Skript Staatsrecht I Teil 7 (1) PDF

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Summary

This document is a part of a course on German constitutional law. It covers the legislative branch, competency distribution, and specific areas of German law as well as the legislative functions and their distribution within Germany.

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 § 4 Staatsfunktionen A. Legislative I. Begriffliches Zu den wichtigsten Staatsfunktionen gehört die Legislative (=Gesetzgebung). Gesetze vermitteln dem Bürger zum einen Rechtssicherheit (Vorhersehbarkeit staatlichen...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 § 4 Staatsfunktionen A. Legislative I. Begriffliches Zu den wichtigsten Staatsfunktionen gehört die Legislative (=Gesetzgebung). Gesetze vermitteln dem Bürger zum einen Rechtssicherheit (Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns), zum anderen verwirklicht sich in ihnen das Prinzip der demokratischen Legitimation, da die Parlamentsgesetze Grundlage und Grenze der Rechtsanwendung (Gesetzesvollzug, Rechtsprechung) gegenüber den Bürgern darstellen. Die vom Parlament des Bundes (Bundestag) gem. Art. 70 ff. GG beschlossenen Gesetze werden auch als sog. formelle Gesetze bezeichnet. Sie ergehen in einem bestimmten verfassungsrechtlich ausgestalteten Verfahren in der Form des Gesetzes. Im Regelfall haben sie abstrakt-generellen Charakter; zwingend ist dies jedoch nicht (vgl. z.B. das Haushaltsgesetz – Art. 110 II GG; Einzelfallgesetze – Art. 14 III, Art. 19 I GG). Von diesen (parlamentsbeschlossenen) formellen Gesetzen zu unterscheiden sind die sog. materiellen Gesetze (Begriff streitig). Hierzu gehören Normen der Exekutive (Rechtsverordnungen – vgl. Art. 80 GG) sowie Normen von Institutionen, die mit Selbstverwaltungsrechten ausgestattet sind (Körperschaften, Anstalten, Stiftungen des öffentlichen Rechts). Sowohl die Rechtsverordnungen als auch die Satzungen müssen jedoch ihre Grundlage in einem formellen Gesetz finden. II. Kompetzenverteilungsgrundsatz Im Gesetzgebungsverfahren ist die Verbands- und die Organkompetenz zu unterscheiden: ➢ Die Verbandskompetenz betrifft die Frage, welcher Verband (Bund oder Land) gesetzgebungsbefugt ist. ➢ Die Organkompetenz betrifft die Frage, welches Organ innerhalb eines Verbands mit welchen Befugnissen am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist (BT, BR). Für den Bund ist die ➢ Verbandskompetenz in den Art. 70 ff. GG und die ➢ Organkompetenz in den Art. 76 ff. GG geregelt. Die Grundregel für die Verteilung der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern statuiert Art. 70 GG (welcher Art. 30 GG für den Bereich der Gesetzgebung konkretisiert): Danach haben die Länder das Recht zur Gesetzgebung, soweit das GG nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. III. Gesetzgebungskompetenzen des Bundes 1. Einleitung Auf Bundesebene sind im Kern die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz und die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes zu unterscheiden. Seite 107 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Die bis 2006 in Art. 75 GG geregelte Rahmengesetzgebungskompetenz ist entfallen. „Überreste“ dieser Kompetenzart „leben“ in der Abweichungskompetenz des Art. 72 III GG fort. 2. Ausschließliche Gesetzgebung Vgl. Art. 71 und 73 GG Gemäß Art. 71 GG sind die unter die ausschließliche Gesetzgebung (Art. 73 GG) fallenden Materien dem Bund vorbehalten. Die Länder dürfen in diesem Bereich nicht gesetzgeberisch tätig werden, es sein denn, sie werden hierzu in einem Bundesgesetz ausdrücklich ermächtigt. Kompetenzzuweisungen finden sich enumerativ in Art. 73 GG aufgeführt und außerhalb des nicht abschließenden Katalogs (z.B. Art. 4 III 2, 21 III, 38 III, 105 I GG – „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“). 