Rechtsgrundlagen Sozialer Arbeit PDF WiSe 2024/2025
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Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm
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This document contains lecture notes on the Legal Foundations of Social Work for the Winter Semester 2024/2025 at the Technical University of Nuremberg. The document covers topics such as the structure and principles of the German constitution, and the function of basic rights.
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Rechtsgrundlagen Sozialer Arbeit Prof. Dr. Ingo Palsherm WiSe 2024/2025 Prof. Dr. Ingo Palsherm Agenda Grundlagen des Rechts und des Staates 1 Aufbau und Grundzüge des Grundgesetzes 2 Staatsstrukturprinzipien/-zielbestimmungen...
Rechtsgrundlagen Sozialer Arbeit Prof. Dr. Ingo Palsherm WiSe 2024/2025 Prof. Dr. Ingo Palsherm Agenda Grundlagen des Rechts und des Staates 1 Aufbau und Grundzüge des Grundgesetzes 2 Staatsstrukturprinzipien/-zielbestimmungen 3 Grundrechte Prof. Dr. Ingo Palsherm Überlegen Sie !!! Wofür brauche ich in der Sozialen Arbeit überhaupt Kenntnisse im Grundgesetz? Prof. Dr. Ingo Palsherm Praxisfälle (Wie würden Sie entscheiden?) 1. Sozialarbeiterin S arbeitet in einer Einrichtung der politischen Bildung. Jugendliche äußern sich ihr gegenüber abfällig über diesen „Scheißstaat“ ( Aufklärung über Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat, Grundrechte). 2. Hubsi Darmstadt wird vom Jugendamt in Obhut genommen, weil seine Eltern ihn gefährdeten. Diese wehren sich gegen den Vorwurf ( Abwehrfunktion der Grundrechte) 3. Otto Darmstadt ist lebensgefährlich erkrankt. Eine neue Therapie wird ihm verweigert, weil diese nicht im Leistungskatalog der Krankenkasse und auch zu teuer sei ( Leistungs- und Teilhabefunktion der Grundrechte). 4. Hussein Damaskus ist vor dem Bürgerkrieg in seiner Heimat geflohen, weil sein Leben bedroht war ( Grundrecht auf Asyl). Prof. Dr. Ingo Palsherm Systematisierung nach Regelungsinhalten des Rechts Europäisches Recht Deutsches Recht Öffentliches Recht Privatrecht Staats- und Bürgerliches Recht Verfassungsrecht Verwaltungsrecht Sonderprivatrecht Sozialrecht Handelsrecht Zuwanderungsrecht Gesellschaftsrecht … Strafrecht … Arbeitsrecht 4.1 Rechtsquellenlehre Seite 5 Prof. Dr. Ingo Palsherm Aufbau und Inhalte des Grundgesetzes Präambel Abschnitt I: Die Grundrechte (Art. 1-19 GG) Abschnitt II: Der Bund und die Länder (Art. 20-37 GG) Abschnitte III-VI: Die Staatsorgane (Art. 38-69 GG) Abschnitte VII-Xa: Die Staatsfunktionen (Art. 70-115 GG) Abschnitt XI: Übergangs- und Schlussbestimmungen (Art. 116-146 GG) Aufbau und Grundzüge Staatsorganisationsrecht Seite 6 Prof. Dr. Ingo Palsherm Agenda Grundlagen des Rechts und des Staates 1 Aufbau und Grundzüge des Grundgesetzes 2 Staatsstrukturprinzipien/-zielbestimmungen 3 Grundrechte Prof. Dr. Ingo Palsherm Bundesstaat Republik Demokratie Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG): „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demo- kratischer und sozialer Bundesstaat.“ Sozialstaat Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG): „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Recht- sprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ Rechtsstaat Staatsstrukturprinzipien/-zielbestimmungen Seite 8 Prof. Dr. Ingo Palsherm Staatsstrukturprinzipien Republik (≠ Monarchie) Bundesstaat = Verbindung von Einzelstaaten zu einem Gesamtstaat bei fortbestehender (Eigen-) Staatlichkeit der Gliedstaaten (≠ Zentralstaat wie z.B. Frankreich) Demokratie = Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk (Abraham Lincoln, Gettysburg Address 19.11.1863) Rechtsstaat = Gewaltenteilung, Grundrechte und Rechtsschutzgarantie, Bindung der Legislative an die Verfassung sowie von Exekutive und Judikative an Recht und Gesetz Sozialstaat Vgl. BVerfG v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 u.a. – juris Rn. 217. Staatsstrukturprinzipien/-zielbestimmungen Seite 9 Prof. Dr. Ingo Palsherm Staatszielbestimmung Verfassungsnorm, die dem Staat die Erfüllung bestimmter Aufgaben oder die Verfolgung bestimmter Ziele vorschreibt oder charakterisierende Merkmale des Gemeinwesens zum Ausdruck bringt z.B. S o z i a l s t a a t Staatsstrukturprinzipien/-zielbestimmungen Vgl. Sachverständigenkommission Seite 10 Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge Prof. Dr. Ingo Palsherm Agenda Grundlagen des Rechts und des Staates 1 Aufbau und Grundzüge des Grundgesetzes 2 Staatsstrukturprinzipien/-zielbestimmungen 3 Grundrechte Prof. Dr. Ingo Palsherm Grundrechte Freiheitsrechte Gleichheitsrechte Justizgrundrechte Speziell (Art. 3 Abs. 2, 3 GG, Allgemeine Allgemeines Art. 6 Abs. 5 Art. 101, 103 Handlungs- Spezielle Gleichheits- Art. 19 GG, Art. 33 Abs. 1-3, 104 freiheit (Art. 2 Freiheitsrechte recht (Art. 3 Abs. 4 GG Abs. 1-3 GG, GG Abs. 1 GG) Abs. 1 GG) Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) Grundrechte Seite 12 Prof. Dr. Ingo Palsherm 1. Grundrechtsfunktion: Abwehr des Staates Hintergrund: Gewaltmonopol des Staates alleinige Berechtigung in die persönliche Sphäre seiner Bürger einzugreifen Aber: Rechtsstaatsprinzip, d.h. Eingriffsmöglichkeit muss rechtlich geordnet und frei von Willkür sein Grenze der staatlichen Eingriffsbefugnis durch die Freiheits- oder Abwehrfunktion der Grundrechte (sog. status negativus = Abwehrrechte gegen den Staat). Grundrechtsfunktionen Seite 13 Prof. Dr. Ingo Palsherm 2. Grundrechtsfunktion: Teilhabe der Menschen Hintergrund: ausschließliche Selbstversorgung in moderner Industriegesellschaft nicht bzw. kaum denkbar Daher: Freiheit nicht ohne den Staat denkbar dieser muss erst die Voraussetzungen für die Freiheit schaffen Also: Teilhabefunktion der Grundrechte, d.h., Absicherung des Teilhabeanspruchs des Einzelnen durch Grundrechte, ohne im Regelfall bereits eine subjektive Anspruchsgrundlage zu sein (sog. status positivus). Grundrechtsfunktionen Seite 14 Prof. Dr. Ingo Palsherm Abwehr staatlichen Handelns Verletzung eines Freiheitsgrundrechts? SB Abstecken des Schutzbereichs Feststellen eines Eingriffs in den Eingriff Schutzbereich Prüfen der verfassungsrechtlichen VRRF Rechtfertigung des Eingriffs Grundrechtsverletzung Seite 15 Prof. Dr. Ingo Palsherm Schutzbereich: Wer und was wird geschützt ? Schutzbereich eines Freiheitsgrundrechts = SB „Tabuzone“, in die der Staat mit seiner Staatsgewalt „an sich“ nicht eingreifen soll Eingriff Unterteilung des Schutzbereichs in Sachlicher Schutzbereich: Betrifft das staatliche Handeln den Lebensbereich, den das Grundrecht regelt? VRRF Persönlicher Schutzbereich: Will das Grundrecht gerade die Person schützen, die vom staatlichen Handeln betroffen ist? Schutzbereich von Grundrechten Seite 16 Prof. Dr. Ingo Palsherm Sachlicher Schutzbereich (Was ?) Sachlicher Schutzbereich = Lebensbereich in dem SB das Grundrecht wirkt, z.B. Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG, Eingriff die informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeits- rechts nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Ehe und Familie sowie Elternrecht nach Art. 6 VRRF GG, Asyl nach Art. 16a GG Schutzbereich von Grundrechten Seite 17 Prof. Dr. Ingo Palsherm Persönlicher Schutzbereich (Wer ?) persönlicher Schutzbereich = definiert, wer Träger SB des Grundrechts ist (sog. Grundrechtsfähigkeit). Zu unterscheiden sind sog. „Deutschenrechte“, die das Deutschsein i.S.d. Art. 116 GG voraussetzen, z.B. Eingriff o die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG, o die Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG, o die Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG VRRF o die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG sog. „Jedermannrechte“ Schutzbereich von Grundrechten Seite 18 Prof. Dr. Ingo Palsherm Staatlicher Eingriff in den Schutzbereich SB Neben Freiheitsverbürgung zugleich Notwendigkeit für den Staat, dem Freiheitsgebrauch Grenzen setzen zu dürfen Diese „Grenzsetzung“ ist ein Eingriff in den Schutzbereich Eingriff Eingriff = jedes staatliche Verhalten, dass einem Grundrechtsträger eine VRRF Handlungsweise zumindest teilweise unmöglich macht, behindert oder gefährdet, die in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt. Eingriff in Grundrechte Seite 19 Prof. Dr. Ingo Palsherm Verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffs: Warum Schranken von Grundrechten ? SB Schranken (= abstrakte gesetzliche Möglichkeiten zur rechtmäßigen Begrenzung eines Grundrechts) notwendig, da die Freiheit des einen zumindest an Eingriff dem Punkt nicht mehr grenzenlos sein kann, wo er die Freiheit des anderen verhindert Art jeweils zulässiger Schranke in jedem VRRF Grundrecht eigens geregelt bzw. mittelbar aus dem Grundrecht zu entnehmen Schranken von Grundrechten Seite 20 Prof. Dr. Ingo Palsherm SB Welche Grundrechtsschranke hat das Grundrecht ? verfassungs- verfassungs- Eingriff Gesetzesvorbehalt unmittelbare immanente Schranke Schranke z.B. Art. 9 z.B. Art. 4 einfacher qualifizierter Abs. 2 GG, Abs. 1 GG, VRRF Gesetzes- Gesetzes- Art. 13 Abs. 3, Art. 5 Abs. 3 vorbehalt vorbehalt 1. Halbsatz GG GG Schranken von Grundrechten Seite 21 Prof. Dr. Ingo Palsherm Arten der Schranken von Grundrechten (I) SB einfacher Gesetzesvorbehalt: Erfordernis eines Gesetzes für die Einschränkung, ohne dass dieses besondere Anforderungen erfüllen muss Eingriff qualifizierter Gesetzesvorbehalt: Erfordernis besonderer Anforderungen für das Gesetz Verfassungsunmittelbare Schranken: unmittelbar VRRF aus dem Grundgesetz (z.B. Verbot verfassungs- feindlicher Vereine nach Art. 9 Abs. 2 GG) Schranken von Grundrechten Seite 22 Prof. Dr. Ingo Palsherm Arten der Schranken von Grundrechten (II) SB Verfassungsimmanente Schranken: Beschrän- kung von Grundrechten durch kollidierendes Verfassungsrecht, dessen Schutz die Schranke Eingriff dient (z.B. die mögliche Beschränkung der Freiheit der Forschung i.S.v. Art. 5 Abs. 3 GG VRRF durch das Staatsziel des Tierschutzes nach Art. 20a GG) Schranken von Grundrechten Seite 23 Prof. Dr. Ingo Palsherm Schranken-Schranken für Grundrechtseingriffe Konkrete Ausprägung der staatlichen Beschränkung des SB grundrechtlichen Schutzbereichs darf ihrerseits aber nicht unbeschränkt sein, da das Grundrecht ansonsten entwertet werden würde (sog. Schranken-Schranken). Eingriff (staatliche) Schranke Schutzbereich Schranken- Schranke VRRF Durch staatlichen Eingriff letztlich verfassungsgemäß „verbotener“ Teil des grundrechtlichen Schutzbereichs Grundrechtsverletzung Seite 24 Prof. Dr. Ingo Palsherm Überblick: Schranken für Grundrechtsschranken SB Folgende Schranken-Schranken sind bei der Beschränkung von Grundrechten zu beachten: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (!) Eingriff Verbot einschränkender Einzelfallgesetze (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG) Wahrung des Zitiergebots zur Nennung des eingeschränkten Grundrechts im einschrän- VRRF kenden Gesetz (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) Schranken - Schranken Seite 25 Prof. Dr. Ingo Palsherm Grundrechtsfall Bitte prüfen Sie, ob die familiengerichtlich angeordnete Trennung des Kindes von der elterlichen Familie (s. §§ 1666, 1666a BGB) gegen Art. 6 Abs. 2 und 3 GG verstößt. 