Methoden und Instrumente der Sozialen Arbeit II PDF
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Summary
This course book covers methods and instruments used in social work. It details various aspects including Case Management, Mediation, Social Networking, Family-Centred Approaches, Family Councils, Social Area Orientation, and Street Social Work, and empowering, preventative, and resource-oriented perspectives. Coursebook for advanced studies in social work.
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METHODEN UND INSTRUMENTE DER SOZIALEN ARBEIT II DLBSAMISA02-01 METHODEN UND INSTRUMENTE DER SOZIALEN ARBEIT II IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift:...
METHODEN UND INSTRUMENTE DER SOZIALEN ARBEIT II DLBSAMISA02-01 METHODEN UND INSTRUMENTE DER SOZIALEN ARBEIT II IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19 D-86675 Buchdorf [email protected] www.iu.de DLBSAMISA02-01 Versionsnr.: 001-2024-1115 Konzept: IU Internationale Hochschule GmbH Verfasser: N.N. Coverbild: Erstellt mit Midjourney im Auftrag der IU, 2024, unter der Nutzung des Prompts: „Photo of a diverse group in a therapy circle, sitting on chairs, smiling and talking to each other. The room is light grey with white walls and bright lighting, suggesting a professional photography setting. --ar 91:74 --s 50 --style raw“. © 2024 IU Internationale Hochschule GmbH Dieses Lernskript ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Lernskript darf in jeglicher Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung der IU Internationale Hochschule GmbH (im Folgenden „IU“) nicht reproduziert und/oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet wer- den. Die Autor:innen/Herausgeber:innen haben sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, die Urheber:innen und Quellen der verwendeten Abbildungen zu bestimmen. Sollte es dennoch zu irrtümlichen Angaben gekommen sein, bitten wir um eine dement- sprechende Nachricht. 2 INHALTSVERZEICHNIS METHODEN UND INSTRUMENTE DER SOZIALEN ARBEIT II Einleitung Wegweiser durch das Studienskript................................................. 6 Basisliteratur..................................................................... 7 Weiterführende Literatur.......................................................... 8 Übergeordnete Lernziele......................................................... 10 Lektion 1 Grundlegende methodische Perspektiven 11 1.1 Empowerment.............................................................. 13 1.2 Prävention.................................................................. 19 1.3 Ressourcenorientierung...................................................... 22 Lektion 2 Case Management 25 2.1 Definition, Merkmale und historische Entwicklung.............................. 26 2.2 Der Prozess des Case Managements........................................... 28 2.3 Aufgaben der Sozialarbeitenden und Kritik..................................... 29 2.4 Anwendungsbeispiel: Arbeitsfeld Krankenhaus................................. 31 Lektion 3 Mediation 35 3.1 Begriffsklärung und Anwendungsbereiche..................................... 36 3.2 Zentrale Merkmale........................................................... 37 3.3 Rolle und Funktion der Mediator:innen........................................ 38 3.4 Voraussetzungen und Prozess der Mediation................................... 39 3.5 Vorteile und Grenzen von Mediation........................................... 40 3.6 Anwendungsbeispiel: Arbeitsfeld Erziehungsberatung........................... 42 Lektion 4 Soziale Netzwerkarbeit 45 4.1 Grundlagen, Perspektiven und Ziele der Sozialen Netzwerkarbeit................. 46 4.2 Soziale Netzwerke........................................................... 47 4.3 Netzwerkkarten............................................................. 50 4.4 Anwendungsbeispiel: Arbeitsfeld Schulsozialarbeit............................. 52 3 Lektion 5 Familienbezogene Methoden 57 5.1 Familie im Mittelpunkt....................................................... 58 5.2 Familienrat.................................................................. 60 5.3 Anwendungsbeispiel: Arbeitsfeld „Frühe Kindheit“.............................. 62 Lektion 6 Sozialraumorientierung 65 6.1 Sozialraumorientierung in den Hilfen zur Erziehung............................. 66 6.2 Sozialraumorientierung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit................. 68 6.3 Anwendungsbeispiel: Arbeitsfeld Stadtteilarbeit und ländliche Entwicklung....... 71 Lektion 7 Straßensozialarbeit 75 7.1 Definition und historischer Hintergrund........................................ 76 7.2 Zentrale Merkmale und Arbeitsweisen......................................... 78 7.3 Anwendungsbeispiel: Mobile Jugendarbeit..................................... 80 Anhang Literaturverzeichnis.............................................................. 84 Abbildungsverzeichnis........................................................... 88 4 EINLEITUNG HERZLICH WILLKOMMEN WEGWEISER DURCH DAS STUDIENSKRIPT Dieses Studienskript bildet die Grundlage Ihres Kurses. Ergänzend zum Studienskript ste- hen Ihnen weitere Medien aus unserer Online-Bibliothek sowie Videos zur Verfügung, mit deren Hilfe Sie sich Ihren individuellen Lern-Mix zusammenstellen können. Auf diese Weise können Sie sich den Stoff in Ihrem eigenen Tempo aneignen und dabei auf lerntyp- spezifische Anforderungen Rücksicht nehmen. Die Inhalte sind nach didaktischen Kriterien in Lektionen aufgeteilt, wobei jede Lektion aus mehreren Lernzyklen besteht. Jeder Lernzyklus enthält jeweils nur einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt. So können Sie neuen Lernstoff schnell und effektiv zu Ihrem bereits vorhandenen Wissen hinzufügen. In der IU Learn App befinden sich am Ende eines jeden Lernzyklus die Interactive Quizzes. Mithilfe dieser Fragen können Sie eigenständig und ohne jeden Druck überprüfen, ob Sie die neuen Inhalte schon verinnerlicht haben. Sobald Sie eine Lektion komplett bearbeitet haben, können Sie Ihr Wissen auf der Lern- plattform unter Beweis stellen. Über automatisch auswertbare Fragen erhalten Sie ein direktes Feedback zu Ihren Lernfortschritten. Die Wissenskontrolle gilt als bestanden, wenn Sie mindestens 80 % der Fragen richtig beantwortet haben. Sollte das einmal nicht auf Anhieb klappen, können Sie die Tests beliebig oft wiederholen. Wenn Sie die Wissenskontrolle für sämtliche Lektionen gemeistert haben, führen Sie bitte die abschließende Evaluierung des Kurses durch. Die IU Internationale Hochschule ist bestrebt, in ihren Skripten eine gendersensible und inklusive Sprache zu verwenden. Wir möchten jedoch hervorheben, dass auch in den Skripten, in denen das generische Maskulinum verwendet wird, immer Frauen und Män- ner, Inter- und Trans-Personen gemeint sind sowie auch jene, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder können. 6 BASISLITERATUR Galuske, M. (2013). Methoden der Sozialen Arbeit: Eine Einführung (10. Aufl.). Beltz Juventa. h ttp://search.ebscohost.com.pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true&db=cat05114a& AN=ihb.47042&site=eds-live&scope=site Stimmer, F. (2020). Grundlagen des methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit (4. Aufl.). Kohlhammer. http://search.ebscohost.com.pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true& db=cat05114a&AN=ihb.51144&site=eds-live&scope=site Wendt, P.-U. (2021). Lehrbuch Methoden der Sozialen Arbeit (3. Aufl.). Beltz Juventa. http://s earch.ebscohost.com.pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true&db=cat05114a&AN=ih b.50492&site=eds-live&scope=site 7 WEITERFÜHRENDE LITERATUR LEKTION 1 Böllert, K. (2015). Prävention und Intervention. In H. Thiersch & H.-U. Otto (Hrsg.), Hand- buch Soziale Arbeit (5. Aufl., S. 1227–1232). Ernst Reinhardt Verlag. http://search.ebsco host.com.pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true&db=cat05114a&AN=ihb.26058&sit e=eds-live&scope=site Buttner, P. (2018). Ressourcendiagnostik. In P. Buttner (Hrsg.), Handbuch Soziale Diagnos- tik. Perspektiven und Konzepte für die Soziale Arbeit, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (S. 142–151). Lambertus-Verlag. http://search.ebscohost.com. pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true&db=cat05114a&AN=ihb.45089&site=eds-live &scope=site LEKTION 2 Neuffer, M. (2013). Case Management: Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien (5. Aufl.). Beltz Juventa. http://search.ebscohost.com.pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true& db=cat05114a&AN=ihb.48825&site=eds-live&scope=site LEKTION 3 Trenczek, T. (2019). Mediation. Nomos. LEKTION 4 Fischer, J. (2021). Netzwerke, soziale. In R. C. Amthor, B. U. Goldberg, P. Hansbauer, I. Mie- lenz & D. Kreft (Hrsg.), Wörterbuch Soziale Arbeit: Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik (9. Aufl., S. 598–603). Beltz Juventa. ht tp://search.ebscohost.com.pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true&db=cat05114a&A N=ihb.25118&site=eds-live&scope=site LEKTION 5 Gehrmann, G. & Müller, K. (2013). Praxis Sozialer Arbeit: Familie im Mittelpunkt. Handbuch effektives Krisenmanagement für Familien (3. Aufl.). Walhalla. http://search.ebscohost. com.pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true&db=cat05114a&AN=ihb.48158&site=eds -live&scope=site 8 Straub, U. (2018). Familienrat. (Im Internet verfügbar). LEKTION 6 Kessel F. & Reutlinger, C. (2021): Sozialraumorientierung. In R. C. Amthor, B. U. Goldberg, P. Hansbauer, I. Mielenz & D. Kreft (Hrsg.), Wörterbuch Soziale Arbeit: Aufgaben, Praxisfel- der, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik (9. Aufl., S. 849–853). Beltz Juventa. http://search.ebscohost.com.pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true& db=cat05114a&AN=ihb.25118&site=eds-live&scope=site LEKTION 7 Gillich, S. (2021). Street Work – Mobile Jugendarbeit. In R. C. Amthor, B. U. Goldberg, P. Hansbauer, I. Mielenz & D. Kreft (Hrsg.), Wörterbuch Soziale Arbeit: Aufgaben, Praxisfel- der, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik (9. Aufl., S. 899–901). Beltz Juventa. http://search.ebscohost.com.pxz.iubh.de:8080/login.aspx?direct=true& db=cat05114a&AN=ihb.25118&site=eds-live&scope=site 9 ÜBERGEORDNETE LERNZIELE Der Kurs Methoden und Instrumente der Sozialen Arbeit II stellt Methoden, zugehörige Techniken sowie Handlungsansätze vor. Betrachtet werden Case Management, Mediation, Soziale Netzwerkarbeit, Familie im Mittelpunkt, Familienrat, Sozialraumorientierung und Straßensozialarbeit. Außerdem werden drei grundlegende methodische Perspektiven eingeführt: Empower- ment, Prävention und Ressourcenorientierung. Zur intensiven Verknüpfung von Theorie und Praxis werden in allen Lektionen, welche Methoden darstellen, ergänzend Handlungsfelder skizziert und eine mögliche Anwendung der jeweiligen Methode im Handlungsfeld anhand eines Praxisbeispiels geschildert. Durch diese Inhalte erweitert sich Ihr Blick auf methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit und Sie erlangen ein vertieftes und differenziertes Verständnis davon, welche Kon- zepte, Methoden und Techniken in welchen Praxissituationen zur Anwendung kommen können. 