3. Konkurrierende Gesetzgebung a) Wesen der konkurrierenden Gesetzgebung Vgl. Art. 72 I GG Bei der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes handelt es sich der Sache nach um eine Vorranggesetzgebungskompetenz des Bundes („solange und soweit“ – zeitliche und sachliche Sperrwirkung). Damit der Bund von dieser Kompetenzart Gebrauch machen kann, benötigt er auf jeden Fall einen Kompetenztitel nach Art. 74 GG (b). In manchen Fällen muss zudem eine Erforderlichkeit i.S. des Art. 72 II GG nach einer bundeseinheitlichen Regelung gegeben sein (c). b) Kompetenztitel Vgl. Art. 74 GG c) Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung Art. 72 II GG wurde 1992 von einer Bedürfnis- in eine Erforderlichkeitsklausel umgewandelt. 2006 wurde sie durch die Föderalismusreform zudem stark in ihrem Anwendungsbereich beschränkt (Leitentscheidung: BVerfGE 106, 42 ff. – Altenpflege): ➢ Erforderlichkeit zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse Einheitliche Regelung ist insoweit erst erforderlich, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet. Nota bene: Erforderlich ist keine Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. ➢ Erforderlichkeit zur Wahrung der Rechtseinheit Seite 108 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Die Wahrung der Rechtseinheit ist im gesamtstaatlichen Interesse geboten, wenn die Gesetzesvielfalt auf Länderebene eine „Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstellt“ bzw. wenn eine sich unmittelbar aus der Rechtslage ergebende Bedrohung von Rechtssicherheit und Freizügigkeit im Bundesstaat besteht. ➢ Erforderlichkeit zur Wahrung der Wirtschaftseinheit Rechtlich einheitliche Bedingungen für die wirtschaftliche Betätigung sind im gesamtstaatlichen Interesse, wenn es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik durch bundeseinheitliche Rechtsetzung geht, also wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen. Im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich i.S.d. Art. 72 II GG ist eine bundesgesetzliche Regelung nicht erst dann, wenn sie unerlässlich für die Rechts- oder Wirtschaftseinheit ist. Es genügt vielmehr, dass der Bundesgesetzgeber problematische Entwicklungen für die Rechtsund Wirtschaftseinheit erwarten darf. Ob die Voraussetzungen des Art. 72 II GG gegeben sind, prüft das BVerfG, wobei dem Gesetzgeber im Hinblick auf die zulässigen Zwecke einer bundesgesetzlichen Regelung und deren Erforderlichkeit im gesamtstaatlichen Interesse eine Einschätzungsprärogative zusteht (BVerfG, NVwZ 2011, 94 [97]; BVerfGE 138, 136 ff.). Bei Wegfall der Erforderlichkeit: Art. 72 IV GG ➔ eigentlich Ermessensnorm, über Art. 93 II GG auf prozessualem Wege aber erzwingbar Problem: Änderungskompetenz des Bundes für zuvor erlassene Gesetze, für die inzwischen die Erforderlichkeit i.S.d. Art. 72 II GG nicht mehr gegeben ist? → BVerfG: Ermessen bzgl. Freigabe (s. vorstehend), aber keine „Versteinerung“ der Rechtslage. Indessen: keine Neukonzeption des Gesetzes, wesentliche Elemente müssen erhalten bleiben. d) Landesrechtliche Abweichungskompetenz Die Regelung geht zurück