Skriptum STEOP Vorlesung Teil 1- Einführung_Bachmann_Lyrik PDF

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Universität Wien

Günther Stocker

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german literature literature analysis ingoborg bachmann german studies

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This document is a lecture script for an introductory German literature course, specifically focusing on the works of Ingeborg Bachmann. It outlines the subjects covered in the lecture, including analysis techniques and historical context related to modern German literary works.

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STEOP EV: Einführung in die deutsche Philologie Skriptum zum Teilbereich Neuere deutsche Literatur 1. Teil Univ. Prof. Mag. Dr. Günther Stocker Hinweis: Zusätzlich zu den in der Vorlesung vorgetragenen und im Skriptu...

STEOP EV: Einführung in die deutsche Philologie Skriptum zum Teilbereich Neuere deutsche Literatur 1. Teil Univ. Prof. Mag. Dr. Günther Stocker Hinweis: Zusätzlich zu den in der Vorlesung vorgetragenen und im Skriptum zusammengefassten Inhalten bilden die präsentierten Folien sowie die folgende Pflichtlektüre den Prüfungsstoff für den Teilbereich Neuere deutsche Literatur: Franz Grillparzer: Das goldene Vließ. Dramatisches Gedicht in drei Abteilungen (Der Gastfreund, Die Argonauten, Medea). Stuttgart: Reclam 1995 (= RUB 4392). 1 Inhalt Einführung................................................................................................................................. 2 Erster Analyseschritt: Systematische Beschreibung mit Fachbegriffen.................................... 3 Ingeborg Bachmann: Früher Mittag................................................................................... 3 Was ist ein Gedicht?............................................................................................................... 5 Verse.................................................................................................................................... 5 Strophen / Abschnitte......................................................................................................... 5 Abweichung von der Alltagssprache................................................................................... 5 Metaphern........................................................................................................................... 6 Wiederholungsstrukturen...................................................................................................... 8 Reime.................................................................................................................................. 8 Intertextualität....................................................................................................................... 9 Wilhelm Müller: Der Lindenbaum................................................................................... 10 Johann Wolfgang von Goethe: Der König in Thule........................................................... 11 Zweiter Analyseschritt: Historische Verortung........................................................................12 Literaturhistorische Verortung.............................................................................................14 Dritter Analyseschritt: Vergleich.............................................................................................. 15 Exkurs: Metrum, lat.: Versmaß.................................................................................................16 Literaturverzeichnis............................................................................................................. 20 Einführung Immer noch geistert ein vorwissenschaftliches Verständnis davon, was Literaturwissenschaftler*innen eigentlich machen, durch die Köpfe. Da gebe es angeblich wertvolle, aber leider komplizierte Texte und die Damen und Herren Professorinnen und Professoren erklären, was diese Texte eigentlich bedeuten, was uns der bzw. die Autor*in sagen wollte, was die eigentliche Botschaft des Textes sei. A bedeute eigentlich X, B bedeute Y. Das sei die Kunst der Interpretation. In ihrem berühmt gewordenen Essay Against Interpretation1 schreibt die US-amerikanische 1 Vgl. Susan Sontag: Against Interpretation. New York: Farrar, Straus & Giroux 1966. 2 Kritikerin Susan Sontag: „Die Interpretation ist die Rache des Intellekts an der Kunst.