Studienskript- SOZIALRECHT gekürzt PDF

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This document, titled Studienbrief - SOZIALRECHT gekürzt, is a study guide on social law. It details the definition of social law, constitutional principles as they apply to social law, and the five pillars of social security.

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LEKTION 1 DEFINITION VON SOZIALRECHT LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie … – sich mit den rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen auseinandergesetzt haben, die das Sozialrecht prägen. – Staatsstrukturprinzipien und Staatsziele erklären können. – Förderung, Fürsorg...

LEKTION 1 DEFINITION VON SOZIALRECHT LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie … – sich mit den rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen auseinandergesetzt haben, die das Sozialrecht prägen. – Staatsstrukturprinzipien und Staatsziele erklären können. – Förderung, Fürsorge, Vorsorge und Versorgung beschreiben können. – die fünf Säulen der Sozialversicherung sowie deren Grundprinzipien benennen kön- nen. – wissen, warum Sie selbst dann noch Arbeitslosengeld bekämen, wenn der Staat pleite wäre. – sowohl den formellen als auch den materiellen Sozialrechtsbegriff erläutern können. – sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob wir Sozialrecht überhaupt brauchen. 1. DEFINITION VON SOZIALRECHT Einführung Familie Schneider aus dem rheinland-pfälzischen Höhfröschen in der Verbandsgemeinde Thaleischweiler-Wallhalben durchlebt schwere Zeiten: Nach dem Tod von Vater Johannes im Alter von nur 48 Jahren Anfang 2016 infolge eines von Kollegen verschuldeten Arbeits- unfalls, erkrankte Tochter Jasmin (16) schwer an Bulimie und bedarf seither medizinischer Behandlung sowie Wiedereingliederung ins Schulleben. Mutter Andrea (43), die infolge der Pflege von Mann und Tochter sowie Betreuung der Zwillinge Max und Lennart (damals zwei Monate) nach vier Jahren ihren Arbeitsplatz als Bauzeichnerin verlor, war plötzlich auf staatliche Unterstützung angewiesen, auch um das noch nicht abgezahlte Einfamilien- haus nicht zu verlieren. Seit Juli 2016 übt sie, am Rande ihrer Kräfte, einen Minijob aus, fährt Arzneimittel für eine Apotheke aus und erwägt eine Umschulung zur Altenpflegerin. Inzwischen ist Paul Epp, Andreas ebenfalls verwitweter Vater, bei seiner Tochter eingezo- gen und unterstützt sie, so gut er kann, bei der Versorgung der Kinder. Infolge Multipler Sklerose ist der Rentner (78) allerdings zunehmend selbst auf Pflegeleistungen der Tochter angewiesen, die für die Grundpflege einen mobilen Pflegedienst hinzugezogen hat, wäh- rend sie vorwiegend die Behandlungspflege übernimmt. Ein Extremfall? Sicher nicht. Vielleicht kein Durchschnittsfall, aber sicher auch kein Ext- remfall. Als angehende Sozialarbeiter bzw. in der Sozialen Arbeit Tätige werden Sie häufi- ger mit Schicksalen wie dem der Familie Schneider konfrontiert werden. So sehr Sie dann auch den Wunsch hegen, unterstützend tätig zu werden, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und der Familie das Leben zu erleichtern, setzt dies jedoch ein solides sozialrechtliches Grundwissen voraus, vor allem Kenntnis der Rahmenbedingungen und Spannungsfelder, innerhalb derer Sie künftig agieren. „Von der Wiege bis zur Bahre: Formulare, Formulare!“, lautet ein Aphorismus. Und Recht hat er: Allein der obige Sachverhalt birgt mindestens 30 verschiedene Probleme nur aus dem Bereich des Sozialrechts, von anderen einmal ganz abgesehen. Und nahezu alle denkbaren Leistungen wollen zuvor beantragt werden. Teilweise stehen sie einander im Wege, teilweise ergänzen sie sich. Sie begleiten nun Familie Schneider auf dem Weg durch den Paragrafendschungel des Sozialrechts. 1.1 Staatsstrukturprinzipien Wer wie Familie Schneider vom Schicksal getroffen wurde, steht in Deutschland nicht alleine da. Neben vielfach vorhandener familiärer Unterstützung und Hilfe aus dem Freun- des- oder Bekanntenkreis können Menschen in Deutschland das beruhigende Gefühl haben, nicht durch das soziale Netz zu fallen. Natürlich sind Schicksalsschläge wie die von Familie Schneider auch hierzulande nicht nur mit emotionalen, sondern auch finanziellen 12 Problemen verbunden. Gleichwohl ist es ein erheblicher Unterschied, ob sie Menschen in Deutschland oder in Ländern der Dritten Welt, aber auch Staaten wie den USA widerfah- ren. Doch was ist hier anders als anderswo? Warum sind wir so gut abgesichert? Um das zu verstehen, muss man sich mit der deutschen Verfassung, also dem Grundge- setz, und hier vor allem mit Art. 20 GG auseinandersetzen, der besagt: 1. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. 2. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmun- gen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. 3. Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. 4. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Faktisch finden sich in den ersten drei Absätzen die vier grundlegenden Staatsstruktur- prinzipien Deutschlands, quasi die „Verfassung in Kurzform“, so die Bundeszentrale für politische Bildung (2009a): Demokratie-, Bundesstaats-, Rechtsstaats- und Sozialstaats- prinzip. Abbildung 1: Strukturprinzipien des Grundgesetzes Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung 2009a. 13 Das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) Niedergelegt in Art. 20 Abs. 1 und vor allem Abs. 2 GG besagt das Demokratieprinzip, dass alle Staatsgewalt (= Souveränität) vom Volk ausgeht, die sogenannte Volkssouveränität: Das Volk, also die wahlberechtigten Bürger, bestimmt durch allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen (vgl. hierzu Deutscher Bundestag 2017) seine Volksver- treter (die Abgeordneten), die das Parlament und damit den Gesetzgeber (Legislative) bil- den. Die Legislative besteht in Deutschland als föderalem Bundesstaat aus Bundestag und Bundesrat. Die Parlamentsmehrheit im Bundestag, also eine Partei, eine Fraktion oder ein Zusammenschluss von Parteien oder Fraktionen, der als prozentuale Mehrheit der Abge- ordneten die Regierung bilden kann (Regierungskoalition), wählt einen Abgeordneten als Regierungschef (Bundeskanzler). Der Bundeskanzler wiederum schlägt nach Art. 64 GG die Minister vor, die Mitglieder des Bundestags sein können, aber nicht müssen und dann vom Bundespräsidenten ernannt werden. Mit seinen Ministern bildet der Bundeskanzler die Bundesregierung (auch Bundeskabinett genannt), die gemeinsam mit den Verwaltungsbe- hörden auf Bundes- und Landesebene die ausführende Gewalt (Exekutive) bildet. Indirekt wurde damit auch die Bundesregierung vom Volk gewählt. Bestehend aus Mitgliedern der 16 Landesregierungen, die je nach Einwohnerstärke des Bundeslands drei bis sechs Vertreter entsenden (vgl. Art. 51 Abs. 2 GG), wird der Bundesrat (die Ländervertretung auf Bundesebene) als Teil der Legislative gebildet. Durch den Bun- desrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bunds und in Angele- genheiten der Europäischen Union mit (vgl. Art. 50 GG). Der Bundesrat hat neben der Bun- desregierung und dem Bundestag das Recht der Gesetzesinitiative und ist im Wege von Zustimmungsgesetze Einspruchsgesetzen (sie sind der Regelfall) und Zustimmungsgesetzen (solchen, die Dies sind nur solche Länderangelegenheiten betreffen oder von erheblicher Bedeutung sind) an der Gesetzge- Gesetze, die der expliziten Zustimmung des Bundes- bung des Bunds beteiligt. Da eine Länderregierung analog der Bundesregierung gebildet rats bedürfen. Ihre Gegen- wird, ist auch der Bundesrat vom Volk gewählt. stände sind im Grundge- setz explizit genannt. Alle anderen Gesetze sind Ein- Bundestag und Bundesrat wählen ihrerseits jeweils hälftig für zwölf Jahre die Mitglieder spruchsgesetze. des Bundesverfassungsgerichts als Teil der Judikative (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG). Diese Teilnahme der Bürger am politischen Willensbildungsprozess trägt dazu bei, dass insbesondere auch Rechte von Menschen wie Familie Schneider verwirklicht werden kön- nen und nicht nur Rechte von Menschen, die Geld und Macht haben (auch wenn deren Einfluss deutlich höher sein kann). 14 Abbildung 2: Wahlprinzipien als Ausfluss des Demokratieprinzips Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2018. Das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat, d. h. ein aus mehreren Teilstaaten (Bundesländern) bestehender Föderalstaat. Um keinen Einheits- oder Zentralstaat zu bil- Zentralstaat den (wie z. B. Frankreich), d. h. die Staatsmacht nicht mehr so stark zu zentralisieren, wie Anders als im föderalisti- schen Deutschland wird dies sowohl im Nationalsozialismus als auch in der DDR der Fall war, haben heute auch die in Zentralstaaten (z. B. Bundesländer Staatsqualität und nehmen zusammen mit dem Bund Hoheitsrechte wahr. Frankreich) das gesamte Beide Ebenen sind Träger der Staatsgewalt (Föderalismus). Der Bundesstaat ist zudem Land von einem Ort aus regiert. Nachteilig sind abzugrenzen von einem Staatenbund, der eine bloße völkerrechtsvertragliche Verbindung insbesondere lange Ver- im Übrigen gänzlich souveräner Staaten ist (z. B. die Beneluxländer, nicht aber die Europä- waltungswege und ein hohes Potenzial für ische Union, die aufgrund ihrer Besonderheiten als Bündnis sui generis eingestuft wird). Machtmissbrauch. Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) Ein Rechtsstaat, wie die Bundesrepublik Deutschland, zeichnet sich dadurch aus, dass die Ausübung der Staatsgewalt nur im Rahmen des geltenden Rechts und insbesondere nicht willkürlich erfolgt. Hoheitliches Handeln setzt daher voraus, dass es formell und materiell rechtmäßig ist. 15 Materiell rechtmäßig ist hoheitliches Handeln – einfach ausgedrückt – dann, wenn es den maßgeblichen rechtlichen Vorgaben entspricht, inhaltlich fair und verhältnismäßig ist, angemessen ist sowie Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird. Es darf nicht gegen höherrangiges Recht wie z. B. die Grundrechte oder sonstiges Verfassungs- recht verstoßen. Der Bürger muss erkennen können, was zu tun ist oder welche Rechtsfol- gen sein Verhalten haben wird (Bestimmtheitsgrundsatz). Einzelfallgesetze, also solche, die nur im Hinblick auf einzelne Adressaten geschaffen werden, sind verboten (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG). Außerdem ist die zeitliche Rückwirkung von Gesetzen nur in Ausnahmefällen zulässig (z. B. wenn die neue Rechtslage für die Bürger günstiger ist als die alte oder wenn die bisherige Rechtslage unklar war). Elterngeld So erscheint es gewissermaßen gerecht, wenn Eltern wie die Schneiders z. B. Elterngeld Dies ist (ebenso wie und Kindergeld erhalten, denn mit der Geburt von Kindern erfüllen sie sich nicht nur den ElterngeldPlus und Elternzeit) eine Sozialleis- Traum von der eigenen Familie, sondern sorgen auch dafür, dass es künftig neue Steuer- tung nach dem BEEG zahler, Beitragszahler in der Sozialversicherung und Fachkräfte in allen Bereichen gibt. (Bundeselterngeld- und Selbst (auch ungewollt) Kinderlose werden dadurch nicht diskriminiert: Sie profitieren im Elternzeitgesetz) und wird bis zur Dauer von 14 Rentenalter ebenfalls davon, dass genügend junge Beitragszahler vorhanden sind, die ihre Monaten ab Geburt des Rente mitfinanzieren (Stichwort: Generationenvertrag). Außerdem haben sie oft finanzi- Kindes gezahlt. ell attraktivere (d. h. die Renten erhöhende) Karrierechancen, die Eltern, die ihre Karriere Generationenvertrag Dies ist ein ungeschriebe- zumindest zeitweise zugunsten der Familie zurückstellen, vielfach dauerhaft verschlossen ner Vertrag, nach dem die bleiben. So finanzieren im Einzelfall faktisch geringer verdienende Eltern noch die Renten jeweils berufstätige Gene- von besserverdienenden Kinderlosen mit, deren Einkommen und damit einkommensab- ration die Rente der Rent- ner zahlt und damit ihrer- hängige Rentenanwartschaften sie selbst nie erreichen werden. Es erscheint also fair, seits eine Anwartschaft wenn Eltern umgekehrt Leistungen beziehen, die Kinderlosen, die ihr Einkommen auch auf Rentenzahlung im nicht teilen müssen, verwehrt sind. Weder verstößt das gegen den Gleichheitsgrundsatz Alter erwirbt. (Art. 3 Abs. 1 GG) noch gegen höheres Recht. Auch ist für jeden Bürger im Vorfeld klar ersichtlich, welche steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen Kin- derlosigkeit bzw. Familiengründung haben. Fehlende Informationen kann er bei einer Viel- zahl von Sozialleistungsträgern einholen. Es werden konsequent alle, nicht nur einzelne Kinderlose berechtigtermaßen von kinderbezogenen Sozialleistungen abgeschnitten, insofern liegt kein Einzelfallgesetz vor. Würde das Kindergeld rückwirkend erhöht, käme das Frau Schneider und anderen Kindergeldbeziehern zugute und wäre damit zulässig, unzulässig wäre es hingegen, das Kindergeld rückwirkend zu kürzen. Formell rechtmäßig ist hoheitliches Handeln, wenn es auf die richtige Art und Weise durch den zuständigen Hoheitsträger und dessen Organe, also den Form-, Verfahrens- und Zuständigkeitsvorschriften entsprechend, zustande kommt. Formelle (Bundes-)Gesetze (sogenannte Parlamentsgesetze) werden unter Beteiligung des Bundestags in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen. Man bezeichnet sie daher auch als förmli- che Gesetze oder Gesetze im formellen Sinn. Auch Rechtsverordnungen sind Gesetze, jedoch aufgrund des vereinfachten Verfahrens ohne Beteiligung des Bundestags nur Gesetze im materiellen Sinne. Parlamentsgesetze müssen alles Wesentliche auch selbst regeln (sogenannte Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts), dürfen aber – nur bei explizit ausgesprochener Verordnungsermächtigungsregelung im jeweiligen Gesetz – nähere, d. h. konkretisierende und detailliertere Regelungen der Exekutive (Bun- desregierung) überlassen, die ihrerseits dann auf der Basis dieses Parlamentsgesetzes Rechtsverordnungen erlassen darf (vgl. Art. 80 GG). 16 Wenn Jasmin Schneider beispielsweise nach bestandenem Abitur studieren möchte und die Finanzen der Familie das nicht gestatten, kommt unter den Voraussetzungen des Berufsausbildungsförderungsgesetzes (BAföG, Näheres bei Bundesministerium für Bil- dung und Forschung 2020) die Zahlung von Ausbildungsförderung in Betracht. Alle wesentlichen Voraussetzungen für den Bezug von BAföG sind in diesem Gesetz selbst gere- gelt: welche Ausbildungen förderungsfähig sind, welche persönlichen Voraussetzungen (Staatsangehörigkeit, Eignung, Alter) Studierende wie Jasmin erfüllen müssen, um in den Genuss von BAföG zu gelangen, in welchem Umfang die Ausbildungsförderung erbracht wird etc. Wenn Jasmin aber im Rahmen ihres Studiums ein Auslandssemester absolvieren will oder muss, dann ist – soweit die Lebens- und Ausbildungsverhältnisse im Ausbil- dungsland dies erfordern – ein Zu- oder Abschlag vom BAföG vorzunehmen, d. h., es wird berücksichtigt, ob Leben und Studium im Ausbildungsland teurer oder preiswerter als in Deutschland sind. Diese Regelung ist aber sehr speziell und ausbildungslandabhängig, gehört also nicht zu den wichtigen allgemeinen Inhalten des BAföG. Daher hat der Gesetz- geber in § 13 Abs. 4 BAföG die Bundesregierung ermächtigt, die Höhe des Zu- oder Abschlags selbst durch Rechtsverordnung ohne Notwendigkeit der Zustimmung des Bun- desrats zu bestimmen. (Rechts-)Verordnungen sind, soweit sie einen rechtmäßigen Inhalt haben und nicht gegen das zugrunde liegende Parlamentsgesetz verstoßen, also keine Gesetze im formel- len Sinn (da nicht in einem formellen Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung des Bun- destags erlassen), aber sie sind gleichwohl formell rechtmäßig hoheitliches Handeln, denn sie wahren die Form, die Verfassungsgeber und Gesetzgeber für sie vorgesehen haben. Formell-rechtlich spielt im Rechtsstaatsprinzip insbesondere der Grundsatz der Gewalten- teilung (Legislative – Exekutive – Judikative) eine große Rolle, wobei die Verfassungsor- gane nicht bezugslos nebeneinanderstehen, sondern sich wechselseitig kontrollieren, ergänzen und so miteinander verschränkt sind, dass man auch von Gewaltenverschrän- kung spricht (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2009b). Alle staatliche Gewalt ist an Recht und Gesetz und damit an die Verfassung gebunden. Während die Legislative selbst die Gesetze erlässt und daher ihrerseits an die Verfassung gebunden ist (also an das Grundgesetz), sind Exekutive und Judikative an Gesetz (und damit auch an das GG) sowie geltendes Recht gebunden, wobei die Judikative dieses Recht fortentwickelt (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) Die Ursprünge des Sozialstaatsprinzips gehen auf die Sozialgesetzgebung des deutschen Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck (1815–1898) zurück. Dieser sorgte sich um das Weiterbestehen der Monarchie: Infolge der zunehmenden Industrialisierung war es (nicht nur in Deutschland) zu einer Landflucht gekommen, Menschen zogen in Scharen in die Städte, wo sie auf Arbeit hofften. Als Konsequenz des sich hieraus entwickelnden Überan- gebots an Arbeitskräften kam es jedoch nicht nur zu erheblicher Lohnsenkung bis ans Exis- tenzminimum (heute würde man es als Lohndumping bezeichnen), sondern auch zu Tage- löhnerarbeit und Massenarbeitslosigkeit. Das wiederum führte zu zunehmender sozialer Not und einer Massenverelendung der Bevölkerung (sogenannter Pauperismus). Während 17 also auf der einen Seite Großgrundbesitzer, Adelige und Großbürgertum, insbesondere solche, die zugleich Unternehmer waren, in Wohlstand lebten, klaffte auf der anderen Proletarisierung Seite die Schere zur proletarisierten Arbeiterschaft immer weiter auseinander. Konnten Dies bedeutet, Menschen Unternehmer durch den Einsatz der neu entwickelten Maschinen ihre Produktionskosten in die Schicht der lohnab- hängigen, land- und erheblich senken, die Personalkosten teilweise sogar gegen Null, waren insbesondere besitzstandslosen, nicht Handwerker und Bauern, die jahrhundertelang die Arbeitslandschaft geprägt hatten, Ver- aber versklavten Arbeiter- lierer der Industrialisierung: Ihre Tätigkeiten wurden zunehmend durch Maschinen ersetzt. klasse zu drängen. Hinzu kam ein Wandel in der Gesellschaftsstruktur: Traditionelle Netzwerke, geprägt durch Großfamilien und Abhängigkeit vom Grundherren, zerfielen, parallel dazu wuchs die Bevölkerungszahl durch Verbesserungen in Medizin und Hygiene, aber auch dadurch, dass die Zahl an verheerenden Seuchen und Kriegen im 19. Jahrhundert sank. Insbesondere die Arbeiterschaft setzte sich daher immer mehr mit den sozialen Missstän- den, schlechten Arbeitsbedingungen und den Gründen ihrer Armut, der sogenannten sozi- alen Frage auseinander. Der als radikal und ungerecht empfundene soziale Wandel führte hierbei zu verschiedenen Lösungsansätzen: Es bildeten sich Arbeiterbewegungen, Gewerkschaften Gewerkschaften, neue politische Parteien und vor allem auch eine Vielzahl privater Kran- Vereinigung von i. d. R. kenkassen. abhängig Beschäftigten zur gemeinsamen Interes- senvertretung. All diese Bewegungen bedrohten durch ihr Hinterfragen sozialer Missstände die Monar- chie, was Bismarck veranlasste, den Versuch zu unternehmen, diese „sozialistischen“ Bestrebungen und damit auch die Bedeutung der Gewerkschaften und Parteien der Arbei- terklasse zurückzudrängen. Mit dem Erlass des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ 1878, zielte er – mittelfristig vergeblich – darauf ab, Obrigkeitsstaat die unzufriedene Arbeiterschaft wieder mehr an das Kaiserreich und den Obrigkeitsstaat Dies ist ein autoritärer (vgl. dazu Kruse 2012) zu binden und sie von der Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Staat ohne Demokratie, in dem die drei Säulen des sozialdemokratischen Parteien abzuhalten. Hierzu sah er sich allerdings gezwungen, der Staats in der Hand des immer größer werdenden Anzahl von besitzlosen Menschen ohne irgendeine Form der deutschen Kaisers und Alters-, Krankheits- und Invaliditätsabsicherung eine Alternative zu bieten. Dies war der des Reichskanzlers lagen: Heer, Bürokratie und Dip- Beginn des Sozialstaats im heutigen Sinne. lomatie. So wurde zunächst das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“, der Vor- läufer des heutigen „SGB V Gesetzliche Krankenversicherung“ und damit eine der ersten umfassenden Sozialversicherungen geschaffen. Statt vieler privater Krankenkassen in Deutschland (1885: 18.971 Krankenkassen, vgl. Gerlinger/Burkhardt 2012, S. 1) sollte es nur noch eine gesetzliche Krankenversicherung geben. 