Staatsrecht – Grundrechte PDF HWS 2023

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Universität Mannheim

2023

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz

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German constitutional law fundamental rights Staatsrecht law

Summary

This document is a part of a lecture on German constitutional law. It examines fundamental rights (Grundrechte) in Germany with explanations and examples of conflicts between rights.

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 VI. Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) Siehe hierzu Skript Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht (Staatsrecht I), sub § 2 H. II. VII. Grundrechtskonkurrenzen ▪ In seiner berühmten Lüth-Entscheidung hat das BVerfG von einer „Wertran...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 VI. Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) Siehe hierzu Skript Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht (Staatsrecht I), sub § 2 H. II. VII. Grundrechtskonkurrenzen ▪ In seiner berühmten Lüth-Entscheidung hat das BVerfG von einer „Wertrangordnung“ der Grundrechte (Hervorhebung nur hier) gesprochen (E 7, 198 ff.). Hierauf wurde die Vermutung gestützt, das BVerfG könne eine abstrakte Rangordnung zwischen einzelnen Grundrechten anerkennen. ▪ Das BVerfG hat diesen Gedanken indes – zu Recht – in späteren Entscheidungen nicht mehr aufgegriffen. Da alle Grundrechte der Verfassung entspringen, kommt ihnen – formal betrachtet – der gleiche normative Rang zu. Von daher ist es – abgesehen von Art. 1 I GG („unantastbar“) – nicht möglich, eine abstrakte Rangordnung der Grundrechte zu bestimmen. Abstrakt stehen alle Grundrechte (bis auf Art. 1 I GG) vielmehr auf der gleichen normativen Stufe. ▪ Eine andere Frage freilich ist, in welchem Verhältnis Grundrechte in einem konkreten Kollisionsfall stehen. Hier sind – je nach Einzelfall – Abstufungen im Wege der Abwägung vorzunehmen, so vor allem, wenn ein „schonender Ausgleich“ (Peter Lerche) oder eine „praktische Konkordanz“ (Konrad Hesse) zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen nicht möglich ist. In derartigen Fällen hat der Grundrechtsgebundene (Art. 1 III GG) für den konkreten Einzelfall zu entscheiden, welche grundrechtliche Position ggf. hinter eine andere zurücktreten muss. ▪ Zudem können Grundrechte in einem (Konkurrenz-)Verhältnis stehen, welches ihre Anwendbarkeit im konkreten Einzelfall steuert. Denkbar ist insoweit zunächst eine Idealkonkurrenz. Dies bedeutet, dass zwei oder mehr Grundrechte parallel auf ein und denselben Lebenssachverhalt Anwendung finden. Je nach Bedeutung des Grundrechts und Ausgestaltung der Schranken kann diese Idealkonkurrenz für die Bewertung des Einzelfalls auch von Relevanz sein. Beispiele: ➢ Der Gesetzgeber beschränkt die Laufzeit von Atomkraftwerken: Diese gesetzliche Beschränkung hat sowohl Einfluss auf die Nutzung des Eigentums (Art. 14 I GG) als auch auf die unternehmerische Betätigungsfreiheit (Art. 12 I GG). ➢ Der Gesetzgeber beschränkt die kassenärztliche Zulassung von Ärzten auf das 70. Lebensjahr: Diese Beschränkung greift sowohl in die freiberufliche Betätigungsfreiheit der Ärzte (Art. 12 I GG) als auch in ihren Anspruch auf Gleichbehandlung (mit Ärzten, die ausschließlich Privatpatienten behandeln) ein (Art. 3 I GG). ▪ Grundrechte können aber auch in einem Spezialitätsverhältnis zueinander stehen. Das speziellere Grundrecht (lex specialis) verdrängt dann – soweit es 45 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 thematisch betroffen ist – das generelle Grundrecht (lex generalis). Ein Rückgriff auf das generelle Grundrecht verbietet sich in derartigen Fällen (was vor allem bei einem Rückgriff auf das [subsidiäre] Auffanggrundrecht des Art. 2 I GG einen schweren Rechtsanwendungsfehler darstellt). Beispiele: ➢ Die Berufsausübung wird durch Art. 12 I GG geschützt. Als spezielleres Grundrecht verdrängt sie einen Rückgriff auf das subsidiäre Auffanggrundrecht aus Art. 2 I GG (allgemeine Handlungsfreiheit – wie bereits erwähnt, greift dieses Grundrecht jedoch zugunsten ausländischer