ihr Unternehmen für UX ist? Der Begriff der UX-Reife hilft dabei zunächst einmal bei einem grundsätzlichen Ver- ständnis: Nicht jedes Unternehmen bringt die gleichen Voraussetzungen für UX Management mit. Einer von verschiedenen Einflussfaktoren ist beispielsweise, ob und wie sehr das Thema User Experience vom Ma- nagement unterstützt und vorangetrieben wird. Um aber auch entlang aller Ebenen festzustellen, wie weit Ihr Unternehmen oder Ihre Organi- sation insgesamt in Sachen UX ist, gilt es zunächst genau auf den Sta- tus-Quo zu schauen. Nehmen Sie eine Neubausiedlung als Beispiel zur Verdeutlichung unterschiedlicher Reifegrade. Da gibt es vielleicht drei Bauvorhaben, bei denen das Haus schon steht, der anliegende Garten sich aber noch sehr unterschiedlich präsentiert. Der erste Garten besteht noch aus einem Haufen Erde, durchmischt mit Bauschutt, dem Betonmischer mitten- drin und an Pflanzen denkt hier ohnehin noch niemand. Im zweiten Garten ist die Terrasse bereits fertig, der ausgesäte Rasen sprießt bereits 3 Der UX-Status-Quo: Wie bereit ist meine Organisation für … 43 und ein engagierter Garten-Spezialist hat die ersten Wege nach einem zuvor entwickelten Plan angelegt. Der dritte Garten ist am weitesten fortgeschritten. Die zugehörigen Bewohner bereiten bereits ein Grillfest vor und dort, wo zwei Grundstücke weiter noch der Betonmischer herumsteht, wächst hier schon ein Strauch, an dem die ersten Brombee- ren zu erkennen sind. In allen drei Bauvorhaben gibt es ein Ziel: Gute Rahmenbedingungen, in denen Pflanzen sprießen und Menschen sich wohl fühlen. Einige ste- hen damit noch am Anfang und folgen dem Do-it-yourself-Ansatz, an- dere sind mitten drin und nehmen externe Hilfe dazu. Und im dritten Fall können bereits die ersten Früchte geerntet werden, weil der Ver- änderungsprozess schon weit fortgeschritten ist. Drei Gartenprojekte, drei unterschiedliche Stadien. Ganz ähnlich sieht es aus, wenn man den Blick auf den UX-Reifegrad unterschiedlicher Or- ganisationen wirft. Ein Großteil des Zuhauses ist bezugsfertig und die Arbeit darin läuft schon seit einiger Zeit mehr oder weniger nach Plan. Release-Zyklen oder Sprints werden geplant, Werbematerialien vor- bereitet und schließlich der Vertrieb eines Produkts oder einer Dienst- leistung durch Marketing-Kampagnen begleitet. Ganz anders sieht es in der Regel beim Thema User Experience aus – im Garten des Hauses sozusagen. UX-Teams gibt es vielleicht noch gar nicht oder die Arbeit funktioniert noch nicht 100 %ig reibungslos. Tra- ditionelle Entwicklungs- und Projektmanagementansätze werden viel- leicht durch Alternativen wie Scrum oder Kanban ersetzt, jedoch gelingt die Einbeziehung der Anwender noch nicht zufriedenstellend. Das Ex- plorieren und Entwerfen von Lösungen scheitert unter Umständen an Ressourcen oder Kompetenzen und typische Aufgaben eines funktionie- renden UX Managements sowie das notwendige Fachwissen unter den Mitarbeitern sind weitestgehend dem Zufall oder Personalentscheidungen Einzelner überlassen. Je nachdem, bei wie vielen der möglichen Situationen Sie gerade inner- lich genickt haben, ist die UX-Reife Ihres Unternehmens entweder eher niedrig oder eher hoch. Aber woran lässt sich die Unterscheidung zwi- schen „Wir befinden uns wohl eher am Start“ und „Wir sind eigentlich schon recht weit.