auf die Föderalismusreform 2006. Gem. Art. 72 III GG können die Länder, wenn der Bund in den dort abschließend genannten Fällen, die grundsätzlich der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegen, ein Gesetz erlassen hat, ein davon abweichendes Landesgesetz erlassen. Keine Änderung der Zuständigkeit des Bundes, Länder aber neben Bund zuständiger Gesetzgeber, d.h. echte Doppelzuständigkeit (= alte Rahmenkompetenzen nach Art. 75 GG). Im Kollisionsfall: Abweichend von Art. 31 GG gilt hier die lex posterior derogat legi priori-Regel (Art. 72 III 2 GG) = lex specialis zu Art. 31 GG.  Bloßer Anwendungs- und kein Geltungsvorrang („Brechen“)  „Ping-Pong“-Gesetzgebung möglich! Zur Vertiefung: Haug, Die Abweichungsgesetzgebung – ein Kuckucksei der Föderalismusreform?, DÖV 2008, 851 ff. Seite 109 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 4. Ungeschriebene Gesetzgebungszuständigkeiten Findet sich kein Kompetenztitel in den Katalogen der Art. 73, 74 GG, so kann eine sog. ungeschriebene Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Betracht zu ziehen sein. Bei der Annahme einer solchen ungeschriebenen Kompetenz ist jedoch wegen des allgemeinen Verteilungsgrundsatzes in Art. 30, 70 GG Zurückhaltung geboten. Unterschieden werden insofern: ➢ Bundeskompetenz „kraft Natur der Sache“: => Materie kann „begriffsnotwendig“ nur durch Bundesgesetz geregelt werden – BVerfGE 12, 205 ff. – 1. Rundfunkentscheidung) ➢ Annexkompetenz => nicht umfasste Annexmaterie ist für wirksame Regelung der Hauptmaterie erforderlich/unentbehrlich (z.B. Verjährung von Pressedelikten, gefahrenabwehrrechtliche Regelungen in Bundesgesetzen) ➢ Kompetenz kraft Sachzusammenhangs => Materie kann nicht sinnvoll geregelt werden, ohne dass Gesetzgeber in eine andere, ihm nicht zugewiesene Materie eingreift (z.B. Wahlwerbung politischer Parteien im Rundfunk) 5. Grundsatzgesetzgebung Vgl. Art. 109 IV GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 WRV 6. Ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder ▪ Die Kompetenzgeneralklausel in Art. 70 I GG weist den Ländern die Gesetzgebungskompetenz zu, soweit sich aus Art. 71, 72 GG keine Kompetenz des Bundes ergibt. ▪ Das GG verzichtet in Art. 70 I GG deshalb auf eine katalogmäßige Benennung der jeweils den Ländern zustehenden Sachmaterien („Residualkompetenz der Länder“). ▪ Im GG wird jedoch an einigen anderen Stellen die Gesetzgebungskompetenz den Ländern ausdrücklich zugewiesen („benannte Länderzuständigkeit“); vgl.: ➢ Art. 98 III GG ➢ Art. 105 IIa GG ➢ Art 140 GG i.V.m. Art. 137 VIII WRV ➢ Art. 23 VI GG (wirkt nur deklaratorisch, da die dort genannten Bereiche seit Inkrafttreten des GG zu den Kernbereichen der Länderkompetenzen gehören) 7. Übergangsvorschriften Art. 125a I GG (für anders verteilte Kompetenzen nach Art. 74 GG) – Problem: Änderungskompetenz des Bundes, wenn er inzwischen nicht mehr die Kompetenz zum Neuerlass hätte? (h.M.: Ja, Länder haben bloße Ersetzungskompetenz; allerdings gelten die oben zu Art. 72 IV GG gemachten Einschränkungen – str.) Art. 125a II GG (für die alte Fassung des Art. 72 II GG) Seite 110 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Art. 125b GG (für die abgeschaffte Rahmengesetzgebung) Art. 125c GG (für die 2006 ebenfalls abgeschafften Gemeinschaftsaufgaben) 8. Auslegung von Kompetenznormen ▪ Um festzustellen, ob eine gesetzlich zu treffende Regelung unter einen der in Art. 73 oder 74 GG genannten Kompetenztitel fällt, muss deren