1883 in Kraft getreten, wurden Arbeiter und Angestellte mit einem (schon damals sehr geringen) Einkommen von unter 2.000 Reichsmark jährlich versicherungspflichtig. Sie zahlten zwei Drittel der zu entrichtenden Beiträge, der Arbeitgeber ein Drittel (für Details zur historischen Krankenversicherung vgl. Boldorf 2016a). Insoweit entspricht das Gesetz – abgesehen vom über lange Zeit hälftig zu entrichtenden Beitrag (seit 2005 zahlen Arbeit- nehmer jedoch etwas mehr als Arbeitgeber, seit 2013 tragen Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung zudem noch einen allein zu entrichteten Zusatzbeitrag) – dem SGB V: Pflichtversicherung bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze und Aufteilung der Ver- 18 sicherungsbeiträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Außerdem waren die Kran- kenkassen damals wie heute von Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch selbstver- waltet. Es folgte 1884 die gesetzliche Unfallversicherung, die von Anfang an – da ausschließlich arbeitgeberfinanziert – auch von Arbeitgebern dominiert wurde. Gleichwohl führte sie zu einer erheblichen Verbesserung der Absicherung der Arbeiter, die bis dato nur dann Scha- densersatzansprüche gegen den Arbeitgeber hatten, wenn der Unternehmer den Schadensersatz Arbeitsunfall (nachweislich) verursacht hatte, sodass sie leer ausgegangen waren, wenn Die Unfallversicherung entspannt auch heute der Unfall durch höhere Gewalt oder Unachtsamkeit von Kollegen verursacht wurde (vgl. noch das Verhältnis zwi- Boldorf 2016b). schen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, da der berufserkrankte oder unfallverletzte Arbeitneh- mer auf Schadensersatz nicht gegen den eigenen BEISPIEL Arbeitgeber, sondern Vor 1884 hätten weder der an den Unfallfolgen verstorbene Johannes Schneider gegen die Unfallkasse kla- noch seine Familie Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung erhalten, gen muss. da der tödliche Unfall nicht vom Arbeitgeber selbst, sondern von Arbeitskolle- gen verursacht wurde. Insoweit wurde durch die gesetzliche Unfallversicherung vielen Familien finanzielle Entlastung gewährt, die insbesondere dann beson- ders notwendig ist, wenn der Hauptverdiener der Familie bedingt durch einen Arbeitsunfall (oder eine Berufskrankheit) ausfällt (vgl. speziell zu Versicherungs- fällen Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung 2018). 1889 wurde das „Gesetz betreffend die Invalidität und Alterssicherung der Arbeiter“ verab- schiedet (vgl. näher dazu Bäcker/Kistler 2020b): Bei dieser von Arbeitgebern und Arbeitern hälftig finanzierten Versicherung (mit Bezuschussung aus dem Reichshaushalt) wurden wiederum nicht alle Versicherten einbezogen, weder Heimarbeitskräfte noch (überwie- gend weibliche, mithelfende) Familienangehörige, sondern auch nur Arbeiter und Ange- stellte mit Jahreseinkommen unter 2.000 Reichsmark. Weder kannte das Gesetz Witwen- rente noch Versicherung der Angestellten – diese wurden erst 1913 einbezogen (vgl. Bäcker/Kistler 2020a; Bäcker/Kistler 2020b). Traditionell wurde arbeits- und sozialversi- cherungsrechtlich zwischen körperlich arbeitenden Arbeitern und kaufmännisch oder dienstleisterisch tätigen Angestellten unterschieden, was erst 2005 völlig aufgehoben wurde. Ein noch bestehender Ausfluss dieser Trennung ist die Unterteilung der Rentenver- sicherungsträger: Bund (ehemals) für Angestellte, Länder (ehemals) für Arbeiter (vgl. Meine 2005). Es war jedoch von Anfang an das Prinzip „Reha vor Rente“ bekannt (vgl. Bäcker/Kistler 2020a; Bäcker/Kistler 2020b). Für diese Sozialleistungen des Staats erwartete Bismarck im Gegenzug allerdings das Bekenntnis zum Obrigkeitsstaat („mit Zuckerbrot und Peitsche“). Doch seine Rechnung ging nicht auf: Insbesondere das „Gesetz betreffend die Invalidität und Alterssicherung der Arbeiter“ schuf mehr Unmut als Begeisterung, denn abgesehen davon, dass eine Rente erst ab 70 Jahren gezahlt wurde, die durchschnittliche Lebenserwartung damals aber deutlich unter 60 Jahren lag, wurde selbst beim Erreichen der Altersgrenze und nach 30 Jahren Beitragszahlung allenfalls ein Fünftel des Jahreseinkommens als Altersrente 19 gezahlt, denn der Versicherungsbeitrag selbst lag nur bei weniger als 2 % des beitrags- pflichtigen Bruttoentgelts. Damit stellte die Rente lediglich einen Lebenshaltungszuschuss dar, ermöglichte jedoch keine Existenzsicherung (vgl. Bäcker/Kistler 2020). Die nach wie vor unzufriedenen Arbeiter vermuteten daher nicht zu Unrecht, dass Bis- marck, der dies später offen einräumte, nur am Erhalt der Monarchie interessiert war. Man warf ihm vor, von den eigentlichen sozialen Problemen ablenken zu wollen. Entsprechend stieg z. B. die Anzahl der privaten Krankenversicherungen im Kaiserreich weiterhin, bis 1913 sogar auf 21.492 (vgl. Gerlinger/Burkhardt 2012, S. 1). 1889 war die bismarcksche Sozialgesetzgebung abgeschlossen. Als jedoch nach dem ver- lorenen Ersten Weltkrieg (1914–1918) und der Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm II. Tausende kriegsverletzte, schwerbehinderte und daher arbeitsunfähige Soldaten (teils auch traumatisiert durch Kriegsgefangenschaft) nach Deutschland zurückkehrten, wurde offensichtlich, dass das bisherige Sozialversicherungssystem nicht ausreichte, um auch diese invaliden Menschen zu versorgen. Daher trat 1927 das „Gesetz über Arbeitsvermitt- lung und Arbeitslosenversicherung“ in Kraft. Dieses gewährte, auch wieder paritätisch von Arbeitgebern und Versicherten finanziert, erstmals einen Anspruch auf Arbeitslosengeld ohne Bedürftigkeitsprüfung (vgl. Boldorf 2016c). Gleichzeitig wurde die „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ geschaffen, die Vorläuferin der heuti- gen Bundesagentur für Arbeit. Als letzte der fünf Säulen der Sozialversicherung wurde 1995 die gesetzliche Pflegeversi- cherung geschaffen und rundet damit das deutsche Sozialversicherungssystem ab. Wie sich anhand der vorstehenden Ausführungen erkennen lässt, geht es also bei Staats- strukturprinzipien um „verfassungsrechtliche Grundentscheidungen, die dem Staatswe- sen sein Gepräge geben, also elementare Aussagen darüber treffen, nach welchen Grund- sätzen sich das Gemeinwesen gestaltet“, so Beyer (2017, S. 30). Hierbei ergänzen sich insbesondere das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip wechselseitig: „Die grundgesetzliche Ordnung will nicht nur die Freiheiten des Rechts- staats sichern, sondern zugleich dafür sorgen, dass an diesen Freiheiten alle teilhaben können“, betont Beyer (2017, S. 45). Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) Gerade weil es sich bei den Staatsstrukturprinzipien um elementare Aussagen zur Gestal- tung des Gemeinwesens handelt, können sie nicht einfach aufgehoben oder verändert werden, denn in ihnen kommt auch klar zum Ausdruck, was Bürger vom Staat erwarten. „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig“, heißt es daher in Art. 79 Abs. 3 GG explizit. Deutschland kann also infolge der Ewigkeitsklausel nie wieder zu einem Zentralstaat wie in der Zeit des Nationalsozialismus umgebaut werden, in dem von einem einzigen Ort aus das gesamte Land ohne Mitwirkung der Länder regiert wird. Auch eine Abschaffung der 20 Bundesländer kommt nicht in Betracht, ebenso wenig wie die Wiedereinführung einer Monarchie oder die Abschaffung der Gewaltenteilung. Die Achtung der Menschenwürde (Art. 1 GG) ist ebenfalls unantastbar. Sehr wohl dürfte allerdings in Deutschland z. B. eine Umstellung vom beitragsfinanzierten „Bismarck-System“ der Sozialversicherung auf ein allgemeines steuerfinanziertes Fürsor- gemodell (sogenanntes „Beveridge-System“ nach dem britischen Gesundheitspolitiker William Henry Beveridge, das u. a. in Großbritannien, Dänemark, Finnland, Schweden, Spanien oder Portugal maßgeblich ist, vgl. Büttner/Lemor 2018, § 3, Rdnr. 12–14) erfolgen: Das Sozialstaatsprinzip als solches würde hierdurch nicht berührt und die sozialen Rechte auch weiterhin gewährleistet, nur ihre Finanzierung würde anders als bisher erfolgen. 1.2 Staatsziele Staatsziele sind solche die Staatsgewalt rechtlich bindende Verfassungsbestimmungen, die für die Tätigkeit der staatlichen Organe die Verfolgung bestimmter Sachziele als Aufgabe vorschrei- ben, ohne aber zu regeln, wie diese Ziele konkret erreicht werden sollen (Beyer 2017, S. 30). Vereinfacht könnte man sagen: Die Staatsziele folgen den jeweiligen Staatsstrukturprinzi- pien, d. h., hat sich ein Staat einmal auf bestimmte Staatsstrukturprinzipien festgelegt, dann sind die einzelnen Staatsziele auf diese jeweils zugrunde liegenden Staatsstruktur- prinzipien auszurichten. Für das Staatsstrukturprinzip Sozialstaat heißt das de facto, dass alle Ziele (und damit insbesondere die Gesetzgebung) in diesem Bereich auf eine Teilhabe Teilhabe- und Leistungs- aller Bürger an diesem Sozialstaat auszurichten sind. Wenn auch Staatsziele nicht unmit- rechte Das Grundgesetz kennt telbar gerichtlich eingeklagt werden können, sind sie doch nicht nur beliebig austausch- nicht nur Abwehrrechte bare Programmpunkte. gegen den Staat (z. B. Unverletzlichkeit der Wohnung, Art. 13 GG), Staatsziele im Bereich des Staatsstrukturprinzips Sozialstaat sind daher insbesondere sondern auch Teilhabe- soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, die in § 1 SGB I konkretisiert werden: und Leistungsrechte (wie Art. 6 Abs. 4 GG) sowie Mitwirkungsrechte (z. B. Wahlrecht, Art. 38 GG) und Einrichtungsgaran- tien (z. B. Anerkennung § 1 SGB I des Rechtsinstituts der Ehe, Art. 6 Abs. 1 GG). 1. Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtig- keit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, ins- besondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen. 21 2. Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll auch dazu beitragen, daß die zur Erfül- lung der in Absatz 1 genannten Aufgaben erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Soziale Sicherheit Im Rahmen der sozialen Sicherheit geht es um den Schutz des Kollektivs einerseits und den des einzelnen Bürgers andererseits vor existenzbedrohenden sozialen Risiken, wie Krankheit, Tod, Erwerbsunfähigkeit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit etc., durch die Schaffung entsprechender Hilfeeinrichtungen wie z. B. Kranken-, Pflege- und Unfallkas- sen, der Bundesagentur für Arbeit, Arbeits- und Sozialämtern und vielen mehr. Soziale Sicherheit umfasst dabei insbesondere auch Faktoren wie den Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 GG und der Familie sowie die Sicherung des Existenzminimums (vgl. § 1 Abs. 1 SGB I). Der Staat, als eine vertraglich (oder je nach juristischem Standpunkt: natürlich) gebildete Gemeinschaft, kümmert sich um das Wohl seiner Bürger, garantiert ihnen Schutz und lässt sie – unabhängig von Alter, Rasse, Herkunft, Gesundheit, Geschlecht etc. – an allen Leistungen in dem Umfang teilhaben, wie es für den Betroffenen geboten ist. BEISPIEL Auch wenn das Leben nach dem Tod von Johannes Schneider für seine Familie kein „Zuckerschlecken“ ist, hat sie in Deutschland – dank Sozialstaatsprinzip und Staatsziel „soziale Sicherung“ – die Gewissheit, nicht durch das soziale Netz zu fallen. So kommen für Familie Schneider z. B. Leistungen der Unfallversiche- rung in Betracht: während der Pflege von Vater Johannes beispielsweise Versor- gung mit Arznei-, Verband- und Heilmitteln (einschließlich Krankengymnastik, Bewegungs-, Sprach- und Beschäftigungstherapie), nach seinem Tod Hinterblie- benenrente. Bei Mutter Andrea, die ihren Job aufgrund der Pflege von Mann und Kindern verloren hat, besteht – bei Vorliegen diverser Voraussetzungen – Anspruch auf eine Pflegerente. Sie kann für drei Kinder Kindergeld beziehen und muss auch nicht das Eigenheim verlassen, denn auch Eigentümer können nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) unter bestimmten Voraussetzungen Wohngeld beantragen. Als Arbeitslose kann sie Leistungen der Arbeitslosenversicherung beziehen, und wenn sie am Ende ihrer Kräfte ist, kommt gegebenenfalls auch eine Mutter-Kind-Kur infrage. Falls sie keine Arbeit in ihrem alten Beruf findet, kann die Umschulung zur Altenpflegerin gefördert werden. Tochter Jasmin ist durch einen Anspruch auf ärztliche Heilbehandlung, aber auch auf schulische Wiedereingliederung vor den Folgen ihrer Bulimie geschützt. Opa Paul weiß, dass ihn die Rente, wenn auch nicht vor seiner Krankheit, so doch vor einem finanziellen Fiasko als Folge der Krankheit schützt. Auch weiß er, dass ihm Schutz und Hilfe bei Pflegebedürftigkeit zuteil wird. Und auch die Zwillinge fal- len nicht durch das soziale Netz: Von den kinderärztlichen U-Untersuchungen angefangen über frühkindliche Förderung bei Bedarf bis hin zum Kindergarten- 22 platz, ordentlicher Schulausbildung, Halbwaisenrente etc. schützt der Sozial- staat insbesondere sie, die sich selbst noch nicht helfen können. Andrea Schnei- der kann insoweit auch das Jugendamt um Unterstützung bitten. Soziale Sicherung ist daher primär auf Teilhabe ausgerichtet: Teilhabe am Sozialstaat, regelmäßig – soweit möglich – unter Mitwirkung des Einzelnen. BEISPIEL Soweit sich die Multiple Sklerose von Paul Epp verschlimmert, kann er unter den Voraussetzungen des SGB XI Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung beanspruchen: Hierzu muss er sich als Versicherter einer gesetzlichen Kranken- versicherung vom MDK, dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen, (in der Regel im häuslichen Umfeld) begutachten lassen, um eine Einstufung in einen Pflegegrad zu erhalten. Ist er hierzu nicht bereit, möchte also nicht mitwirken, kommt eine Eingruppierung nicht in Betracht. Zwar kann er nicht zur Teilhabe gezwungen werden, muss dann aber auch mit der Konsequenz leben, dass er keine Leistungen aus der Pflegeversicherung erhält. Anders wenn er infolge einer demenziellen Erkrankung seine Mitwirkung verweigert, weil er krankheits- bedingt die Notwendigkeit der Begutachtung nicht mehr einsehen bzw. nicht mehr dieser Einsicht gemäß handeln kann: Hier wäre ihm gegebenenfalls beim Amtsgericht, Abteilung Betreuungsgericht, an seinem Wohnort ein Betreuer zu bestellen, der die Begutachtung gestattet und alles Notwendige veranlasst (vgl. dazu auch Ratgeber Pflege des Bundesministeriums für Gesundheit 2017a und Ratgeber Demenz des Bundesministeriums für Gesundheit 2019a). Soziale Gerechtigkeit Dem Ziel sozialer Gerechtigkeit kommt der Sozialstaat (insbesondere aber die Legislative, die entsprechende neue Gesetze erlässt) durch den partiellen Ausgleich zwischen Arm und Reich nach, also insbesondere durch steuerliche Be- und Entlastungen, Gebühren- und Beitragsstaffelungen nach der persönlichen Leistungsfähigkeit und durch Transferleis- Gebühren tungen. Hiermit strebt der Sozialstaat den Schutz schwächerer Bevölkerungsgruppen im Diese fallen für die tat- sächliche Inanspruch- Rechtsverkehr, aber auch im gesellschaftlichen Zusammenleben an (vgl. näher dazu mit nahme von Leistungen an weiteren Nachweisen Beyer 2017, S. 46), z. B. auch durch Kündigungsschutzregeln im (z. B. Eintrittsgebühr im Arbeitsrecht oder Mietpreisbremsen im Mietrecht. städtischen Museum), Beiträge für die potenziell mögliche Nutzung (z. B. Sozialversicherungsbei- träge). BEISPIEL Als alleinerziehende Mutter von zwei Kleinkindern und einer kranken Tochter kann Andrea Schneider (voraussichtlich) nicht im gleichen Umfang erwerbstätig sein wie eine Singlefrau ohne Kinder mit gleichem Beruf. Gleichwohl erbringt 23 Transferleistungen sie, durch die Erziehung von drei potenziellen Steuer- und Sozialversicherungs- Dies sind staatliche Leis- beitragszahlern, einen wesentlichen Beitrag für die Sozialgemeinschaft. Sie hat tungen, z. B. an natürliche Personen, ohne dass für auch bereits durch die Pflege ihres inzwischen verstorbenen Ehemanns einen diese eine Gegenleistung wesentlichen Beitrag zugunsten des Sozialstaats erbracht, da dieser insoweit zu erbringen ist, z. B. Sozi- nicht für ungedeckte Heimkosten aufkommen musste. Außerdem entlastet Frau alhilfe. Schneider die Sozialgemeinschaft auch durch die Übernahme der Grundpflege für ihren Vater, die ansonsten anderweitig organisiert werden müsste. Von daher ist es durchaus als gerecht zu bezeichnen, dass Andrea Schneider Steuerentlas- tungen (z. B. nach § 24 EStG) und Kindergeld (eine Transferleistung) enthält. Ebenso ist es fair, wenn sie nur einen geringen (einkommensabhängigen) Bei- trag zur Krankenversicherung leisten muss, gleichwohl aber die gleichen Kran- kenversicherungsleistungen erhält (Ausnahme: Krankengeld) wie Personen, die höhere Beiträge leisten. Umgekehrt erscheint es gerecht, wenn Menschen mit einem höheren Einkommen mehr Leistungen für den Sozialstaat erbringen (z. B. durch höhere Krankenversicherungsbeiträge in der gesetzlichen Krankenversi- cherung), aber auch mehr Krankengeld erhalten. Ein vollständiger Ausgleich zwischen Arm und Reich auf völlig gleichem Niveau ist mit sozialer Gerechtigkeit weder verbunden noch angestrebt: Der Gesetzgeber ist sich der Tat- sache bewusst, dass nicht jeder das gleiche Einkommen haben kann, denn damit fiele der Anreiz weg, für ein höheres Einkommen, verbunden mit den damit finanzierbaren Privile- gien, auch länger zu arbeiten, eine längere Ausbildung in Kauf zu nehmen oder auch unter ungünstigeren Bedingungen zu arbeiten (z. B. im Schichtdienst). Damit würde, wie in einer Planwirtschaft, die Produktivität nachlassen, da ein höherer Einsatz keine persönlichen Vorteile mit sich brächte. 1.3 Grundprinzipien der sozialen Sicherung Die soziale Sicherung in Deutschland ruht auf den Prinzipien Vorsorge, Versorgung und Fürsorge (vgl. vertiefend dazu Schmid 2012). Diese klassische Dreiteilung entspricht nach wir vor der überwiegenden Meinung im Sozialrecht und wird daher in dieser Lektion zugrunde gelegt. In anderen Bereichen der sozialen Arbeit, insbesondere der Sozialwirt- schaft, wird diese Dreiteilung dagegen als nicht mehr zeitgemäß angesehen und stattdes- sen in die Bereiche der Vorsorge, Entschädigung, soziale Hilfe und Förderung unterteilt. Das Vorsorgeprinzip Das wesentlichste Grundprinzip sozialer Sicherung ist die Vorsorge: Nach dem Vorsorge- prinzip, auch als Versicherungsprinzip bezeichnet, übernimmt der Einzelne die individu- elle Verantwortung für sich. Durch beitragsfinanzierte Versicherungsleistungen sichert er sich gegen existenzbedrohende Risiken ab, sorgt also vor. Während Privatversicherungen, von Ausnahmen abgesehen (z. B. Berufshaftpflichtversicherung für Hebammen, Rechtsan- 24 wälte etc.), regelmäßig auf dem Freiwilligkeitsprinzip beruhen und ihre Beiträge individu- aläquivalent am Erwartungsschaden ausrichten, orientieren sich Prämien und Leistun- Erwartungsschaden gen der deutschen Sozialversicherung, in welcher Pflichtmitgliedschaft besteht, nicht an Dieser errechnet sich aus der Wahrscheinlichkeit der Risikowahrscheinlichkeit des Einzelnen, sondern an seiner finanziellen Leistungsfähig- des Risikoeintritts mal der keit. zu erwartenden Scha- denshöhe. Nach dieser Formel berechnen sich Klassischer Fall privater Vorsorge ist die Sozialversicherung. Kranken-, Pflege-, Renten-, die Beiträge in der priva- Arbeitslosen- und Unfallversicherung sind beitragsfinanziert (zum Teil mit staatlichen ten Krankenversicherung. Zuschüssen), wobei die Unfallversicherung nur aus Arbeitgeberbeiträgen gespeist wird. Hierbei erhalten Versicherte in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung grundsätzlich unabhängig von der Höhe der geleisteten Beiträge die gleichen Vorsorge- und Versicherungsleistungen, nämlich medizinische und pflegerische Versorgung und Behandlung. Lediglich die Höhe des Krankengelds in der Gesetzlichen Krankenversiche- rung (GKV) bemisst sich am beitragspflichtigen Bruttoarbeitsentgelt und fällt damit ent- sprechend umso höher aus, je höher dieses ist. In der Arbeitslosenversicherung (ALG 1, nach SGB III) hängt die Leistungshöhe (neben anderen Voraussetzungen) wesentlich vom zuletzt bezogenen Nettoarbeitsentgelt ab, und für die Höhe der Leistungen der Rentenversicherung sind die eingezahlten Beiträge maß- geblich. Soziale Pflichtversicherung bedeutet somit nicht zwingend, dass alle Pflichtversicherten die gleichen Leistungen erhalten. Es geht um Solidarität und individuelle Gerechtigkeit, nicht um Gleichmacherei: Zwar soll jeder Versicherte die bestmögliche medizinische und pflegerische Behandlung erhalten, schon im Hinblick auf Erhalt und Wiederherstellung seiner Arbeitskraft. Bei Geldleistungen erscheint es aber durchaus fair und daher berech- tigt, diese danach zu bemessen, in welchem Umfang der Versicherte zuvor seinerseits durch finanzielle Beiträge zur sozialen Sicherung der Gesellschaft beigetragen hat, soweit nicht das Existenzminimum berührt ist. Zunehmend nimmt auch echte Prävention Raum im Bereich der Vorsorge ein, so durch Prävention das Präventionsgesetz von 2015, das nicht nur die Zusammenarbeit der Sozialversiche- Diese besteht aus: Pri- märprävention, die den rungsträger stärkte, sondern – im Rahmen der Kranken- und Pflegeversicherung – insbe- Erhalt der Gesundheit för- sondere auch Frühprävention und Jugendarbeitsschutz förderte und der Impfmüdigkeit dert; Sekundärpräven- entgegenwirken soll. tion zur Früherkennung und Verhinderung des Fortschreitens (Progredi- Das Versorgungsprinzip enz) von Erkrankungen Tertiärprävention zur Ver- hinderung von Progredi- Im Gegensatz zum Versicherungsprinzip ist das Versorgungsprinzip Ausfluss staatlicher enz, Rückfall und Kompli- Fürsorge für diejenigen, die entweder in einem öffentlichen Dienstverhältnis zu ihm ste- kationen bei bereits manifesten