“2 Und das ist nun wirklich nicht unser Ziel. Stattdessen geht es in einer zeitgemäßen Literaturwissenschaft um einen systematischen Zugang zu Literatur auf der Basis von Dramen-, Lyrik- und Erzähltheorie sowie Literaturgeschichte. Damit wird nicht alles erklärbar und schon gar nicht einfach, aber das Reden und Schreiben über Literatur wird nachvollziehbar, kritisierbar und diskutierbar. Damit muss nicht jeder subjektive Zugang zur Literatur abgelehnt werden, aber die Literaturwissenschaft arbeitet systematisch und theoriegeleitet. Und das muss das grundlegende Ziel des literaturwissenschaftlichen Studiums sein: Die Kenntnis zahlreicher relevanter Texte sowie die Fähigkeit, diese selbständig zu analysieren. Beginnen wir mit einem Text von Ingeborg Bachmann (1926-1973): Erster Analyseschritt: Systematische Beschreibung mit Fachbegriffen Ingeborg Bachmann: Früher Mittag3 1. Still grünt die Linde im eröffneten Sommer, 2. weit aus den Städten gerückt, flirrt 3. der mattglänzende Tagmond. Schon ist Mittag, 4. schon regt sich im Brunnen der Strahl, 5. schon hebt sich unter den Scherben 6. des Märchenvogels geschundener Flügel, 7. und die vom Steinwurf entstellte Hand 8. sinkt ins erwachende Korn. 9. Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt, 10. sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß 11. und reicht dir die Schüssel des Herzens. 2 Susan Sontag: Gegen Interpretation. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. München, Wien: Hanser 1980, 13. 3 Die Nummerierung der Verszeilen wurde vom Verf. hinzugefügt, um die Bezugnahme darauf zu erleichtern. 3 12. Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel. 13. Sieben Jahre später 14. fällt es dir wieder ein, 15. am Brunnen vor dem Tore, 16. blick nicht zu tief hinein, 17. die Augen gehen dir über. 18. Sieben Jahre später, 19. in einem Totenhaus, 20. trinken die Henker von gestern 21. den goldenen Becher aus. 22. Die Augen täten dir sinken. 23. Schon ist Mittag, in der Asche 24. krümmt sich das Eisen, auf den Dorn 25. ist die Fahne gehißt, und auf den Felsen 26. uralten Traums bleibt fortan 27. der Adler geschmiedet. 28. Nur die Hoffnung kauert erblindet im Licht. 29. Lös ihr die Fessel, führ sie 30. die Halde herab, leg ihr 31. die Hand auf das Aug, daß sie 32. kein Schatten versengt! 33. Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt, 34. sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen, 35. eh sie der Sommer im schütteren Regen vernimmt. 36. Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land: 37. schon ist Mittag. 4 Was ist ein Gedicht? Wir haben es hier erst einmal mit einem – im Vergleich etwa mit einem Roman oder einem Theaterstück – kurzen Text zu tun. Auffallend ist, dass die einzelnen Zeilen nicht dann enden, wenn kein Platz mehr auf der Seite ist, sondern dass es eine offensichtlich bewusste Strukturierung des Textes in einzelne Zeilen gibt, nämlich: Verse So gut wie alle Texte, die wir als Gedichte bezeichnen, sind in Verse eingeteilt. Der Begriff stammt vom lat. verto, vertere = wenden, sich umdrehen. Der Vers ist ein sprachliches Grundelement der gebundenen Rede – im Unterschied zur Prosa. Aber nicht nur Gedichte sind in Versen verfasst, sondern auch Dramen und Epen (Sie haben das in der mittelhochdeutschen Literatur schon kennengelernt, etwa beim Nibelungenlied). Versstruktur allein ist daher kein hinreichendes Merkmal zur Bestimmung von Gedichten, aber ein notwendiges. Strophen / Abschnitte Auffällig an dem Text ist des Weiteren, dass er in einzelne Abschnitte eingeteilt ist, die durch je eine Leerzeile voneinander getrennt sind. Man ist versucht, das Strophen zu nennen (Strophe = griech. Wendung), aber als Strophen werden in der Literaturwissenschaft nur gleichförmig gebaute Sequenzen von Verszeilen bezeichnet. Gleichförmig gebaut sind die Sequenzen in Bachmanns Gedicht aber nicht, weshalb es präziser ist, von Abschnitten zu sprechen. Abweichung von der Alltagssprache Ganz offensichtlich unterscheidet sich die hier verwendete Sprache auf mehrfache Weise von der Alltagssprache. Wir haben es mit einer explizit poetischen Sprache zu tun. Für einen der wichtigsten Literaturtheoretiker des beginnenden 20. Jahrhunderts, den Begründer des sogenannten „Russischen Formalismus“, Viktor Šklovskij, sind diese Abweichungen von den Mechanismen der Alltagssprache das zentrale Kennzeichen von Literatur. Solche Abweichungen, solche Verfremdungen, wie Šklovskij das nennt, sollen zu einer Entautomatisierung der Wahrnehmung führen und uns damit die Dinge, die Menschen, die Welt viel genauer wahrnehmen lassen. 5 Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern.4 Künstlerisch und in unserem Fall auch poetisch ist für Šklovskij also eine Wahrnehmung, bei der die Form erlebt wird. Der alltäglich kommunikative Aspekt von Sprache tritt in den Hintergrund, die Form der Äußerung wird hervorgehoben. Diese (literarischen) Kunstgriffe können in der Verwendung von Versen und Reimen bestehen, in einer auffälligen Syntax, in der Häufung rhetorischer Figuren wie Metaphern und Vergleichen, in komplexen Erzählmustern und ungewöhnlichen Perspektivierungen, in Neologismen und bewussten Verstößen gegen die Rechtschreibregeln usw. usf. Darin zeige sich eben die Literarizität bzw. Poetizität. Diese Überlegungen haben auch heute noch viel für sich, werden etwa in der modernen Textverarbeitungspsychologie mit dem