Inhalt im Wege der Auslegung bestimmt werden. ▪ GG sieht zwei unterschiedliche Kompetenzkategorien vor: ➢ Faktisch-deskriptive Kompetenztitel: Norm bezeichnet bestimmte Sachbereiche bzw. Lebenssachverhalte ➢ Normative Kompetenztitel: Benennung einer bestimmten Rechtsmaterie ▪ Das BVerfG orientiert sich dabei überwiegend an Wortlaut, Gesetzesgeschichte, Systematik und Normzweck. ▪ Vgl. hierzu etwa BVerfG 109, 190 ff. bzgl. Art. 74 I Nr. 1 GG => Frage: Fällt Gesetz zur Sicherungsverwahrung unter das „Strafrecht“: ➢ Wortlaut: Gesamtheit der Rechtsnormen, die für eine rechtswidrige Tat eine Strafe, Buße oder Maßregel der Besserung und Sicherung festsetzen (weites Verständnis). ➢ Entstehungsgeschichte und Staatspraxis: Art. 4 Nr. 13 RV 1871 und Art. 7 Nr. 2 WRV verwendeten Begriff des Strafrechts auch mit Bezug auf vorbeugende und sichernde Unrechtsfolgen. ➢ Systematische Auslegung: Sachzusammenhang zwischen Strafe und rein präventiver Sanktion, da sich beide Arten von Sanktionen auf die Anlasstat beziehen. ➢ Teleologische Auslegung: Zweck der Art. 70 ff. GG liegt darin, eine vollständige Verteilung der staatlichen Aufgaben und Befugnisse zwischen Bund und Ländern zu erreichen. Ein Auseinanderfallen der Materie – in ein dem Bundesgesetzgeber vorbehaltenes Schuldstrafrecht einerseits und eine dem Landesgesetzgeber zukommende Befugnis zur Regelung der an die Straftat anknüpfenden präventiven Maßnahmen andererseits – würde dem Sinn und Zweck des Art. 74 I Nr. 1 GG widersprechen, durch Verwendung eines vorgefundenen normativen Begriffs den gesamten, als einheitliches Regelungswerk konzipierten Normenkomplex in die Kompetenzvorschrift aufzunehmen. Fall 1: Das Hessische Privatrundfunkgesetz (HessPRG) regelt u.a., dass die Veranstaltung von Rundfunk einer Zulassung bedarf, die unter bestimmten, in§ 6 HessPRG näher definierten Voraussetzungen, durch die Hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk erteilt wird. § 6 II HessPRG bestimmt dabei u.a.: „(2) Die Zulassung darf nicht erteilt werden … Seite 111 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 4. politischen Parteien oder Wählergruppen und Unternehmen und Vereinigungen, an denen politische Parteien oder Wählergruppen beteiligt sind, unbeschadet der besonderen Bestimmungen über die Wahlwerbung. Gleiches gilt für Treuhandverhältnisse; diese sind offenzulegen … .“ Besaß das Land Hessen hierfür die erforderliche Gesetzgebungskompetenz? (BVerfGE 121, 30 ff.) Fall 2: Die EU hat im Jahr 2008 die „Richtlinie 2008/85/EG zum Schutz vor den Folgen übermäßigen Alkoholkonsums in Gaststätten“ erlassen. Ziel der Richtlinie ist die Harmonisierung unterschiedlicher Regelungen in den Mitgliedstaaten der EU zur Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs. Die Richtlinie enthält u.a. folgende Regelung: „Artikel 1: In jeder Gaststätte, in der alkoholische Getränke angeboten werden, ist folgender Warnhinweis in gut sichtbarer Form anzubringen: „Die EU warnt: Übermäßiger Alkoholkonsum schädigt Ihre Gesundheit.