Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht PDF
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Summary
This document is a chapter from a larger work, examining different counting methods used in mathematics education. It analyzes counting techniques (such as "Alleszählen" and "Weiterzählen"), emphasizing their importance in the early stages of mathematical learning. The document focuses on various strategies and potential challenges related to counting-based approaches in teaching.
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2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht „Rechenschwache“ Kinder rechnen nicht – sie zählen. (Gaidoschik, 2015, S. 32) Ein immer wiederkehrendes Ergebnis großer internationaler Schulleistungsver- gl...
2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht „Rechenschwache“ Kinder rechnen nicht – sie zählen. (Gaidoschik, 2015, S. 32) Ein immer wiederkehrendes Ergebnis großer internationaler Schulleistungsver- gleichsstudien, wie TIMSS, besteht darin, dass einem erheblich großen Anteil deutscher Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Grundschulzeit lediglich der Erwerb basaler mathematischer Kompetenzen attestiert werden kann (vgl. Selter et al., 2016, S. 117ff.). Diese Befunde erscheinen vor dem Hintergrund, dass Ma- thematiklernen einen kumulativen Prozess darstellt, besonders gravierend. Der Erwerb zentraler Konzepte des arithmetischen Anfangsunterrichts stellt eine we- sentliche Grundlage für erfolgreiches Weiterlernen dar. Bleibt der Erwerb ma- thematischer Konzepte aus, sind problematische Lösungsprozesse der Kinder eine logische Konsequenz, die sich zunehmend zu tiefgreifenden Rechenschwie- rigkeiten entwickeln können. Wartha und Schulz (2013, S. 91) konkretisieren diesen Gedanken durch die Formulierung dreier Hauptsymptome von Rechenschwierigkeiten im Arithme- tikunterricht, zu denen sie auch das verfestigt zählende Rechnen fassen (vgl. z. B. auch Leuders, 2015, S. 162). Schipper hingegen bezeichnet das verfestigt zäh- lende Rechnen gar als das „Hauptproblem“ (Schipper, 2015, S. 195) von Kindern mit Rechenschwierigkeiten. Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, den Forschungsstand dieses Themen- feldes aufzuarbeiten, um den Ausgangspunkt für die vorliegende empirische For- schungsarbeit (siehe Kap. 4 bis 6) zu begründen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich die folgenden Analysen des (verfestigt) zählenden Rechnens im weiteren Verlauf dieser Arbeit vordergründig auf die Addition be- zieht, da die in dieser Studie gestellten Aufgaben ausschließlich diesem Bereich zuzuordnen sind (vgl. Kap. 4.2.4). Struktur des Kapitels Zu Beginn des Kapitels (Kap. 2.1) wird ein stoffdidaktischer Überblick verschie- dener Zählstrategien dargelegt, bevor der Forschungsstand über die Verwendung von Zählstrategien im Verlauf des mathematischen Anfangsunterrichts offenge- legt wird (Kap. 2.2). Darauf aufbauend werden auf zentrale Nachteile zählenden Rechnens hingewiesen (Kap. 2.3) und mögliche Ursachen der häufigen Verwen- dung solcher Lösungsverfahren aufgezeigt (Kap. 2.4). Das Kapitel schließt mit der Beschreibung wesentlicher Symptome verfestigt zählend rechnender Kinder © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 D. Walter, Nutzungsweisen bei der Verwendung von Tablet-Apps, Dortmunder Beiträge zur Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts 31, DOI 10.1007/978-3-658-19067-5_2 66 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht (Kap. 2.5) sowie der Erörterung der Frage, wie mit zählendem Rechnen im Un- terricht umgegangen werden kann (Kap. 2.6), ab. 2.1 Zählstrategien Grundlegend wird in der Fachdidaktik zwischen den Hauptzählstrategien Alles- zählen und Weiterzählen unterschieden, die wiederum in jeweils unterschiedlich effizienten Varianten ausgeführt werden können. Tabelle 2.1 gibt einen Überblick häufig beobachtbarer Zählstrategien für das additive Rechnen im Zwanzigerraum (vgl. u. a. Baroody, 1987, S. 141ff.; Carpenter & Moser, 1984, S. 181; Clements & Sarama, 2009, S. 63f.; Gerster & Schultz, 2004, S. 362; Häsel-Weide, Nührenbörger, Moser-Opitz, & Wittich, 2014, S. 46f.; Hess, 2012; Padberg & Benz, 2011, S. 89). Tabelle 2.1: Zählstrategien zur Lösung von Additionsaufgaben am Beispiel der Aufgabe 4+6 Zählstrategie Beispiel Beide Summanden werden direkt modelliert und abgezählt. An- schließend erfolgt das Auszählen aller vorliegenden Objekte. Alleszählen ‚(concrete) counting-all’ Nach dem Legen der Summanden werden die Plättchen nicht mehr (wie beim Alleszählen) separat ausgezählt. Abkürzendes Summenzählen Das Legen des zweiten Summanden (6) wird durch zwei synchrone ‚shortcut sum’ Zählprozesse begleitet: (5)1, (6)2, (7)3, (8)4, (9)5, (10)6 2.1 Zählstrategien 67 Weiterzählen vom ersten Die Summanden werden nicht mehr direkt modelliert. Die Zählpro- Summanden zedur beginnt ausgehend vom Wert des ersten Summanden, von ‚Counting-on dem aus in Einerschritten weitergezählt wird. from first ad- (4); 5, 6, 7, 8, 9, 10 dend’ Weiterzählen vom größeren Bevor die Zählprozedur durchgeführt wird, erfolgt ein Vergleich Summanden beider Summanden. Die in Einerschritten ablaufende Zählprozedur ‚Counting-on beginnt ausgehend vom größeren Summanden. from larger’; (6); 7, 8, 9, 10 ‚Count-min‘ Weiterzählen vom größeren Anstatt 4 + 6 durch viermaliges Weiterzählen in Einerschritten zu Summanden in lösen, kann die Zählprozedur durch Weiterzählen in Zweierschritten größeren Schrit- ökonomisiert werden. ten (6); 8, 10 ‚Counting-on in steps’15 Die Darstellung der verschiedenen Vorgehensweisen zeigt auf, dass sich die dar- gelegten Zählprozeduren hinsichtlich ihrer Effizienz stark voneinander unter- scheiden (vgl. Hess, 2012, S. 114f.). Für das additive Rechnen ist ein Vorgehen nach den in Tabelle 2.1 letztgenannten Zählstrategien mit weniger Arbeitsschrit- ten verbunden, als es bei den erstgenannten Strategien der Fall ist. So ist bspw. ein Vorgehen für das Lösen der Aufgabe 4+6 gemäß concrete counting-all mit insgesamt zwanzig Zähleinheiten verbunden, während beim counting-on in steps lediglich zwei Zahlworte genannt werden. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass Kinder für die Nutzung ökonomi- scherer Strategien über umfassendere Vorkenntnisse verfügen müssen (vgl. Hä- sel-Weide et al., 2014, S. 47). Die daran anknüpfend naheliegende Überlegung, Zählstrategien bewusst zu trainieren, um die kognitive Belastung zu reduzieren, wird in Kapitel 2.6. genauer erörtert. 15 Der Terminus counting-on in steps als englischsprachige Übersetzung des Weiterzählens vom größeren Summanden in größeren Schritten entstammt nicht den zu Beginn dieses Kapitels genannten Quellen. Es handelt sich dabei um eine eigenständige Übersetzung. 68 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht 2.2 Zählen-Rechnen-Wissen Als Zielvorgabe empfiehlt die Fachdidaktik, dass Schülerinnen und Schüler am Ende des ersten Schuljahres zumindest im Zahlenraum bis 10 in der Lage sein sollten, nicht-zählende Rechenstrategien zu nutzen (vgl. Gerster, 2009, S. 268; Lorenz, 2003, S. 105; Lorenz & Radatz, 1993, S. 116f.; Radatz, Schipper, Ebeling, & Dröge, 1996, S. 83f.; Schipper, 2009, S. 119). Dementsprechend soll- ten Aufgaben des kleinen Einspluseins entweder faktenabrufend oder über die Nutzung operativer Rechenstrategien (vgl. Kap. 3.3.1) gelöst werden. Verschiedene nationale sowie internationale Untersuchungen belegen die Existenz dreier Hauptlösungsstrategien für das additive Rechnen im Zwanziger- raum: Zählen, Rechnen und Wissen (vgl. z. B. Doschko, 2011, S. 265ff.; Gray, 1991, S. 569). Im Folgenden werden einschlägige Untersuchungsergebnisse zur Verwendung der drei Hauptlösungsstrategien am Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Schuljahres dargelegt, um zu prüfen, ob die von der deutschsprachi- gen Fachdidaktik ausgegebene Zielvorgabe von Lernenden erreicht wird. 2.2.1 Zählen-Rechnen-Wissen am Ende des ersten Schuljahres Doschko (2011, S. 111ff.) untersuchte in einer Längsschnittstudie, welche Vor- gehensweisen im Verlauf des ersten Schuljahres von 120 deutschen Schülerinnen und Schülern für das Lösen von Aufgaben im Zahlenraum bis 20 herangezogen werden. Die Kinder wurden auf der Grundlage von Lehrereinschätzungen sowie der Ergebnisse eines Tests zu arithmetischen Vorkenntnissen am Schulbeginn (vgl. Knapstein & Spiegel, 1995) ausgewählt, so dass in der Stichprobe leis- tungsstarke, -schwache sowie Kinder durchschnittlichen Leistungsstandes in gleichen Teilen vertreten waren. Tabelle 2.2 legt die Ergebnisse des letzten der drei Untersuchungszeitpunkte bezüglich der gestellten Additionsaufgaben16 dar: Tabelle 2.2: Lösungsstrategien von Schülerinnen und Schülern bei Additionsaufgaben im Zahlen- raum bis 20 am Ende des ersten Schuljahres (Doschko, 2011, S. 255/263) Zählen Rechnen Wissen Alle Additionsaufgaben 39,38 % 25,00 % 33,13 % Zahlenaufgabe 6+4 30,00 % 17,00 % 51,00 % Zahlenaufgabe 4+9 47,00 % 17,00 % 36,00 % 16 Die von Doschko (2011) gestellten Aufgaben umfassten einerseits vier reine Zahlenaufga- ben (2+4; 7+6; 6+4; 4+9) sowie vier, in einen Text eingekleidete Aufgaben (6+4; 4+9; 5+3; 9+9). Die Erhebungsdaten einiger Aufgaben (darunter die Zahlenaufgaben 6+4 und 4+9) werden in Doschkos Arbeit zudem gesondert dargelegt. 2.2 Zählen-Rechnen-Wissen 69 Die Ergebnisse Doschkos zeigen, dass zählende Lösungsstrategien am Ende des ersten Schuljahres die Hauptlösungsstrategien beim additiven Rechnen darstel- len (39,38 %). Rechnerische (25 %) und faktenabrufende Vorgehensweisen (33,13 %) waren in geringerem Umfang zu beobachten. Vergleicht man darüber hinaus die Lösungsstrategien bei der Bearbeitung der Aufgaben 6+4 (ohne Zeh- nerübergang) und 4+9 (mit Zehnerübergang), so ist festzustellen, dass die Kinder bei letzterer Aufgabe deutlich häufiger Zählstrategien heranzogen. Auch Gaidoschik (2010, S. 245f.) untersuchte im Rahmen einer Längs- schnittstudie, welche Strategien Schülerinnen und Schüler zum Lösen der additi- ven Grundaufgaben17 heranziehen. An seiner Untersuchung nahmen 139, per Zu- fall ausgewählte, niederösterreichische Kinder teil, deren Vorgehensweisen er zu Beginn, in der Mitte sowie am Ende des ersten Schuljahres mittels klinischer In- terviews analysierte. Tabelle 2.3 zeigt die Ergebnisse, aufgeschlüsselt entspre- chend der gestellten Additionsaufgaben zum dritten Messzeitpunkt. Tabelle 2.3: Lösungsstrategien von Schülerinnen und Schülern bei Additionsaufgaben im Zahlen- raum bis 20 am Ende des ersten Schuljahres (aus Gaidoschik, 2010, S. 423) Aufgabe Zählen Rechnen Wissen Sonstige18 3+5 30,8 % 1,4 % 58,3 % 9,3 % 2+5 37,4 % 0,7 % 57,6 % 4,3 % Ohne 3+4 44,6 % 5,8 % 42,4 % 7,1 % Zehner- 4+6 42,4 % 4,3 % 41,0 % 12,2 % Nicht- übergang 3+7 50,3 % 1,4 % 34,5 % 13,7 % trivial 3+6 46,8 % 10,8 % 32,4 % 10,0 % 2+7 57,6 % 5,8 % 31,7 % 5,0 % 3+9 62,6 % 22,3 % 8,6 % 6,4 % Zehner- 6+7 54,6 % 25,9 % 2,9 % 16,7 % übergang 5+8 59,7 % 21,6 % 2,9 % 15,8 % 0+9 0,7 % - 98,6 % 0,7 % 1+6 15,1 % - 82,7 % 2,1 % Trivial Ohne 2+2 0,7 % - 97,1 % 2,1 % (Ver- Zehner- 3+3 1,4 % - 95,7 % 2,9 % dopp- übergang 4+4 10,1 % - 88,5 % 1,4 % lungen, +1) 5+5 0,7 % - 97,1 % 2,1 % Zehner- 6+6 38,8 % 3,6 % 50,4 % 7,1 % übergang 8+8 54,0 % 6,5 % 15,8 % 23,8 % 17 Gemeint sind alle Additionsaufgaben mit einstelligen Summanden sowie deren Umkehr- aufgaben (vgl. Gaidoschik, 2010, S. 10). 18 Unter Sonstige werden die von Gaidoschik (2010) beobachteten Vorgehensweisen nicht- zählend mit Fingern, Raten, Fehlspeicherung, ‚Kann ich nicht‘ sowie Keine klare Zuord- nung zusammengefasst. 70 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht Die Erhebungsdaten zeigen, dass die als trivial geltenden Aufgaben ohne Zeh- nerübergang am Ende des ersten Schuljahres von den Schülerinnen und Schülern bereits weitgehend automatisiert wurden, während (triviale) Verdopplungsaufga- ben mit Zehnerübergang (6+6 und 8+8) weitaus häufiger mittels Zählstrategien gelöst wurden. Ferner lässt sich hinsichtlich der nicht-trivialen Aufgaben erken- nen, dass Zählstrategien bei fast allen dieser gestellten Additionsaufgaben (aus- genommen 3+5 und 2+5) die Hauptlösungsstrategie darstellen, wobei die Aufga- ben mit Zehnerübergang in der Regel häufiger als diejenigen Aufgaben ohne Zehnerübergang zählend gelöst werden. Zusammenfassend lässt sich angesichts der beschriebenen Befunde festhal- ten, dass Kinder am Ende des ersten Schuljahres vor allem bei den nicht-trivialen Additionsaufgaben sowie bei Aufgaben mit Zehnerübergang im Zahlenraum bis 20 vorwiegend zählende Lösungsstrategien nutzen. Diese Befunde stützen die weit verbreitete These, dass Lernende bei schwieriger empfundenen Aufgaben eher auf die ihnen vertrauten und sicher erscheinenden Zählstrategien zurück- greifen (vgl. Schipper, 2002, S. 250; Siegler, 1991, S. 90). 