Erkrankun- hen, besonderen Belastungen (insbesondere solchen im öffentlichen Interesse) ausge- gen. setzt sind oder die für den Staat ein Sonderopfer erbrachten und daher Anspruch auf sozi- ale Entschädigung haben. So erhalten z. B. Beamte und Soldaten für das zum Staat bestehende Dienstverhältnis kein Gehalt, sondern als Staatsdiener Unterhalt (Alimenta- tion). Schwerbehinderte haben beispielsweise Anspruch auf Leistungen nach dem SGB IX. Bedarfsabhängig wird außerdem z. B. Mutterschaftsgeld gezahlt. Für Kriegsopfer oder Wehrdienstbeschädigte besteht Anspruch auf soziale Entschädigung nach dem Bundes- versorgungsgesetz ebenso wie für Opfer von Straftaten nach dem Opferentschädigungsge- 25 setz, Zivildienstbeschäftigte nach dem Zivildienstgesetz, Opfer staatlichen Unrechts in der DDR nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz oder Impfschadenopfer nach dem Infektionsschutzgesetz. Versorgungsleistungen sind beitragsunabhängig und werden aus Steuermitteln finanziert. Das Fürsorgeprinzip Das Fürsorgeprinzip dient der Linderung sozialer Not und setzt daher individuelle Bedürf- tigkeit voraus. In Deutschland ist insbesondere die Sozialhilfe Ausprägung des Fürsorge- prinzips. Sie ist unabhängig von einem zuvor erbrachten Beitrag oder einer eigenen Leis- tung des Bedürftigen, sondern hat einen humanitären Charakter, als Weiterführung des mittelalterlichen Almosengedankens. Leistungen werden daher individuell, bedarfsge- recht und nach dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip (= Nachrangigkeitsprinzip) nur dann erbracht, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind und der Betroffene sich nicht selbst helfen kann. Erbracht werden Geld- und Sachleistungen ebenso wie bedarfs- gerechte Beratungs- und Unterstützungsleistungen. Auch Kinder- und Jugendhilfe, Grund- sicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II (also Bürgergeld) sowie weitere Hilfeleis- tungen für einkommensschwache Menschen (z. B. BAföG) sind Teil dieses Fürsorgeverhaltens des deutschen Staats für seine Bürger. BEISPIEL Wenn Andrea Schneider durch Arbeitslosigkeit, Tod des Ehemanns, Krankheit der Tochter, Erziehung von drei Kindern, Unterstützung des Vaters, Abzahlung des Hauses und Minijob überfordert ist, kann sie – dem Fürsorgeprinzip entspre- chend – z. B. Leistungen der Jugendhilfe in Anspruch nehmen. Es kommen u. a. eine Familienfreizeit, Beratung zum besseren Umgang mit der Belastung, aber auch – bei Krankheit der alleinerziehenden Mutter – die Stellung einer Haus- haltshilfe in Betracht. (Zu beachten ist bei der Haushaltshilfe allerdings, dass diese vorrangig von der Krankenkasse, d. h. aus Vorsorgeleistungen zu finanzie- ren wäre [§ 38 SGB V], soweit die dort genannten Voraussetzungen vorliegen, die Jugendhilfe also nur subsidiär zuständig ist.) Zu den Fürsorgeleistungen zählt auch das unter den Voraussetzungen des Wohngeldgesetzes zu zahlende Wohngeld, das auch für Hauseigentümer erbracht werden kann. Weder Sozialversicherungsträger noch Staat können ein Interesse daran haben, die fünfköpfige Familie aus dem eigenen Haus zu werfen, um ihr dann an anderer Stelle Sozial- oder steuerfinanzierte Leistungen erbrin- gen zu müssen. Auch Jasmin Schneider kann Leistungen der Jugendhilfe beanspruchen: Bei ihr ist z. B. an Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII im Hinblick auf ihre schulische Wiedereingliederung zu denken (vgl. auch Bundesministerium für Familie, Seni- oren, Frauen und Jugend 2020a). 26 Fürsorge zielt aber stets auf Förderung: Betroffene sollen schnellstmöglich wieder selbst für sich sorgen können und von staatlicher Hilfe unabhängig werden. 1.4 Die Sozialversicherung Die Sozialversicherung ist Ausfluss des Vorsorgeprinzips. Sie ist das wohl wesentlichste Element des deutschen Sozialstaats. Die Säulen der Sozialversicherung Wie bereits dargestellt, ruht die deutsche Sozialversicherung historisch auf fünf Säulen: Kranken-, Pflege-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Abbildung 3: Die fünf Säulen der Sozialversicherung in Deutschland Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2018. Grundprinzipien der Sozialversicherung Alle Säulen der Sozialversicherung in Deutschland sind durch folgende Grundprinzipien geprägt: Der Versicherungsschutz knüpft an die Aufnahme der Erwerbstätigkeit an. Die Sozialversicherung ist eine Pflichtversicherung, nur in Ausnahmefällen kommt (z. B. bei Überschreiten von Entgeltgrenzen oder Freiberuflichkeit) freiwillige Versicherung in Betracht, jedoch nicht in der Kranken- und Pflegeversicherung. 27 Versicherungsbeitrag und -umfang richten sich nach der Lohn-/Einkommenshöhe. Das bedeutet, dass jeder Versicherte im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der Sozialversicherung beiträgt, während andererseits die Sachleistungen grundsätz- lich für alle Versicherten gleich sind (die Geldleistungen variieren, s. o.). Das ist solida- risch. Die Sozialversicherungsträger verwalten sich, insbesondere auch die eingenommenen Beiträge, selbst. Die Verwaltungsorgane sind paritätisch mit Arbeitnehmern und Arbeit- gebern besetzt (Ausnahme: Ersatzkassen, vgl. Reiners 2015). Das bedeutet: Die Sozial- versicherung ist nicht identisch mit dem Staat, sondern unabhängig von diesem. Bismarck vs. Beveridge: Organisation und Finanzierung der Sozialversicherung Das deutsche beitragsfinanzierte Sozialversicherungssystem wird auch als bismarcksches Sozialversicherungssystem bezeichnet und damit vom insbesondere in Großbritannien geltenden, Beveridge-System abgegrenzt, das lediglich auf einer Säule – dem Staat – beruht (vgl. dazu Fuchs 2018, Einleitung, Rn. 34 ff.). Benannt nach dem britischen Sozial- ökonom William Henry Beveridge (1879–1963) und als Fortführung des Almosengedan- kens ausgestaltet, bietet es beitragsunabhängige, steuerfinanzierte und standardisierte Mindestversorgung in unterschiedlichen Bereichen für die gesamte Bevölkerung. Auch die Gesundheitsleistungen werden vom nationalen Gesundheitsdienst staatlich zur Verfügung gestellt. In Deutschland hingegen sind alle Sozialhilfeträger keine staatlichen Einrichtun- gen, sondern rechtlich selbstständige und vom Staat weitgehend unabhängige Körper- schaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, die jedoch staatlich kontrolliert werden. Ihre Trägerschaft, insbesondere ihre Verfassung, Zusammensetzung und sonstige Organisation sind in den §§ 29 bis 90a SGB IV geregelt. Wo das Bismarck-System finanzielle Leistungen (wie z. B. Kranken- und Arbeitslosengeld sowie Rente) auf der Grundlage des durch Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter ausfallen- den Einkommens individuell bemisst und daher auf Sicherung des bisherigen Lebensstan- dards abzielt, bietet das Beveridge-System nur Existenzsicherung in diversen Lebensberei- chen. Während das deutsche Sozialversicherungssystem ursprünglich nur Erwerbstätige (mitt- lerweile Ausnahmen wie Empfänger von Arbeitslosengeld, Familienversicherte...) einbe- zog, vorrangig Arbeitnehmer, sind im Beveridge-System alle Bevölkerungsgruppen einge- schlossen. Bei einer hohen Anzahl von Transfer- und mehr oder weniger einheitlichen Pauschalleistungen ist Letzteres staatlich verwaltet und kostenlos. Das macht die Steue- rung zwar einfach, überschaubar und gut berechenbar, insgesamt also gut planbar, aber leider auch mangels Anreizen ineffizient und wenig innovativ: Da Gesundheit und Soziales nur einen Teilbereich von vielen innerhalb eines staatlichen Systems bilden, der keine Pri- orität gegenüber anderen staatlichen Bereichen (wie Bildung, Wirtschaft, Familienpolitik) Prosperieren genießt, ist niemand speziell für sein Prosperieren verantwortlich. Effizienz versumpft in Das heißt, sich wirtschaft- Abteilungs- und Behördendenken sowie Abgrenzung zwischen Funktion und Verantwort- lich in eine positive Rich- tung zu entwickeln. lichkeit. Nachteilig am Beveridge-System ist überdies die nahezu allen staatlichen Syste- men immanente Hierarchietiefe, verbunden mit langen (zum Teil bewusst einkalkulierten) Wartezeiten im Gesundheitswesen, langen Verwaltungswegen und wenig Flexibilität. Man- gels Konkurrenzdrucks, wie er im deutschen Kranken- und Pflegekassensystem (recht 28 moderat) herrscht, blüht die Ressourcenverschwendung, was durch die Einführung eines Gate-Keeper-Systems verhindert werden soll: Der Hausarzt entscheidet, ob und wo wei- tere fach- oder krankenhausärztliche Behandlung erforderlich ist. Wartezeiten können allerdings auch daraus resultieren, dass es an Haushaltsbudgetzuweisungen an das Gesundheits- und Sozialversicherungssystem fehlt, da auch andere Staatsbereiche um das gleiche, nur einmal vorhandene Budget buhlen. Dies führt nachvollziehbar auch zu nicht ausreichenden Investitionen in das System selbst. Das klingt zunächst nach einem klaren Punktsieg für das Bismarck-System, doch das täuscht: Abgesehen davon, dass ein System wie das deutsche durch die immense Anzahl an Schnittstellen, Vor-, Nachrang- und Überschneidungsregelungen nebst Ausnahmen ein gigantisches Gesetzeswerk voraussetzt (wie man an den vielen Sozialgesetzbüchern, ergänzt um Dutzende Nebengesetze unschwer erkennt), ist es für Laien nahezu undurch- dringlich und setzt erhebliche Fachkenntnisse sowie Spezialistenwissen voraus, um es wenigstens in Teilbereichen völlig zu durchdringen. Eine solche Anzahl an Gesetzbüchern und Vorschriften begünstigt natürlich auch fehlerhafte, vor allem nicht überall gleichmä- ßige Anwendung. Auch im deutschen Sozialversicherungssystem kann man, von Teilberei- chen wie Kranken- und Pflegeversicherung abgesehen, nicht unbedingt von hoher Innova- tionsfreudigkeit sprechen, was jedoch zumindest für Fachleute im Hinblick auf die auch ohne diese Innovationsfreudigkeit schon immense Vielzahl stets neu zu erfassender, zu erlernender und umzusetzender Vorschriften nicht zwingend nachteilig sein muss. Nachteilig am Bismarck-System ist seine begrenzte Fähigkeit, die jeweils von unterschied- lichen Trägern finanzierten und getragenen Säulen zu koordinieren, aufeinander abzu- stimmen und zu überwachen. Das bezieht sich nicht nur auf die Kostenkontrolle. Ein gegenüber dem Beveridge-System wohl größeres Problem stellt auch die Finanzierung dar: Da die Sozialversicherungsbeiträge prozentual lohnabhängig sind, sinkt das Beitrags- volumen der Sozialversicherungsträger hier deutlicher, wenn die Löhne sinken. Damit ist die gesetzliche Sozialversicherung letztendlich auch von der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, insbesondere auch von seiner Lohnnebenkostenpolitik abhängig. Da beide Systeme erhebliche Defizite aufweisen, haben sie sich innerhalb der letzten Jahr- zehnte einander angenähert, nicht zuletzt, weil beide inzwischen mit dem gleichen Haupt- problem kämpfen: dem demografischen Wandel. Da die Alterspyramide in nahezu allen europäischen Ländern mehr oder weniger schnell kippt, kämpft ein beitragsfinanziertes Sozialversicherungssystem nach dem Bismarck- Modell dann ums nackte Überleben, wenn die Zahl der Beitragszahler erheblich sinkt. Dies geschieht derzeit gleich aus zwei Gründen: Einerseits wird die Bevölkerung immer älter. Sie scheidet zwar relativ früh (bezogen auf die statistische Lebenserwartung) aus dem Arbeitsleben aus und zahlt so entweder gar keine Beiträge mehr in die Sozialversicherung ein (Arbeitslosen- und Rentenversicherung) oder nur noch Beiträge aus ihrem jetzt meist geringeren (Renten-)Einkommen (Kranken- und Pflegeversicherung), hat aber mit zuneh- mendem Alter regelmäßig selbst höheren Bedarf an Pflege- und Krankenkassenleistun- gen. Zunehmend verbesserte medizinische Versorgung erlaubt es, noch lange mehr oder weniger gesund zu altern und dabei Sozialversicherungsressourcen zu verbrauchen. Ande- rerseits sorgt die sinkende Geburtenzahl für immer weniger nachrückende Beitragszahler. 