10 LEKTION 1 GRUNDLEGENDE METHODISCHE PERSPEKTIVEN LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – aus welchen unterschiedlichen Perspektiven methodisches Handeln betrachtet wer- den kann. – welche Bedeutung grundlegende Perspektiven für methodisches Handeln der Sozialen Arbeit haben. – was sich hinter dem Begriff des Empowerments verbirgt. – was Prävention auszeichnet. – was Ressourcenorientierung bedeutet. 1. GRUNDLEGENDE METHODISCHE PERSPEKTIVEN Einführung Es lassen sich eine Reihe an Perspektiven auf methodisches Handeln unterscheiden, die bei der Betrachtung von Methoden und methodischem Handeln unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund rücken (Wendt, 2017, S. 20–56). Zugleich prägen sie in ihrer prakti- schen Anwendung das praktische Handeln auf eine bestimmte Weise, etwa indem sie grundsätzliche Ziele vorgeben. Zum Beispiel gibt der Präventionsansatz das Ziel vor, früh- zeitig zu handeln und nicht erst, wenn ein Problem bereits eingetreten ist. Daher werden diese Perspektiven teilweise auch als handlungsleitende Konzepte verstanden (Stimmer, 2020, S. 157–225). Zwei Beispiele: 1. Methodisches Handeln kann aus der Sach- bzw. Zielperspektive betrachtet werden (Galuske, 2013, S. 31): Diese Sichtweise fragt danach, welche Problemstellungen mit einer Methode behandelt werden sollen – positiv formuliert könnte man auch davon sprechen, welche Ziele erreicht werden sollen – und mit der jeweiligen Methode rea- listisch erreicht werden können. Aus dieser Perspektive wird also die Passung zwi- schen dem Ziel auf der einen Seite und der jeweiligen Methode auf der anderen Seite überprüft. In der Praxis der Schulsozialarbeit stellt sich z. B. die Frage, ob in einer Schulklasse, in der Schüler:innen wiederholt gewalttätig geworden sind, ein erlebnis- pädagogisches Projekt helfen kann oder ob ein Coolness-Training zum gewünschten Erfolg der Reduktion von Gewalt führen kann. 2. Ein weiteres Beispiel für eine derartige Perspektive stellt die Orientierung an den Bedarfen der Adressat:innen dar (Wendt, 2017, S. 30): Soziale Arbeit hat aus dieser Sicht, trotz des doppelten Mandats von Hilfe und Kontrolle, stets primär den einzel- nen Menschen mit seinen ganz individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen im Blick. Menschen werden als Subjekte ernst genommen, welche ihr Leben aktiv gestalten und deren je eigene Weltanschauung und ganz individueller Lebensentwurf zunächst einmal respektiert wird. Das schließt nicht aus, dass Sozialarbeitende sich auch kri- tisch äußern dürfen; dennoch orientiert sich Soziale Arbeit stets am Einzelnen bzw. an der Einzelnen und überprüft demnach Methoden auch auf ihre Kompatibilität mit den konkreten Menschen, denen geholfen werden soll. Im oben angeführten Beispiel der Schulklasse würde es aus dieser Perspektive darum gehen, die Schüler:innen in die besagte Entscheidung einzubinden, sie ernst zu nehmen und mit allen Akteuren – auch Eltern, Lehrer:innen etc. - gemeinsam zu überlegen, welches Vorgehen zur Prob- lemlage und speziell den Schüler:innen passt. Die hier an zwei Beispielen aufgezeigten grundlegenden Perspektiven des methodischen Handelns unterscheiden sich – z. B. hinsichtlich ihrer theoretischen Tiefe und Breite oder ihrer konkreten Anwendbarkeit – sehr stark, sodass eine Zuordnung, ob es sich um eine grundlegende Perspektive oder doch eine Methode handelt, häufig umstritten ist. Ein 12 lebendiger Methodendiskurs wird ersichtlich. Zum Beispiel ist der Netzwerkansatz für Franz Stimmer (2020) eine grundlegende Perspektive (obgleich er für derartige Perspekti- ven den Begriff des Handlungsleitenden Konzeptes wählt), während Michael Galuske (2013) ihn als Methode anführt. Wie folgt werden drei Perspektiven ausgewählt und ver- tieft dargestellt, die im Methodendiskurs der letzten Jahre intensiv diskutiert wurden und zugleich von hoher praktischer Relevanz sind: Empowerment, Prävention und Ressour- cenorientierung. 1.1 Empowerment In einer einprägsamen Formel ausgedrückt ist Empowerment „das Anstiften zu einer (Wie- der-)Aneignung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Alltags“ (Herriger, 2020, S. 8). Für Peter-Ulrich Wendt (2017, S. 39) stellt Empowerment eine „Schlüsselperspektive“ des Empowerment methodischen Handelns dar, weil sie nicht nur ein bestimmter Blickwinkel ist, aus dem Dies ist ein aus den USA stammendes Konzept, Methoden betrachtet werden, sondern auch ein grundlegendes Ziel, der eigentliche das darauf abzielt, die Kli- Zweck, dem jede Methode der Sozialen Arbeit dienen sollte. Der defizitorientierte Blick auf ent:innen zu befähigen Abhängigkeiten und Schwächen, der das Menschenbild der traditionellen psycho-sozialen und zu ermutigen, ihre Probleme selbstbestimmt Arbeit bis heute über weite Strecken prägt, wird verabschiedet (Herriger, 2020, S. 74). und eigenständig zu lösen. Empowerment wird dabei verstanden als Befähigung und Ermutigung von Menschen, ihre eigenen Potenziale und Fähigkeiten zu erkennen und selbstbestimmt und selbstbewusst möglichst eigenständig und eigensinnig ihre Probleme zu bewältigen. Seinen Ursprung hat dieses Konzept in den USA. 1976 brachte Barbara Solomon als erste Autorin das Empowermentkonzept als „Black Empowerment“ (Solomon, 1976, zitiert nach Herriger, 2020, S. 22) und kritisierte die Mittelschichtsorientierung der Sozialen Arbeit in den USA, welche an den Bedürfnissen der damals oft sehr mutlosen afroamerika- nischen Bevölkerung völlig vorbeigehe. Soziale Arbeit müsse gerade diese „machtlosen“ Menschen ermutigen und „bemächtigen“ (Solomon, 1976, S. 14, zitiert nach Wendt, 2017, S. 40) und damit demokratische Teilhabe dieser Menschen fördern. 1994 brachte Barbara Simon einen differenzierten Überblick auf die vielfältigen historischen Strömungen des Empowerments der black communities in der Geschichte der USA. Für sie bildet der Empowerment Begriff ein definitorisches Dach über alle Ansätze psycho-sozialer Arbeit: Die Verfechter des Empowerment-Gedankens in der Sozialen Arbeit haben seit 1890 – unter Ver- wendung von in jeder Epoche anderer Sprache und anderern Selbstbeschreibeungen – die Klien- ten als Personen, Familien, Gruppen und Gemeinschaften mit vielfältigen Fähigkeiten und Ent- wicklungschancem begriffen, unabhängig davon, wie benachteiligt, eingeschränkt, erniedrigt oder selbstzerstörerisch sie auch sein mochten. Der Job des Sozialarbeiters, der sich dem Ziel der Selbstbemächtigung des Kleienten verpflichtet weiß, ist konzipiert worden als Aufbau einer Arbeitsbeziehung mit dem Klienten, die auf dessen je spezifischen Fähigkeiten, Ressourcen und Bedürfnissenaufbaut und ein mehr an Sinnerfüllung im alltäglichen Leben und an Partnerschaft- lichkeit in seinen Bezeihungen mit anderen transportiert. Ziel dieser Arbeitsbezeihung ist es, den 13 Klienten zu unterstützen bei der Nutzung eigener Stärken im Prozess der Suche nach erweiter- tem Selbstwert, Gesundheit, Gemeinschaftlichkeit, Sicherheit, personaler und sozialer Macht. (Simon, 1994, S. 1, zitiert nach Herriger, 2020, S. 22–23) Rosa Parks, die sich in der Zeit der Rassentrennungsgesetze in den USA als erste black american weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen White American zu räumen, kann als Ikone der Selbstermächtigung gesehen werden. Nach ihrer Weigerung wurde sie kurzzeitig verhaftet. In Reaktion auf diesen Vorfall entstand ein breiter Empowermentprozess der Black Americans, die sich in der Bürgerrechtsbewegung, geleitet von Martin Luther King und anderen formierte und zur Aufhebung der Rassentrennung in Bussen und Zügen, wie schließlich zur Abschaffung der Rassentrennung überhaupt führte – wenn auch die Reali- sierung der Gleichheit bis heute eine nicht gelöste gesellschaftliche Aufgabe darstellt. Womens Empowerment bewirkte die zunehmende Selbstbestimmung von Frauen und Emanzipation von Abhängigkeiten durch patriachalische Machtstrukturen in vielen Gesell- schaften. Elisabeth Beck-Gernsheim beschreibt den Umbruch als die Entwicklung „vom Dasein für andere zum Anspruch auf ein Stück eigenes Leben“ (Herriger, 2020, S. 27). Schwierig an den Prämissen des Empowerments ist, dass die Eigeninitiative und selbst- ständiges Handeln ausgerechnet durch Impulse und die Fremdeinwirkung von Sozialar- beitenden ermöglicht werden soll – oder, wie Wendt es formuliert: „Wie lassen sich über- haupt Menschen dazu befähigen, sich selbst zu befähigen?“ (Wendt, 2017, S. 40). Dies fordert eine ressourcenorientierte empowernde Methodik, die an die Fähigkeiten des Ein- zelnen bzw. der Einzelnen oder der Gruppe anschließt und von diesen ausgehend die Mög- lichkeiten entdeckt und entwickelt. Die Fallarbeit nach dem Konzept Integrativer Metho- dik erfüllt diesen Anspruch. Überhaupt gehen Vertreter:innen des Empowerment-Konzeptes davon aus, dass es in einer neuen stärkenbezogenen Kultur des Helfens möglich ist, Menschen durch positive Grundannahmen und eine wertschätzende Haltung in bedeutenden Entwicklungschritten zu begleiten und stützen diese Überzeugung auf vier theoretische Voraussetzungen (Wendt, 2017, S. 40–44): Bewältigungsoptimismus: Gerade Klient:innen, die sich schon seit längerer Zeit in einer schwierigen Lage befinden, neigen nicht selten zu einer „erlernten Hilflosigkeit“ (Wendt, 2017, S. 40). Aufgrund der vielen negativen Erfahrungen entwickeln sie einen grundsätzlichen Pessimismus, welcher dazu führt, dass sie vor allem Probleme und Hin- dernisse sehen, bereits ängstlich und mit den schlimmsten Erwartungen an neue Herausforderungen herangehen und gerade deshalb oft erneut scheitern („self-fulfilling prophecy“). Sozialarbeitende können hier intervenieren, indem sie im Sinne einer Res- sourcenorientierung bewusst den Fokus weg von den Schwierigkeiten hin auf die Potenziale, Begabungen und Möglichkeiten der Klient:innen lenken. Dies fördert eine optimistische Haltung, dank welcher neue Wege zur Bewältigung einer Situation gefun- den werden können. Die Arbeiten von Ann Weik zur Perspektive der Menschenstärken, im angloamerikanischen als „The strenghth model“ bezeichnet, zeigen auf welche Grundprinzipien sich der Fokus richten kann (Weik, 1992, zitiert nach Herriger, 2020, S. 75–84ff.) Grundprinzipien als „Philosophie der Menschenstärken“: 14 1. Alle Menschen haben die Fähigkeiten zu lernen und sich zu verändern. Hoffnungen, Sehnüchte und Visionen durchziehen jede Lebensphase. Stärkeorientierte Soziale Arbeit greift diese mit Anerkennung und Wertschätzung auf, als Beginn einer Reise in die Stärke. 