3.3.7 Grundrechtsfall Prof. Dr. Ingo Palsherm Achtung: 1. Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 GG Lösungsskizze, keine ausformulierte Lösung a. Persönlich: alle Eltern b. Sachlich: Pflege und Erziehung der Kinder „Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen (…) In der Beziehung zum Kind muss aber das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein (…) Der Schutz des Elternrechts, das Vater und Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts“ (BVerfG v. 20.06.2011 – 1 BvR 303/11 – juris Rn. 21) Grundrechtsfall Seite 27 Prof. Dr. Ingo Palsherm 2. Eingriff = jedes staatliche Verhalten, dass einem Grundrechtsträger eine Handlungsweise zumin- dest teilweise unmöglich macht, behindert oder gefährdet, die in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt. Trennung des Kindes von den Eltern ist der stärkste Eingriff in das Elternrecht (vgl. BVerfG v. 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 – juris Rn. 25; BVerfG v. 28.02.2012 – 1 BvR 3116/11 – juris Rn. 15; BVerfG v. 20.06.2011 – 1 BvR 303/11 – juris Rn. 22) Grundrechtsfall Seite 28 Prof. Dr. Ingo Palsherm 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung „Soweit es um die Trennung des Kindes von seinen Eltern als dem stärksten Eingriff in das Elternrecht geht, ist dieser allein unter den Voraussetzungen des Art 6 Abs. 3 GG zulässig. Danach dürfen Kinder gegen den Willen des Sorgeberechtigten nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen (…) Nicht jede mögliche Beeinträchtigung des Kindeswohls berechtigt den Staat auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramtes, die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (…). Vielmehr kommt ein solcher Eingriff nur in Betracht, wenn das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (…) Diese sich unmittelbar aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen sind auch beim Erlass vorläufiger Eilmaßnahmen zu beachten.“ (BVerfG v. 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 – Rn. 28; vgl. auch BVerfG v. 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14 – Rn. 23; BVerfG v. 28.02.2012 – 1 BvR 3116/11 – Rn. 15; BVerfG v. 20.06.2011 – 1 BvR 303/11 – Rn. 22) Grundrechtsfall Seite 29 Prof. Dr. Ingo Palsherm 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung „Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist … Ihren einfachrechtlichen Ausdruck hat diese Anforderung in § 1666 Abs. 1 BGB gefunden. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen Maße besteht, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“ (vgl. BVerfG v. 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14 – Rn. 23; BVerfG v. 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 – Rn. 28). vorhandener Schaden? oder gegenwärtige Gefahr einer erheblichen und nachhaltigen Schädigung im körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl bei Verbleib in Familie? Grundrechtsfall Seite 30 Prof. Dr. Ingo Palsherm 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung „Wenn Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen und damit zugleich die Aufrechterhaltung der Trennung der Kinder von ihnen gesichert wird, darf dies zudem nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (…) Dieser gebietet es, dass Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Der Staat muss daher nach Möglichkeit versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen (…). In diesem Zusammenhang hat nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Gesetzgeber mit § 1666 Abs. 1 in Verbindung mit § 1666a BGB eine Regelung geschaffen, die es dem Familiengericht ermöglicht, bei Maßnahmen zum Schutze des Kindes auch dem grundgesetzlich verbürgten Elternrecht hinreichend Rechnung zu tragen (…)“ (BVerfG v. 