Staatsangehöriger ein). ➢ Der Landesgesetzgeber zwingt Gastwirte dazu, in ihren Gaststätten einen Warnhinweis vor Alkohol anzubringen. Durch diese Verpflichtung werden die Gastwirte zwar auch in ihrer Eigentumsfreiheit (Art und Weise der Nutzung ihres Eigentums – Art. 14 I GG) beeinträchtigt. Vorliegend steht jedoch die Beeinträchtigung des Gaststättenbetriebs so stark im Vordergrund, dass Art. 12 I GG als spezielleres Grundrecht Art. 14 I GG verdrängt („Schutz des Erwerbs“ und nicht des „Erworbenen“). ▪ Im Detail ist hier Einiges umstritten; darauf wird im Rahmen des besonderen Grundrechtsteils (C.) noch zurückzukommen sein. Zur Vertiefung: Hofmann, Grundrechte als Herausforderung bei der Falllösung im Examen – wie ist vorzugehen, wenn mehrere Grundrechte oder andere Verfassungsgüter herangezogen werden müssen?, ZJS 1/2012, S. 54 ff.; ders., Grundrechtskonkurrenz oder Schutzbereichsverstärkung?, AöR 133 (2008), 523 ff. Allg. zum Vorstehenden: Graf von Kielmannsegg, Grundfälle zu den allgemeinen Grundrechtslehren, Jus 2009, 19 ff., 118 ff., 216 ff. 46 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 „La liberté est le droit de faire tout ce que les lois conformes à la constitution permettent ou ce que les lois n´interdisent pas.“ (Müller-Terpitz ;-) 47 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Schema: Prüfung der Verletzung eines Freiheitsgrundrechts durch den Staat Eingriffe in den Schutzbereich eines Grundrechts sind zulässig, wenn und soweit sie verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind. Nur der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Eingriff stellt deshalb eine Verletzung des Grundrechts dar! A. Eröffnung des Schutzbereichs Der Schutzbereich ist der vom Grundrecht geschützte Lebensbereich (gelegentlich auch Normbereich oder Tatbestand genannt), also derjenige Bereich, den die Grundrechtsnorm aus der Lebenswirklichkeit als Schutzgegenstand „herausschneidet“. I. Persönlicher Schutzbereich Wer ist Träger des in Betracht kommenden Grundrechts? Abgrenzung Deutschengrundrechte (z. B. Art. 11 I, 12 I GG) – Menschenrechte (z. B. Art. 2 I, 5 I GG) 1. Grundrechtsschutz ausländischer Personen - - Bei Deutschengrundrechten jedenfalls Schutz über das Auffanggrundrecht des Art. 2 I GG. Für Ausländer aus EU-Mitgliedstaaten gelten wegen des in Art. 18 AEUV normierten allg. Diskriminierungsverbotes in unionskonformer Auslegung des Grundgesetzes nach einer Ansicht auch die Deutschengrundrechte. Laut BVerfG hingegen muss für EU-Ausländer der Schutz des Auffangtatbestands aus Art. 2 I GG jedenfalls so ausgelegt werden, dass er einen den Deutschengrundrechten äquivalenten Schutz gewährt. 2. Grundrechtsschutz juristischer Personen (Art. 19 III GG) a) Juristische Personen im Sinne dieser Regelung sind zum einen Organisationen, denen das Privatrecht oder das öffentliche Recht die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, d.h. Rechtsfähigkeit, zuspricht (sog. vollrechtsfähige Organisationseinheiten). Beispiele hierfür sind: - - Aktiengesellschaft (§ 1 I 1 AktG), GmbH (§ 13 I GmbHG), eingetragener Verein (§ 21 BGB), Societas Europaea (SE – Art. 1 III der Verordnung [EG] Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001) als juristische Personen des Privatrechts und Bund, Länder, Gemeinden, Rundfunkanstalten, Rechtsanwalts-, Ärzte-, Handwerkskammern als juristische Personen des öffentlichen Rechts (Körperschaften, rechtsfähige Anstalten). Erfasst werden zum Organisationseinheiten, die 48 anderen sog. teilrechtsfähige nur Zuordnungssubjekt bestimmter Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Rechtssätze sind. Im Privatrecht gehören dazu bspw. die oHG (§ 124 I HGB), die KG (§§ 161 II, 124 I HGB), die BGB-Gesellschaft (GbR) und der nicht eingetragene Verein (§ 54 S. 1 BGB). Juristische Person i.S.v. Art. 19 III GG kann aber auch eine nicht rechtsfähige Personenmehrheit sein, die organisatorisch verfestigt und zu eigenständiger Willensbildung und eigenem Handeln in der Lage ist (z.B. Bürgerinitiative). Der verfassungsrechtliche Begriff der juristischen Person ist also weiter als der einfach-rechtliche. Keine juristischen