29 Späterer Eintritt ins Erwerbsleben durch verlängerte Schul- und Ausbildungszeiten, spä- tere Heirat und Geburt von Kindern aufgrund dieser längeren Ausbildung, aber auch auf- grund des Wunschs, erst einmal etwas zu erleben, prekäre Arbeitsverhältnisse ohne plan- bare Sicherheit, die die Familienplanung auf die lange Bank schieben, sowie eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitszeitmodelle (z. B. Teilzeit), die zwar nur zu geringfügigen Einzah- lungen, aber zu überwiegend gleichen Leistungen wie bei Vollzahlern führen, sind weitere Faktoren, die Auswirkung auf den demografischen Wandel haben. Das Problem stellt sich analog auch im Beveridge-System: Hier sinkt die Zahl der Steuer- zahler und damit das eingehende Gesamtbudget, das auf viele Bereiche verteilt werden muss (vgl. Rohwer 2008, S. 28). Eine der Konsequenzen, die der Gesetzgeber in den letzten Jahren hieraus gezogen hat, war eine Flut von Sozialgesetzen, die – neben Kostendämpfung in nahezu allen Bereichen – insbesondere im Gesundheitswesen ansetzten, um Menschen länger erwerbsfähig zu halten und damit ihr vorzeitiges Ausscheiden als Beitragszahler in allen Zweigen der Sozi- alversicherung bestmöglich zu verhindern. Diese Gesetze zielten vor allem auf verbesserte Prävention, Erhöhung der Zahl der Pflegekräfte, effektivere und effizientere Patientenver- sorgung bzw. Ressourcenverteilung bei gleichzeitiger Qualitätssteigerung und Verhinde- rung von Sozialleistungsmissbrauch. Im Bereich von Krankheit und Pflegebedürftigkeit sind insbesondere die Pflegestärkungsgesetze I–III zu nennen, die zwischen 2015 und 2017 in Kraft traten. 1.5 Sozialrechtsdefinitionen Begriff und Gegenstand des Sozialrechts lassen sich einmal formell (also nach der äußeren Form) und einmal materiell (nach ihrem Inhalt) erfassen (vgl. Beyer 2017, S. 58f.). Formelles Sozialrecht Unter Sozialrecht im formellen Sinn versteht man die Gesetze, die in das mehrbändige Sozialgesetzbuch aufgenommen wurden, die also schon der äußeren Form nach Sozialge- setze sind oder es nur deshalb noch nicht sind, weil sie – obwohl sie auch soziale Rechte verwirklichen – noch nicht als eigenständige Bücher in das SGB aufgenommen wurden. Gleichwohl werden sie bereits durch § 68 SGB I als „Besondere Teile dieses Gesetzbuches“ übertitelt, da ihre Einordnung in das SGB bereits geplant ist. Hierbei handelt es sich um … … das Bundesausbildungsförderungsgesetz, die Reichsversicherungsordnung, das Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte, das Zweite Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte, das Bundesversorgungsgesetz, auch soweit andere Gesetze, insbesondere ◦ §§ 80 bis 83a des Soldatenversorgungsgesetzes, ◦ § 59 Abs. 1 des Bundesgrenzschutzgesetzes, ◦ § 47 des Zivildienstgesetzes, ◦ § 60 des Infektionsschutzgesetzes, 30 ◦ §§ 4 und 5 des Häftlingshilfegesetzes, ◦ § 1 des Opferentschädigungsgesetzes, ◦ §§ 21 und 22 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes, ◦ §§ 3 und 4 des Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes, die entsprechende Anwendung der Leistungsvorschriften des Bundesversorgungsge- setzes vorsehen, das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung, das Bundeskindergeldgesetz, das Wohngeldgesetz, das Adoptionsvermittlungsgesetz, das Unterhaltsvorschussgesetz, der Erste, Zweite und Dritte Abschnitt des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes, das Altersteilzeitgesetz und der Fünfte Abschnitt des Schwangerschaftskonfliktgesetzes. Materielles Sozialrecht Unter materiellem Sozialrecht versteht man demgegenüber alle Vorschriften, die der Gesetzgeber in Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips mit den Staatszielen soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit erlässt (vgl. Beyer 2017, S. 58): Dies sind nicht nur die in den SGB enthaltenen Gesetze, sondern alle Gesetze und Vorschriften, in denen der Gesetzgeber darauf hinwirkt, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen bzw. einer schwä- cheren (Vertrags-)Partei Schutz vor einer stärkeren Partei zu bieten. Beispielhaft seien hier Mieterschutz und Kündigungsschutz des Arbeitnehmers genannt. Nach diesen Definitionen ist formelles Sozialrecht stets auch materielles Sozialrecht, denn alle Gesetze, die Eingang in das Sozialgesetzbuch gefunden haben, befassen sich mit der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips, nicht aber umgekehrt: Nicht alle Gesetze, die der Verwirklichung des Sozialstaats dienen, fanden Eingang ins SGB und sollen Eingang in das SGB finden. 1.6 Bedarf an Sozialrecht Abschließend stellt sich die Frage: Brauchen wir überhaupt einen Sozialstaat und damit Sozialrecht? Immerhin hat Deutschland auch schon vor Bismarcks Zeiten existiert und das – im Vergleich zu vielen anderen Nationen – nicht einmal schlecht. Viele Länder der Erde kennen heute noch kein bzw. kaum Sozialrecht und existieren dennoch: Jeder versorgt sich selbst, so gut es geht. Und wenn er das nicht mehr kann, dann stirbt er eben, wie es auch bei uns früher der Fall war, oder er lebt vom Almosen seiner Mitmenschen im Armen- haus: ohne Halfway-Technologien, die das Leben zwar verlängern, aber die Gesundheit nicht zurückbringen, ohne lange chronische Erkrankungen und ohne lebensverlängernde Maßnahmen. Aber auch in Erste-Welt-Ländern wie den USA ist der Anteil an sozialen Leistungen (und damit der Bedarf an einem diese Leistungen regelnden Sozialrecht) viel geringer als in Deutschland und – wie der bislang (Stand: November 2017) erfolglose Versuch der republi- 31 kanischen Regierung, das neu eingeführte US-Krankenversicherungssystem (Obamacare) wieder zum Scheitern zu bringen, zeigt – offensichtlich nicht einmal von weiten Teilen der Bevölkerung erwünscht. Fakt ist: Unsere heutigen Lebensumstände sind regelmäßig nicht mehr so, dass wir alleine überleben könnten. Anders als früher haben wir uns heute arbeitsteilig organisiert und spezialisiert. Nicht mehr jeder kann alles, kann alleine für sich sorgen, jagen, den Acker bestellen, schlachten etc., daher sind wir auf Tausch (sprich: Leistung anderer) angewiesen und damit natürlich auch auf die Tauschbereitschaft der anderen. Wer nichts zu bieten hat, was der andere braucht, kann nicht tauschen oder allenfalls so, dass er nicht den von ihm angestrebten bzw. notwendigen Gegenwert erhält. Die Anzahl derer, die nur Tauschgut (meist die eigene Arbeitskraft) anzubieten haben, das andere nicht brauchen oder nicht zu zahlen bereit sind, ist viel zu groß, als dass die Problembewältigung wie noch im Mittelalter dem kirchli- chen oder privaten Almosensystem überlassen bleiben könnte. Wir leben überdies auch nicht mehr in Großfamilien, die – wenn vielleicht auch nicht immer freiwillig und mit Begeisterung, wie das der Mythos von der „guten alten Zeit“ glau- ben machen will, so jedoch regelmäßig – dazu beitrugen, dass die gesamte Familie überle- ben konnte, Alte und Kranke mitversorgt wurden. Unsere Gesellschaft lebt in Kleinfami- lien, regelmäßig in der Kernfamilie, bestehend aus Eltern und (langjährig nichts zum Einkommen beitragenden) Kindern. Schon das alleine reicht vielfach nicht aus, um das Überleben alleine zu sichern. Noch problematischer wird es, wenn ein Mitglied dieser Kernfamilie schwer erkrankt oder sogar völlig ausfällt. BEISPIEL Der Tod von Johannes Schneider hat nicht nur emotionale Löcher gerissen, son- dern auch finanzielle. Alleine könnte Andrea Schneider voraussichtlich nicht sich selbst, drei Kinder und einen kranken Vater versorgen. Zwar könnte Jasmin arbeiten, im Mittelalter wäre sie immerhin schon eine erwachsene Frau (vermut- lich mit Kindern) gewesen, dennoch müsste Andrea immer noch zumindest vier Personen versorgen. Ihr Haus könnte sie ohne Sozialleistungen sicher nicht hal- ten. Ihr Beruf – Bauzeichnerin – ist aufgrund zunehmender Computertechnik kein allzu gefragter Beruf mehr, sodass sie voraussichtlich auch Schwierigkeiten haben wird, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Insoweit sei auch festgehalten, dass eine Krankheit früher selten so lange dauerte wie heute. Abgesehen von der ohnehin deutlich geringeren Lebenserwartung führte schon das überwiegend noch sehr rudimentäre Wissen über Gesundheit, verbunden mit einem Man- gel an Hygiene, meist zu einem recht schnellen Ableben, insbesondere bei akuten Erkran- kungen bzw. Infektionen. Entsprechend musste nicht für allzu lange Zeit Vorsorge getrof- fen werden, und es fielen nicht so hohe Kosten an, was ein Sozialrecht eher verzichtbar machte. 