2. Der Fokus des Unterstützungsprozesses liegt auf den selbstempfunden Stärken der Klient:innen und nicht auf expertenseitigen Fremddefinitionen. 3. Die Arbeitsbeziehung ist bestimmt von Achtung, Anerkennung und Wertschätzung der Erfahrungs- und Wertewelt des:der Klient:in. Klient:innen sind die Expert:innen ihrer Lebensumstände. 4. Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstbestimmung. 5. Soziale Umwelten sind Schatzkammern sozialer Unterstützung. Die Entdeckung von Unterstützungsnetzwerken, von Partizipationräumen im Gemeinwesen, im Kontakt mit Peers. 6. Organisatorische Rahmen zur Verwirklichung des „strengths model“ im Leitbild der Institution ermöglichen Qualifikation und Orientierung der Mitarbeitenden zur gelingenden Arbeit (Herriger, 2020, S. 76) Resilienz: Resilienz wird von Masten et al. (1990) als einen Prozess und Fähigkeit defi- niert, eine erfolgreiche Anpassung zum Überstehen von schwierigen Bedingungen und Verhältnissen vorzunehmen (zitiert nach Short & Weinspach, 2007, S. 30). Resilienz ist die psychische Widerstandsfähigkeit, widrige Umständen ohne nachhaltige Schäden mit einem gesunden Entwicklungsverlauf zu überstehen. Eine hawaiianische Langzeit- studie der Pionierin der Resilienzforschung Emmy Werner (1977) zeigte, dass sich etwa ein Drittel der Kinder, die unter sehr schwierigen Bedingungen aufwuchsen, trotz dieser Widrigkeiten erstaunlich positiv entwickelten. Dieses Ergebnis führte zu einem großen Interesse an den Ressourcen, welche die positive Entwicklung dieser Kinder ermöglich- ten. Aus mehreren Untersuchungen und Längsschnittstudien ergaben sich sowohl per- sonale wie soziale Ressourcen, die sich günstig auf die Bildung von Resilienz auswirken (Lösel, 1999, zitiert nach Short & Weinspach, 2007, S. 31). ◦ Personale Ressourcen umfassen:Eine optimistische zuversichtliche Lebenseinstel- lung, Temperamentseigenschaften, die Aufmerksamkeit und soziale Unterstützung durch Bezugspersonen erleichtern, Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Selbstver- trauen, positives Selbstwertgefühl, internale Kontrollüberzeugung, Problemlösefä- higkeiten, hohe Sozialkompetenz wie Empathie, Verantwortlichkeit und Coping-Stra- tegien wie die Fähigkeit, soziale Unterstützung zu mobilisieren. ◦ Soziale Ressourcen können sein:Eine stabile emotionale Beziehung zu mindestens einem Elternteil oder einer anderen Bezugsperson, die Vertrauen, Autonomie, aber auch Kompetenzen und realitische Selbsteinschätzung fördert. Ebenso zählen zu sozialen Ressourcen ein offenes, wertschätzendes, unterstützendes Erziehungsklima im Elternhaus oder in den Bildungsinstitutionen sowie Zusammenhalt, Stabilität und konstruktive Kommunikation, die Erfahrung von Sinn, Struktur und Bedeutung in der eigenen Entwicklung, beispielsweise Religiösität in der Familie. Salutogenese: Das Konzept der Resilienz ist eng mit Salutogenese verbunden. Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky stellte sich die Frage: Warum bleiben Menschen trotz vieler potenziell gesundheitsgefährdender Einflüsse gesund? Diese Frage richtete sich darauf, wie sich Gesundheit generiert. Aus dem Wort „Salus“ (lateinisch Gesund- heit/Wohlbefinden) und altgriechisch „γένεσις genesis“ (Geburt, Entstehung; Entwick- lung) bildet sich Salutogenese. Anhand einer Studie 1979 zu ehemaligen KZ- Insass:innen untersuchte Antonovsky die Mechanismen der Salutogenese, also der 15 Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit. Er kam zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass manche der ehemaligen Insass:innen trotz der katastrophalen Lebensbe- dingungen gesund blieben und erforschte, welche schützenden Faktoren dies ermög- lichten. Dabei fand er als verbindenden Faktor das Kohärenzgefühl, welches im Deut- schen wegen seines kognitiven und sinnhaften Aspektes auch als Kohärenzsinn übersetzt wird. Das Kohärenzgefühl ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebeung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begenen; diese Anforderungen sind Heraus- forderungen, die Anstrengung und Engagement lohnen. (Antonovsky, 1997, S. 36, zitiert nach Grabert, 2008, S. 25) Kurz zusammengefasst ergeben sich dreiKomponenten des kohärenten Erlebens: Ver- stehbarkeit (kognitive Komponente), Handhabbarkeit (kognitiv-emotionale Kompo- nente) und Bedeutsamkeit (motivationale Komponente). Der Bedeutsamkeit misst Antonovsky den größten Einfluss für die Erhaltung von Gesundheit zu. Eine gefühlssta- bilisierende Weltanschauung habe mehr Gewicht als die eher kognitiven Fähigkeiten (Antonovsky, 1997, S. 36, zitiert nach Grabert, 2008, S. 28). Der Kohärenzsinn bezeichnet die Überzeugung, dass auch kritische Lebensereignisse verstanden und integriert wer- den können („sense of comprehensibility“), dass trotz schlimmer Erlebnisse das Leben wertvoll und gestaltbar ist („sense of meaningfulness“) und dass Schwierigkeiten bewältigt werden können („sense of manageability“). Coping: Coping meint „Bewältigung“ und verweist, ähnlich wie die oben genannten Schutzfaktoren der Resilienz, auf individuelle Strategien, mit welchen Menschen Proble- men begegnen und Herausforderungen bestehen. Sie „dienen dem Ziel, interne bzw. externe Belastungen zu tolerieren, zu verringern oder zu meistern“ (Wendt, 2017, S. 43). Diese Strategien beruhen auf Ressourcen wie sozialen Beziehungen, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, Verdrängungsmechanismen und Stressresistenz. Im Sinne von Empowerment kommt also Sozialarbeitenden die Aufgabe zu, die Anlässe – bereits diese Formulierung ist sehr viel positiver als „Probleme“ – ihrer Klient:innen bewusst optimis- tisch zu analysieren und die Klient:innen so zu stärken, dass diese ihre Herausforderungen so eigenständig wie möglich meistern können. Das bedeutet z. B. die Förderung sozialer Beziehungen, das Entwickeln von Vertrauen in die eigene Kompetenz sowie sinnstiftende Interventionen, z. B. durch die Erarbeitung von Zielen und Lebensperspektiven. Empowerment kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen sozialer Interventionen zur Anwendung kommen (Wendt, 2017, S. 44): mit Einzelnen, z. B. im Rahmen von Beratung; mit Gruppen, z. B. in der Themenzentrierten Interaktion oder der Erlebnispädagogik; mit lokalen Gemeinschaften, z. B. mit dem Ziel, örtliche Netzwerke und die demokrati- sche Beteiligung und Selbstinitiative von Bürger:innen zu stärken sowie mit Institutionen, z. B. mit dem Ziel, Klient:innen als Expert:innen ihrer Anliegen an Handlungsweisen und Entscheidungen der Institution teilhaben zu lassen. 16 Durch den Fokus auf die individuellen Stärken und die optimistische Sicht auf das Leben der Einzelnen stellt Empowerment auch ein Gegengewicht zur Kontrollfunktion und dem damit einhergehenden Normalisierungsauftrag der Sozialen Arbeit dar. Sozialarbeitende stehen vor dem Dilemma, die Einhaltung gesellschaftlicher Normen stärken zu sollen, da sie bestimmte Werte und Normen einer Gesellschaft vertreten und Menschen, die davon abweichen, tendenziell zu helfen, sich besser anzupassen. Im Sinne von Empowerment wird hingegen der Eigensinn jeden menschlichen Lebens betont, die Stärken auch abweichender Lebensentwürfe entdeckt und dementsprechend Toleranz gefördert (Wendt, 2017, S. 44). EXKURS Das folgende Fallbeispiel zeigt die Anwendung eines Modells der biografischen Arbeit, welches ressourcenorientiert, salutogen und ganz im Sinne von Empo- werment eine Stärkung in schwieriger Lage mit eigenen Mitteln ermöglicht. Es behandelt die integrative und kohärente Metapher vom Lebensfluss aus dem Konzept Integrativer Methodik (Alamdar-Niemann & Zenk, im Druck, 2025). Darin gewinnt ein Klient oder eine Klientin eine Übersicht über die wertvollen Erfahrungen in der Lebenszeit, gedacht und entwickelt entlang der Metapher des Lebensflusses. Von der Quelle bis zum heutigen Tag nimmt der Lebensfluss auf seinem Weg an den Ufern Schätze auf, aber überwindet auch Hindernisse. Es wird ein Blick auf das gelegt, was am Ufer nährend war und den Fluss berei- cherte, wie Spurenelemente oder Schätze, die dem Fluss mitgebeben wurden. Dazu gehören die wichtigen, bedeutsamen Beziehungen zu anderen Menschen – auch Verstorbene dürfen dabei natürlich eine Rolle spielen – und die wertvollen Erfahrungen in der Welt. Auch wertvolle Erfahrungen mit der Natur, der Land- schaft oder auch des Glaubens werden miteinbezogen. Es entsteht eine Über- sicht der Lebensschätze, der Lebenshürden und der Art der eigenen Bewälti- gung dieser Hürden. Sie vermittelt ein Gefühl des Bereichertseins und Überwundenhabens. Es macht dem Menschen bewusster, von welchem Erfah- rungsschatz er oder sie genährt ist, und was er oder sie bereits überwunden wurde, was ihm mehr Sicherheit und Halt gibt. In der Weiterarbeit können die Lebensschätze hinzugezogen werden, um aus ihren Inspirationen bezüglich der Problemlage Impulse für mögliche Veränderungen abzuleiten. In der Gruppenarbeit mit geflüchteten Mütter aus der Ukraine wurde der Lebensfluss zu einer wirkungsvollen Erfahrung, die die den Frauen stärkte und motivierte sich in ihrem neuen Leben in Deutschland zurecht zu finden und alten Wunden zu verarbeiten. 17 Entwicklung als permanente Ressource Vom Baby bis in hohe Alter entwickeln Menschen Fähigkeiten, erweitern ihr Bild von der Welt und von sich selbst, entwickeln Lösungsstrategien für Probleme. Das Thema „lebens- lange Entwicklung“ griff bisher mehrheitlich die Entwicklungspsychologie auf. Nachdem man über lange Zeit annahm, dass Entwicklung nur von der Kindheit bis zum Erwachse- nen stattfände, stellte sich dies als falsch heraus. Erikson formulierte die erste Entwicklungspsychologie über die gesamte Lebensspanne (Erikson, 2007, zitiert nach Flammer, 2017, S. 93). Einzelne Fähigkeiten wurden besonders erforscht. Um nur ein paar bekannte Autoren zu nennen: Jean Piaget erforschte die Ent- wicklung des Denkens (1975), Lawrence Kohlberg arbeitete zur Entwicklung der Moral (1984). Für die Soziale Arbeit bietet der Blick auf die Entwicklung und Entwicklungsfähigkeit von Menschen eine ressourcenorientierte empowernde Haltung. Da menschliche Entwicklung in sozialen und kulturellen Feldern geschieht, bedingen sich Entwicklungsräume mit Entwicklungsmöglichkeiten. Urie Bronfenbrenner stellt diese Zusammenhänge in seiner ökologischen Entwicklungstheorie dar (Bronfenbrenner, 1977, zitiert nach Flammer, 2017, S. 247–260). Entwicklung formt sich zugleich als eigene Dynamik von innen heraus, auf die äußeren Gegebenheiten hin, wie sie auch von außen her angeregt und herausgefordert werden kann. So finden einzelne Menschen Lösungen und Emanzipation von kulturellen und Sozialisationsnormen, schließen sich in Gruppen und Interessengemeinschaften zusam- men, die wiederum die Pluralität der Gesellschaft weiterentwickeln wie die Entwicklung der LGBTQ-Bewegung, der Stadtteilgemeinschaften und Friday-for-Future-Bewegung. Das Wissen über die eigene individuelle Entwicklungsfähigkeit wird in der Regel kaum nachgefragt und es kann als Ressource in der Sozialen Arbeit entdeckt werden, mit der Frage: Welche Fähigkeiten haben Sie bisher entwickelt? Dabei ist alles von Bedeutung: Laufen, Lesen, Schreiben, Rechnen, Arbeiten, unterhaltsam sein etc. Die Fähigkeiten sollten in einer Liste festgehalten werden. Es dient dem Selbstbe- wusstsein, sich entwickelt zu haben, entwicklungsfähig zu sein und es somit auch weiter- hin zu können. Machen Sie eine Probe bei sich selbst. Im Prinzip stellt jedes Lebensproblem, auch jede Krankheit eine Entwicklungsaufgabe dar, fordert Entwicklung heraus (Flammer, 2017, S. 209). 