Personen i.S.v. Art. 19 III GG hingegen sind „schlichte“ Personenmehrheiten wie z.B. Spontanzusammenkünfte von Menschen, eine Fußballmannschaft, eine Essensrunde oder ein Streichquartett, da es sich hierbei nicht um Träger von Rechten und Pflichten gegenüber anderen Rechtssubjekten handelt. b) Inländisch ist eine juristische Person nur, wenn sie ihr tatsächliches Aktionszentrum, d.h. den tatsächlichen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit, in der Bundesrepublik hat. Dies richtet sich gemeinhin nach dem Hauptverwaltungssitz der juristischen Person Irrelevant hingegen ist, wo sich der Sitz der juristischen Person laut deren Satzung befindet (sog. Satzungsstatut) oder wo sie gegründet wurde (sog. Gründungstatut). c) Welche Grundrechte ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar sind, lässt sich nicht generell festlegen. Das in Betracht kommende Grundrecht darf allerdings nicht ausschließlich und eindeutig auf das Individuum abstellen, indem es an natürliche Qualitäten des Menschen anknüpft, die allen juristischen Personen fehlen (wie z.B. Art. 1 I, 2 II, 3 II, III, 4 III, 6, 7 II, 104 GG). Das Grundrecht muss vielmehr von der betreffenden juristischen Person ausgeübt werden können. Bei sich wirtschaftlich betätigenden juristischen Personen gehören dazu insbesondere Art. 2 I, 12 I und 14 I GG. Das BVerfG knüpft für die wesensmäßige Anwendbarkeit zudem an das Vorhandensein eines personalen Substrats bei der juristischen Person an. Danach muss die Bildung und Betätigung der juristischen Person Ausdruck der freien Entfaltung der hinter ihr stehenden natürlichen Person(en) sein. Im Schrifttum wird dies mit der Begründung kritisiert, dass der in Art. 19 III GG begründete Grundrechtsschutz juristischer Personen nicht auf den Grundrechtsschutz der dahinter stehenden natürlichen Personen reduziert werden dürfe. Stattdessen wird auf das Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage der juristischen Person abgestellt. Demnach muss die Lage der juristischen Person der Lage einer natürlichen Person, die den Schutz des in Betracht kommenden Grundrechts genießt, vergleichbar sein. Knüpft ein Grundrecht an Qualitäten an, über die nur bestimmte juristische Personen verfügen, so ist es auch nur auf diese wesensmäßig anwendbar. So können sich beispielsweise nur religiös 49 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 oder weltanschaulich geprägte juristische Personen auf Art. 4 I, II GG berufen. 50 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Einschub: Juristische Personen des öffentlichen Rechts Auf juristische Personen des öffentlichen Rechts sind die Grundrechte grundsätzlich nicht wesensmäßig anwendbar. Die Voraussetzungen von Art. 19 III GG sind damit nicht erfüllt. Zum einen steht hinter den juristischen Personen des Öffentlichen Rechts der Staat. Dieser wäre gleichzeitig grundrechtsberechtigt (in Form der juristischen Person) und grundrechtsverpflichtet (nach Art. 1 III GG). Dies ist im Regelfall nicht möglich (sog. Konfusionsargument). Zum anderen wird der Staat auf Grund von Kompetenzen tätig. Kommt es zu Eingriffen eines staatlichen Funktionsträgers in den Tätigkeitsbereich eines anderen, so handelt es sich um Kompetenzkonflikte, nicht aber um Grundrechtsfragen. Dies gilt auch für juristische Personen des öffentlichen Rechts, die nicht hoheitlich tätig werden und für juristische Personen des Privatrechts, die von einem Hoheitsträger beherrscht werden (z.B. als beherrschender Gesellschafter – „keine Flucht ins Privatrecht“!). Ausnahmen: Universitäten (und Fakultäten) können sich auf Art. 5 III GG, öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten auf Art. 5 I 1, 2 Alt. 2 GG und Art. 10 GG und Religionsgemeinschaften umfassend auf Grundrechte berufen. Zur Begründung dieser Ausnahmen hat das BVerfG ausgeführt, dass es sich bei diesen Institutionen um eigenständige, vom Staat unabhängige Einrichtungen handelt, deren Tätigkeit unmittelbar dem durch das jeweilige Grundrecht geschützten Lebensbereich zuzuordnen ist. Das BVerfG betrachtet sie als „Sachwalter“ des Einzelnen bei der Wahrnehmung seiner Grundrechte (personales Substrat). II. Sachlicher Schutzbereich Was wird vom Grundrecht geschützt? Welches Verhalten (positiver Schutzbereich) /Unterlassen (negativer Schutzbereich) fällt in den Schutzbereich? Hier erfolgt die Subsumtion unter den „Tatbestand“ des jeweiligen Grundrechts. 