2.2.2 Zählen-Rechnen-Wissen zu Beginn des zweiten Schuljahres Aufbauend auf der Studie von Doschko (2011) untersuchte Benz (2005) bei der- selben Stichprobe 19 , welche Lösungsstrategien Schülerinnen und Schüler des zweiten Schuljahres bei Rechenaufgaben im Zahlenraum bis 100 heranziehen. Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung besteht darin, dass Zählstrate- gien absolut gesehen auch noch zu Beginn des zweiten Schuljahres von den be- fragten Lernenden die am häufigsten verwendeten Strategien (42,0 %) beim ad- ditiven Rechnen20 darstellen. Während der Anteil derjenigen Kinder, welche die Ergebnisse der gestellten Aufgaben bereits memoriert abrufen konnten (9,6 %), relativ gering war, konnten rechnerische Vorgehensweisen (41,3 %) deutlich häu- figer beobachtet werden (vgl. Benz, 2005, S. 168). Dementsprechend zeigt sich, dass zählende Lösungsstrategien nicht nur am Ende der ersten, sondern auch noch zu Beginn der zweiten Klasse die am häu- figsten auftretenden Strategien der Kinder darstellen. 19 Die Studien von Doschko und Benz waren in das Heidelberger Projekt „Flexibles Rechnen im Anfangsunterricht“ eingebettet. In beiden Studien wurden dieselben Kinder interviewt. Von den ursprünglich 120 untersuchten Kindern der Studie Doschkos (2011), konnten in der Untersuchung von Benz (2005) 100 Schülerinnen und Schüler an allen drei Messzeit- punkten befragt werden. Die übrigen Kinder schieden „durch Umzug, Klassenwiederho- lung oder Krankheit“ aus (Benz, 2005, S. 101). 20 Auch in dieser Untersuchung wurden Text- und Zahlenaufgaben in gleichen Teilen gestellt. 2.2 Zählen-Rechnen-Wissen 71 2.2.3 Zusammenfassung und Ausblick Auf Grundlage des beschriebenen Forschungsstandes zum Anteil der Lösungs- strategien Zählen, Rechnen und Wissen beim additiven Rechnen können folgende zentrale Aspekte abgeleitet werden: Während die als trivial geltenden additiven Grundaufgaben (Verdopp- lungsaufgaben, Aufgaben mit +1 und +0) im Zahlenraum bis 10 bereits weitgehend automatisiert wurden, ist der Anteil von Zählstrategien bei Aufgaben im Zahlenraum bis 20 deutlich höher. Jegliche Formen von Zählstrategien (vgl. Kap. 2.1) werden am Ende des ersten Schuljahres beim überwiegenden Teil der als nicht-trivial geltenden Aufgaben als Hauptlösungsstrategie herangezogen. Auch noch zu Beginn des zweiten Schuljahres stellen Zählstrategien bei Aufgaben aus dem Zahlenraum bis 100 die am häufigsten verwendeten Strategien zur Lösung additiver Grundaufgaben dar. Angesichts dieser Befunde muss konstatiert werden, dass das von der Fachdidak- tik ausgegebene Ziel 21 , nicht-zählende Lösungsstrategien am Ende des ersten Schuljahres bei Aufgaben des kleinen Einspluseins zu nutzen, nicht von allen Kindern erreicht wird und erhebliche Unterschiede zwischen trivialen und nicht- trivialen Aufgaben festzuhalten sind. Besonders gravierend erscheinen die Be- funde vor dem Hintergrund, dass zählende Lösungsverfahren auch noch in wei- terführenden Schulen (vgl. z. B. Fresemann, 2014, S. 32f.; Moser Opitz, 2005, S. 221ff.; Ostad, 1998, S. 14; Schäfer, 2005, S. 444), sowie auch von Erwachsenen (vgl. z. B. Wartha & Schulz, 2013, S.8ff.) bei einem erheblichen Anteil der addi- tiven Grundaufgaben herangezogen werden. Verschiedene Autoren warnen in diesem Zusammenhang eindringlich vor einer möglichen ‚Verfestigung‘ der Zählstrategien (vgl. z. B. Lorenz & Radatz, 1993, S. 117; Schipper, 2009, S. 335; Spiegel & Selter, 2015, S. 88). Wird zählendes Rechnen als ausschließliche Lö- sungsstrategie über das erste Schuljahr hinaus genutzt, „dann stellt es eine Sack- gasse dar, aus der die Schüler im 2. oder 3. Schuljahr kaum mehr herauskom- men“ (Lorenz & Radatz, 1993, S. 117). Eine ‚Rechenschwäche’ kann aus zäh- lendem Rechnen erwachsen. Allerdings darf zählendes Rechnen am Ende des ersten Schuljahres nicht mit einer ‚Rechenschwäche’ gleichgesetzt werden: „Ein Kind, das Ende der ersten Schulstufe zählend rechnet, ist nicht deshalb schon ,rechenschwach’; aber es läuft Gefahr, unter dem Druck kommender schulischer An- forderungen ,rechenschwach’ zu werden“ (Gaidoschik, 2009a, S. 170). 21 Angesichts zunehmender Anforderungen an die Grundschule, die aktuell durch Inklusion und Migration greifbar sind, ist davon auszugehen, dass diese ambitionierte Zielvorgabe künftig von einem immer größer werdenden Teil der Kinder nicht erreicht werden kann. 72 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht 2.3 Nachteile und Risiken zählenden Rechnens Zählendes Rechnen ist eine bei Schulanfängern erwartungskonforme Vorge- hensweise für das Bewältigen erster Rechenaufgaben. Gleichwohl sind zählende Vorgehensweisen mit wesentlichen Nachteilen und damit einhergehenden Risi- ken verbunden, die Krauthausen (1995, S. 91; m. s. a. Gerster, 1994, S. 45) wie folgt zusammenfasst: „Zählmethoden werden sehr bald umständlich und unökonomisch; die möglicherweise unklare Rolle des Anfangs- oder Endgliedes; die stereotype Anwendung der Zähltechnik überlagert den möglichen Rückgriff auf bereits auswendig verfügbare Zahlensätze; und es besteht auch wenig Bedürfnis, sich Zahlensätze zu merken, so daß dieses Reper- toire sich nur sehr langsam vergrößert; bei der Summenbildung kann durch die Zählmethode die fundamentale Idee des Zehnersystems umgangen werden (es reicht aus, weitere Zahlen- namen in der richtigen Reihenfolge aufzusagen und an der betreffenden Stelle zu stoppen); Zusammenhänge zwischen Zahlensätzen (Nachbaraufgaben, Analogie- aufgaben) werden nicht im Sinne «geschickten» Rechnens ausgenutzt, sondern jede Aufgabe für sich neu berechnet; zählendes Rechnen unterstützt nicht den Aufbau eines numerischen Netzwerkes, in dem alle Einzelaufgaben in ein bedeutungshaltiges Bezie- hungsgeflecht eingebettet sind – es bleibt bei isolierten Einzelfakten; zählendes Addieren/Subtrahieren behindert das Verständnis für die Multi- plikation/Division; die Zählprozedur beansprucht die Aufmerksamkeit so stark, dass der Zu- sammenhang zwischen Aufgabe und Ergebnis leicht aus dem Blick ge- rät.