“ feststellen? In seiner Studie mit 150 UX-Professionals erhob Sauro , wie unterschiedliche Unternehmen in Sachen User Ex- 44 S. Weichert et al. perience aufgestellt sind. Als Ergebnis kamen unter anderem die folgen- den Unterscheidungskriterien heraus, anhand derer sich Organisationen mit einem hohen UX-Reifegrad von einem weniger reifen Umfeld unter- scheiden: 1. Organisationen mit hohem UX-Reifegrad haben im Vergleich zu weniger reifen Organisationen mit dreimal so großer Wahr scheinlichkeit ein UX-Budget. Umgekehrt ist es bei weniger reifen Organisationen achtmal so wahrscheinlich, dass es kein an UX- Maßnahmen gebundenes Budget gibt. 2. Organisationen mit hohem UX-Reifegrad haben häufig verteilte User Experience Teams. 3. Während es nicht zwingend einen Zusammenhang zwischen Unternehmensgröße und UX-Reifegrad gibt, arbeiten in reiferen Organisationen deutlich mehr Festangestellte Vollzeit im Bereich UX. 4. In Organisationen mit hohem UX-Reifegrad sind Mitarbeiter in der Regel einem Produkt zugeteilt. In weniger reifen Unternehmen ist eine Verteilung der Mitarbeiter auf Abteilungen oder Standorte verbreitet. 5. Reifere Organisationen beziehen mit höherer Wahrscheinlichkeit Anwender in allen Phasen der Produktentwicklung ein. 6. In Organisationen höherer UX-Reife befassen sich mehr Rollen mit UX als in weniger reifen Organisationen, insbesondere die Rollen User Researcher und UX Designer, aber auch mittleres und oberes Management legen einen hohen Stellenwert auf die User Experience der Produkte und Services. 7. Je höher der Reifegrad, desto wahrscheinlicher ist es, dass Kennzahlen zur Messung von Erfolgen der UX-Maßnahmen eingesetzt werden. 8. Reifere Organisationen setzen im Durchschnitt deutlich mehr unter- schiedliche UX-Methoden ein, als weniger reife Organisationen. 9. Der Mehrwert von UX wird in Organisationen höherer Reife ins- gesamt stärker wahrgenommen, als in Organisationen niedriger Reife. 10. In Unternehmen mit hohem UX-Reifegrad steht mehr Mitarbeitern die Möglichkeit für kontinuierliche Weiterbildungen im Bereich UX zur Verfügung. 3 Der UX-Status-Quo: Wie bereit ist meine Organisation für … 45 Vielleicht konnten Sie bereits an dieser groben Unterscheidung zwi- schen niedriger UX-Reife und hoher UX-Reife ein erstes Gefühl dafür entwickeln, wo Sie Ihr Unternehmen oder Ihre Organisation einordnen sollten. Wir wollen aber etwas konkreter werden. Im folgenden Kapitel erfahren Sie, wie Sie den Reifegrad Ihrer Organisation anhand von sechs Stufen bestimmen können und vor allem: Wie Sie Ihr eigenes UX-Garten- Projekt so vorantreiben können, dass Sie möglichst bald die ersten Früchte ernten und im UX-Reifegrad Stück für Stück weiter kommen. 3.2 ie lässt sich der aktuelle UX-Reifegrad W einschätzen? Für die Einschätzung eines Unternehmens hinsichtlich UX existieren verschiedene sogenannte Reifegradmodelle. Einen Überblick und eine Bewertung verschiedener Reifegradmodelle gibt Hanson. Alle Mo- delle haben dabei eines gemeinsam: Sie beschreiben verschiedene Stufen zwischen einem Ausgangszustand und dem angestrebten Zielzustand eines nutzerzentrierten Unternehmens, in dem UX nicht nur ein Lippen- bekenntnis ist, sondern alle Unternehmensbereiche durchdrungen hat. Ein solches Modell können Sie verwenden, um einerseits den Ist- Zustand – Wie weit sind wir? – und zugleich Potenziale – Wie viel Luft haben wir nach oben? – erkennen und kommunizieren zu können. Damit das gelingt, sind für jede Stufe typische Situationen beschrieben, die Sie mit dem aktuellen Status-Quo Ihrer Organisation abglei chen können. Viele der existierenden Modelle sind entweder sehr umfangreich, sehr komplex oder für Nicht-Experten schwer verständlich. Für das in Abb. 3.1 und in den folgenden Kapiteln beispielhaft verwendete Modell wurden deshalb