Begriff des Foregrounding bezeichnet. Worin besteht nun das Foregrounding im vorliegenden Text neben der bereits besprochenen spezifischen Segmentierung in Verse und Abschnitte? Metaphern Gedichte sind häufig semantisch aufgeladen, durch eine komplexe Bildlichkeit geprägt und nicht auf ein eindimensionales, lineares Verstehen ausgerichtet. Sie fordern in der Regel zu einer langsamen und wiederholten Lektüre auf.5 Auch „Früher Mittag“ enthält eine ganze Reihe von Metaphern, also rhetorischen Figuren, in denen sich zwei unterschiedliche Bildbereiche überlagern, wodurch etwas Drittes entsteht, das semantische Leerräume füllen kann oder eine dichtere, komplexere Bedeutung hervorbringt. So ist in unserem Gedicht etwa vom „erwachenden Korn“ die Rede oder davon, dass sich „im Brunnen der Strahl“ „regt“ – Unbelebtes wie Getreide oder Wasser wird hier belebt. Auch Genitivmetaphern finden sich, z.B. „Schüssel des Herzens“ oder „Felsen uralten Traums“. Dazu kommen Metaphern wie „eine Handvoll Schmerz“ und ein die Erde „schwärzender“ Himmel. 4 Viktor Šklovskij: Theorie der Prosa (1925). Frankfurt a.M.: Fischer 1967, 14. 5 Vgl. Jochen Strobel: Gedichtanalyse. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt 2015, 21. 6 Was ist damit erreicht? Der Text erzeugt eine komplexe Bildwelt, eröffnet neue Perspektiven und Assoziationen, bringt uns neue Vorstellungen und zwingt uns bestenfalls auch zum Nachdenken. Auffallend ist an Bachmanns sprachlichen Bildern die häufige Verbindung von Natur und Geschichtlichem. Der Literaturwissenschaftler Hans Höller hat darauf hingewiesen, dass die Natur hier als geschichtliches Gelände erscheint: Wohl werden unversöhnlich schreckliche Spuren faschistischer Barbarei vor Augen gestellt in einer Geschichtslandschaft, deren Gestalten geschunden, entstellt, geschwärzt, enthauptet und erblindet erscheinen, von deren Inventar Scherben und Asche, Halde und Krater, Totenhaus und Henker zurückgeblieben sind, […].6 Besonders traditionsreich und mythologisch aufgeladen ist die Figur des „enthaupteten Engels“. Hier ließe sich eine Reihe von Verweisen bilden – beginnend beim christlichen Erzengel Michael mit seinem Schwert über Friedrich Hölderlins „Engel des Vaterlands“ bis zu Walter Benjamins „Engel der Geschichte“. Aber Gedichte sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf mehreren Ebenen gestaltet sind, nicht nur auf der semantischen. Erst dadurch gewinnen sie ihre besondere Dichte. Jürgen Link hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Überstrukturierung“ geprägt. Damit ist gemeint, dass bei Gedichten  zur wörtlichen Bedeutung (Denotation)  auch die bildliche, übertragene Bedeutung (Konnotation),  die phonetische Dimension (Klanggestalt oder Lautung) durch Reim oder Alliteration  sowie Rhythmus und Metrik hinzukommen. Jochen Vogt versucht das mit einem kulinarischen Vergleich zu fassen: Wir dürfen uns also […] den lyrischen Text als mehrschichtige Angelegenheit vorstellen, ein wenig so wie bestimmte Torten, wo jede Schicht ihre spezielle Geschmackskomponente zum Geschmack des Ganzen beiträgt, aber erst alle zusammen ein einziges, unverwechselbares Aroma produzieren.7 6Hans Höller: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, 25. 7Jochen Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft. 4., aktualisierte Auflage, Paderborn: Fink 2002, 129. 7 Wiederholungsstrukturen Eine These der kognitiven Literaturwissenschaft [Das ist ein spezifischer, neuer theoretischer Ansatz in der Literaturwissenschaft; G.S.] lautet, das Vergnügen des Lesens beruht auf dem Wiedererkennen vertrauter Schemata sowie generell auf Wiederholungsstrukturen […]. Gedichte haben aufgrund ihres hohen Grades an Organisiertheit, also ihres Reichtums an wiederholbaren (wenngleich auch variablen) Strukturen, gute Chancen, Vergnügen auszulösen.8 Wiederholungsstrukturen erzeugen Aufmerksamkeit und Bedeutung, das gilt für die lexikalische und semantische Ebene ebenso wie für die rhythmische und klangliche. Besonders interessant sind dabei Abweichungen, denn diese verweisen auf eine besondere Bedeutung, bilden eine Hervorhebung – etwa, wenn ein Text durchgehend gereimt ist und dann ein Verspaar ohne Reime auftaucht. Reime In unserem Fall ist es umgekehrt: Das Gedicht ist aus unterschiedlich langen Verszeilen ohne Reime aufgebaut und dann folgen plötzlich zwei Strophen (nun wirklich Strophen, da sie gleich gebaut sind), die sich davon deutlich unterscheiden: Sieben Jahre später fällt es dir wieder ein, am Brunnen vor dem Tore, blick nicht zu tief hinein, die Augen gehen dir über. Sieben Jahre später, in einem Totenhaus, trinken die Henker von gestern den goldenen Becher aus. Die Augen täten dir sinken. Die beiden Strophen sind symmetrisch: Die jeweils ersten Verszeilen sind identisch, die letzten beginnen mit dem gleichen Artikel plus Substantiv und die Verszeilen 2 und 8 Strobel 2015, 104. 