“ Obwohl die beschriebenen Nachteile aus der Sicht ‚geübter Rechner’ nahelie- gend und offenkundig sind, werden sie von zählenden Rechnern häufig nicht immer durchschaut. Sie selbst empfinden ihre Vorgehensweise als sicher, zielfüh- rend und zugleich erfolgreich (vgl. Ladel & Kortenkamp, 2009, S. 93; Schmassmann & Moser Opitz, 2007, S. 23; Wartha & Schulz, 2013, S. 44). Dies liegt vor allem auch daran, dass Zählstrategien in kleineren Zahlenräumen häufig schneller als operative Rechenstrategien zum Ergebnis führen können (vgl. z. B. Lorenz & Radatz, 1993, S. 116). Dementsprechend sehen Kinder häufig weder Anlass noch die Notwendigkeit, ihre zählenden Vorgehensweisen zugunsten ope- rativer Rechenstrategien aufzugeben. Sie bewerten Strategien vornehmlich aus 2.4 Mögliche Ursachen für verfestigt zählendes Rechnen 73 einer Gegenwartsperspektive und können noch nicht hinreichend gut abschätzen, welche Risiken das (ausschließliche) Weiterführen zählender Vorgehensweisen impliziert. Folglich ist es sowohl in der Schulpraxis als auch in der Lehreraus- und -fortbildung eine zentrale Aufgabe, die Nachteile und Risiken, aber auch die durch die Kinder subjektiv empfundenen Vorteile der Verwendung zählender Lö- sungsverfahren im Sinne einer Zukunftsperspektive zu bewerten (vgl. Schipper, 2001, S. 11; siehe auch Kap. 2.6.4). Erfolgt dies nicht, so werden viele Kinder ihre vorzugsweise genutzten zählenden Lösungsstrategien häufig noch über das erste Schuljahr hinweg verfolgen und laufen Gefahr, diese zu verfestigen. 2.4 Mögliche Ursachen für verfestigt zählendes Rechnen Im bisherigen Verlauf dieses Kapitels wurde beschrieben, dass zählendes Rech- nen häufig über das erste Schuljahr hinaus die Hauptlösungsstrategie zur Lösung von Additionsaufgaben darstellt. Dementsprechend sind viele Schülerinnen und Schüler gefährdet, die wenig tragfähigen Zählstrategien zu verfestigen, woran sich in Anbetracht der beschriebenen Nachteile und gravierenden Risiken tief- greifende Rechenschwierigkeiten anschließen können. Um der Verfestigung zäh- lender Lösungsstrategien vorbeugen zu können, erscheint es wichtig, mögliche Ursachen derer herauszustellen. Verschiedene Autoren weisen darauf hin, dass der aktuelle Forschungsstand keine eindeutigen Ursachenzuschreibungen für die Entwicklung verfestigter Zähltechniken zulässt (vgl. Gaidoschik, 2015, S. 14; Meyerhöfer, 2011, S. 410; Schipper, 2003, S. 231). In diesem Sinne beschreibt Lorenz (2003, S. 112) die schwere Fassbarkeit möglicher Wurzeln einer ‚Rechenschwäche’ als „Ursachen- sumpf". Gleichwohl ist es aber möglich, bestimmte Faktoren zu benennen, die das „Gesamtsystem Rechenschwäche“ (Gaidoschik, 2015, S. 13) beeinflussen können. Demnach sind vor allem drei „Risikobündel“ (Spiegel & Selter, 2015, S. 92) einer sich entwickelnden ‚Rechenschwäche’ (und damit auch dem verfestigt zählenden Rechnen als eines der Hauptsymptome) zu berücksichtigen: Schuli- sche Faktoren, familiäres und soziales Umfeld, Individuum. 2.4.1 Schulische Faktoren Ist von schulischen Faktoren als wesentliche Einflussgröße einer ‚Rechenschwä- che’ die Rede, sind neben schul- und bildungsorganisatorischen Aspekten (u. a. Klassenstruktur, Notendruck) auch konkrete Gestaltungsaspekte des Mathema- tikunterrichts zu berücksichtigen. Ein Mathematikunterricht, der die Verwendung von zählender Lösungsstrategien provoziert und dabei zugleich die Erarbeitung 74 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht nicht-zählender Rechenstrategien vernachlässigt, kann zu einer Verfestigung von Zählstrategien beitragen (vgl. Gaidoschik, 2009a, S. 171f.). Je nachdem, wie der Unterricht gestaltet ist, kann Einfluss auf die Verwendung von Zählstrategien ge- nommen werden. Dementsprechend ist es bedeutsam, den Kindern im Unterricht die Chance zu geben, operative Rechenstrategien überhaupt entwickeln zu kön- nen. Dass ein, auf nicht-zählende Rechenstrategien, fokussierter Unterricht Ein- fluss auf die Ablösung von Zählstrategien haben kann, belegen verschiedene em- pirische Untersuchungen: Steinberg (1985, S. 339ff.) wies im Rahmen einer Interventionsstudie nach, dass Schülerinnen und Schüler des zweiten Schuljahres nach einem achtwöchigen Training zur Verwendung nicht-zählender Rechenstrategien signifikant seltener auf Zählstrategien zurückgriffen als zuvor. Dieser Ef- fekt blieb dabei auch noch bis zum letzten Messzeitpunkt der Studie, der zwei Monate nach der gezielten unterrichtlichen Instruktion angesetzt war, stabil. Auch Christensen und Cooper (1992, S. 38f.) erforschten den Einfluss des Gebrauchs von Ableitungsstrategien in einer Interventionsstudie (Pre- Post-Design) bei 40 australischen Schülerinnen und Schülern der zweiten Klassenstufe. Während im Pretest kein Kind auf Ableitungsstrategien für das Lösen von einstelligen Additionsaufgaben zurückgriff22, wurden diese im Posttest von der Hälfte der Lernenden nach der unterrichtlichen In- struktion23 bei wenigstens einem Item genutzt (ebd., S. 41). Ferner stellte sich heraus, dass diejenigen Kinder, die auf Ableitungsstrategien zurück- griffen, signifikant häufiger Aufgaben memoriert abrufen konnten (ebd., S. 42). Moser Opitz (2008, S. 123ff.) konnte in einer quasi-experimentellen Un- tersuchung belegen, dass ein im Sinne des aktiv-entdeckenden Lernens konzipierter Unterricht, der vor allem die Arbeit mit strukturierten Men- genbildern umfasst, ein wesentliches Moment zur Ablösung zählender Rechenstrategien zu sein scheint. Schülerinnen und Schüler des ersten Schuljahres, die einen solchen Unterricht besucht haben, verwendeten fortan signifikant seltener Zählstrategien als Kinder der Kontrollgruppe (ebd., S. 164). Gaidoschik und Fellmann (2015, S. 298f.) untersuchten die Effekte eines, auf nicht-zählende Strategien (v. a. Zahlen als Zusammensetzungen aus 22 Dieses Ergebnis muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass Ableitungsstrategien im bisherigen unterrichtlichen Verlauf nicht thematisiert wurden. 23 Im Rahmen der Intervention wurden Ableitungsstrategien über einen Zeitraum von zwölf Wochen täglich für etwa 15 Minuten trainiert (vgl. Christensen & Cooper, 1992, S. 40). 