die Ansätze etablierter UX-Maturity-Modelle von Niel- sen [6, 7], Earthy , Schaffer und Sauro ins Deutsche über- tragen, konsolidiert und vereinfacht: Die folgenden Unter-Abschnitte zu jeder der sechs Stufen helfen Ihnen dabei, festzustellen, wo Ihr Unternehmen oder Ihre Organisation aktuell einzuordnen ist. Abhängig von Ihrer Situation im Unternehmen und der 46 S. Weichert et al. Abb. 3.1 UX-Reifegrad-Modell zur Bestimmung des Status-Quo: Wo stehen wir und wie viel Luft gibt es nach oben? Verfügbarkeit von notwendigen Informationen und Interviewpartnern kann ein externer UX-Experte bei einer objektiven und neutralen Ein- schätzung helfen. Wichtig: Bei der Einordnung geht es nie um eine vollständige Zu- ordnung zwischen Ihrer Situation und einer Stufenbeschreibung. Sie werden also nicht zwingend genau eine Stufe finden, die Ihren aktuellen UX-Status-Quo exakt abbildet. Vielmehr geht es bei den Stufen darum, eine eindeutige Tendenz festzustellen. Sollte also zum Beispiel der über- wiegende Teil der in UX-Reifegrad Stufe 2 beschriebenen Merkmale auf Ihre Organisation zutreffen, Sie aber auch einzelne Aspekte einer höhe- ren Stufe bei sich erkennen, können Sie dennoch davon ausgehen, dass Sie sich eher auf Stufe 2 befinden. 3 Der UX-Status-Quo: Wie bereit ist meine Organisation für … 47 3.2.1 X-Reifegrad Stufe 1: Fehlendes U UX Bewusstsein In der untersten Stufe des UX-Reifegrades Fehlendes UX Bewusstsein sind Usability und UX entweder unbekannt oder werden als irrelevant für den Unternehmenserfolg betrachtet. Die Entscheidung, wie sich die Expe- rience der Anwender mit einem Service oder Produkt darstellt oder an- fühlt, fällen in der Regel die Entwickler oder Produktverantwortliche. Die Entwicklung der User Experience und die User selbst sind weitest- gehend getrennt voneinander (vgl. Abb. 3.2). Der aus UX-Sicht ausgeprägteste Fall auf dieser Stufe ist sogar eine bewusste Ablehnung oder Feindseligkeit gegenüber den Themen Usabi- lity und UX. Abb. 3.2 UX-Reifegrad Stufe 1: Fehlendes UX-Bewusstsein 48 S. Weichert et al. Woran erkennen Sie, dass Ihre Organisation auf Stufe 1 einzu- ordnen ist? Entwickler und Produktverantwortliche entscheiden darüber, welche Elemente und Funktionen in einem User Interface oder einem Service umgesetzt werden und in welcher Form. Wenn eine Anforderung irgendwie umgesetzt ist, ist das Ziel meistens erreicht. Ob und wie das Ergebnis von den Zielgruppen akzeptiert und verwendet wird, wird nicht überprüft. Verstehen (Abschn. 6.1) und Testen (Abschn. 6.4) finden nicht statt. Weder User Research zum Verständnis von Anwendern und Anwendungsprozessen noch Usability-Tests mit Nutzern kommen im Entwicklungsprozess vor. Statt den direkten Kontakt zu wirklichen Anwendern (Abschn. 1.3.2) zu suchen, kommunizieren Produktverantwortliche ausschließlich mit Nutzungsexperten. Aussagen wie „Ich weiß ziemlich genau, wie unsere Nutzer ticken und was sie brauchen.“ reichen auf dieser Stufe aus. Auch Explorieren (Abschn. 6.2) und Entwerfen (Abschn. 6.3) finden nicht statt. Es wird in der Regel die erste und nächstliegende Lösung weiterverfolgt und Prototypen kommen nicht zum Einsatz. Anforderungen werden möglichst direkt mit Fokus auf den frühsten Termin umgesetzt. User Experience und die zugehörige Einbeziehung von Anwendern wird als Extra-Aufwand betrachtet, dessen Return on Investment trotz Faktenlage (Abschn. 1.1) immer wieder infrage gestellt wird. Entwickler, Designer und Produktverantwortliche fühlen sich miss- verstanden oder gekränkt, weil Anwender ihre Ideen nicht nutzen o