51 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 B. Eingriff in den Schutzbereich Bei dem Eingriffsbegriff geht es um die Beschreibung der staatlichen Maßnahme, welche in den grundrechtlich geschützten Bereich eingreift. (Beachte: Von einem „Eingriff“ in Grundrechte sollte man nur sprechen, wenn von staatlicher Seite grundrechtliche Schutzbereiche beeinträchtigt werden. Beeinträchtigungen durch Private stellen keinen Eingriff, sondern „Übergriffe“ dar. Freilich verwendet das BVerfG auch in diesem Schutzpflichtenkontext zumeist den Begriff des Eingriffs.). Eingriffsdefinition (sog. modernes Eingriffsverständnis): Eingriff ist jedes Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht oder jedenfalls die Grundrechtsausübung wesentlich/erheblich erschwert. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt. Die Wirkung muss aber in jedem Fall von einem zurechenbaren Verhalten der öffentlichen Gewalt ausgehen. 52 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 C. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs Auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ist zu prüfen, ob das Grundrecht durch die staatliche Maßnahme (Eingriff) tatsächlich verletzt ist oder nicht. Zur Klärung dieser (entscheidenden) Frage ist zweistufig zu untersuchen, welche Begrenzungsmöglichkeiten der Gesetzgeber bei den verschiedenen Grundrechten hat (1. Stufe: Schranken-Ebene) und welchen Beschränkungen der Gesetzgeber wiederum im Rahmen dieser Möglichkeiten unterworfen ist (2. Stufe: SchrankenSchranken-Ebene). I. Einschränkbarkeit des Grundrechts (Schranken-Ebene) Dass Grundrechte nicht grenzenlos gewährleistet sind, ergibt sich aus der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit jedes Einzelnen. Das Grundgesetz unterscheidet drei Arten von Grundrechtsschranken: 1. Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt (Einschränkung oder Regelung „durch oder auf Grund eines Gesetzes“, vgl. z. B. Art. 8 II GG). Das bedeutet, dass die Beschränkung entweder direkt durch den (Parlaments-)Gesetzgeber („durch Gesetz“) oder auf Grund einer staatlichen Handlung (Verwaltungsakt, Rechtsverordnung, Gerichtsurteil) erfolgt, die sich ihrerseits auf ein Gesetz stützt („auf Grund eines Gesetzes“). Der einfache Gesetzesvorbehalt stellt an das Gesetz keine besonderen Anforderungen. Hier hat der Gesetzgeber also die größtmögliche Freiheit zur Festlegung des Gesetzeszwecks. 2. Grundrechte mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt. Hier fordert das Grundgesetz über den einfachen Gesetzesvorbehalt hinaus die Beachtung zusätzlicher Anforderungen an das einschränkende Gesetz, wie z.B. dass es bestimmten Zwecken dient, bestimmte Mittel benutzt etc. (vgl. Art. 5 II, 11 II GG). Die Freiheit für den Gesetzgeber bei der Auswahl der gesetzgeberischen Ziele ist hier gegenüber dem einfachen Gesetzesvorbehalt geringer auf Grund der spezifischen („qualifizierten“) Vorgaben des Grundgesetzes. 3. Grundrechte ohne ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt (vgl. z. B. Art. 5 III 1 GG). Hier sieht das Grundgesetz explizit keine Einschränkungsmöglichkeiten durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes vor. Da aber eine grenzenlose Freiheit in einem Gemeinwesen nicht denkbar ist (vgl. oben), gibt es keine schrankenlosen Grundrechte (Ausnahme: Art. 1 I GG). Auch hier gibt es also Beschränkungsmöglichkeiten für den Gesetzgeber. Die Grenze fließen aus den sog. verfassungsimmanenten Schranken, d. h. aus kollidierendem Verfassungsrecht (z. B. Grundrechte Dritter) und sonstigen Rechtsgütern von Verfassungsrang. Im Ergebnis kann daher bei den Grundrechten ohne ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt die Freiheit des Gesetzgebers bei der Auswahl des Gesetzeszwecks nicht über die Verfassungsgüter hinausgehen. Dabei kann der Gesetzgeber hier nicht nur die Grenzen der