32 Hinzu kommt, dass gewisse Lebensbereiche gar nicht privat absicherbar sind: Versiche- rungsunternehmen scheuen sich beispielsweise, das Risiko der Arbeitslosigkeit abzusi- chern, weil die Unwägbarkeiten und Kosten dafür viel zu hoch wären. Entsprechend ist pri- vate Vorsorge insoweit gar nicht möglich, wäre aber auch gerade für den Personenkreis, der einer solchen Versicherung vorrangig bedürfte (Menschen in prekären Arbeitsverhält- nissen, mit schlechter oder nicht vorhandener Ausbildung, Alleinerziehende etc.), voraus- sichtlich kaum erschwinglich. Darüber hinaus ist – wie jeder nachvollziehen kann, der einmal versucht hat, die allgemei- nen Versicherungsbedingungen einer Versicherung nicht nur zu lesen, sondern sie auch mit denen einer anderen Versicherung zu vergleichen – der Versicherungsmarkt viel zu intransparent, als dass eine sachlich fundierte, fehlerfreie Entscheidung in Kenntnis aller Möglichkeiten getroffen werden könnte, sodass eine optimale Absicherung des Einzelnen kaum möglich ist. Für Sozialrecht bzw. staatliche soziale Sicherung spricht daher, dass es – zumindest in einem Staatssystem, das sich als soziale Marktwirtschaft bezeichnet – geboten ist, dass sich der Staat, der von seinen Bürgern getragen wird, auch um diese kümmert. Allerdings ist insoweit festzuhalten, dass auch andere Staatssysteme bekannt sind, die ebenfalls (mit anderen Problemen kämpfend) funktionieren. Ob man solidarisch sein möchte oder nicht, wenn ein Staat nicht funktioniert, egal in wel- cher Staatsform, kommt es über kurz oder lang zu Rezessionen, d. h. einem Rückgang oder zumindest einer Flaute in der wirtschaftlichen Entwicklung des Lands, die zu Unzu- friedenheit führt. Die natürliche Reaktion des Einzelnen ist es, dann zu sparen, um sich gegen eine unsichere Entwicklung abzusichern. Was aber dem Einzelnen nutzt, schadet dem Staat: Wo kein Geld investiert, sondern gespart wird, werden keine Dienstleistungen in Anspruch genommen, keine Käufe getätigt, keine Anschaffungen gemacht, fließen also auch keine Steuereinnahmen an den Staat. Dies kann ohne staatliche Gegenmaßnahmen (wie z. B. in Deutschland die Abwrackprämie, die 2009 den Autokauf wieder ankurbeln sollte) zu einer Negativspirale führen, führt jedenfalls aber zu einer Erhöhung der Arbeits- losenquote. Massenarmut und damit verbundene Unzufriedenheit gefährdeten – wie bekannt – aber schon in der Vergangenheit das Gemeinwohl und waren Nährboden für gefährliche Entwicklungen. Menschen, die denken, sie seien vom Staat „abgehängt und auf ein Nebengleis gestellt worden“, neigen zu drastischen Entscheidungen und gegebe- nenfalls auch zu nicht minder drastischem Verhalten, wie nicht zuletzt das Ergebnis der Bundestagswahl von 2017 belegte. Wer sich durch (Alters-)Armut, Arbeitslosigkeit, man- gelnde Bildung etc. vom Staat als Mensch in seiner Menschenwürde nicht anerkannt sieht und vor der Verelendung steht, hat voraussichtlich kein großes Interesse, diesen Staat zu schützen. Auch das spricht für die Schaffung von Sozialrecht. Gegen Sozialrecht spricht scheinbar zunächst einmal die Tatsache, dass seine Umsetzung mit einem sehr hohen Kostenaufwand verbunden ist, der gar nicht finanziert werden müsste, gäbe es das Sozialrecht nicht. Dies gilt insbesondere in Deutschland mit seinen fünf Säulen der Sozialversicherung, wo – abgesehen von der Pflegeversicherung, die die Infrastruktur der Krankenversicherung nutzt – gleich vier Verwaltungsapparate finanziert werden müssen. Es wird behauptet, dass der Einzelne, wenn er nichts abgeben müsste, selbst über mehr Einkommen und Vermögen verfügte und des Sozialrechts nicht bedürfte. 33 Das lässt aber unberücksichtigt, dass insbesondere solche Menschen vom Sozialrecht pro- fitieren, die gar nicht das Einkommen und Vermögen haben, mit dem der Sozialstaat und seine Einrichtungen finanziert werden: Sie hätten ohne Sozialrecht also noch weniger. Kritisiert wird auch, dass die Entlastung von Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Tod, Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Unfall zu Sorglosigkeit, Müßiggang und „Einrichtung in der sozialen Hängematte“ führe, der Staat sich im Übrigen dadurch auch zur willigen Beute von Schnorrern und Schmarotzern mache. Abgesehen von dem doch sehr negati- ven Bild, dass diese Einstellung von Menschen und ihrem Bezug zu Sozialleistungen zeich- net, welches so pauschal überhaupt nicht gerechtfertigt ist, führt sich diese Einstellung selbst ad absurdum: Wenn nach dieser Kritik Menschen tatsächlich so eingestellt sind, dass sie sich, sobald sich die Möglichkeit bietet, das System auszunutzen, auf Kosten die- ses Systems einen „faulen Lenz“ machen, dann wäre das systemunabhängig. Das würde bedeuten, dass solche Menschen auch in allen anderen Formen des Zusammenlebens auf Kosten anderer leben würden (und wie wir wissen, gibt es auch in anderen Staatsformen Missbrauch der Rechte). Außerdem kennt das Sozialrecht durchaus wirksame Mittel, um sich gegen seinen Missbrauch zur Wehr zu setzen (z. B. den Widerruf von Leistungen, Arbeitslosengeldsperre, vorrangiger Einsatz von Vermögen etc.). Letztlich dürften die Vorteile des Sozialrechts daher doch sehr deutlich überwiegen, denn ein Land ohne Sozialrecht und Sozialleistungen ist schnell instabil und – betrachtet man die Entwicklungen der Vergangenheit – recht schnell an einem Point of no Return ange- langt, an dem die Unzufriedenheit so groß ist, dass selbst ein kleiner Funke reicht, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen, was dann aber – zumindest meist für lange Zeit – für noch schlechtere Lebensbedingungen sorgt. Richtig ist allerdings, dass der Staat nur da (subsidiär = nachrangig) eingreifen soll, wo es geboten ist: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“, auch um Menschen nicht in ihrer freien Entfaltung zu hindern und sie so staatlich selbst verschuldet von Sozialleistungen abhängig zu machen. Dazu gehört auch, privaten oder freigemeinnützigen Trägern von Leistungen Raum zu geben (z. B. den Trägern der freien Jugendhilfe, privaten Pflegediens- ten etc.) und nur dort einzuschreiten, wo diese den Bedarf nicht decken können. Dies sieht auch der Gesetzgeber selbst so und normiert z. B. in § 5 SGB XII, dass die Träger der Sozial- hilfe bei der Durchführung ihrer Aufgaben mit den Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts sowie den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege zusammenar- beiten und sich zum Wohle der Leistungsberechtigten wirksam ergänzen sollen. Die Träger der Sozialhilfe sollen dabei die Verbände der freien Wohlfahrtspflege in ihrer Tätigkeit angemessen unterstützen. Wird die Leistung im Einzelfall durch die freie Wohlfahrtspflege erbracht, sollen die Träger der Sozialhilfe von der Durchführung eigener Maßnahmen absehen. Dies gilt nicht für die Erbringung von Geldleistungen (§ 5 IV SGB XII). Das bedeu- tet, dass Leistungen der freien Wohlfahrtspflege (außer bei Geldleistungen) grundsätzlich der Vorrang eingeräumt wird, soweit deren Träger bereit sind, eine Aufgabe zu überneh- men, wobei jedoch gegenüber den Leistungsberechtigten die Träger der Sozialhilfe verant- wortlich bleiben. Bei Fehlleistungen in der Versorgung muss also der Staat für Abhilfe sor- gen. Entsprechend zielt Sozialrecht immer – wie sich dies insbesondere im Bereich des Bürger- gelds (SGB II) und der Sozialhilfe (SGB XII) zeigt – auf Hilfe zur Selbsthilfe und nicht auf Bequemlichkeit in einer „sozialen Hängematte“. 34 ZUSAMMENFASSUNG Die Staatstrukturprinzipien sind in Art. 20 GG geregelt: Demokratie, Rechts-, Bundes- und Sozialstaat. Aus dem Sozialstaatsprinzip folgen die Staatsziele des Sozialstaats: soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit. Die soziale Sicherung in Deutschland ruht hierbei auf den Prinzipien Vor- sorge, Versorgung und Fürsorge. Nach dem Vorsorgeprinzip (Versiche- rungsprinzip) übernimmt der Einzelne durch beitragsfinanzierte Versi- cherungsleistungen die individuelle Verantwortung für sich. Die Sozialversicherung, ruhend auf den fünf Säulen Kranken-, Pflege-, Ren- ten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung, agiert nach dem Vorsorge- prinzip (Versicherungsprinzip). Demgegenüber ist das steuerfinanzierte Versorgungsprinzip Ausfluss staatlicher Fürsorge für Menschen, die entweder in einem öffentlichen Dienstverhältnis zu ihm stehen, besonderen Belastungen ausgesetzt sind oder die für den Staat ein Sonderopfer erbrachten und daher Anspruch auf soziale Entschädigung haben. Das Fürsorgeprinzip dient der Linderung sozialer Not und setzt daher individuelle Bedürftigkeit voraus. Leistungen erfolgen individuell, bedarfsabhängig und subsidiär. Sie umfassen auch Förderungsmaßnah- men. Betroffene sollen schnellstmöglich wieder selbst für sich sorgen können und von staatlicher Hilfe unabhängig werden. Die Grundprinzipien der Sozialversicherung (Erwerbstätigkeitsbezogen- heit, Pflichtversicherung, Beitragsbemessung nach Einkommenshöhe, Solidarität und Selbstverwaltung) gelten seit Erlass der Gesetze, zum Teil noch zur Zeit des Kaiserreichs. Vergleicht man die europäischen Sozialversicherungssysteme nach dem Beveridge- bzw. Bismarck-Modell, ist festzuhalten, dass beide erhebliche strukturelle Defizite haben und diese durch zunehmende Angleichung an das jeweils andere System, vor allem zwecks Bekämpfung der Aus- wirkungen des demografischen Wandels, auszugleichen versuchen. Bei der Definition von Sozialrecht kann zwischen formellem (im SGB geregelt bzw. zur Regelung vorgesehen) und materiellem Sozialrecht (alle Regelungen zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit und zum Schutz Schwächerer) unterschieden werden. Dass Bedarf an Sozialrecht besteht, darf – im Hinblick auf die negativen Konsequenzen bei fehlendem Sozialrecht – bejaht werden. 35 LEKTION 2 ABGRENZUNG DES SOZIALRECHTS VON ANDEREN RECHTSGEBIETEN LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie … – wissen, wo das Sozialrecht gesetzessystematisch verortet ist. – das Sozialrecht von anderen Rechtsgebieten abgrenzen können. – wissen, wann Sie welchen Rechtsweg beschreiten müssen. – die Besonderheiten kennen, die das sozialgerichtliche Verfahren prägen. 2. ABGRENZUNG DES SOZIALRECHTS VON ANDEREN RECHTSGEBIETEN Einführung Familie Schneider ist vom Pech verfolgt: Nach Jasmins bestandenem Abitur (Notendurch- schnitt: 1,6) wird ihr BAföG-Antrag für ein Medizinstudium vom Amt für Ausbildungsförde- rung mit der Begründung abgelehnt, ihre Bulimieerkrankung lasse es nicht erwarten, dass sie das angestrebte Ausbildungsziel erreichen werde. Jasmin ist verzweifelt, Mutter And- rea und Opa Paul sind empört: Sie wollen den Rechtsweg beschreiten! Aber welchen? Zählt BAföG zum Sozial- oder Verwaltungsrecht? Oder ist es vielleicht sogar eine private Leistung? Andrea Schneider gibt ihrem Vater gegenüber zu, dass sie bei all den vielen Anträgen langsam den Überblick verliere, wer wo und wann zuständig ist und wo sie was beantragen und anfordern muss. Eine anwaltliche Beratung soll für Abhilfe sorgen. 