18 Optimale Bedingungen für Entwicklung Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2024, in Anlehnung an Zenk, 2024. Entwicklungsprozesse zu initiieren und zu begleiten gehört zum Kern der Sozialen Arbeit. Zur Lösung dieser Aufgabe fördert die Erweiterung des „üblichen“ Denkens und Sprechens über sich selbst und sein Leben mit einen anderen Modus des Formulierens. Die analoge, bildhafte Kommunikation dient dabei als nützliches Instument der Sozialen Arbeit. 1.2 Prävention Prävention kann definiert werden als „vorbeugendes Handeln“ (Böllert, 2015, S. 1227), welches unerwünschte Handlungen und Entwicklungen vermeiden soll. Demgegenüber bedeutet Intervention das helfende oder korrigierende Eingreifen, wenn die entsprechen- den unerwünschten Ereignisse nicht vermieden werden konnten, sondern bereits einge- treten sind. Prävention unterscheidet sich also zu anderen Tätigkeitsbereichen der Sozia- len Arbeit und zu anderen Perspektiven auf methodisches Handeln besonders durch ihre zeitliche Ausrichtung. Dabei kann zwischen drei verschiedenen Ansätzen und auch Zeitperspektiven von Präven- tion differenziert werden (Bundesministerium für Gesundheit, 2015): Primäre Prävention: Diese Maßnahmen richten sich an die gesamte Bevölkerung und versuchen, durch die Förderung bestimmter Verhaltensweisen (beispielsweise gesunde Ernährung, Bewegung) das Auftreten bestimmter Probleme (beispielsweise Überge- wicht) zu verhindern. Auch Gewaltprävention oder Aufklärungsprojekte in Schulen gehören zur primären Prävention. 19 Sekundäre Prävention: Dieser Begriff meint die Früherkennung von Erkrankungen, um so eine möglichst frühe und Erfolg versprechende Therapie einleiten zu können. In der Sozialen Arbeit bezieht sich sekundäre Prävention auf potenziell gefährdete Zielgrup- pen wie Arbeitslose, Jugendliche in Problemvierteln oder auch Trauernde. Durch Unter- stützung in belastenden und gefährdenden Situationen soll verhindert werden, dass die Belastungen sich zu starken und dauerhaften Krisen entwickeln und ihre Folgen mög- lichst gering gehalten werden (Galuske, 2013, S. 320). Tertiäre Prävention: Diese Form der Prävention beabsichtigt, die Verschlimmerung bereits vorhandener Krisen oder Krankheiten zu vermeiden. Das, was primäre und sekundäre Prävention zu verhindern beabsichtigen, ist also bereits geschehen, und der Schaden soll nun so weit wie möglich begrenzt werden. Verhältnisprävention Außerdem kann unterschieden werden zwischen Verhältnisprävention, welche durch die Sie ist eine Ebene präven- Verbesserung von Lebensbedingungen das Auftreten von Problemen zu verhindern ver- tiven Handelns, die darauf abzielt, nicht das sucht, und Verhaltensprävention, welche auf die Veränderung von gefährdendem oder Verhalten von einzelnen problematischem Verhalten zielt (Galuske, 2013, S. 319). Menschen zu verändern, sondern die Umgebung von Menschen so zu ver- Am Beispiel der Drogenprävention sollen im Folgenden verschiedene inhaltliche Ansätze ändern, dass Probleme von Prävention vorgestellt werden (Galuske, 2013, S. 322–325): vermieden werden. Prävention in Form von abschreckenden Informationen: Damit wird versucht, Angst auszulösen und auf diese Weise unerwünschtes Verhalten zu verringern. Dieser Ansatz war vor allem in der frühen Phase der Drogenprävention sehr präsent, wird aber auch heute noch angewendet, wie die Bilder zu Folgen von Rauchen auf Zigarettenpackun- gen zeigen. Suchtprävention durch Risikoalternativen, bzw. sogenannte funktionale Äquival- ente: Das Ziel dieses Ansatzes ist nicht unbedingt die absolute Abstinenz, sondern zunächst der verantwortungsvolle Umgang mit gefährlichen Substanzen und die Heran- führung der gefährdeten Zielgruppe an alternative Tätigkeiten, welche die Bedürfnisse, die hinter dem Drogenkonsum stehen, auf weniger schädigende Weise erfüllen – soge- nannte funktionale Äquivalente. Zum Beispiel könnten attraktive und spannende sport- liche oder erlebnispädagogische Angebote den „Kick“ des Drogenkonsums ersetzen. Gesundheits- und Entwicklungsförderung: Durch die allgemeine Förderung von Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit, Handlungskompetenzen und persönlichkeitsbil- dende Angebote sollen Menschen so gestärkt werden, dass sie von sich aus Drogen ablehnen. Schadensminimierung: Dieser Ansatz steht beispielsweise hinter der akzeptanzorien- tierten Drogenarbeit, welche nicht auf Entzug und Enthaltsamkeit besteht, sondern die Wünsche und Verhaltensweisen der Süchtigen akzeptiert und innerhalb dieser Grenzen versucht, den Schaden, der durch die Sucht entsteht, zu begrenzen – u. a. durch „Fixer- stuben“, welche Heroinsüchtige mit einem Dach über den Kopf und sauberem Spritzbe- steck versorgen. Grundsätzlich erscheint der Gedanke, Gefährdungen frühzeitig zu erkennen und Krisen durch rechtzeitiges vorbeugendes Handeln zu verhindern, sinnvoll. Dennoch kann eine zu starke Betonung von Prävention in der Sozialen Arbeit kritisch betrachtet werden. So betrachtet Prävention stets in erster Linie die Verhinderung negativer Ereignisse anstelle der Ermöglichung positiver Geschehnisse (Galuske, 2013, S. 325) oder anders ausge- 20 drückt: „Mit der Präventionslogik gerät die Zukunft unter Verdacht“ (Galuske, 2013, S. 326). Doch nicht nur die Zukunft, sondern auch die Zielgruppen, an welche sich die prä- ventiven Angebote richten, geraten damit unter einen generellen Verdacht: „Nicht die Adressatinnen und Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe werden in dieser Perspektive vor Risiken und Gefahren geschützt, vielmehr gilt es, präventiv den von ihnen ausgehen- den Gefahren und Risiken für andere entgegen zu wirken“ (Böllert, 2015, S. 1230). Mit dieser Defizitorientierung geht außerdem die Problematik einher, dass im Rahmen Defizitorientierung der dominierenden Verhaltensprävention Probleme stets der individuellen Verantwortung Darunter versteht man eine Haltung oder eine zugeschrieben werden und dadurch von strukturellen sozialpolitischen Mängeln abge- Perspektive, welche vor lenkt wird (Galuske, 2013, S. 327). Ein gutes Beispiel für diesen Vorwurf ist die Prävention allem die Schwächen und von Übergewicht: Natürlich haben Eltern und auch Kinder und Jugendliche selbst einen Fehler von Klient:innen der Sozialen Arbeit fokus- großen Einfluss auf ihr Ernährungsverhalten. Gleichwohl können Präventionsprogramme siert. zu Ernährung und Sport den Eindruck erwecken, dass allein die Eltern für das Überge- wicht ihrer Kinder verantwortlich sind. Dabei wird verkannt, dass an vielen Schulen Süßig- keitenautomaten und der Verkauf von stark gesüßtem Kakao oder hochkalorischen Getränken die Regel sind und dass es dem Staat bislang nicht gelungen ist, eine eindeutige Kennzeichnung von gesundheitlich problematischen Lebensmitteln zu erwirken. Vor dem Hintergrund der suchtfördernden Wirkung von Zucker, kann gerade von Kindern kaum erwartet werden, dass sie entsprechende Angebote eigenverantwortlich ablehnen. Somit muss eine Erfolg versprechende Prävention von Übergewicht neben der Verhaltensprä- vention definitiv auch eine sozialpolitische (gesetzliche Kennzeichnung von bestimmten Lebensmitteln) und institutionelle Verhältnisprävention (Ernährungsangebote in Schulen und Kindertagesstätten) einbeziehen. FALLVIGNETTE PRÄVENTION Die Schulsozialarbeiterin Julia bekommt den Auftrag, mit einer Gruppe aggressi- ver Kinder zu arbeiten. Diese sind in der Schule vermehrt durch häufiges Schla- gen und Prügeln auffällig geworden. Hierbei handelt es sich um tertiäre Prävention, da die Kinder bereits oft durch gewalttätiges Verhalten aufgefallen sind: Das Problem der Aggressivität ist bereits entstanden und soll nun vermindert werden. Dazu muss Julia den Kin- dern bei der Einsicht helfen, dass Gewalt kein guter Weg ist, um Probleme zu lösen. Ihre Aufgabe ist es auch, ihnen Alternativen zu zeigen, auf die sie zurück- greifen können (Verhaltensprävention). Gleichzeitig sollte sie aber auch das Sys- tem Schule betrachten und überlegen, inwieweit die Schule als Ganzes, also Lehrkräfte, Mitschüler:innen, Eltern, Schulsozialarbeitende etc., die Gewalt för- dern oder anders beeinflussen (Verhältnisprävention). Zum Beispiel ist es für die Entstehung von Gewalt relevant, ob an der Schule Gewalt klar verurteilt wird und ob Lehrer:innen oder andere Erwachsene deutlich intervenieren, wenn sie Gewalt beobachten. Beides wird beispielsweise im Rahmen von sogenannten Coolnesstrainings thematisiert, in welchen alle Kinder gezielt alternative Reakti- onsweisen kennenlernen und trainieren. Meistens wird die gesamte Schule in solche Trainings miteinbezogen. 