verfassungsimmanenten Schranken einfachgesetzlich nachziehen; er muss es auch, wenn er die Schutzbereiche der „vorbehaltlosen Grundrechte“ einschränken will. Denn wenn schon die Grundrechte, für die die Verfassung explizit 53 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz HWS 2023 Beschränkungsmöglichkeiten vorsieht, nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden können, dann muss dies erst Recht für solche Grundrechte gelten, die vorbehaltlos konzipiert sind („Erst-recht-Schluss“). Im Übrigen ergibt sich dies auch aus der Wesentlichkeitsdoktrin des BVerfG. II. Verfassungsmäßigkeit Schranken-Ebene) des einschränkenden Gesetzes (Schranken- Bei den „Schranken-Schranken“ handelt es sich um grundrechtsspezifische Beschränkungen, denen der Gesetzgeber seinerseits unterworfen ist, wenn er dem Grundrechtsgebrauch Schranken zieht. Diese lassen sich in formelle und materielle SchrankenSchranken unterteilen: 1. Formelle Verfassungsmäßigkeit a) Gesetzgebungskompetenz (Art. 70 ff.) b) Gesetzgebungsverfahren (Art. 76 ff. GG) c) Wahrung des Zitiergebots (Art. 19 I 2 GG) Ratio: Für die Gesetzgebung: Warn- und Besinnungsfunktion (Auswirkungen bedenken – respice finem!) Für die Gesetzesauslegung und -anwendung: Klarstellungsfunktion (Wissen, in welche Grundrechte allein eingegriffen werden darf). Restriktive Auslegung, um nicht zur bloßen Förmlichkeit zu erstarren und Gesetzgeber nicht unnötig zu behindern. Daher nur anwendbar bei Grundrechten, die „durch oder aufgrund eines Gesetzes“ eingeschränkt werden dürfen: Art. 2 II 3, 6 III, 8 II, 10 II, 11 II, 13 II, III, 16 I 2 GG (strikte Wortlautorientierung). 2. Materielle Verfassungsmäßigkeit a) Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeit) Das Übermaßverbot stellt mit Abstand die wichtigste SchrankenSchranke dar. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit liegt in den meisten Grundrechts- und Verwaltungsrechtsklausuren ein wesentlicher Schwerpunkt. Prüfungsreihenfolge: • Legitimes Ziel • Geeignetheit des Mittels • Erforderlichkeit des Mittels • Angemessenheit/Verhältnismäßigkeit i. e. S. 54 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 b) Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 I 1 GG) Verbotene Einzelfallgesetze sind: • Einzelpersonengesetze, die einen oder mehrere Adressaten namentlich individualisieren oder diese zwar abstrakt generell bezeichnen, damit aber bestimmte Individuen umschreiben (verdecktes Individualgesetz), z.B. Untersagung des Kontakts mit Strafverteidiger für eine bestimmte Person in Haft. • Einzelfallgesetze, die einen konkreten Sachverhalt regeln, z.B. Untersagung einer bestimmten Demonstration; Genehmigung einer bestimmten Umfahrungsstrecke. • Zulässig hingegen sind sog. Maßnahmegesetze, bei denen zwar gegenwärtig nur ein Fall betroffen ist, aber künftig mit weiteren Anwendungsfällen gerechnet werden kann. c) Bestimmtheit d) Beachtung der Wesentlichkeitsdoktrin e) Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 II GG) Die Wesensgehaltsgarantie besagt, dass etwas vom Grundrecht übrigbleiben muss (Wesenskern, Grundsubstanz, Grundrechtskern). Wie dieser Wesensgehalt bestimmt werden soll, ist jedoch umstritten. Zu den verschiedenen Theorien (relativer Wesensgehalt, absoluter Wesensgehalt s. oben sub 2. a) ee). Klausurtipp: Die Wesensgehaltsproblematik spielt in der Klausur kaum eine Rolle. Daher sollte man auf das Problem, wenn überhaupt, allenfalls kurz hinweisen. Nur wenn der Sachverhalt mit entsprechenden Hinweisen auf die Wesensgehaltsproblematik ausgerichtet ist, erscheint es angezeigt, sich näher mit den verschiedenen Theorien zu befassen. 3. Verfassungsmäßige Anwendung des Gesetzes Bei Eingriffen auf Grund eines Gesetzes ist neben der Verhältnismäßigkeit des Gesetzes selbst auch die Verhältnismäßigkeit der auf Grund des Gesetzes ergangenen staatlichen Maßnahme (Einzelakt) zu prüfen. 55 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Zur Vertiefung (Aufbauschemata): Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 350 ff.; Volkmann, Staatsrecht II Grundrechte, 3. Aufl. 2020, § 4. 56

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