8 4 reimen sich jeweils. Ganz offensichtlich sind diese Textpassagen also hervorgehoben. Was es damit auf sich hat, darauf soll später noch genauer eingegangen werden. Hier sollen zunächst noch weitere Wiederholungsstrukturen genannt werden, die darin zu finden sind:  Anaphern (aufeinanderfolgende Verszeilen beginnen mit dem gleichen Wort): „schon regt sich […] / schon hebt sich […]“.  Anaphorische Anfänge einzelner Abschnitte: „Sieben Jahre später“  Refrainartige Wiederholungen: Vers 23 und Vers 37 lauten beide „schon ist Mittag“, das kam auch schon am Ende von Vers 3 vor. „Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt“, und dann in einer bedeutsamen Variation bzw. Inversion: „Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt“. Auffällig ist durch seine viermalige Wiederholung und seine Position am Beginn der jeweiligen Verszeile das Zeitadverb „schon“, das Dringlichkeit ausdrückt. „Schon ist Mittag“. Der Titel des Gedichtbandes, in dem „Früher Mittag“ enthalten ist, lautet dann auch Die gestundete Zeit und ist erstmals im Jahr 1953 in der von Alfred Andersch herausgegebenen Reihe Studio Frankfurt veröffentlicht worden. Wenn wir nun einen Blick auf die semantische Struktur des Textes werfen, also seine Bedeutungsstruktur, dann lassen sich auch hier Zusammenhänge und Wiederholungen (auch Rekurrenzen genannt) erkennen. Tauchen bestimmte Bedeutungselemente mehrfach auf, die zusammen ein Bildfeld ergeben, dann spricht man von einer „Isotopie“. In Bachmanns Gedicht lassen sich u.a. die Isotopien „Krieg / Gewalt / Schmerz“, „Dringlichkeit“ sowie „Schweigen / Sprechen“ erkennen, die dem Text Kohärenz verleihen. Intertextualität Wenden wir uns noch einmal den beiden formal hervorgehobenen Strophen zu: Es ist plausibel, anzunehmen, dass diese formale Besonderheit auch eine inhaltliche Dimension besitzt. Besonders ins Auge springt dabei zuerst die Verszeile „Am Brunnen vor dem Tore“. Dabei handelt es sich um die erste Zeile eines der berühmtesten deutschen Gedichte, des von Wilhelm Müller (1794-1827) verfassten Kunstlieds „Der Lindenbaum“. Dieses erschien 1823 in dem Taschenbuch „Urania“ als Teil eines Liederzyklus mit dem Titel Die Winterreise, der u.a. 1827 von Franz Schubert vertont 9 wurde. Nicht zufällig kommt schon in der ersten Verszeile bei Bachmann eine grünende „Linde“ vor. Populär und gleichsam zu einem Volkslied wurde das Lied durch eine Vertonung von Friedrich Silcher. Wir haben es hier also mit der direkten Bezugnahme eines Textes auf einen anderen zu tun, einer Form der sogenannten Intertextualität. Hier der vollständige Text: Wilhelm Müller: Der Lindenbaum Am Brunnen vor dem Tore Da steht ein Lindenbaum: Ich träumt in seinem Schatten So manchen süßen Traum. Ich schnitt in seine Rinde So manches liebe Wort; Es zog in Freud und Leide Zu ihm mich immerfort. Ich mußt auch heute wandern Vorbei in tiefer Nacht, Da hab ich noch im Dunkel Die Augen zugemacht. Und seine Zweige rauschten, Als riefen sie mir zu: »Komm her zu mir, Geselle, Hier findst du deine Ruh!« Die kalten Winde bliesen Mir grad ins Angesicht, Der Hut flog mir vom Kopfe, Ich wendete mich nicht. Nun bin ich manche Stunde Entfernt von jenem Ort, Und immer hör ich's rauschen: Du fändest Ruhe dort! Wie in Bachmanns beiden Strophen reimen sich auch hier jeweils die zweite und die vierte Verszeile ab der letzten betonten Silbe. Der präzise Begriff dafür lautet Endreim. Und wie bei Bachmann gibt es in jeder Verszeile drei betonte Silben, also 10 drei Hebungen. In der zweiten Strophe bei Bachmann ist dann noch ein anderer intertextueller Bezug zu erkennen, nämlich das Zitat einer Verszeile aus Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) Ballade „Der König in Thule“ (1774), die er auch in seinem klassischen Drama Faust I (1808) verwendete, wo sie von Gretchen gesungen wird. Johann Wolfgang von Goethe: Der König in Thule Es war ein König in Thule, Gar treu bis an das Grab, Dem sterbend seine Buhle Einen goldnen Becher gab. Es ging ihm nichts darüber, Er leert’ ihn jeden Schmaus; Die Augen gingen ihm über, So oft er trank daraus. Und als er kam zu sterben, Zählt’ er seine Städt’ im Reich, Gönnt’ alles seinen Erben, Den Becher nicht zugleich. Er saß bei’m Königsmahle, Die Ritter um ihn her, Auf hohem Vätersaale, Dort auf dem Schloß am Meer. Dort stand der alte Zecher, Trank letzte Lebensgluth, Und warf den heiligen Becher Hinunter in die Fluth. Er sah ihn stürzen, trinken Und sinken tief ins Meer, Die Augen thäten ihm sinken, 11 Trank nie einen Tropfen mehr. Thule, eine mythische Insel in Nordeuropa, hielt man früher für das nördlichste Gebiet der Welt. Im vorliegenden Goethe-Gedicht steht es für vermeintlich uralte germanische Tugenden, ganz besonders die Treue in der Liebe bis zum Tod. Darauf weist das Symbol des goldenen Bechers hin. Bezeichnend ist auch das schon zu Goethes Zeiten altertümliche Vokabular des Textes („Buhle“, „Zecher“, „thäten ihm sinken“), die eine archaische Atmosphäre