“ Die deutsche Bundesregierung ist der Ansicht, dass der Bund für die Umsetzung der Richtlinie nicht zuständig sei; jedenfalls seit der Föderalismusreform I des Jahres 2006 liege die Gesetzgebungszuständigkeit für das Gaststättenrecht bei den Ländern. Ist diese Auffassung zutreffend? Fall 3: Im Rahmen ihres „Zukunftsprogramms Agenda 2010“ legten die Bundesregierung und die sie tragenden Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Herbst 2003 mehrere Gesetzentwürfe für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vor, darunter einen Entwurf, der vorsah, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für erwerbsfähige Arbeitslose zur Grundsicherung für Arbeitssuchende zusammenzuführen. Damit sollten u.a. ineffiziente Doppelstrukturen in der Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeverwaltung beseitigt werden. Im Zuge dieses Vorhabens wurde § 6a SGB II eingeführt, der die Möglichkeit vorsieht, Kommunen unter bestimmten Voraussetzungen als sog. „Optionskommunen“ anzuerkennen. Diese kümmern sich sodann ohne Mitwirkung der Bundesagentur für Arbeit um die örtlichen „Hartz-IV“-Bezieher. § 6a II SGB II sieht dabei vor, dass der Antrag auf Zulassung als Optionskommune einer Zweidrittelmehrheit der jeweils dafür zuständigen Vertretungskörperschaft bedarf. Besitzt der Bund für diese Regelung die erforderliche Gesetzgebungskompetenz? (BVerfGE 137, 108 ff.) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 18) Fall 1 ▪ Gemäß Art. 30, 70 I GG haben die Länder das Recht der Gesetzgebung, soweit nicht dem Bund durch das Grundgesetz Gesetzgebungsbefugnisse verliehen sind. ▪ Ausschließliche Bundeskompetenz gem. Art. 73 I Nr. 1 GG (Telekommunikation)? Seite 112 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 (-): Norm verleiht nicht die Kompetenz zur Regelung der Veranstaltung und der inneren Organisation der Veranstalter von Rundfunksendungen, sondern lediglich die zur Regelung des sendetechnischen Bereichs des Rundfunks. ▪ Ausschließliche Bundeskompetenz gem. Art. 21 V GG? Die Gesetzgebungsbefugnis umfasst insbesondere die Befugnis zur Konkretisierung des Parteibegriffs und zur Regelung der Rechtsstellung der Parteien im Rechtsverkehr und im gerichtlichen Verfahren, ferner die innere Ordnung und die Rechnungslegungspflicht, das Verfahren und den Vollzug des Parteiverbots, ferner Bestimmungen, mit denen die Rolle der Parteien in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Volk und Staatsorganen ausgestaltet wird. ▪ Bei der Zuordnung einzelner Teilregelungen eines umfassenden Regelungskomplexes zu einem Kompetenzbereich dürfen die Teilregelungen nicht aus ihrem Regelungszusammenhang gelöst und für sich betrachtet werden. Kommt ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Kompetenzbereichen in Betracht, so ist aus dem Regelungszusammenhang zu erschließen, wo sie ihren Schwerpunkt haben. ▪ Unmittelbarer Regelungsgegenstand ist mit Blick auf die systematische Stellung von § 6 II Nr. 4 HessPRG das Verfahren über die Zulassung von privaten Rundfunkveranstaltern. Im Zusammenhang mit den weiteren geregelten besonderen Zulassungsbedingungen wird deutlich, dass es um eine umfassende Regelung zur Gewährleistung der Staatsferne des Rundfunks geht. ▪ Da auch kein konkurrierender Kompetenztitel einschlägig ist, verbleibt es beim Grundsatz der Länderzuständigkeit. Zur Vertiefung: von Coelln, BVerfGE 121, 30 – Pressebeteiligung. Die Unzulässigkeit des vollständigen Ausschlusses politischer Parteien vom Rundfunk, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 837 ff. Fall 2 Die Auffassung ist zutreffend. Eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz nach Art. 73 GG besteht nicht. Auch kommt dem Bund weder aus Art. 74 I Nr. 7 und 12 GG noch aus Art. 74 I Nr. 11 GG eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zu. Für die Umsetzung des Unionsrechts lässt sich auch keine Kompetenz kraft Natur der Sache zugunsten