21 1.3 Ressourcenorientierung Im Sinne der Perspektive der Ressourcenorientierung geht die Soziale Arbeit davon aus, dass alle Menschen über Potenziale verfügen, die ihnen beispielsweise dabei helfen kön- nen, Probleme zu bewältigen oder Ziele zu erreichen (Wendt, 2017, S. 31). Diese sehr indi- viduellen und diversen Potenziale werden als Ressourcen bezeichnet. Knecht et al. (2014, S. 109, zitiert nach Wendt, 2017, S. 31–32) definieren Ressourcen als „Mittel, Gegebenheiten oder Merkmale …, die Menschen einsetzen, um Aufgaben und Lebensanforderungen zu bewältigen, Veränderungsprozesse umzusetzen sowie individu- elle und gemeinschaftliche Bedürfnisse und Ziele zu verfolgen und zu erfüllen. Zudem werden Ressourcen eingesetzt, um andere zu erhalten, zu erweitern oder Ressourcen mit anderen Menschen zu tauschen“. So vielfältig Menschen sind, so vielfältig sind auch ihre Ressourcen. Entsprechend verber- gen sich hinter dem Begriff der Ressourcen sehr unterschiedliche Dinge: Fähigkeiten, z. B. etwas gut formulieren können oder etwas handwerklich herstellen können; Begabungen und Talente, z. B. gut zeichnen zu können oder kreativ zu sein; Interessen, z. B. für eine Tierart oder bestimmte Musik; Kenntnisse, z. B. in Bezug auf eine Stadt oder eine Wissenschaft; physische Potenziale, z. B. Ausdauer oder Stärke; psychische Potenziale, z. B. Gelassenheit oder Optimismus; Beziehungen und Kontakte, z. B. Freunde oder Nachbarn; Zugehörigkeiten, z. B. zu Vereinen oder einer Glaubensgemeinschaft. Diese Beispiele zeigen, dass es sich bei Ressourcen keinesfalls nur um Aspekte handelt, die in der Person selbst liegen, sondern auch um solche, die in der Umwelt der Personen zu finden sind (Wendt, 2017, S. 32). Das Fehlen von Ressourcen bzw. ihr Verlust, beispielsweise durch einen Umzug oder den Tod eines Angehörigen, macht „Menschen anfällig und verletzlich für psychische und phy- sische Schwierigkeiten“ (Wendt, 2017, S. 32). Daher ist es in dieser Perspektive die Aufgabe von Fachkräften der Sozialen Arbeit, eine Haltung einzunehmen, die davon ausgeht, dass Ressourcen vorhanden sind, die gegebe- nenfalls gesucht, aktiviert oder forciert werden müssen, um Probleme zu bewältigen oder Ziele der Klient:innen zu erreichen (Wendt, 2017, S. 31). Die entsprechende Tätigkeit der Sozialarbeitenden wird als Ressourcenarbeit bezeichnet, welche Möbius (2010) definiert als „Planungs – und Unterstützungsleistung …, die sich konsequent an dem Vorhaben ori- entiert, individuelle und soziale Ressourcen der Adressat/innen vor allem jenseits institu- tioneller Hilfen zur Problembewältigung zu aktivieren, und die hierfür notwendigen Schritte und Prozesse in Absprache mit ihnen zu planen, zu koordinieren und professionell zu begleiten“. 22 Als ein Teil der Ressourcenarbeit lässt sich die Ressourcendiagnostik verstehen (Buttner, 2018), in der es darum geht Ressourcen aufzuspüren, zu analysieren und sichtbar zu machen. Eine Möglichkeit der Umsetzung ist ein Ressourceninterview, in dem systema- tisch Fragen zur Anwendung kommen, die Ressourcen sichtbar machen. Beispiele für Fra- gen wäre: Wer aus ihrer Familie liegt Ihnen besonders am Herzen? Was bereitet Ihnen Freude? Wie schaffen sie es, trotz Ihrer Erkrankung immer zu lachen? Welche Situationen mit Ihrer Tochter genießen Sie besonders? ZUSAMMENFASSUNG Methoden können aus unterschiedlichen Blickwinkeln reflektiert wer- den. Es existieren diverse spezifische Perspektiven, z. B. die Frage nach den Adressat:innen oder ihren Ressourcen. In Bezug auf die Gestaltung der Praxis werden sie zum Teil auch als handlungsleitende Konzepte betrachtet und leiten als solche das methodische Handeln an, indem sie z. B. übergeordnete Ziele vorgeben. Eine grundlegende Perspektive stellt der Ansatz des Empowerments dar. Dieser zielt darauf ab, Menschen zu ermutigen, ihre eigenen Potenziale zu erkennen, zu nutzen und Anliegen möglichst selbstständig zu bewälti- gen. Empowerment kann auf unterschiedliche Weisen geschehen, z. B. mit Einzelnen in der Beratung, mit Gruppen, lokalen Gemeinschaften oder auch mit Institutionen. Empowerment betont die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung von Menschen und bietet daher auch einen Kon- trast zur Kontrollfunktion, der Sozialarbeitende unterliegen. Prävention – als weitere grundlegende Perspektive – meint vorbeugen- des Handeln. Dabei kann unterschieden werden zwischen primärer Prä- vention, die sich an die gesamte Bevölkerung richtet, sekundärer Prä- vention, deren Angebote potenziell gefährdete Zielgruppen (z. B. gewaltbereite Jugendliche) ansprechen, sowie tertiärer Prävention, wel- che zur Anwendung kommt, wenn bereits Probleme aufgetaucht sind. Wenngleich Prävention viele positive Aspekte aufweist, besteht auch das Risiko, mit präventiven Projekten Zielgruppen unter einen „Generalver- dacht“ zu stellen. Zudem wird ihre Defizitorientierung problematisiert. Eine weitere Perspektive ist die der Ressourcenorientierung. Dabei wird angenommen, dass jeder Mensch über Ressourcen, also Potenziale, hilf- reiche Fähigkeiten, nützliche soziale Kontakte, wertvolle Erfahrungen oder motivierende Werte und Ziele verfügt, die ihn befähigen, Schwierig- keiten zu bewältigen. Sozialarbeitende stehen vor der Herausforderung, die individuellen Ressourcen der jeweiligen Menschen zu erkennen und zu aktivieren – d. h. dem jeweiligen Menschen zu helfen, sich seiner Res- 23 sourcen bewusst zu werden und sie zu nutzen. Demnach gilt es, Metho- den so zu wählen, dass sie das Aufspüren und Aktivieren von Ressourcen fördern. 24 LEKTION 2 CASE MANAGEMENT LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – was das methodische Konzept des Case Managements auszeichnet. – wie der Prozess des Case Managements abläuft. – welche Aufgaben Sozialarbeitende im Rahmen von Case Management übernehmen. – welche Kritik am Konzept des Case Managements geübt wird. – was das Arbeitsfeld der Krankenhaussozialarbeit auszeichnet und wie Case Manage- ment in diesem Kontext zum Einsatz kommt. 2. CASE MANAGEMENT Einführung Im wissenschaftlichen Diskurs der Sozialen Arbeit ist umstritten, ob es sich bei Case Management um eine Methode im engeren Sinne (Galuske, 2013) oder um ein handlungs- leitendes Konzept handelt (Stimmer, 2020). Fest steht jedoch, dass es sich seit den 1980er- Jahren zunehmend in Deutschland verbreitet hat und dass es ein Konzept ist, welches die Arbeit mit einzelnen Menschen modifiziert und auf eine bestimmte Weise strukturiert (Stimmer, 2020, S. 168–176). Der Fokus rückt dabei weg vom Aspekt der Beziehungsarbeit, hin zum „Management“, also der Planung, Organisation und Evaluation von Interventio- nen. Soziale Arbeit wird „manageriell ausgerichtet“ (Wendt, 2017, S. 352). Damit einher geht eine Ausrichtung an Effizienz und Effektivität von Interventionen. 2.1 Definition, Merkmale und historische Entwicklung Definition Neuffer (2002, S. 19) definiert Case Management als „Konzept zur Unterstützung von Ein- zelnen, Familien und Kleingruppen. Case Management gewährleistet durch eine durch- gängige fallverantwortliche Beziehungs- und Koordinierungsarbeit, Klärungshilfe, Bera- tung und den Zugang zu notwendigen Dienstleistungen. Case Management befähigt die Klienten, Unterstützungsleistungen selbstständig zu nutzen und greift so wenig wie mög- lich in die Lebenswelt von Klienten ein“ (Neuffer, 2002, S. 19). Hierin werden die folgenden für Case Management charakteristischen Merkmale ersicht- lich: durchgängige Fallverantwortlichkeit von Sozialarbeitenden; unterschiedliche Tätigkeiten der Sozialarbeitenden, wie. Beziehungsarbeit, Koordinie- rungsarbeit, Beratung; Verständnis von Klient:innen als aktive und eigenständige Nutzer:innen des Dienstleis- tungsangebotes; Koordination, Planung und Kontrolle der Inanspruchnahme von Dienstleistungen. Ergänzend lassen sich mit Wendt (2017, S. 352) die folgenden Merkmale festhalten: kooperative Gestaltung des Prozesses, Ziel ist die Erhebung und Abdeckung des individuellen Versorgungsbedarfs von Kli- ent:innen sowie Effizienz und Effektivität in der Versorgung von Klient:innen. 26 Im Kern geht es nach Wendt (2017, S. 352) „darum, im Sinne von Effizienz und Effektivität einzelfallorientiert, subjektorientierte (durch Zusammenarbeit mit dem Unterstützten z. B. bei der Zielbestimmung) und ressourcenorientiert … ein optimales Unterstützungsnetz- werk einzurichten“. Entwicklung des Case-Management-Ansatzes Case Management wird als eine Folge der Ökonomisierung des Sozialen bzw. zum Teil auch als ein Symbol für die Ökonomisierung des Sozialen gesehen (Wendt, 2017, S. 352; Ökonomisierung des Stimmer, 2020, S. 168). Sozialen Darunter wird ein in den 1980er-Jahren beginnen- In diesem Kontext gelten zwei Entwicklungen als bedeutsam (Wendt, 2017, S. 352–353): der Prozess verstanden, in dessen Rahmen Fragen wie Effektivität und Effizi- 1. Zum einen wurden in Deutschland die Organisation und Funktionsweise von Hilfsan- enz von sozialen Diensten geboten, insbesondere die Zuweisung und Nutzung von Mitteln des Sozialstaates in den Vordergrund rück- ten und soziale Dienste problematisiert. In der Kritik standen die freien Träger, denen vorgeworfen wurde, umfassend umgebaut sich den „Markt“ sozialer Dienstleistungen zu ihrem Vorteil aufgeteilt zu haben, „ohne wurden. dabei zu einer angemessenen (wirtschaftlichen wie fachlichen) Lösung sozialer Schwierigkeiten beizutragen“ (Wendt, 2017, S. 352). Ihre Leistungen wurden als ineffi- zient und ineffektiv kritisiert. 2. Zum anderen wurde in der USA umfassende Kritik an der stationären Unterbringung von Menschen laut. Sie wurde u. a. als zu schematisch, wenig passgenau und im Hin- blick auf andere Hilfen als unzureichend aufeinander abgestimmt bewertet. Daraufhin kam es zu einer Abschaffung der stationären Angebote und Hilfsangebote wurden weitestgehend dezentralisiert. In der Folge kam es zu einer „Zersplitterung der sozia- len Dienste“ (Wendt, 2017, S. 352). Als Lösung für diese Problematiken wurde dann der Ansatz des Case Managements disku- tiert. Vor dem Hintergrund beider Entwicklungen lässt sich verstehen, warum Case Manage- ment in dieser Zeit enorm an Bedeutung gewann. Es verspricht für beide Probleme eine Lösung: Mittel sollen effizienter und effektiver genutzt werden und die Problematik der Zersplitterung soll durch die Position des:der Fallmanager:in entschärft werden, der:die alle Dienstleistungen kennt und die passenden heraussuchen kann. Die für den jeweiligen Fall relevanten Hilfen werden zentral gesteuert und miteinander vernetzt, sodass die Auf- gabenverteilungen klar definiert und Prozesse und Ergebnisse überwacht werden können. Fälle können somit effizient und effektiv bearbeitet werden (Wendt, 2017, S. 352). In Deutschland erfolgte eine Rezeption des Case-Management-Ansatzes ab den 1980er- Jahren (Wendt, 2017, S. 353). Allerdings wurde ziemlich unmittelbar kritisch hinterfragt, ob Case Management überhaupt in die sozialpolitischen Strukturen Deutschlands passt (Wendt, 2017, S. 353). Eine Zersplitterung, wie sie in den USA vorlag, war in Deutschland beispielsweise nicht zu verzeichnen (Galuske, 2013, S. 205). Trotz aller Kritik, die bis heute anhält, hat sich das Case Management auch in Deutschland in vielen Bereichen etabliert. Als verbreitet gilt es in den folgenden Bereichen (Wendt, 2017, S. 353; Stimmer, 2020, S. 169): 27 Pflege, Rehabilitation, Behindertenhilfe, Familienhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Straffälligen- und Bewährungshilfe, Arbeit mit Suchtmittelabhängigen, Arbeit mit Wohnungslosen, psychiatrische Versorgung, medizinische Behandlung und Jobcenter und Arbeitsagenturen. 2.2 Der Prozess des Case Managements Abbildung 1: Ablauf des Case Managements Quelle: Ruckstuhl, 2004, S. 3. Der Ablauf von Case Management wird – je nach Autor:in/Modell – in vier bis sechs Phasen geteilt. Häufig werden fünf Phasen (Assessment, Planning, Intervention, Monitoring und Evaluation) und eine Vorstufe (Outreach oder Clearing) ausgewiesen (in der Abbildung als Teil des Prozesses ausgewiesen). 