heraufbeschwören. Beide Gedichte gelten als klassisches deutsches Bildungsgut; beide sind im 19. Jahrhundert durch ihre Vertonungen überaus populär, ja zu Volksliedern geworden. Weitere intertextuelle Referenzen sind Fjodor M. Dostojewskis (1821-1881) autobiographisch grundierter Bericht über ein sibirisches Straflager mit dem Titel Aus einem Totenhaus (1861/62)9 und der klassische griechische Prometheus-Mythos, in dem der Titanensohn Prometheus an den Kaukasus gekettet wird, wo ein Adler täglich seine nachts wieder nachwachsende Leber frisst, da er den Göttern das Feuer gestohlen und den Menschen gebracht hat. Nun ist Intertextualität in den verschiedensten Formen ein weit verbreitetes Phänomen in literarischen Texten. Autor*innen sind meistens auch eifrige Leser*innen. Niemand, der schreibt, beginnt bei null, sondern steht in der Reihe der Schreibenden vor ihr bzw. ihm. Um aber die Funktion der beiden expliziten Zitate in Bachmanns Gedicht zu verstehen, ist ein weiteres elementares Verfahren der Literaturwissenschaft nötig: die (literatur)historische Verortung. Zweiter Analyseschritt: Historische Verortung Das Gedicht „Früher Mittag“ ist 1952 entstanden und erstmals im Dezember 1952 in der Zeitschrift Frankfurter Hefte veröffentlicht worden. 1953 erschien dann eine leicht veränderte Version in Bachmanns berühmt gewordenen Gedichtband Die gestundete Zeit. Der Veröffentlichungskontext ist damit die frühe Nachkriegszeit, als die Erfahrung und die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs noch sehr präsent waren. Die Bilder der Verletzungen („geschundener Flügel“, „entstellte Hand“, 9Der russische Autor war von 1849 bis 1853 wegen „revolutionärer Umtriebe“ in einem solchen Straflager inhaftiert. 12 „enthaupteter Engel“) können somit historisch verortet werden. Auch die Formulierung „Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt“ lässt sich unschwer auf die Bombengeschwader der deutschen Luftangriffe auf europäische Städte beziehen. Die im Gedicht entworfene „Geschichtslandschaft“ (s.o.) ist also keine beliebige, sondern lässt sich historisch konkret verorten. Und damit kommen wir zu den beiden formal auffälligen Strophen, die jeweils durch eine Zeitangabe eingeleitet werden. „Sieben Jahre“ muss jetzt von 1952 zurückgerechnet werden und wir sind präzise im Jahr 1945, dem Jahr des Endes des Zweiten Weltkriegs. Das im Gedicht angesprochene „Du“ erinnert sich an die Zeit davor, wird aber gewarnt, nicht zu tief zu blicken, denn sonst würden ihm „die Augen übergehen“ – eine alte, aus der Lutherbibel stammende Formulierung für „weinen“. Und „sieben Jahre später“ sind es aus der Perspektive des Gedichts ausgerechnet „die Henker von gestern“, ganz offensichtlich die Kriegsverbrecher und Nationalsozialisten, die die „goldenen Becher“ austrinken. Der „goldene Becher“ steht in Goethes Ballade freilich für eine über den Tod hinausgehende Treue – niemand außer dem König durfte daraus trinken. Nun sitzen die NS-Gewalttäter wieder ungestraft an den „goldenen Bechern“ in einer Umgebung, die als Totenhaus, mithin als Ort der Folter und des Todes bezeichnet wird. Bachmanns Gedicht bezieht sich damit auf die spezifische geschichtliche Situation nach dem Zweite Weltkrieg: das anhaltende Leid, die Traumata der Opfer einerseits und die mangelnde Entnazifizierung bzw. Unverschämtheit der Täter andererseits. Wozu aber dienen die Bezüge auf die beiden berühmten Gedichte bzw. Volkslieder? Einerseits werden die dort zentralen Bilder wie „der Brunnen“, „der Lindenbaum“ und der „goldene Becher“ aus ihren ursprünglichen Kontexten gelöst und neu arrangiert. Die historische Distanz zu dieser klassischen bzw. romantischen Dichtung wird deutlich gemacht, der durch die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts entstandene Bruch lässt sich nicht einfach überspielen. Auch die deutsche Dichtung ist von den Zerstörungen des Weltkriegs betroffen. Andererseits wird in den intertextuellen Bezügen das Erschrecken darüber deutlich, dass es gerade das sogenannte „Volk der Dichter und Denker“ war, die für ihre Kunst und Philosophie geschätzten Deutschen, die für die enormen Zerstörungen in Europa verantwortlich sind. Genau in diesem Sinne bezeichnet der mit Bachmann befreundete Lyriker Paul Celan (1920-1970) sein berühmtes Gedicht über den Holocaust als „Todesfuge“ und formuliert darin „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Gerade 13 die Nationalsozialisten hatten sich in ihrem Kulturverständnis immer wieder auf die Volkslieddichtung und insbesondere die Literatur der Romantik bezogen, zu der nicht zuletzt Wilhelm Müllers Winterreise zu zählen ist. Dieses problematische Erbe ist in Bachmanns Text mitgedacht und in seinen historischen Kontext gesetzt. In dem „Brunnen vor dem Tore“ ist hier die historische Tiefe angesprochen, vor deren Anblick gewarnt wird, denn wer dort hinabblickt, dem werden eben „die Augen übergehen“. Literaturhistorische