2.4 Mögliche Ursachen für verfestigt zählendes Rechnen 75 anderen Zahlen und Training von Ableitungsstrategien) ausgerichteten Trainingsprogramms für Lehrkräfte. Die vier teilnehmenden Lehrkräfte unterrichteten 71 Schülerinnen und Schüler gemäß dieses Trainingspro- gramms von Beginn der ersten Klassenstufe an. Im Vergleich zur Stich- probe aus Gaidoschik (2010), bei der die Lernenden einen ‚gewöhnlichen‘ Unterricht besuchten, zeigten die Kinder signifikant häufiger faktenabru- fende Vorgehensweisen während des Lösens nicht-trivialer Additionsauf- gaben. Angesichts der beschriebenen Forschungsbefunde scheint ein auf nicht-zählende Rechenstrategien ausgerichteter Unterricht für die Ablösung zählenden Rechnens förderlich zu sein. Im Umkehrschluss kann eine mögliche schulische bzw. unter- richtliche Ursache des Verharrens im zählenden Rechnen darin bestehen, dass der Unterricht mitunter nicht immer auf die Verwendung und Erarbeitung nicht- zählender Rechenstrategien ausgerichtet ist. Anzunehmen ist, dass einige Schüle- rinnen und Schüler häufig keine nicht-zählenden Strategien nutzen, „weil sie da- für bislang keine entsprechende Förderung erhalten haben“ (Gaidoschik, 2014, S. 9). 2.4.2 Familiäres und soziales Umfeld Einflüsse des familiären und sozialen Umfeldes eines Kindes können sich eben- falls als mögliche Ursache einer sich entwickelnden ‚Rechenschwäche’ heraus- stellen und dementsprechend die Verfestigung von Zählstrategien begünstigen (vgl. z. B. Leuders, 2015, S. 164; Lorenz, 2003, S. 111f.). Während neben Bedingungen der familiären Gegebenheiten, wie bspw. der erlebte Erziehungsstil (vgl. dazu Schipper, 2002, S. 251), zu beachten sind, er- scheinen auch konkrete Ratschläge und Hilfestellungen beim Bearbeiten von Mathematikaufgaben (z. B. während der Hausaufgabenbetreuung) von entschei- dender Bedeutung (Gaidoschik, 2015, S. 15). So ist es denkbar, dass Schülerin- nen und Schülern (natürlich unbeabsichtigt) Vorgehensweisen nahegelegt wer- den, die sich hinsichtlich einer angestrebten Abkehr von zählenden Lösungsver- fahren als kontraproduktiv auswirken können. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang das explizite Anregen der Verwendung didaktischer Arbeitsmit- tel als ‚Zählhilfe’ zur Lösung genannt werden, wodurch Lernende keinerlei An- lässe erfahren, die strukturellen Gegebenheiten eines Arbeitsmittels zielgerichtet nutzen zu können. 76 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht 2.4.3 Individuum Letztlich gilt es jedoch auch, Einflüsse des Individuums selbst zu bedenken, des- sen Bedeutung Gerster (2009) wie folgt hervorhebt: „Es wäre ein schwerwiegendes Versäumnis, sähe man Ursachen der Schwierigkeiten vieler Kinder nur in ungünstiger Beeinflussung durch Lehrer und Eltern und be- schäftige sich nicht mit den Schwierigkeiten der mentalen Konstruktionen, die Kin- der beim Erwerb elementarer mathematischer Konzepte leisten müssen“ (Gerster, 2009, S. 261). Im Zitat weist Gerster auf die Notwendigkeit der Analyse von Lernprozessen hin, die bei verschiedenen Lernenden jeweils unterschiedliche Verläufe einnehmen können. Diese können von mathematisch unspezifischen Determinanten, wie der allgemeinen intellektuellen Begabung, der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses sowie der Schnelligkeit des Zugreifens auf das Langzeitgedächtnis beeinflusst werden (vgl. Grube, 2008, S. 160f.; Krajewski, 2008a, S. 360). Verschiedene empirische Untersuchungen weisen darauf hin, dass insbesondere die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses unterschiedlich stark bzw. gut ausgeprägt ist (vgl. z. B. Grube, 2006, S. 160f.; Thomas, Zoelch, Seitz-Stein, & Schumann-Hengsteler, 2006, S. 282ff.). Somit können Kinder, bei denen das Arbeitsgedächtnis weniger leistungsfähig ist, Aufgaben nur schwerlich automatisieren. Dadurch kann sich der Prozess des Aufbaus eines breiten Beziehungsnetzes zwischen den additiven Grundaufgaben verzögern (vgl. dazu Kap. 3.4.1). Ferner verweist Scherer (2002, S. 100f.) auf weitere mögliche Einflussfaktoren, wie bspw. eine verminderte Konzentrations-, Vorstellungs- oder Wahrnehmungsfähigkeit, die das Gelingen jeglicher (und somit auch mathematischer) Lernprozesse erschweren können. 2.5 Zentrale Symptome verfestigt zählenden Rechnens In den vorangehenden Kapiteln wurden sowohl wesentliche Nachteile und Risi- ken (s. Kap. 2.3) als auch mögliche Ursachen verfestigt zählenden Rechnens (s. Kap. 2.4) beschrieben. Dieses Kapitel rückt hingegen zentrale, häufig beobacht- bare Symptome verfestigt zählenden Rechnens in den Fokus, die auf tiefgreifen- de Schwierigkeiten der Kinder hindeuten. Die drei folgenden Symptome werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels detailliert analysiert: Einseitig ordinales Zahlverständnis (Kap. 2.5.1) Schwierigkeiten beim Wechsel der Repräsentationsebenen (Kap. 2.5.2) Schwierigkeiten beim strukturierten Darstellen und Erfassen von Mengen (Kap. 2.5.3) 2.5 Zentrale Symptome verfestigt zählenden Rechnens 77 2.5.1 Einseitig ordinales Zahlverständnis Dem Erwerb eines umfassenden Zahlbegriffsverständnisses, das sich vor allem in der Verinnerlichung verschiedener Zahlaspekte äußert24, wird für das Mathe- matiklernen eine entscheidende Bedeutung eingeräumt (vgl. z. B. Benz, Peter- Koop, & Grüßing, 2015, S. 119ff.; Scherer & Moser Opitz, 2010, S. 102). Für das Rechnen im Mathematikunterricht erscheinen dabei vor allem der Ordinal- zahlaspekt sowie der Kardinalzahlaspekt wesentlich. Während bereits Schulan- fänger in der Regel dazu in der Lage sind, Zahlen als Zählzahlen im Sinne des Ordinalzahlaspektes zu deuten (vgl. z. B. Deutscher, 2012, S. 258f.; Gaidoschik, 2010, S. 363), stellt das Verinnerlichen eines kardinalen Zahlverständnisses zu- meist eine weitaus größere Hürde dar. Das wesentliche Problem des einseitigen Festhaltens am ordinalen Zahlbegriff fasst Lorenz (2009) wie folgt zusammen: „Mit einer ordinalen Zahlvorstellung ist es jedoch noch nicht möglich, eine Vorstel- lung über Anzahlen im Sinne einer Menge zu denken. Dies ist erst dann möglich, wenn die zunächst getrennten Konzepte von Anzahl und Ordinalzahl als Kardinal- zahl zusammengefasst werden“ (Lorenz, 2009, S. 234). Entsprechend der Ausführungen von Lorenz konnte Gerster (2009) im Rahmen von Einzelfallstudien beobachten, dass Schülerinnen und Schüler bei der Be- stimmung des Ergebnisses der (schriftlich vorgegebenen) Aufgabe 12-12 nicht selten „11“ angeben. Sie entfernten lediglich das zwölfte, mental erdachte Ele- ment und bestimmten die Anzahl der ‚übrigen‘ Elemente (vgl. Fuson, 1992, S. 63; Gerster, 2009, S. 249). Abbildung 2.1: Ordinale Verwechslung (aus Gaidoschik, 2015, S. 29) 24 Ein Überblick wesentlicher Zahlaspekte ist u. a. in Krauthausen & Scherer 2007, S. 9 und Radatz et al. 1996, S. 47f. einzusehen. 