1. Clearing/Klärungsphase (z. T. auch Outreach oder Erstgespräch): Im Rahmen des Clearing werden innerhalb von ein bis zwei Einheiten erste begrenzte Informationen erhoben und beurteilt, um Klient:innen einem:einer passenden Case-Manager:in zuordnen zu können, der:die ab diesem Zeitpunkt dann dauerhaft für den Fall verant- wortlich ist (Wendt, 2017, S. 353). Zugleich findet das Intake statt, d. h., dass die Rah- menbedingungen geklärt werden und ein Vertrag geschlossen wird. Sind diese 28 Schritte abgeschlossen, folgen die fünf (Kern-)Phasen des Case Managements. In eini- gen Darstellungen fällt das Intake auch mit der folgenden Phase des Assessments zusammen. 2. Assessment (zum Teil auch Case Finding): Der:Die Case-Manager:in definiert gemeinsam mit den Klient:innen den Beratungsanlass, die Ressourcen des Hilfesuch- enden, den konkreten Hilfsbedarf und die potenziell hilfreichen Netzwerke und Insti- tutionen. Auch die vorhandenen bzw. bereits kontaktierten und aktivierten Netzwerke oder Institutionen, werden erhoben (Netzwerkanalyse) (Wendt, 2017, S. 353). 3. Planning: Der:Die Case-Manager:in bestimmt gemeinsam mit dem Hilfesuchenden die Ziele und den angestrebten Weg, der zum Erreichen dieser Ziele dienen soll. Unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit des Mitteleinsatzes (Effizienz) werden ange- messene Hilfen bestimmt und in einem Arbeitsplan zusammengefasst. 4. Intervention (z. T. auch Linking): Die vereinbarten Hilfen werden angestoßen und koordiniert; die Hilfesuchenden müssen dabei ihrer Nachweis- und Meldepflicht nach- kommen (z. B. Bewerbungsunterlagen einreichen, Abbrüche melden, nachweisen, dass sie die Hilfen in Anspruch genommen haben). 5. Monitoring: Der:Die Case-Manager:in beobachtet und kontrolliert den Prozess der Hilfeerbringung und nimmt Fortschritte und Abweichungen wahr. Gegebenenfalls wird die:der Hilfesuchende zur besseren Mitarbeit aufgefordert. Elemente des Monito- ring sind die Dokumentation und Berichterstattung, insbesondere auch gegenüber den Kostenträgern. Hierbei ist es Aufgabe des:der Case-Manager:in, die Effektivität und Effizienz der Hilfen im Auge zu behalten. Sie müssen sich im Vergleich zu den anderen Hilfen bzw. im Hinblick auf die entstehenden Gesamtkosten messen lassen. Daher kann es in diesem Prozess, einerseits „so fachlich erforderlich, … zu einer Anpassung an veränderte Anlässe oder einen geänderten Bedarf kommen..., und andererseits [können] Prozesse, die wirtschaftlich nicht nützlich sind, an die wirt- schaftlichen Ziele angeglichen werden … (reassessement)“ (Wendt, 2017, S. 354). 6. Evaluation: Während der Evaluation wird der Prozess und sein Ergebnis ausgewertet: einerseits im Hinblick auf den Grad der Zielerreichung und andererseits im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit. Dabei werden die Perspektiven aller an den Maßnahmen beteiligten Akteure miteinbezogen (Wendt, 2017, S. 355). Der offizielle Abschluss eines Case Managements wird als „Disengagement“ bezeichnet (Wendt, 2017, S. 355). 2.3 Aufgaben der Sozialarbeitenden und Kritik Aufgaben der Sozialarbeitenden Die Rolle der Case-Manager:innen bedeutet eine Verschiebung, nicht jedoch eine vollstän- dige Ablösung der Aufgaben von Sozialarbeitenden von der Beziehungsarbeit zur Organi- sation, Vernetzung und Abstimmung von unterschiedlichen Hilfeleistungen (Galuske, 2013, S. 201). „Der Sozialarbeiter konzentriert seine Tätigkeit nicht mehr auf die Verhal- tensänderung des Klienten mittels psychosozialer Interventionstechniken, sondern er fin- det den Kern seiner Aufgabe in Ermittlung, Konstruktion und Überwachung eines proble- 29 madäquaten Unterstützungsnetzwerkes, zu dem sowohl die informellen sozialräumlichen Ressourcen gehören..., wie auch die formellen Angebote des (sozialen) Dienstleistungs- sektors“ (Galuske, 2013, S. 203). Es lassen sich eine ganze Reihe an Funktionen/Aufgaben unterscheiden, die je nach Pro- zess und Arbeitskontext unterschiedlich stark im Vordergrund stehen können und zum Teil ineinander übergehen, aber auch in Konflikt zueinanderstehen können (Wendt, 2017, S. 356): Systemagenten (auch Broker:innen oder Versorgungsmanager:innen): Die Sozialar- beitenden implementieren und überprüfen, die vertragsgemäße, zweckmäßige und kosteneffiziente Ausführung aller vereinbarten Hilfen. Anwält:innen der Hilfesuchenden (Advocacy): Die Sozialarbeitenden stehen den unterstützten Personen zur Seite, etwa bei der Durchsetzung von Ansprüchen gegen- über Sozialleistungsträgern. Auch Beschwerden durch die Hilfesuchenden gehen sie nach. Guides: Die Sozialarbeitenden fungieren für die Hilfesuchenden als persönliche Ansprechpartner:innen. Sie klären den Bedarf der Hilfesuchenden, ihre Wünsche und helfen ihnen auf ihrem Weg der Zielerreichung (Wendt, 2017, S. 357). Supporter:innen: Als Supporter:innen motivieren die Sozialarbeitenden ihre Kli- ent:innen und leisten Hilfe zur Selbsthilfe (Wendt, 2017, S. 357) Kritik Zum einen wird dem Ansatz des Case Managements vorgeworfen, dass es bei der Einfüh- rung und Umsetzung des Konzeptes primär um eine „sozialtechnologische Optimierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen“ (Galuske, 2013, S. 206) geht, und weniger um die Inte- ressen der Klient:innen. Vor allem die Macht der Klient:innen werde eher eingeschränkt Partizipation als erweitert. „Und in der Tat spielt der Partizipationsgedanke im Konzept des Case Diese meint die aktive Management eher eine untergeordnete Rolle. Zwar werden die Selbsthilfepotenziale der Mitbestimmung von Kli- ent:innen der Sozialen Klienten und der sozialen Netzwerke hervorgehoben, gleichwohl obliegt die aktive Rolle in Arbeit, z. B. in Bezug auf erster Linie dem Sozialarbeiter, dem eine umfassende Rollenkompetenz zugesprochen die Wahl oder Ausgestal- wird“ (Galuske, 2013, S. 206). tung der passenden Hil- fen. Zum anderen weist Wendt (2017, S. 358) darauf hin, dass Kontrolle und gegebenenfalls Bestrafung, z. B. durch Kürzung von Leistungen, im Case Management sehr viel mehr betont werden, als in anderen Methoden der Sozialen Arbeit und nennt exemplarisch das Fallmanagement der Bundesagentur für Arbeit, welches klare Sanktionen vorsieht, wenn die Klient:innen sich nicht vorschriftsgemäß verhalten. Daher kann die Ausübung der Rol- len „Advocacy“ und „Broker“ in der Praxis durchaus bezweifelt werden – aufgrund der jeweiligen Interessen und Vorgaben, denen das Handeln der Sozialarbeitenden unterliegt, sind diese vermutlich oft nicht in der Lage, tatsächlich neutral zu vermitteln oder gar die Interessen der Klient:innen zu vertreten (Wendt, 2017, S. 358). Vor diesem Hintergrund kommt Galuske (2013, S. 208) zu folgendem Fazit: „Gerade im Horizont der Rezeption in der Arbeits- und Sozialverwaltung erweist sich das Case Management als ein sozialtechno- logisches Instrument der Anpassung Sozialer Arbeit an den neuen, neoliberalen Zeitgeist des aktivierenden Sozialstaats, der auf mehr Konkurrenz, Effizienz und Kontrolle setzt“. 30 2.4 Anwendungsbeispiel: Arbeitsfeld Krankenhaus Im Jahr 2014 arbeiteten rund 8.000 Personen als Sozialarbeitende in Krankenhäusern (Steinle et al., 2016, S. 1). Dennoch wird dieses Arbeitsfeld wenig wahrgenommen: einer- seits von der wissenschaftlichen Sozialen Arbeit selbst und andererseits auch aus Perspek- tive der Krankenhäuser, die ihre „Bedeutung für betriebswirtschaftliche Optimierung als auch qualitätsverbessernde Patientenversorgung kaum“ (Steinle et al., 2016, S. 1) berück- sichtigen. Die Tätigkeit von Sozialarbeitenden im Krankenhaus besteht häufig vor allem in der Bera- tung von kranken Menschen im Sozialdienst von Krankenhäusern. Dabei geht es u. a. um den Ausbau von sozialer Unterstützung, um die Angehörigenarbeit oder unmittelbar um Krankheitsbewältigung und Motivationsarbeit (Ansen, 2010, S. 146). Konkret bieten die Sozialarbeitenden z. B. Hilfe beim Umgang mit persönlichen, familiä- ren und sozialen Problemen, die sich aus der jeweiligen Erkrankung ergeben. Dies umfasst sozialrechtliche Beratung, Hilfe bei der Krankheitsbewältigung, Krisenintervention, Ent- lassungsvorbereitung (z. B. Organisation eines Pflegedienstes und von Pflegehilfsmitteln), Kooperation mit Schulen und Behörden sowie Beratungsstellen oder auch die Vermittlung an Selbsthilfegruppen (bzw. deren Initiierung). In speziellen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche (beispielsweise Kinderonkologie oder Kinderdialyse) kann auch die Koordi- nierung und Durchführung von Angeboten für die kleinen Patient:innen zum Aufgaben- spektrum gehören, um für diese die Zeit im Krankenhaus so angenehm wie möglich zu gestalten. Da gerade chronische und schwere Erkrankungen starken Einfluss auf nahezu alle Lebens- bereiche der Betroffenen haben, sind auch die Anlässe in diesem Arbeitsfeld äußerst viel- fältig. Auch die Zielgruppe ist heterogen – von jungen Familien mit Säuglingen über Kin- der, Jugendliche und Erwachsene bis zu älteren Menschen. Im Arbeitsfeld des Krankenhauses arbeiten Sozialarbeitende zunehmend mit der Methode des Case Managements. Dabei lassen sich – je nach Organisation des Krankenhauses – zwei Schwerpunkte unterscheiden (Steinle et al., 2016, S. 7): 1. In einigen Krankenhäusern wird Case Management systematisch als internes Steuer- ungsinstrument im Sinne von „Clinical Pathways“ eingesetzt. In diesem Konzept sind die Case Manager:innen bereits vor Aufnahme der Patient:innen prozessbegleitend und strukturierend tätig. „Dabei stehen die Organisation eines effizienten Aufenthalts und die Überwachung während der stationären Aufnahme im Vordergrund“ (Steinle et al., 2016, S. 7). In diesem Konzept begleiten die Sozialarbeitenden, gemeinsam mit Ärzt:innen und anderen Fachkräften, die Patient:innen von Beginn an. 2. Die zweite – stärker verbreitete – Variante entspricht dem klassischen Krankenhausso- zialdienst. Hier steht das Überleitungsmanagement während bzw. gegen Ende des Krankenhausaufenthalts im Vordergrund. Das Case Management wird hier als metho- 31 disch strukturiertes Vorgehen für die Arbeit des klassischen Sozialdienstes genutzt. Die Case Manager:innen im Überleitungsmanagement sind für die poststationäre Ver- sorgung der Patienten verantwortlich. FALLBEISPIEL Der 24-jährige Herr Speier ist für die Durchführung eines Alkoholentzugs in einer entsprechenden Fachklinik. Bereits während der Akutbehandlung nimmt ein Mitarbeiter des Sozialdienstes der Klinik, Herr Wulff, Kontakt mit ihm auf. In mehreren Gesprächen erkundet Herr Wulff die Lebenssituation von Herrn Speier: Er spricht mit ihm über die Beziehung zu seiner Frau, über seinen engs- ten Freund und über seine Verwandten. Sie überlegen, welche Bedeutung diese Beziehungen für ihn haben. Auch die Wohnsituation sowie die finanzielle Situa- tion sind ein Thema. Im Anschluss bzw. zum Teil zeitgleich sprechen die beiden über die Ziele von Herrn Speier und wie sie erreicht werden könnten (Planning). Sie arbeiten heraus, dass es Herrn Speier wichtig ist, seine Beziehung zu seiner Frau zu stabi- lisieren. Diesbezüglich planen sie die Aufnahme einer Paarberatung, um die see- lischen Verletzungen, welche Frau Speier durch die Sucht ihres Mannes erfahren hat, gemeinsam zu besprechen und um paarbezogenen Perspektiven zu entwi- ckeln. Des Weiteren wird deutlich, dass Herr Speier unbedingt trocken bleiben möchte und die beiden überlegen, was er hierfür benötigt. Unter anderem wird der Besuch einer Selbsthilfegruppe geplant. Auch eine ambulante Fortführung der in der Klinik begonnenen Therapie wird angedacht. Diese und alle weiteren besprochenen Maßnahmen (z. B. zu den Bereichen Woh- nen und Arbeit) werden von Herrn Wulff in Absprache mit seinem Patienten angestoßen. Er stellt u. a. Kontakte her und hilft Herrn Speier bei den nötigen Anträgen. Auch während der Durchführung, also nach dem Aufenthalt in der Akutklinik bleiben Herr Wulff und Herr Speier in engem Austausch. Herr Wulff begleitet den Patienten und kontrolliert die Umsetzung der Interventionen (Controlling). Nach einem halben Jahr überprüfen die beiden gemeinsam, inwieweit die Ziele erreicht wurden, und welche Maßnahmen weiterhin nötig sind, um die Ziele zu erreichen (Evaluation). 