Verortung Zur historischen Verortung gehört des Weiteren auch die Bestimmung der Position von Texten innerhalb der Literaturgeschichte. Dabei geht es – kurz gesagt – um die Fragen, ob es sich jeweils um ein zeittypisches Gedicht handelt oder eines, das als ungewöhnlich herausragt; eines, das eine Tradition weiterführt, oder eines, das etwas Neues versucht. Um diese Fragen beantworten zu können, ist die Kenntnis der Literaturgeschichte unabdinglich. Über die Lyrik der frühen Nachkriegsjahre lässt sich jedenfalls sagen, dass damals Naturgedichte und christlich-abstrakte Symbolik dominierten, von der sich Bachmanns Literatur deutlich absetzt. Der französische Germanist Robert Minder war konsterniert, als er im Jahr 1952 etwa die verbreiteten deutschen Lesebücher untersuchte: Fielen dem Mann vom Mond solche Lesebücher in die Hände, er dächte: Ein reiner Agrarstaat muß dieses Deutschland sein, ein Land von Bauern und Bürgern, die in umhegter Häuslichkeit schaffen und werkeln und seit Jahrhunderten nicht mehr wissen, was Krieg, Revolution, Chaos ist.10 Von Kriegsschäden oder einem Zivilisationsbruch war in den Texten nichts zu lesen. Maximal ist darin von einer „Heimsuchung“ und von „dunkler Zeit“ die Rede, dominant aber sind Naturbilder, Blumen und Bäume, Landschaften und die Jahreszeiten. Der Autor Peter Rühmkorf schreibt im Rückblick: In den Jahren zwischen 1948 und 1950 begann die Naturlyrik dann ins Weite und Breite zu wuchern. Anhaltend auf der Flucht vor tragischen Bedrängungen und rück- und rückgetrieben an den Hang, den Knick zum Rasenstück, zum Beet und Blumentopf, geriet die Lyrik immer aussichtsloser ins Bescheidene und Beschnittene. […] Weil jener Exodus aus der Zeit, weil diese Flucht vor widerwärtig Gegenwärtigem Robert Minder: Soziologie der deutschen und der französischen Lesebücher. In: Alfred Döblin (Hg.): 10 Minotaurus. Dichtung unter den Hufen von Staat und Industrie. Wiesbaden: Steiner 1953, 17. 14 die lyrischen Naturalisten allgemach in die ästhetische Provinz führte, wo sie sich am Ende alle die gleichen Blumen an den Hut steckten.11 Davon heben sich Bachmanns Gedichte ganz deutlich ab. Der jüngsten Vergangenheit ebenso eingedenk wie traditionelle mit modernen lyrischen Formen kontrastierend, wurden sie zu einem literaturgeschichtlichen Ereignis. 1953 gewann Ingeborg Bachmann damit den renommierten Preis der Gruppe 47 und im selben Jahr erschienen sie gesammelt in dem Band Die gestundete Zeit, der die Autorin berühmt und „zur ersten lyrischen Stimme in der westdeutschen Lyrik der fünfziger Jahre“12 machten. Die Autorin (*25.6.1926) war damals 27 Jahre alt. Dritter Analyseschritt: Vergleich Implizit wurde nun schon mehrfach das dritte grundlegende literaturwissenschaftliche Verfahren angesprochen: der Vergleich. Literarische Texte wie Bachmanns „Früher Mittag“ lassen sich vergleichen  mit anderen Texten der gleichen Autorin,  mit früheren Fassungen bzw. Varianten des gleichen Textes (hier etwa der in manchen Details unterschiedlichen ersten Fassung in den Frankfurter Heften),  mit anderen zeitgenössischen literarischen Texten,  mit anderen zeitgenössischen nicht-literarischen Texten (z.B. Zeitungsartikeln, historischen oder philosophischen Texten etc.),  aber auch mit anderen thematisch oder formal verwandten Texten in einer zeitlichen Längsachse. Mit letzterem Verfahren ließe sich etwa die Geschichte der Naturlyrik vom Barock bis in die Gegenwart darstellen oder die Veränderung metrischer Formen von der Regelpoetik des Barock über die Anlehnung an klassische griechische Metren gegen Ende des 18. Jahrhunderts und die Prosagedichte Charles Baudelaires in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Moderne. Und schließlich werden Texte auch mit den anderen Werken des gleichen Autors bzw. der gleichen Autorin verglichen. 11 Peter Rühmkorf: Im Fahrtwind. Gedichte und Geschichte. Berlin 1979, 261. 12 Hans Höller: Ingeborg Bachmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, 73. 15 Vergleichen wir hier einmal Bachmanns Gedicht in formaler Hinsicht mit dem zitierten „Der Lindenbaum“ aus dem Jahr 1823. Auf den ersten Blick fällt die unterschiedliche Anordnung der Verszeilen auf. Während letzterer Text aus sechs gleichförmig strukturierten Strophen zu je vier Verszeilen aufgebaut ist, besteht Bachmanns Gedicht aus insgesamt 37 unterschiedlich langen Verszeilen, die bis auf die bereits genannten Ausnahmen ungereimt sind. „Der Lindenbaum“ weist hingegen Reime in jeder zweiten und vierten Verszeile auf, was als halber Kreuzreim oder unterbrochener Kreuzreim bezeichnet wird. Das Reimschema lautet abcb. Besonders auffällig sind in Müllers Gedicht der Rhythmus und die regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben, die ja wesentlich zu seiner breiten Wirkung und letztlich auch zu seinen Vertonungen beigetragen haben. Um diese Struktur genauer bestimmen zu können, ist ein Exkurs in die Metrik vonnöten: Exkurs: Metrum, lat.: Versmaß. Das Metrum ist das abstrakte Schema der in sogenannten Versfüßen gemessenen Silbenabfolge. Es war bereits im antiken Griechenland struktureller Bestandteil des Verses. Im Griechischen und Lateinischen unterscheiden sich die Silben durch ihre Länge; die verschiedenen Metren kommen hier durch die Kombination von kurzen und langen Silben zustande. Für das Deutsche, darauf weist schon Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) hin, gilt: ‚nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse groesse [d.i. Länge] der sylben koennen in acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen, welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden.‘ (49) Im Deutschen steht also (wie im Übrigen auch in der englischen Sprache) eine betonte Silbe ( - ), wo die Griechen und Lateiner eine lange Silbe setzten, und eine unbetonte Silbe ( ᴗ ) statt einer kurzen. Ganz im Sinne Opitz’ spricht man bei betonten Silben von Hebungen, bei unbetonten Silben von Senkungen. Man unterscheidet zwei- und dreisilbige Versfüße. Die wichtigsten Versfüße sind: 16 Name Schema Beispiel Jambus ᴗ- Vernúnft Trochäus -ᴗ Láger Spondeus -- Vóllmònd Daktylus -ᴗᴗ Wíederkehr Anapäst ᴗᴗ- Zauberéi ᴗ = unbetonte, kurze Silbe - = betonte, lange Silbe Jambischer wie trochäischer Versfuß sind gekennzeichnet durch den ständigen Wechsel von betonter und unbetonter Silbe. Anders ausgedrückt: Beide Versfüße sind streng alternierend, nur beginnt der jambische im Unterschied zum trochäischen auftaktig. Der dritte zweisilbige Versfuß, der Spondeus, ist, wie auch im Beispiel „Vollmond“ graphisch angedeutet, im Deutschen kaum möglich, denn von zwei aufeinanderfolgenden Hebungen wird immer eine etwas stärker akzentuiert. Im dreisilbigen Daktylus erkennt man schnell einen Dreivierteltakt – einer Hebung folgt eine Doppelsenkung. Diese Reihenfolge kehrt sich beim Anapäst um.13 Zurück zum „Lindenbaum“: Wir haben hier eine strenge Alternierung von unbetonten und betonten Silben, wobei jeweils eine unbetonte Silbe am Anfang steht und pro Verszeile drei Hebungen zu zählen sind. In einem solchen Fall wird von 13Dieses Zitat stammt aus einem empfehlenswerten Online-Lexikon zur Literaturwissenschaft, das als Ergänzung zu Jochen Vogts Einladung zur Literaturwissenschaft (eine ebenfalls empfehlenswerte Einführung) zusammengestellt worden ist: Elke Reinhardt-Becker (Hg.): Einladung zur Literaturwissenschaft. Ein Vertiefungsprogramm zum Selbststudium (2009), http://www.einladung- zur-literaturwissenschaft.de/index0828.html?option=com_content&view=article&id=312%3A6-1- metrum&catid=41%3Akapitel-6&Itemid=55 (25.10.2022). 17 dreihebigen Jamben gesprochen. Die letzte Silbe ist abwechselnd unbetont und dann betont. Dies wird als klingende bzw. stumpfe Kadenz bezeichnet (veraltet sind die Bezeichnungen „weibliche“ und „männliche“ Kadenz). Am Brunnen vor dem Tore Da steht ein Lindenbaum: Ich träumt in seinem Schatten So manchen süßen Traum. Wir haben es hier mit der sogenannten „Volksliedstrophe“ zu tun, „vierzeilige Strophen, deren Verse oft durch Kreuzreime miteinander verbunden sind“ 14, manchmal sind es aber auch Paarreime (Reimschema aabb). Volksliedstrophen sind in jedem Fall gereimt, haben entweder drei oder vier Hebungen pro Verszeile und sind grundsätzlich alternierend (= regelmäßiger Wechsel von Hebungen und Senkungen). Der Begriff „Volkslied“ stammt übrigens von einem Vorläufer der Romantik, dem Philosophen Johann Gottfried Herder (1744-1803). Heute würde jedenfalls kein ernstzunehmender Autor / keine ernstzunehmende Autorin mehr ein Gedicht wie „Der Lindenbaum“ schreiben, weder in Bezug auf die Form noch in Bezug auf das Bild der Natur oder des Ich. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das aber ein überaus zeitgemäßer und in der Folge sehr beliebter Text. Der Lindenbaum wurde zum Symbol romantischer deutscher Innerlichkeit, Weltabgeschiedenheit und Todessehnsucht: Projiziert wurde das Ich des Gedichts auf den Deutschen schlechthin, der hier vermeintlich als apolitischer Träumer dargestellt wird.15 Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) grenzt die Lyrik in seinen Vorlesungen über die Ästhetik (gehalten 1820-1829) gerade in Bezug auf das Ich und seinen Ausdruck von der erzählenden Dichtung ab: Zur epischen Poesie führt das Bedürfnis, die Sache zu hören, die sich für sich als eine objektiv in sich abgeschlossene Totalität dem Subjekt gegenüber entfaltet; in der Lyrik 14 Strobel 2015, 147. 15 Strobel 2015, 147. 