78 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht Derartige Vorgehensweisen können nach Gaidoschik (2015) als ordinale Ver- wechslung charakterisiert werden, wonach Lernende mit einem einseitig ordina- len Zahlverständnis Zahlen vornehmlich als Rangplätze, nicht aber als Menge verstehen. Folglich kann es ihnen nicht (oder nur schwerlich) möglich sein, Zah- len als Zusammensetzungen aus anderen Zahlen zu verstehen, Relationen zwi- schen verschiedenen Zahlen zu erkennen und Zählstrategien schließlich abzulö- sen (vgl. Gaidoschik, 2015, S. 28f.). 2.5.2 Schwierigkeiten beim Wechsel der Repräsentationsebenen Bereits Bruner (1974) wies darauf hin, dass mathematische Inhalte mittels ver- schiedener Darstellungsebenen visualisiert werden können. Er differenziert zwi- schen handelnden (enaktiven), bildhaften (ikonischen) sowie (mathematisch oder sprachlich) symbolischen Darstellungen. Der Fähigkeit, einen mathematischen Inhalt auf verschiedenen Darstellungsebenen zu deuten und zwischen den Ebe- nen übersetzen zu können, wird dabei eine zentrale Rolle für den Aufbau eines konzeptuellen mathematischen Verständnisses eingeräumt (vgl. Duval, 2006, S. 128; Laakmann, 2013, S. 300f.; Lorenz, 2009, S. 236). Kuhnke (2013) fasst die Vielfalt möglicher mathematischer Übersetzungsprozesse zwischen verschiede- nen Darstellungsebenen (intermodaler Transfer; vgl. dazu Bauersfeld, 1972, S. 244) und innerhalb einer Darstellungsebene (intramodaler Transfer), wie in Ab- bildung 2.2 dargestellt, zusammen: Abbildung 2.2: Wechsel zwischen Darstellungen (aus Kuhnke, 2013, S. 32) 2.5 Zentrale Symptome verfestigt zählenden Rechnens 79 Während die Fähigkeit zum Wechsel zwischen verschiedenen Darstellungen als bedeutsame Facette des Mathematiktreibens angesehen wird, kann dessen Nicht- vorhandensein als Indikator für mögliches mathematisches Nichtverstehen her- angezogen werden. Dass viele Kinder (mit Rechenschwierigkeiten) Probleme mit verschiedenen Formen des Darstellungswechsels haben, verdeutlichen zahl- reiche empirische Untersuchungen (vgl. Ladel, 2009, S. 11; Lorenz, 1998, S. 66f.; Radatz, 1990, S. 3; Schipper & Hülshoff, 1984, S. 55f.). Radatz (1990) be- tont in diesem Zusammenhang, dass verschiedene Darstellungsebenen, insbe- sondere für Schülerinnen und Schüler mit Rechenschwierigkeiten, häufig „streng getrennte Erfahrungsbereiche“ darstellen (Radatz, 1990, S. 8). Dementsprechend kann die Fähigkeit zum Wechsel zwischen Darstellungen einerseits als wichtige Fähigkeit zum Erwerb mathematischen Wissens charakte- risiert und zugleich als Symptom zählenden Rechnens angesehen werden (vgl. Schipper, 2005a, S. 38). 2.5.3 Schwierigkeiten beim strukturierten Erfassen und Darstellen von Mengen Empirische Untersuchungen zeigen, dass ein ‚Struktursinn’ für das Mathematik- lernen wesentlich zu sein scheint (vgl. Dornheim, 2008, S. 528; Lüken, 2012a; Moser Opitz, 2008, S. 164; Söbbeke, 2005). Das Vorhandensein einer grundle- genden Strukturierungsfähigkeit kann sich dabei einerseits durch eine struktu- rierte Mengenerfassung und andererseits in einer strukturierten Mengendarstel- lung äußern. Dass Kinder mit Rechenschwierigkeiten dazu neigen, zählend zu rechnen, ist laut Schipper (2002, S. 250) mit der „Unfähigkeit der Kinder ver- bunden, bei Zahlen und Zahlrepräsentanten [...] Strukturen zu erkennen und zu nutzen“ (vgl. auch Wittmann & Müller, 2011, S. 49). Dementsprechend ist es häufig zu beobachten, dass Kinder mit Rechen- schwierigkeiten bei der Anzahlbestimmung einer Menge, die durch ein struktu- riertes Arbeitsmittel (z. B. Zwanzigerfeld) repräsentiert ist, im langwierigen Ab- zählen einzelner Elemente verharren. Strukturen des jeweils vorliegenden Ar- beitsmittels werden häufig nicht genutzt (vgl. Lorenz, 2011, S. 41; Lüken, 2012b, S. 278f.; Scherer, 2009, S. 141). Bezüglich der strukturierten Mengendarstellung liefert die Untersuchung von Lüken (2012b, S. 280) bei Schulanfängern wesentliche Erkenntnisse. Sie konnte beobachten, dass es für schwache Schülerinnen und Schüler typisch ist, eine vorgegebene Plättchenmenge (hier: 5) in Form einer horizontalen Linie an- zuordnen. Leistungsstärkere Lernende gliederten die Plättchen demgegenüber häufig in flächiger Form (z. B. als Würfel-Fünf) und waren auch in der Lage, die Struktur des erstellten Plättchenbildes im Sinne der Teile-Ganzes-Zahlbeziehung 80 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht (vgl. Kap. 3.1.2) zu deuten. Mit Blick auf Gründe des Vorgehens der schwäche- ren Schülerinnen und Schüler25 beschreibt Lüken: „Except only one child that arranged the counters randomly on the table and seemed to have no idea at all that counters can be organized, all low achievers structure their counters spatially. Their arrangement, however, reflect their mathematical abilities. They have learned that objects ordered in a row can be more easily counted than a random arrangement. Hence, they are not aware of criteria for a quick and easy number perception, only for easy counting“ (Lüken, 2012b, S. 280). Lükens Ideen folgend, offenbaren sich die mathematischen Fähigkeiten eines Kindes im Zuge der Darstellung von Mengen. Das Anordnen einer Plättchen- menge als horizontale Linie kann dabei als Indiz für das Festhalten an einem ein- seitig ordinalen Zahlbegriff (vgl. Kap. 2.5.1) herangezogen werden. 2.6 Umgang mit (verfestigt) zählenden Rechnern In der Fachdidaktik besteht Einigkeit darüber, dass die ausschließliche Verwen- dung zählender Rechenstrategien, über das erste Schuljahr hinaus, die Entwick- lung mathematischen Denkens negativ beeinträchtigen kann (vgl. Kap. 2.3). Die Auffassungen darüber, ob zählendes Rechnen im Unterricht verboten, gezielt trainiert, toleriert oder (überhaupt) thematisiert werden sollte, unterscheiden sich hingegen. Im Folgenden werden diese Positionen zum unterrichtlichen Umgang mit zählend rechnenden Schülerinnen und Schülern diskutiert und die jeweils möglichen Auswirkungen erörtert und gegeneinander abgewogen. 