32 ZUSAMMENFASSUNG Case Management ist ein methodischer Ansatz im Rahmen der Einzel- fallhilfe, welcher sich seit den 1980er-Jahren zunehmend in Deutschland verbreitet hat. Dabei koordinieren und steuern Sozialarbeitende alle Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen, die für den jeweiligen Fall statt- finden. Sie planen die Hilfen, vernetzen Dienstleister und evaluieren die Durchführung. Der Prozess des Case Managements wird in der Regel in fünf Phasen unterteilt: Assessement, Planning, Intervention, Linking/Monitoring und Evaluation. Als Vorphase vorangestellt wird häufig noch der Outreach. Die Aufgaben der Sozialarbeitenden im Rahmen von Case Management sind vielfältig. Sie agieren z. B. als Broker:innen, also sie planen, vermit- teln, kontrollieren und evaluieren Interventionen. Oder sie handeln als Anwält:innen ihrer Klient:innen und stehen ihnen beispielsweise bei der Beantragung von Leistungen zur Seite oder bearbeiten Beschwerden. Wenngleich die möglichst effiziente und effektive Unterstützung von Hil- fesuchenden, als Ziel des Case Management, nicht generell hinterfragt wird, wird und wurde immer auch Kritik am Konzept des Case Manage- ments laut. Zum Beispiel wird kritisiert, dass Case Management, je nach Einsatzfeld, auch oft mit Kontrolle verbunden ist. Dies ist beispielsweise im Case Management von Arbeitslosen der Fall, wo auch Sanktionen ver- hängt werden. Generell steht Case Management als ein sozialtechnologi- sches Instrument der Anpassung der Sozialen Arbeit an einen neolibera- len Sozialstaat unter Verdacht, dass zu wenig die Interessen der Klient:innen in den Blick nimmt. Ein Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit, in dem Case Management häufig zum Einsatz kommt, ist die Krankenhaussozialarbeit. Hier sind die Sozialar- beitenden meist im Sozialen Dienst der Krankenhäuser tätig. Dabei begleiten und beraten sie Patient:innen aller Altersgruppen und deren Angehörige bei allen psychosozialen Angelegenheiten, die sich aus der Erkrankung ergeben – beispielsweise schulische Probleme, Anträge für finanzielle Hilfe, familiäre Konflikte etc. Das Case Mangement beginnt – je nach Organisation des Krankenhauses – bereits bei Aufnahme der Patient:innen oder im Sinne eines Überleitungsmanagements, wenn ein Ende der Behandlung absehbar ist. 33 LEKTION 3 MEDIATION LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – was die Methode der Mediation auszeichnet. – welche Rollen Mediator:innen im Mediationsprozess einnehmen können. – welche Voraussetzungen für Mediationsprozesse bestehen. – welche Vorteile die Mediation im Vergleich zu gerichtlichen Verfahren der Konfliktlö- sung hat. – welche Grenzen Mediation aufweist. – was das Arbeitsfeld der Erziehungsberatung auszeichnet. 3. MEDIATION Einführung Auch in Bezug auf die Mediation, einem Verfahren der außergerichtlichen Konfliktlösung bzw. professionellen Unterstützung von Konfliktparteien, ist definitorisch umstritten, ob es sich um eine Methode im engeren Sinne handelt oder „lediglich“ ein Verfahren (Trenc- zek, 2019, o. S.). Obgleich einige Autor:innen (u. a. Wendt, 2017; Trenczek, 2019) und auch Mediationsgesetz das Mediationsgesetz vom einem Verfahren sprechen, wird es hier als eigenständige Es ist der Artikel 1 des Methode dargestellt und somit der Struktur Michael Galuskes (2013) gefolgt. Gesetzes zur Förderung der Mediation und ande- rer Verfahren der außer- Der Ansatz, Konflikte außergerichtlich mithilfe einer neutralen, außenstehenden Person zu gerichtlichen Konfliktbei- lösen, ist nicht neu. Bereits zu Beginn des 20. Jh. wurden in Kalifornien im Umfeld von legung in Deutschland. Es trat am 26. Juli 2012 in Gerichten erste Beratungsstellen eingerichtet, welche Streitigkeiten befrieden sollten Kraft. (Galuske, 2013, S. 209). In den 1970er-Jahren waren die US-amerikanischen Gerichte auf- grund der Masse an Fällen, vor allem Trennungs- und Scheidungskonflikten, derart über- fordert, dass Mediation massiv gefördert wurde. Inzwischen sind Eltern, die sich wegen einer Scheidung oder Trennung über das Sorgerecht streiten, sogar in vielen Staaten der USA zur Mediation verpflichtet. Mediation hat sich also aus der Not der Gerichte heraus als Alternative zum klassischen gerichtlichen Verfahren entwickelt (Galuske, 2013, S. 209), ist jedoch heute aufgrund vieler Vorteile nicht mehr wegzudenken und keinesfalls mehr als Notlösung zu betrachten. Im Folgenden werden zunächst der Begriff sowie die Anwen- dungsbereiche von Mediation geklärt. Im Anschluss werden die zentralen Merkmale des Ansatzes herausgearbeitet und der Prozess vorgestellt. 3.1 Begriffsklärung und Anwendungsbereiche „Mediation, zu Deutsch Vermittlung, ist ein Verfahren der professionellen Unterstützung von Konfliktparteien und Einflussnahme auf Konfliktprozesse“ (Galuske, 2013, S. 209). Diese sehr kurze Definition von Michael Galuske weist zunächst den Kern des Ansatzes aus: Es geht um Konflikte, welche auf spezifische Weise begleitet werden. Folgende Definition von Trenczek (2019, o. S.) erweitert das Bild: Mediation (lat. Vermittlung) ist ein nicht öffentliches Verfahren konstruktiver Entscheidungsfin- dung und Konfliktregelung, bei dem die beteiligten Parteien z.B. eines Rechtsstreits mit Unter- stützung von Dritten, den MediatorInnen, einvernehmliche Lösungen suchen, die ihren Bedürf- nissen und Interessen dienen. Deutlich wird, dass die beteiligten Akteure in dem Prozess der Konfliktregelung spezifische Rollen ausfüllen. Die Konfliktparteien finden aktiv die Lösungen, während die sogenann- ten Mediator:innen den Prozess „nur“ begleiten. Hierin unterscheidet sich der Ansatz von 36 anderen Konzepten der Konfliktregelung, bei denen eine dritte Partei eingeschaltet ist. Im Kontrast zu richterlichen Entscheidungen oder zu Schlichtungsverfahren behalten die Konfliktparteien die Entscheidungsautonomie. Sie müssen eine einvernehmliche Lösung selbst erarbeiten (Galuske, 2013, S. 210), die dann in der Konsequenz ihren Bedürfnissen und Interessen entsprechen. Mediation gilt als universell einsetzbar, wenn spezifische Voraussetzungen gegeben sind. Trenczek (2019, o. S.) identifiziert die folgenden drei zentralen Einsatzbereiche, wobei der erste insbesondere die Soziale Arbeit betrifft: Privatbereich, z. B. in Trennungsprozessen von Paaren oder in anderen Familienkonf- likten; Wirtschaftsbereich, z. B. bei Konflikten zwischen Arbeitnehmer:innen und Vorgesetzen oder bei Konflikten in der Gesundheits- und Altenpflege; Öffentlicher Bereich, z. B. bei Konflikten zwischen Sozialleistungsträgern und freien Einrichtungsträgern und Leistungserbringern. 3.2 Zentrale Merkmale Gemäß Galuske (2013, S. 2010) liegen dem Ansatz drei Prämissen zugrunde: 1. Betroffene sollten ihre Konflikte idealerweise selbst lösen, da sie dann auch die Ver- antwortung für ihre Lösungen übernehmen. 2. Mediation kann allen Beteiligten das Gefühl ermöglichen, angemessen berücksichtigt und respektiert worden zu sein sowie eine zufriedenstellende Lösung erarbeitet zu haben. 3. Durch Mediation können Lösungen entstehen, welche die jeweiligen besonderen Bedürfnisse aller Beteiligten befriedigen. Ziele der Mediation sind eine selbstbestimmt erarbeitete und einvernehmliche Regelung psychosozialer und rechtlicher Probleme sowie eine diesbezügliche verbindliche und in die Zukunft weisende Vereinbarung (Galuske, 2013, S. 2011; Trenczek, 2019, o. S.). Entsprechend geht es Mediation nicht um die Lösung von Problemen der Vergangenheit, etwa um die Frage, wie es zu einer Trennung kommen konnte und wer an der Trennung schuld ist, und auch psychosoziale Beziehungsprobleme oder ähnliches stehen entspre- chend nicht im Mittelpunkt. Kennzeichnend sind also eine zukunftsorientierte Sachorien- tierung (Galuske, 201, S. 210). Thematisch ist die Mediation dennoch relativ offen, zumal es nicht, wie in Gerichtsverfah- ren, nur um rechtliche Fragen geht. Vielmehr können die Beteiligten „alle wirtschaftlichen und sozialen, persönlichen und emotionalen Aspekte eines Konflikts in die Diskussion“ (Trenczek, 2019, o. S.) einbringen. Als weitere wesentliche Merkmale von Mediation nennt Trenczek (2019, o. S.): 37 die vermittelnde Tätigkeit durch neutrale Dritte bzw. die Mediator:innen, die aktiv kommunikative Aktivität aller Beteiligten, die flexible außergerichtliche Verfahrensgestaltung, die Vertraulichkeit des Prozesses, die hohe Entscheidungsgewalt der Beteiligten Konfliktparteien, die Ergebnisoffenheit sowie die Konsensorientierung. 