des Bundes begründen, da diese Umsetzung gemäß der innerstaatlichen Kompetenzverteilung, die durch die Übertragung der Hoheitsrecht auf die EU nicht berührt wird, zu erfolgen hat. Fall 3 ▪ Art. 74 I Nr. 7 GG? „Öffentliche Fürsorge“ umfasst Bestimmungen darüber, welche materiellen Fürsorgeleistungen die Träger zu erbringen haben und auf welche Weise dies geschehen soll. Umfasst sind ebenfalls organisatorische Vorschriften über die Abgrenzung öffentlicher und privater Träger Seite 113 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➔ § 6a II 3 SGB II regelt keine organisatorischen Fragen bei der Erbringung sozialrechtlicher Leistungen, sondern die Art und Weise der Willensbildung auf kommunaler Ebene ▪ Art. 91e III GG? Auf dieser Grundlage kann der Gesetzgeber Voraussetzungen für die Zulassung von Gemeinden als Optionskommunen regeln, insbesondere deren Anzahl sowie Kriterien für die Zulassung festlegen. ➔ Ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes bewusst weit gefasst, aber das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit kann weder als Zulassungskriterium angesehen werden, noch darf der Gesetzgeber über den Regelungsgehalt der Art. 91e I und II GG hinausgehen. Es handelt sich hier um die interne Willensbildung der Kommune. ▪ Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs? Interne Willensbildung der kommunalen Vertretungskörperschaft hat keine zentrale Bedeutung für die Aufgabenerledigung durch sog. Optionskommunen. Das Zustandekommen des Beschlusses ist für die Aufgabenwahrnehmung nachrangig und für die organisatorische Ausgestaltung insgesamt unbedeutend. ▪ Ergebnis: Der Bund besitzt keine Gesetzgebungskompetenz. Zur Vertiefung: Hebeler, Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes und der Länder, JA 2010, 688 ff.; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Gesetzgebungsverfahren, JuS 2018, 924 ff. Seite 114 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 IV. Stationen des Gesetzgebungsverfahrens 1. Einleitungsverfahren Initiativrecht (Art. 76 I GG): ➢ Bundesregierung (Kollegium!) ➢ „Mitte des Bundestages“ § 76 GO BT: „Mitte“ des BT = mindestens 5% oder eine Fraktion (h.M.: = verfassungskonforme Konkretisierung des Art. 76 GG; a.A.: unzulässige Einschränkung. Nota bene: Bei Mehrheitsbeschluss über den Gesetzentwurf macht sich die Mehrheit den Entwurf ohnehin zu eigen!) ➢ Bundesrat Weitere Behandlung der Gesetzesinitiative: ➢ Vorlagen der Bundesregierung müssen zunächst dem Bundesrat zugeleitet werden (Art. 76 II GG) ➢ und umgekehrt (Vorlagen des Bundesrates – vgl. Art. 76 III GG). ➢ Folgen eines Verstoßes gegen Art. 76 II und III GG? (Unterscheidung zwischen schlichtem Fristverstoß und gänzlicher Nichtbeteiligung) ➢ „Schiebeverfahren“ (BReg bringt Entwurf nicht selbst, sondern über „ihre“ Fraktionen im BT ein): zulässig, keine Umgehung des Art. 76 II GG, da sich die Fraktion den Entwurf zu eigen macht (h.M.) 2. Hauptverfahren Beschlussfassung des Bundestages (Art. 77 I 1 GG): ➢ Beschlussfähigkeit (§ 45 GO BT): Bundestag gilt als beschlussfähig, bis Antrag auf Feststellung der Beschlussunfähigkeit gestellt wurde ➢ Abstimmung: im Regelfall nach drei „Lesungen“ (vgl. §§ 78 ff. GO BT) ➢ Grds. ist nur die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich (Art. 42 II 1 GG) Beteiligung des Bundesrates (Art. 77 I 2 GG): ➢ Abgrenzung Einspruchs- und Zustimmungsgesetz: • Weist das GG ein Gesetz nicht ausdrücklich als Zustimmungsgesetz aus, handelt es