2.6.1 Zählendes Rechnen verbieten? Eine weitere Variante des Umgangs mit zählend rechnenden Schülerinnen und Schülern kann darin bestehen, die Anwendung zählender Rechenstrategien zu verbieten. Damit kann das Ziel verbunden sein, den Blick auf die Entwicklung nicht-zählender Strategien lenken zu können und einer Verfestigung der Zählstra- tegien vorzubeugen bzw. sich hiervon zu lösen. Dieses Vorgehen ist vor allem deshalb problematisch, da hierdurch die Ur- sachen der (hauptsächlichen) Verwendung zählender Strategien nicht behoben werden (vgl. Walter, 2015, S. 29f.) und Kinder infolgedessen häufig dazu neigen, 25 Die Unterscheidung in ‚starke’ und ‚schwache’ Schülerinnen und Schüler wurde in Lükens Untersuchung auf Grundlage der Testergebnisse des zuvor durchgeführten Osnabrücker Tests zur Zahlbegriffsentwicklung (OTZ) vorgenommen. Die Stichprobe (n=74) wurde in Quartile unterteilt, wobei schwache Lernende dem ersten und starke Lernende dem vierten Quartil zugeordnet wurden (vgl. Lüken 2012, S. 277). 2.6 Umgang mit (verfestigt) zählenden Rechnern 81 ihre Vorgehensweisen zu verschleiern (vgl. Gerster & Schultz 2004, S. 363). Obschon Lernende ihre Zählstrategien mitunter sehr geschickt verbergen, sind sie erkennbar, sobald typische Verhaltensweisen sichtbar werden. Wesentliche Indikatoren zählender Rechenstrategien sind beispielsweise das Nutzen von Arbeitsmitteln als Abzählhilfe durch Antippen einzelner Elemente (z. B. Plättchen oder Kugeln) (vgl. Wessolowski, 2011, S. 33), eine lange Bearbeitungszeit für die Lösung von (schriftlich gestellten) Rechenaufgaben (vgl. Gerster & Schultz, 2004, S. 268), das versteckte Nutzen der Finger oder weiterer räumlich verfügbarer Ge- genstände als Abzählhilfe (vgl. Bauer, 1992, S. 5; Schipper, 2015, S. 194), leises Zählen (vgl. Häsel-Weide et al., 2014, S. 48; Schmassmann & Moser Opitz, 2007, S. 21), sowie rhythmische Körperbewegungen, wie das Kopfnicken (vgl. Häsel- Weide et al., 2014, S. 48; Hasemann & Gasteiger, 2014, S. 158). Es bleibt festzuhalten, dass ein Verbot zählenden Rechnens in der Regel nicht die Verwendung nicht-zählender Vorgehensweisen, sondern die verdeckte Ausübung von Zähltechniken unterstützt wird. 2.6.2 Zählendes Rechnen trainieren? Als Gegenpol des strikten Verbots der Verwendung von Zählstrategien kann das bewusste Trainieren derer charakterisiert werden. Wohlwissend, dass die aus- schließliche Verwendung von Zählstrategien gravierende Folgen auf die mathe- matische Entwicklung haben kann, betont Gerster (1994, S. 44; vgl. auch Jansen, 2012, S. 20ff.) die grundlegende Bedeutung zählender Rechentechniken. Diese werden von Kindern bereits im Vorschulalter „spontan oder gelenkt“ erlernt, sei- en „unmittelbar einleuchtend“ und gäben Einsichten in die axiomatische Defini- tion der natürlichen Zahlen. Schließlich folgert Gerster: „Zählendes Rechnen ist fundamental für den Erwerb erster arithmetischer Fertigkeiten und kann ein wichtiges Glied darstellen in der Kette der Entwicklungsschritte zur Einsicht vielfältiger Zahlbeziehungen“ (Gerster, 1994, S. 44). Darauf aufbauend betonen Kaufmann und Wessolowski (2011, S. 32), aus den „elementaren Zählstrategien verfeinerte ökonomischere Strategien zu entwickeln, um den Zahlenraum zu strukturieren und damit einen Übergang zum einsichtsvollen Rechnen zu schaf- fen“. Dementsprechend sollten Schülerinnen und Schüler den Weg zum nicht- zählenden Rechnen über die Verwendung verschiedener Zähltechniken begehen. Hierbei ist nach Schipper, Wartha und von Schroeders (2011) vor allem die Be- deutung der ökonomischeren Zählmethoden des Weiterzählens hervorzuheben: 82 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht „[S]icheres weiterzählendes Rechnen liefert für die gleiche Aufgabe immer die glei- che richtige Lösung und erhöht so die Chance, dass die Kinder sich nach und nach einen immer größeren Vorrat an auswendig gewussten Aufgaben aneignen“ (Schip- per, Wartha & von Schroeders, 2011, S. 16). Die hier innewohnende Auffassung entspricht im Kern den Ideen Sieglers (2001, S. 125), der die Annahme vertritt, dass der Prozess der Automatisierung durch mehrmaliges und sicheres Ausführen einer Zähltechnik erreicht werden könne, wodurch Assoziationen zwischen Aufgabe und dessen Ergebnis geknüpft wür- den. Dem sind vor allem die Beobachtungen von Gray (1991) bei Schülerinnen und Schülern mit Rechenschwierigkeiten entgegenzusetzen: „After using counting to obtain solutions [...] many of the below average children gave the solutions with relief. More importantly however, many of the younger chil- dren within this group could not remember the problem that had triggered their pro- cedure. The link between the numerical problem and its solution had been obscured by the lenghty counting routine that had been used to obtain solutions. It appears that the younger below average child does not receive any feedback from the counting procedure; the process is not being encapsulated into a known concept" (Gray, 1991, S. 569). Auch Gerster (1994) bewertet das gezielte Trainieren von Zählstrategien kritisch, da die perfektioniert ausführbaren Zähltechniken keinen Anreiz liefern, Aufga- ben zu memorieren. Ein Grundstock auswendig gewusster Aufgaben werde „nur sehr langsam oder gar nicht“ aufgebaut (Gerster, 1994, S. 45). Entgegen dieser Auffassung argumentiert wiederum Fuson (1992), die das bewusste Trainieren von Zähltechniken fordert, damit Lernende auf eine Aus- weichstrategie (fall-back method) zurückgreifen können, welche die Lösungsfin- dung zu einer gestellten Aufgabe stets ermöglichen soll (vgl. Fuson 1992, S. 132). Hierdurch wird Schülerinnen und Schülern allerdings suggeriert, dass Zählstrategien ein stets sicheres Werkzeug zur Bewältigung von Rechenaufgaben darstellen, wodurch die Erarbeitung nicht-zählender Rechenstrategien erschwert werden kann. Angesicht der beschriebenen Argumente erscheint ein bewusstes Training von Zähltechniken für den Erwerb nicht-zählender Rechenstrategien nicht för- derlich zu sein, da dadurch keine Zusammenhänge zwischen verschiedenen Re- chenaufgaben in den Blick genommen werden können. Die aufgeführten empiri- schen Belege zeigen jedoch, dass gerade dieser Aspekt für die Erarbeitung nicht- zählender Rechenstrategien notwendig zu sein scheint. 