3.3 Rolle und Funktion der Mediator:innen „Ein Mediator ist eine unabhängige und neutrale Person ohne Entscheidungsbefugnis, die die Parteien durch die Mediation führt“ (§ 1 Abs. 2 MediationsG). Entsprechend dürfen Mediator:innen keine eigenen Interessen in den jeweiligen Fällen haben. Ebenso wenig dürfen sie zu den einzelnen Konfliktparteien gleichzeitig in einer Beratungsbeziehung ste- hen (§ 3 Abs. 2 MediationsG). Im Idealfall sind sie für ihre Tätigkeit als Mediator:innen geschult. Die Bezeichnung „Medi- ator:in“ ist jedoch rechtlich nicht geschützt, sodass dies nicht grundsätzlich sichergestellt ist. In Deutschland existiert lediglich die Zertifizierung als „zertifizierteR MediatorIn“, wel- che jedoch nur einen relativ geringen Umfang an Ausbildung voraussetzt (Trenczek, 2019, o. S.). Demgegenüber gibt es in Österreich die deutlich umfänglichere Ausbildung zur:zum „eingetragenen MediatorIn“ (Trenczek, 2019, o. S.). Aufgabe der Mediator:innen ist es, die Beteiligten zu einer eigenständigen Entscheidungs- findung zu befähigen, indem sie u. a. organisieren, strukturieren, kommunizieren, infor- mieren oder Vorschläge einbringen (Galuske, 2013, S. 214). Sie treffen jedoch keine eige- nen inhaltlichen Entscheidungen, sondern gewährleisten die Entscheidungsfindung durch die Konfliktparteien, indem sie kommunikationsfördernde Rahmenbedingungen schaffen, z. B. durch die Einführung und Durchsetzung von Kommunikationsregeln (Galuske, 2013, S. 214). Entsprechend agieren Mediator:innen weder als Schlichter:innen noch als Richter:innen (Tenczek, 2019, o. S.): Sie schlagen keine Kompromisse vor oder entscheiden für oder gegen die eine oder andere Seite des Konfliktes. Galuske differenziert die folgenden Aufgaben bzw. Rollen von Mediator:innen (Galuske, 2013, S. 212): 38 1. In ihrer Funktion als Katalysator:innen (generalized other) sorgen sie dafür, dass der Konfliktlösungsprozess voranschreitet, indem sie als neutrale Person beispielsweise die Kommunikation regeln und sicherstellen, dass vergangenheitsbezogene Bezie- hungsdynamiken den Prozess nicht stören. 2. In ihrer Funktion als aktive Verhandlungsführer:innen (chairman) regeln sie den Ablauf der Verhandlungen, etwa indem sie die jeweiligen Phasen einleiten und erklä- ren, jedoch ohne die Inhalte zu bestimmen. 3. In ihrer Funktion als Informant:innen (enunciator) stellen sie wichtige Informationen zur Verfügung, welche die Konfliktparteien für ihre Lösungssuche benötigen. 4. In ihrer Funktion als Übersetzer:innen (prompter) reformulieren oder erklären sie Aus- sagen und Standpunkte einzelner Beteiligter, z. B. um problematische Beziehungsbot- schaften herauszufiltern und die Sachorientierung wieder herzustellen. 5. In ihrer Funktion als wertende Teilnehmer:innen (evaluator) können sie jedoch auch Wertungen vornehmen, z. B. um nicht realitätsgerechte Positionen zu problematisie- ren (agent of reality). 3.4 Voraussetzungen und Prozess der Mediation Eine grundsätzliche Voraussetzung eines Mediationsverfahrens liegt in der Bereitschaft aller Konfliktparteien, sich auf einen Mediationsprozess einzulassen. Damit verbunden muss der Wille bzw. zumindest die Bereitschaft vorliegen, eine einvernehmliche Lösung des Konfliktes zu erarbeiten (Trenczek, 2019, o. S.). Liegt diese Bereitschaft vor, so kann auch in stark eskalierten Konflikten eine Lösung mittels einer Mediation erreicht werden (Trenczek, 2019, o. S.). Diese Voraussetzung ist zugleich eine der Richtlinien der Bundesar- beitsgemeinschaft für Familienmediation, die insgesamt fünf Richtlinien für die Durchfüh- rung von Mediationsprozessen ausweist (Galuske, 2013, S. 211): die Freiwilligkeit der Teilnahme, die Neutralität der Mediator:innen, die Eigenverantwortlichkeit der Konfliktparteien, die Verantwortung der Mediator:innen für die ausreichende Information aller Beteilig- ten sowie die Vertraulichkeit des Prozesses. Mediation ist ein Handlungsansatz, der einer klaren Struktur in mehreren Phasen folgt. Diesbezüglich liegen allerdings unterschiedliche Phasenmodelle vor – die sich durch die unterschiedlichen Anwendungskontexte erklären lassen, an welche das Verfahren ange- passt wird. Zum Beispiel unterscheiden sich Mediationsverfahren in der Wirtschaft von Mediationsverfahren im Täter-Opfer-Ausgleich (Trenczek, 2019, o. S.). Die wesentlichen Phasen lassen sich wie folgt zusammenfassen (Trenczek, 2019, o. S.; Galuske, 2013, S. 213–214): 39 1. Die erste Phase, welche u. a. Vorbereitungsphase genannt wird, und auf die Fallzuwei- sung bzw. die Kontaktaufnahme folgt, hat verschiedenen Funktionen: Zum ersten werden die Konfliktparteien über den Ablauf und die Regeln des Mediationsverfah- rens, wie. Kommunikationsregeln, informiert. Zum Zweiten wird in der Phase Ver- trauen zwischen den Konfliktparteien und den Mediator:innen aufgebaut. Zum Dritten wird auf Basis einer kurzen Schilderung des Konfliktthemas aller Beteiligten das wei- tere Vorgehen geplant. Ziel ist es, dass alle Beteiligten eine klare Vorstellung vom Mediationsverfahren haben und entscheiden können, ob für sie der Mediationspro- zess Sinn macht und ob sie daran teilnehmen wollen. 2. In der Phase der Konflikterhellung (auch Exploration) werden die Streitfragen ausführ- lich erläutert. Die faktischen Grundlagen werden geklärt und die im Hinblick auf die Zukunft anstehenden, zu klärenden Fragen werden formuliert. Diese Phase ist been- det, wenn die Mediator:innen wissen, was den Konflikt auszeichnet und welche Lösungen zu finden sind. Im Idealfall dieser Phase gelingt es, die Konfliktparteien anzuregen, die Sichtweise der jeweils anderen Partei nachzuvollziehen und anzuer- kennen. 3. In der Verhandlungsphase werden unterschiedliche Lösungsoptionen erarbeitet. Diese Phase endet, wenn alle möglichen Alternativen vorliegen. 4. In der Phase der Entscheidungsfindung treffen die Konfliktparteien ein konsensuales Übereinkommen im Hinblick auf die formulierten Konfliktthemen, indem sie eine oder mehrere der erarbeiteten Optionen auswählen. 5. Zum Abschluss wird das Ergebnis in einer schriftlichen Vereinbarung festgehalten. 6. In einem später folgenden Bilanzgespräch kann zur Sicherheit überprüft werden, ob die Konfliktparteien mit den erarbeiteten Lösungen wirklich zufrieden sind oder ob noch Anpassungen vorgenommen werden müssen. 3.5 Vorteile und Grenzen von Mediation Trenczek (2019, o. S.) nennt die folgenden Vorteile von Mediationsverfahren: Selbstbestimmung der beteiligten Akteure, u. a. im Hinblick auf den Ablauf des Verfah- rens, wenig Bürokratie, Flexibilität, umfangreiche Würdigung der Interessen und Ziele der Konfliktparteien, Zukunftsorientierung, Win-win-Ergebnisse, Verbesserung der Beziehungen zwischen den Konfliktparteien, Vertraulichkeit, Zeitersparnis, etwa im Vergleich zu Gerichtsprozessen, geringere (Rechtsverfolgungs-)Kosten, nachhaltige Zufriedenheit sowie hohe Erfolgschancen. Diese werden auch in der folgenden Grafik nochmal im Kontrast zu Gerichtsprozessen ver- deutlicht: 40 Abbildung 2: Mediation Quelle: Rochow, n. d. Es lassen sich jedoch auch Grenzen der Mediation feststellen: 1. Es kann keine Mediation durchgeführt werden, wenn der „Konfliktgegenstand gesetz- lich der Disposition der Parteien entzogen ist“ (Trenczek, 2019, o. S.), also z. B., wenn in einem „Erbschaftsstreit“ die Erben die Erbschaftsmasse unter sich aufteilen wollen, aber das Erbe per Vermächtnis an andere Stelle übertragen wurde. 2. Es kann keine Mediation durchgeführt werden, wenn eine oder beide Parteien ein Interesse an der Herstellung von Öffentlichkeit oder an der Herbeiführung einer rich- terlichen Grundsatzentscheidung haben (Trenczek, 2019, o. S.). 3. Eine Mediation ist ausgeschlossen, wenn eine Konfliktpartei ihre Interessen nicht oder nicht ausreichend vertreten kann, etwa aus gesundheitlichen Gründen (Trenczek, 2019, o. S.). 4. Ein Mediationsverfahren stellt hohe Anforderungen an die beteiligten Konfliktparteien (Galuske, 2013, S. 215): Sie müssen anerkennen, dass divergierende Interessen vorlie- gen. Sie müssen miteinander reden können und sie müssen Lösungen formulieren und Kompromissen treffen können. Insgesamt ist Mediation also ein „voraussetzungs- volles Instrument …, das von den Beteiligten ein hohes Maß an Motivation, Einsichts- fähigkeit, Kooperationsbereitschaft, Fähigkeit zur Vertretung eigener Interessen und (verbaler) Kommunikationsfähigkeit verlangt“ (Galuske, 2013, S. 215). Insofern ist im Hinblick auf die Soziale Arbeit davon auszugehen, dass die Methode Mediation nicht für alle Klient:innen geeignet ist. 41 3.6 Anwendungsbeispiel: Arbeitsfeld Erziehungsberatung Ein Arbeitsfeld, in dem Mediation zur Anwendung kommen kann, ist die Erziehungsbera- Erziehungsberatung tung. Dieses existiert in Deutschland bereits seit mehr als 100 Jahren. So wurde 1906 in Sie ist ein im SGB VIII situ- Berlin die erste Erziehungsberatungsstelle gegründet (Menne, 2017, S. 130). Gleichzeitig ist iertes Angebot der Kin- der- und Jugendhilfe, das Erziehungsberatung hochaktuell: Als häufigste Angebotsform der heutigen Kinder- und sich an Kinder, Jugendli- Jugendhilfe profitiert jedes dritte Kind von Erziehungsberatung (Menne, 2017, S. 151). che, ihre Eltern sowie andere Erziehungsbe- rechtigte wendet und sie Aufgabe der heutigen Erziehungsberatung nach § 8 des SGB VIII ist es, „Kinder, Jugendli- bei der Lösung von indivi- che, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Klärung und Bewältigung individu- duellen oder familiären eller und familienbezogener Probleme der zugrunde liegenden Faktoren, bei der Lösung Problemen unterstützen soll. von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung [zu] unterstützen“. Gerth et al. (1999) präzisierten im Auftrag der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung die folgenden Qualitätsmerkmale für Erziehungsberatung: Niedrigschwelligkeit, Freiwillig- keit, Gebührenfreiheit, Vertrauensschutz, fachliche Unabhängigkeit sowie Multidisziplina- rität des Teams (Menne, 2017, S. 131–132). Häufige Anlässe von Erziehungsberatung sind: emotionale Probleme der Kinder/Jugendlichen, körperliche Auffälligkeiten, Entwicklungsverzögerungen, Auffälligkeiten im Sozialverhalten, Sprachschwierigkeiten, Probleme mit Leistungsanforderungen, Trennung und Scheidung der Eltern, schwierige Familiensituationen, z. B. Konflikte zwischen den Eltern (Menne, 2017, S. 132–133). FALLBEISPIEL Das Paar Burkhardt besucht eine Erziehungsberatungsstelle, weil der 5-jährige Sohn Julian seit über einem Jahr verstärkt aggressives Verhalten gegenüber sei- nen Geschwistern und seinen Eltern zeigt und alle Erziehungsversuche bislang gescheitert sind. Im Rahmen der Erziehungsberatung wird deutlich, dass das Paar gleichzeitig massive Kämpfe um die richtige Erziehung ausficht. Als Folge ihrer sehr unterschiedlichen Sichtweisen auf Erziehung ziehen sie Julian und seine Geschwister nicht nur unterschiedlich auf, sondern machen die Erzie- hungsweisen des jeweils anderen subtil schlecht und versuchen, den Jungen als auch seine Geschwister auf ihre Seite zu ziehen. Es wird deutlich, dass ein mögli- cher Auslöser für Julians Verhalten der Konflikt der Eltern sein könnte. In dieser Situation schlägt die Erziehungsberaterin ein Mediationsverfahren vor, um kon- struktive Lösungen im Hinblick auf die Erziehungsfrage zu entwickeln. Obwohl das Mediationsverfahren nicht einfach wird, erarbeitet sich das Paar ein für 42 beide stimmiges Grundgerüst der Erziehung, welches in der