sich um ein Einspruchsgesetz (in einer Klausur empfiehlt es sich, zu Beginn, d.h. noch vor der Prüfung der ordnungsgemäßen Beteiligung des BR festzustellen, ob Einspruchs- oder Zustimmungsgesetz vorliegt – außer es wurde ohnehin Zustimmung erteilt). • Bei Qualifikation eines Gesetzentwurfs als Einspruchs- oder Zustimmungsgesetz gilt der Grundsatz der Gesamtbetrachtung („gesetzgebungstechnische Einheit“). Aber: Entwurfsaufspaltung möglich und keine Umgehung der Zustimmungspflichtigkeit (h.M., vgl. BVerfGE 105, 313 ff. – LPartG; dies gilt auch, wenn ein Gesetz zunächst als zustimmungspflichtiges Gesetz eingereicht Seite 115 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 wurde, die zustimmungspflichtigen Teile des Gesetzes im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens jedoch entfallen) • Kann bei Unklarheit über die Zustimmungspflichtigkeit die Zustimmungsverweigerung in einen Einspruch umgedeutet werden? E.A.: Nur dann, wenn Verweigerung eindeutig und Vermittlungsausschuss angerufen wurde, da im Rahmen des Art. 77 III 1 GG – anders als bei Art. 77 II 1 u. 4 GG – obligatorisch; dann hilfsweise Einspruchseinlegung möglich. A.A. (m.E. vorzugswürdig): Es muss Klarheit herrschen, was der Bundesrat entscheidet (Zustimmungsverweigerung, Einspruchserhebung). Aus der Zustimmungsverweigerung kann nicht automatisch darauf geschlossen werden, dass der Bundesrat auch einen Einspruch erheben wollte (mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen des Art. 77 IV GG). ➢ Mögliches weiteres Verfahren bei Einspruchsgesetzen: • Einberufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 II 1 GG) • Nach (erfolglosem) Abschluss des Vermittlungsverfahrens: Möglichkeit des Einspruchs innerhalb von 2 Wochen mittels wirksamen Beschlusses (Art. 52 III 1 GG) – Art. 77 III 1 GG • Einspruch des BR kann vom BT mit den in Art. 77 IV GG genannten Quoren allerdings zurückgewiesen werden => BT kann sich im Gesetzgebungsverfahren letztlich durchsetzen! ➢ Mögliches weiteres Verfahren bei Zustimmungsgesetzen: Vermittlungssauschuss nur fakultativ; Beratung über Zustimmung in angemessener Zeit (Art. 77 IIa GG). 3. Vermittlungsverfahren ▪ Wird der Vermittlungsausschuss gemäß Art. 77 II GG angerufen, findet im Ausschuss eine Beratung des Gesetzesbeschlusses statt. ▪ Der Ausschuss ist befugt Änderungen, Streichungen und Ergänzungen vorzuschlagen. ▪ Der Ausschuss muss sich inhaltlich jedoch im Rahmen des bisherigen Gesetzgebungsverfahrens bewegen (vgl. hierzu BVerfG 125, 104 ff.): ➢ Dem Vermittlungsausschuss kommt kein eigenes Gesetzesinitiativrecht zu, er kann deshalb nur zwischen zuvor parlamentarisch beratenen Regelungsalternativen vermitteln. ➢ Nach der Kompetenzverteilung im Verhältnis zwischen den Gesetzgebungsorganen kommt dem Bundestag die entscheidende Funktion im Gesetzgebungsverfahren zu. Der Vermittlungsvorschlag muss dem Bundestag aufgrund der dort geführten parlamentarischen Debatte zurechenbar sein. ➢ Die andernfalls eintretende Verlagerung des Zentrums der politischen Entscheidung in den Ausschuss und die damit verbundene Entparlamentarisierung der Gesetzgebung Seite 116 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 wären unvereinbar mit der Kompetenzverteilung zwischen den Gesetzgebungsorganen, den Rechten der Abgeordneten, der Öffentlichkeit der parlamentarischen Debatte und der von ihr abhängigen demokratischen Kontrolle der Gesetzgebung. ➢ Voraussetzung für das Aufgreifen eines Regelungsgegenstands