2.1 Verortung des Sozialrechts in der Rechtsordnung Je nach den Rechtsbeziehungen der Beteiligten untereinander kann man die Rechtsord- nung in zwei Bereiche untergliedern: öffentliches Recht und Privatrecht. Öffentliches Recht Öffentliches Recht regelt die Rechtsbeziehungen der Träger öffentlichen Rechts unterei- nander oder im Über-Unterordnungs-Verhältnis zu privaten Rechtsträgern/Rechtssubjek- ten. Wenn im Einzelfall vielleicht auch kein wirkliches Über-Unterordnungs-Verhältnis besteht, so doch zumindest einseitige Anordnungs- oder Regelungsbefugnis gegenüber dem privaten Rechtsträger oder zumindest ein Handeln im öffentlichen Interesse (d. h. im Interesse der Allgemeinheit). Nach der wohl herrschenden Lehre, der sogenannten modifi- zierten Subjektstheorie (auch Sonderrechtstheorie oder Zuordnungstheorie genannt), liegt öffentliches Recht dann vor, wenn die betroffene Gesetzesnorm ausschließlich einen Träger hoheitlicher Gewalt als solchen berechtigt oder verpflichtet. Ansonsten liegt Privat- recht vor. Das Privatrecht regelt in erster Linie die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten, wobei auch privatrechtliches Handeln von staatlichen Institutionen dem Privatrecht unterfällt (z. B. der Abschluss privatrechtlicher Verträge wie Kauf oder Miete). Träger öffentlichen Rechts sind z. B. Behörden, Ämter und andere staatliche Institutionen, aber auch solche Einrichtungen, die vom Staat durch hoheitlichen Akt dazu befugt wurden, staatlich („wie der Staat“) zu handeln, z. B. Anstalten des öffentlichen Rechts (wie die Bun- desbank) und Körperschaften des öffentlichen Rechts (wie die Sozialversicherungsträger). Träger des Privatrechts sind natürliche Personen (= Menschen) oder juristische Personen 38 (= vor allem Personenzusammenschlüsse). Hauptgestaltungsmittel des öffentlichen Rechts ist der Verwaltungsakt. Der ablehnende BAföG-Bescheid ist beispielsweise ein Ver- waltungsakt. Öffentliches Recht gliedert sich in viele unterschiedliche Rechtsbereiche: Abbildung 4: Gliederung des öffentlichen Rechts Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2018. Zum Teil wird das Sozialrecht auch als Teil des besonderen Verwaltungsrechts dargestellt (so bei Beyer 2017, S. 39), im Ergebnis bedeutet das aber keinen Unterschied. Es ist in jedem Fall Teil des öffentlichen Rechts. 39 Privatrecht Das Privatrecht ist in der Regel durch eine Gleichordnung, d. h. Gleichrang der Beteiligten geprägt. Es geht um individuelle Interessen. Hier können die Beteiligten ihre Positionen austauschen (mal Käufer/mal Verkäufer), niemand ist über- oder untergeordnet (auch nicht z. B. im Miet- oder Arbeitsrecht), selbst wenn es manchmal so erscheint: Gesetze sor- gen für fairen Ausgleich. Auch das Privatrecht lässt sich in eine Vielzahl von Gesetzen unterteilen. Dabei wird das BGB auch als allgemeines Privatrecht bezeichnet, denn es gilt für alle Bürger, während das besondere Privatrecht nur für bestimmte Personengruppen gilt (z. B. für Arbeitgeber, Akti- onäre, Kaufleute, Unternehmer etc.). Abbildung 5: Gliederung des Privatrechts Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2018. Hauptgestaltungsmittel des Privatrechts ist der Vertrag, mit dem die Parteien ihre Aus- tauschbeziehungen regeln. 40 Tabelle 1: Öffentliches und Privatrecht – eine Gegenüberstellung Öffentliches Recht Privatrecht Rechtsbeziehungen Bürger/Staat → Über-/Unter- Rechtsbeziehungen von Bürgern untereinander ordnung, zumindest einseitige Regelungsbefug- Gleichordnung, Handeln im Individualinteresse nis, Handeln im öffentlichen Interesse Handlungsformen: Rechtsgeschäft, insbeson- Rechtsbeziehungen staatlicher Einrichtungen dere Vertrag untereinander Rechtsweg: Zivilgerichte, BGH Rechtsnormen, die Regelungen zur Funktion und Parteimaxime oder Beibringungsgrundsatz: Organisation des Staats beinhalten (z. B. StrafR) Berücksichtigung dessen, was die Partei selbst Handlungsformen: Gesetze, öffentlich-rechtliche zu ihren Gunsten im Prozess vorträgt, keine Verträge, Verwaltungsakte Ermittlung durch das Gericht von Amts wegen Rechtsweg: Sozialgerichte, Verwaltungsgerichte, (anders als im öffentlichen Recht) BVerfG hohes Gerichtskostenrisiko bei Unterliegen im Amtsermittlungsgrundsatz (= Untersuchungs- Prozess grundsatz)* Funktion: Gesetze sorgen für einen fairen Aus- geringe oder keine Gerichtskosten gleich zwischen den privaten Interessen. Funktion: Begründung und Begrenzung staatli- cher Befugnis * Der Amtsermittlungs- oder Untersuchungsgrundsatz fordert vom Richter bzw. Gericht selbstständige Bei- ziehung aller zur Fallentscheidung notwendigen Informationen, Akten etc. Der Grundsatz gilt nur im öffentli- chen Recht. Quelle: erstellt im Auftrag der IU, 2018. 2.2 Abgrenzung des Sozialrechts von anderen Rechtsgebieten Das Sozialrecht als Teil des öffentlichen Rechts lässt sich abgrenzen von anderen Rechts- bereichen des öffentlichen Rechts, aber auch vom Privatrecht. Abgrenzung vom Privatrecht, insbesondere vom Bürgerlichen Recht Nimmt man eine Abgrenzung des Sozialrechts vom bürgerlichen Recht vor, so könnte man zunächst sagen, dass sie nach den oben dargestellten Grundsätzen nichts miteinander gemein haben. Sozialrecht ist Teil des öffentlichen Rechts, bürgerliches Recht der Inbegriff des Privatrechts. Das lässt aber unbeachtet, dass gerade auch im bürgerlichen Recht viele Regelungen getroffen werden, die materiell-rechtlich (also was die geregelten Inhalte betrifft) betrachtet als sozial zu bezeichnen sind, nämlich dem Schutz des schwächeren Vertragspartners bzw. allgemein dem Schutz Schwächerer (also dem Sozialstaatsziel sozi- ale Sicherheit) dienen. So müssen z. B. Kündigungen des Arbeitsverhältnisses schriftlich erfolgen (§ 623 BGB), es sind Kündigungsfristen einzuhalten (§§ 622, 624 BGB), § 613a BGB schützt die Arbeitneh- mer bei Betriebsübergang auf einen neuen Eigentümer, Kinder haben Unterhaltsansprü- che gegen Eltern (§§ 1601–1615 BGB), Wohnraummieter können bei berechtigten Mietkür- 41 zungen aufgrund eines Mangels der Mietsache nicht einfach aus der Wohnung geworfen werden (§ 536 BGB), und gerade auch das im BGB geregelte Betreuungsrecht (§§ 1896 ff. BGB) dient dem Schutz von kranken, schwachen, alten oder behinderten Menschen. Insoweit regelt also auch das Privatrecht, nicht nur im bürgerlichen Recht, sondern auch in anderen Bereichen (z. B. im Kündigungsschutzgesetz), soziale Materien. Anders als im Sozialrecht geht es hier im Kern aber nicht um ein Über-Unterordnungs-Verhältnis Staat vs. Bürger, sondern um eine (Rechts-)Beziehung von Bürgern untereinander, in die der Staat lediglich steuernd eingreift, wenn diese Beziehung nicht ausgewogen ist und ein pri- vates Rechtssubjekt nicht ausreichend in der Lage ist, seine berechtigten Interessen gegenüber anderen Rechtssubjekten durchzusetzen. BEISPIEL Andrea Schneider hat über die Pflege ihres Manns und die Betreuung der Kinder ihren Arbeitsplatz verloren. Der Arbeitgeber hat ihr aus seiner überlegenen Machtposition heraus gekündigt. Der Sachverhalt sagt zwar nichts dazu aus, ob es zu einer Kündigungsschutzklage kam, aber jedenfalls hätte ihr nach dem Kün- digungsschutzgesetz die Möglichkeit offengestanden, binnen drei Wochen ab Zugang der Kündigung Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht zu erhe- ben. Das Kündigungsschutzgesetz dient also der Umsetzung des Schutzes des in der Regel schwächeren Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber. Nicht immer lassen sich Privatrecht und öffentliches Recht (und damit auch Sozialrecht) einfach voneinander abgrenzen. So ist z. B. das Arbeitsrecht überwiegend privatrechtlich geregelt, insbesondere was den Schutz des einzelnen Arbeitnehmers, das sogenannte Individualarbeitsrecht, anbelangt. Soweit allerdings die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgeberzusammenschlüssen (Arbeitgeberverbänden etc.) und Zusammenschlüssen von Arbeitnehmern (z. B. Gewerkschaften) betroffen sind, stellt dies öffentlich-rechtliches Arbeitsrecht (Kollektivarbeitsrecht) dar. Öffentlich-rechtlich geregelt ist auch der Arbeits- schutz: Hier ist der Staat berechtigt, sowohl Arbeitgebern als auch Arbeitnehmern Weisun- gen zu erteilen, welche Arbeitsschutzmaßnahmen einzurichten und einzuhalten sind, denn letztlich tragen auch alle Bürger die Folgen von Arbeitsunfällen. Abgrenzung vom Strafrecht Während das Sozialrecht von einigen Ausnahmen abgesehen (z. B. im Recht der Arbeits- förderung die Sperrzeit für Arbeitslosengeld, § 159 SGB III) nicht auf Sanktionen, sondern auf Leistung, Schutz, Sicherheit, Abwehr von Ungleichheiten, sozialen Ausgleich, Teilhabe etc. ausgerichtet ist, zielt das Strafrecht auf den Erhalt des Rechtsfriedens, Bestrafung und Sühne, Spezial- und Generalprävention (also Resozialisierung des Täters und Schutz der Bevölkerung vor dem Straftäter), das Jugendstrafrecht dagegen auch auf Erziehung. Gleichwohl können Strafrecht und Sozialrecht eng miteinander verknüpft sein. 42 In der Regel wird niemand gezwungen, sozialstaatliche Leistungen in Anspruch zu neh- men. Bei mangelnder Mitwirkung (z. B. Unterlassen einer Antragstellung oder Verweige- rung einer körperlichen Untersuchung) liegt in der Regel nur eine Obliegenheitsverlet- zung, d. h. eine Pflichtverletzung gegenüber den eigenen Interessen vor, mit der Folge, dass eine Leistung, die an und für sich zu erbringen wäre, nicht erbracht wird. Das ist nicht strafbar. BEISPIEL Wenn sich Paul Epp trotz zunehmender Pflegebedürftigkeit weigern sollte, sich vom MDK, dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen, begutachten zu lassen, kommt keine Eingruppierung in einen Pflegegrad zustande, denn die Pflege- kasse braucht Anhaltspunkte, wofür und in welchem Umfang sie Leistung erbringen soll. Damit kann er auch keine Leistungen aus der Pflegekasse bezie- hen. Lässt er sich begutachten, wird er in einen Pflegegrad eingeordnet und kann Pflegegeld für die häusliche Pflege durch seine Tochter beanspruchen bzw. Pflegesachleistung in Form der Beanspruchung eines mobilen Pflegediensts. Beim Bezug von Pflegegeld muss er aber – je nach Pflegegrad – viertel- oder halbjährliche Kontrollvisiten eines Pflegediensts in Anspruch nehmen, die prü- fen, ob die Pflege angemessen erbracht wird. Tut er das nicht, wird das Pflege- geld schlimmstenfalls gestrichen. In beiden Fällen mag sein Verhalten dumm sein, denn es verletzt eigene Interessen. Strafbar ist es jedoch nicht. Das Gleiche gilt, wenn Andrea Schneider keinen Wohngeldantrag stellt oder Jas- min Schneider nicht gegen den ablehnenden BAföG-Bescheid vorgeht. Gleich- wohl ist es ihr gutes Recht und nicht strafbar. Anders ist es bei der unberechtigten Inanspruchnahme von Leistungen, aber auch bei mangelnder Mitwirkung dabei, v

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