2.6 Umgang mit (verfestigt) zählenden Rechnern 83 2.6.3 Zählendes Rechnen tolerieren? Neben den in den Abschnitten 2.6.1 und 2.6.2 beschriebenen Möglichkeiten, mit zählendem Rechnen im Unterricht umzugehen, ist ein Mittelweg denkbar, in dem weder ein Verbot ausgesprochen noch ein gezieltes Training eingeleitet wird: Zählstrategien können im Unterricht wahrgenommen und toleriert werden. In Anbetracht des Ziels, zählende Lösungsstrategien im Laufe des ersten Schuljahres abzulösen, ist die Frage naheliegend, bis zu welchem Zeitpunkt das Tolerieren von Zähltechniken andauern darf bzw. ab wann diese nicht mehr ge- duldet werden sollten. In der Literatur lassen sich Argumente für zwei verschie- dene ‚Zeitpunkte‘ ausmachen. Einerseits wird häufig dafür plädiert, Zählstrate- gien spätestens mit der Behandlung des Zehnerübergangs abzulösen, da nicht- zählende Rechenstrategien ab diesem Zeitpunkt bedeutungsvoller als zuvor sein würden (vgl. z. B. Schipper et al., 2011, S. 16; Schipper 2003, S. 228; 2015, S. 184). Andererseits wird in der Literatur, entsprechend der fachdidaktischen Ziel- vorgabe, das Ende des ersten Schuljahres als Zeitpunkt der Ablösung empfohlen (vgl. z. B. Gerster, 1994; Lorenz & Radatz, 1993, S. 116). Möglicherweise wird dieser Zeitpunkt gewählt, da der behandelte Zahlenraum im folgenden Schuljahr erweitert wird und zählendes Rechnen fortan weitaus ineffizienter sein würde als im ersten Schuljahr. Zu beiden genannten Zeitpunkten haben die Kinder jedoch in einem nicht unerheblich langen Zeitraum vornehmlich auf Zähltechniken zurückgegriffen. Es ist dementsprechend nicht davon auszugehen, dass jene Schülerinnen und Schü- ler, die den Aufgaben zuvor zählend begegnet sind, sich durch Tolerieren und das verspätete Nicht-Tolerieren von Zähltechniken, schließlich auf diese verzichten und sich fortan nicht-zählende Rechenstrategien aneignen. Gaidoschik (2014, S. 120) fordert in diesem Zusammenhang, nicht darauf zu warten, bis „einem zäh- lend rechnenden Kind „der Knopf“ aufgeht“, da zählendes Rechnen nur selten ohne gezielte Förderung überwunden wird. Schärfer formuliert es Gerster (1994, S. 46), der das Tolerieren von Zähltechniken über das erste Schuljahr hinweg als „unterlassene Hilfeleistung“ bezeichnet. 2.6.4 Zählendes Rechnen (überhaupt) thematisieren? Wenn weder Verbot, Training noch das Tolerieren zur Ablösung zählenden Rechnens beitragen kann, stellt sich die Frage, ob (und wie) zählendes Rechnen im Unterricht überhaupt thematisiert werden sollte. In den ersten Schulwochen des mathematischen Anfangsunterrichts ist es zunächst erwartungskonform, dass Kinder erste Aufgaben über Zählstrategien lösen, da diese häufig die einzigen, den Schülerinnen und Schülern bekannten und verfügbaren, Lösungsstrategien darstellen. Zählendes Rechnen wird daher 84 2 Zählendes Rechnen im mathematischen Anfangsunterricht häufig als „Zwischenstadium“ (Hasemann & Gasteiger, 2014, S. 120) oder „not- wendiger Zwischenschritt“ (Lorenz, 2003, S. 105) auf dem Weg zum nicht- zählenden Rechnen bezeichnet, der von allen Kindern durchlaufen wird. Diese Beschreibung impliziert, dass jeder Mensch, unabhängig von späteren mathema- tischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, „irgendwann in seiner mathematischen Entwicklung zählender Rechner war“ (Lorenz, 2012, S. 48). Demzufolge wird es nur schwer (oder gar nicht) zu vermeiden sein, dass Schülerinnen und Schüler ihr implizites Wissen über Zähltechniken in den Unterricht tragen und anwenden. Zählende Rechentechniken nicht zu thematisieren und somit zu ignorieren kann sich als eine folgenschwere didaktische (Fehl)Entscheidung herausstellen. Vielmehr sollte im Unterricht angestrebt werden, „zählendes Rechnen, [die] Nachteile zählenden Rechnens und vor allem Zählfehler“ (Schulz, 2014, S. 132) zu thematisieren, Gefahren der verfestigten Verwendung von Zählstrategien auf- zuzeigen und zugleich nicht-zählende Rechenstrategien unterrichtlich zu intensi- vieren, indem deren Vorteile gegenüber Zählstrategien offengelegt werden. In diesem Sinne erscheint es wesentlich, operative Strategien auch bereits im Zahlenraum bis 10 zu erarbeiten. So ist es denkbar, schon Aufgaben, wie 3+4 aus 3+3 abzuleiten. Gaidoschik und Fellmann (2015, S. 297ff.) zeigen in ihrer Untersuchung, dass Schülerinnen und Schüler für die Lösungsfindung bei additi- ven Aufgaben im Zahlenraum bis 10 zwar tendenziell mehr Zeit benötigen, aller- dings ist zu diesem Zeitpunkt nicht die nötige Zeit wesentlich, sondern der ein- geschlagene Rechenweg. Es ist davon auszugehen, dass Lernende, die bereits bei den ersten additiven Grundaufgaben auf operative Strategien zurückgreifen und dies auch konsequent im mathematischen Anfangsunterricht weiter praktizieren, weniger Gefahr laufen, verfestigt zählend zu rechnen. 2.7 Zusammenfassung Die verfestigte Verwendung von Zählstrategien wird in der Fachdidaktik vielfach als eines der Hauptsymptome von Kindern mit Rechenschwierigkeiten charakte- risiert. Verfestigt zählendes Rechnen wird dabei als problematisch eingestuft, da sich die inhärenten Nachteile und Risiken (Kap. 2.3) negativ auf das weitere Ma- thematiklernen auswirken können. Einschlägige Untersuchungen zeigen, dass das von der Fachdidaktik ausgegebene Ziel, zählendes Rechnen spätestens zum Ende des ersten Schuljahres (zumindest im Zahlenraum bis 10) zu überwinden, nicht immer erreicht bzw. oft weitgehend verfehlt wird (Kap. 2.2). Die Ursachen hierfür sind nicht eindeutig auszumachen (Kap. 2.4) und offenbaren sich in zent- ralen Symptomen verfestigt zählender Rechner (Kap. 2.5). Um diese Hürden zu überwinden, sollten zählende Lösungsstrategien im Unterricht weder gezielt trai- niert noch ignoriert oder verboten werden. Vielmehr erscheint es vorteilhafter, 2.7 Zusammenfassung 85 die Nachteile und Risiken zählenden Rechnens bewusst zu thematisieren und Bemühungen der Vermittlung nicht-zählender Rechenstrategien zu verstärken (Kap. 2.6). Der mathematikdidaktisch adäquate Umgang mit zählend rechnenden Kin- dern wird allein jedoch nicht genügen, um eine Ablösung vom zählenden Rech- nen zu erreichen. Gleichzeitig sind Maßnahmen einzuleiten, die dieses zentrale Ziel des mathematischen Anfangsunterrichts unterstützen. Das folgende Kapitel widmet sich der Frage, wie eine Ablösung vom zählenden Rechnen gelingen kann. http://www.springer.com/978-3-658-19066-8