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 – Rn. 37; BVerfG v. 28.02.2012 – 1 BvR 3116/11 – juris Rn. 16; BVerfG v. 02.12.2010 – 1 BvR 2414/10 – juris Rn. 24) Grundrechtsfall Seite 31 Prof. Dr. Ingo Palsherm 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung a. Eignung der Trennung zur Sicherung des Kindeswohls, da Vernachlässigung beseitigt; s. aber auch BVerfG v. 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 – Rn. 38: „Zwar wäre die Trennung grundsätzlich geeignet, die nach Ansicht der Gerichte bei der Mutter für die Kinder bestehenden Gefahren zu beseitigen. Allerdings ruft die Trennung des Kindes von den Eltern regelmäßig eigenständige Belastungen des Kindes hervor, weil das Kind unter der Trennung selbst dann leiden kann, wenn sein Wohl bei den Eltern nicht gesichert war. Eine Maßnahme kann nicht ohne Weiteres als zur Wahrung des Kindeswohls geeignet gelten, wenn sie ihrerseits nachteilige Folgen für das Kindeswohl haben kann. Solche negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung sind zu berücksichtigen … und müssten durch die Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessern würde.“ Eigentlich eine Frage der Angemessenheit des staatlichen Handelns! Grundrechtsfall Seite 32 Prof. Dr. Ingo Palsherm 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung b. Erforderlichkeit: „Die Erforderlichkeit beinhaltet das Gebot, aus den zur Erreichung des Zweckes gleich gut geeigneten Mitteln das mildeste, also die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigende Mittel zu wählen.“ (BVerfG v. 28.02.2012 – 1 BvR 3116/11 – juris Rn. 30) mildere Mittel wie Beratung, Hilfen zur Erziehung können in einem derartig extremen Fall nicht mit gleicher Sicherheit das Ziel erreichen (andere Auffassung kann diskutiert werden) c. Angemessenheit: (+) wenn eine staatliche Maßnahme und ihre Nachteile nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck und ihren Vorteilen steht; „Die Betroffenen dürfen nicht übermäßig oder unzumutbar belastet werden … Bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe muss die Grenze des Zumutbaren gewahrt bleiben.“ (vgl. BVerfG v. 18.07.2005 – 2 BvF 2/01 – juris Rn. 248) Abwägung zwischen staatlichem Wächteramt und Kindeswohl einerseits und Elternrecht andererseits Grundrechtsfall Seite 33 Prof. Dr. Ingo Palsherm Lektüreempfehlung zur Vorlesungseinheit Baltes, Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz (Kapitel D), in: Papenheim/Baltes/Palsherm/Kessler, Verwaltungsrecht für die soziale Praxis, 27. Aufl. 2023 Kessler, Sozialarbeit/Sozialpädagogik im demokratischen Rechts- und Sozialstaat (Kapitel A), in: Papenheim/Baltes/Palsherm/Kessler, Verwaltungsrecht für die soziale Praxis, 27. Aufl. 2023 Trenczek/Tammen/Behlert/von Boetticher/Beetz, Grundzüge des Rechts, 6. Aufl. 2024, Kapitel I.2 (Verfassungsrechtliche Grundlagen der Sozialen Arbeit) Wabnitz, Grundkurs Recht für die Soziale Arbeit, 6. Aufl. 2021, Kapitel 8 (Verfassungsrecht) Nur zur Vertiefung, wenn gewünscht: Heilmann, Schützt das Grundgesetz die Kinder nicht?, in: NJW 2014, 2904-2909 (zur BVerfG-Rechtsprechung in Kindesschutzfällen) Hufen, Rechtsprechungsübersicht zum Beschluss des BVerfG v. 29.01.2010 – 1 BvR 374/09, in: JuS 2011, 90-93 (zur Inobhutnahme von Kindern) Empfohlene Lektüre Seite 34 Rechtsgrundlagen Sozialer Arbeit Prof. Dr. Ingo Palsherm WiSe 2024/2025