18 dagegen befriedigt sich das umgekehrte Bedürfnis, sich auszusprechen und das Gemüt in der Äußerung selbst zu vernehmen. […] Der Inhalt des lyrischen Kunstwerks kann nicht die Entwicklung einer subjektiven Handlung in ihrem zu einem Weltreichtum sich ausbreitenden Zusammenhange sein, sondern das einzelne Subjekt und eben damit das Vereinzelte der Situation und der Gegenstände sowie der Art und Weise, wie das Gemüt mit seinem subjektiven Urteil, seiner Freude, Bewunderung, seinem Schmerz und Empfinden überhaupt sich in solchem Gehalte zum Bewußtsein bringt. […] Indem es endlich im Lyrischen das Subjekt ist, das sich ausdrückt, so kann demselben hierfür zunächst der an sich geringfügigste Inhalt genügen. Dann nämlich wird das Gemüt selbst, die Subjektivität als solche, der eigentliche Gehalt, so daß es nur auf die Seele der Empfindung und nicht auf den näheren Gegenstand ankommt. Die flüchtigste Stimmung des Augenblicks, das Aufjauchzen des Herzens, die schnell vorüberfahrenden Blitze sorgloser Heiterkeiten und Scherze, Trübsinn und Schwermut, Klage, genug, die ganze Stufenleiter der Empfindung wird hier in ihren momentanen Bewegungen oder einzelnen Einfällen über die verschiedenartigsten Gegenstände festgehalten und durch das Aussprechen dauernd gemacht.16 Regelmäßige Metrik und eine klare Klangstruktur finden sich auch in Goethes „Der König in Thule“. Wir haben hier je vier dreihebige Verszeilen mit Kreuzreim in einer Strophe. Die Anzahl der unbetonten Silben (der „Füllungen“) ist allerdings unregelmäßig, der vierte Vers der ersten Strophe beginnt mit einem Anapäst. Es war ein König in Thule, Gar treu bis an das Grab, Dem sterbend seine Buhle Einen goldnen Becher gab. Moderne Lyrik, d.h. Lyrik nach 1945 ist jedenfalls weitgehend reimlos, hat selten eine regelmäßige Metrik und hält sich in den wenigsten Fällen an traditionelle Strophenformen – wie wir das bei „Früher Mittag“ gesehen haben. Grundsätzlich lässt Georg Wilhelm Hegel: Ästhetik. Band 2. Hg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt a.M.: Europäische 16 Verlagsanstalt 1965, 471ff. 19 sich sagen, dass die Unterschiede zwischen traditioneller und moderner Lyrik „so enorm sein [können], dass ‚moderne‘ Lyrik von manchen Lesenden kaum mehr als Lyrik bezeichnet wird“17 – für Ingeborg Bachmanns Gedichte trifft das in dieser Radikalität freilich nicht zu. Wichtig ist jedenfalls festzuhalten, dass eine ahistorisch gültige normative Festlegung, was ein „Gedicht“ nun tatsächlich sei, nicht sinnvoll ist. Es lassen sich zwar zahlreiche Merkmale aufzählen, die in vielen als „Gedicht“ bezeichneten Texten vorkommen, allerdings ist so eine Checkliste immer unvollständig und manchmal auch nicht zutreffend. Ganz abgesehen davon, dass etwa auch Gotthold Ephraim Lessings Drama Nathan der Weise (1779) die Gattungsbezeichnung „Ein dramatisches Gedicht“ trägt. Derartiges hält sich noch bis ins 19. Jahrhundert. Auch Franz Grillparzers Das goldene Vließ, das 1821 am Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde, tituliert der Autor noch als „Dramatisches Gedicht“. Zielführender erscheint es jedenfalls, deskriptiv und historisch konkret zu fassen, was von Schreibenden und Lesenden jeweils als „Gedicht“ verstanden wurde und wird. Literaturverzeichnis Primärliteratur Bachmann, Ingeborg: Die gestundete Zeit. München u.a.: Piper 1974. Jandl, Ernst: schtzngrmm. In: Neue Wege 123 (1957), 11. Morgenstern, Christian: Galgenlieder. Berlin: Bruno Cassirer 1905. Rühmkorf, Peter: Im Fahrtwind. Gedichte und Geschichte. Berlin 1979. Wiese, Benno von (Hg.): Deutschland erzählt. Von Arthur Schnitzler bis Uwe Johnson. Frankfurt a.M.: Fischer 1962. Wiese, Benno von (Hg.): Deutschland erzählt. Von Rilke bis Handke. Frankfurt a. M.: Fischer 1976. Sekundärliteratur 17 Strobel 2015, 21. 20 Burdorf, Dieter, Christoph Fasbender u. Burkhard Moennighoff: Metzler Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler 2007. Hegel, Georg Wilhelm: Ästhetik. Band 2. Hg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1965. Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987. Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. Minder, Robert: Soziologie der deutschen und der französischen Lesebücher. In: Alfred Döblin (Hg.): Minotaurus. Dichtung unter den Hufen von Staat und Industrie. Wiesbaden: Steiner 1953. Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey. Breslau: Müller 1624, http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/opitz_buch_1624 (29.10.2022). Reinhardt-Becker, Elke (Hg.): Einladung zur Literaturwissenschaft. Ein Vertiefungsprogramm zum Selbststudium (2009), http://www.einladung-zur- literaturwissenschaft.de/index.html (25.10.2022). Šklovskij, Viktor: Theorie der Prosa (1925). Frankfurt a.M.: Fischer 1967. Sontag, Susan: Against Interpretation. New York: Farrar, Straus & Giroux 1966. Sontag, Susan: Gegen Interpretation. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. München, Wien: Hanser 1980. Strobel, Jochen: Gedichtanalyse. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt 2015. Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. 4. Aufl. Paderborn: Wilhelm Fink 2002. Winko, Simone: Einleitung. In: Simone Winko, Fotis Jannidis u. Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin, New York: de Gruyter 2009, 41–44. 21

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