durch den Vermittlungsausschuss ist daher, dass die betreffenden Anträge und Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren vor dem Gesetzesbeschluss bekannt gegeben worden sind und die Abgeordneten die Möglichkeit hatten, diese zu erörtern, Meinungen zu vertreten, Regelungsalternativen vorzustellen und hierfür eine Mehrheit im Parlament zu suchen. ▪ Nota bene: Soweit der Vermittlungsausschuss (informelle) Arbeitsgruppen bildet, die den Auftrag haben, schwierige und komplexe Materien des Gesetzentwurfs klein zu arbeiten, ist es nicht erforderlich, dass diese Arbeitsgruppen ein Abbild des Parlaments sein müssen (wie die Ausschüsse im Allgemeinen und die Vermittlungsausschüsse im Besonderen). Der Vermittlungsausschuss hat für die Gestaltung dieser Arbeitsgruppen vielmehr einen weiten Spielraum und kann sie deshalb nach anderen Kriterien zusammensetzen, um das Ziel und den Zweck des Vermittlungsverfahrens, einen mehrheitsfähigen Kompromiss zu erzielen, zu erreichen. Entsprechend sind diese Arbeitsgruppen häufig mit Fachpolitikern der Fraktionen, Fachbeamten der Ministerien und sonstigen Sachverständigen besetzt (BVerfGE 140, 115 ff.). Zur Vertiefung: Möllers, Vermittlungsausschuss und Vermittlungsverfahren, JURA 2010, 401 ff. 4. Abschlussverfahren Zustandekommen des Gesetzes: Art. 78 GG Gegenzeichnung, Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes im Bundesgesetzblatt: Art. 58 Satz 1, 82 GG (zum Prüfungsrecht des BP s. oben sub § 3 D. IV. 4.) Zur Vertiefung: Frenzel, Das Gesetzgebungsverfahren – Grundlagen, Problemfälle und neuere Entwicklungen, JuS 2010, 27 ff. (1. Teil), JuS 2010, S. 119 ff. (2. Teil) 5. Rechtsfolge von Verstößen im Gesetzgebungsverfahren BVerfGE 44, 308 (313): Verfahrensverstöße gegen Normen des GG führen nur dann zur Verfassungswidrigkeit, wenn eine wesentliche Verfahrensvorschrift (zwingendes Recht) und nicht eine bloße Ordnungsvorschrift verletzt wurde. A.A. (u.a. BVerfG): Verstöße gegen das GG führen stets zur Verfassungswidrigkeit. Die Nichtigkeit des Gesetzes muss das BVerfG aber nur bei evidenten bzw. groben Verfahrensverstößen feststellen (führt oft zum selben Ergebnis, d.h. zur Gültigkeit bei Verstoß gegen Ordnungsvorschriften). Verstöße gegen GO BT: Führen nur dann zur Verfassungswidrigkeit, wenn nicht nur gegen die GO BT als solche verstoßen wird, sondern diese zugleich eine Bestimmung des GG wiederholt oder in zulässiger Weise konkretisiert. Seite 117 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 V. Gesetzgebung in Notstands- und Verteidigungsfällen Vgl. Art. 80a, 81 und 115a GG VI. Erlass von Rechtsverordnungen ▪ Der Gesetzgeber kann unter den Voraussetzungen des Art. 80 I GG seine Befugnis zur Rechtssetzung auf die Exekutive delegieren, indem er sie per formellen Gesetz zum Erlass von Rechtsverordnungen (RVO) ermächtigt. ▪ Es handelt sich bei diesen RVOen nicht um Gesetze im formellen Sinne, da sie außerhalb des im GG normierten (formellen) Gesetzgebungsverfahren erlassen wurden (=> Gesetze im materiellen Sinne). ▪ Da RVOen von der Exekutive erlassen werden, gilt für sie der Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 III GG). ▪ Zulässigkeit und Grenzen der Verordnungsgebung regelt Art. 80 I GG: Seite 118 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➢ Gemäß Art. 80 I 1 GG können die Bundes- bzw. eine Landesregierung und die Bundesminister zum Erlass einer RVO ermächtigt werden. ➢ Nach Art. 80 I 2 GG muss die Ermächtigungsgrundlage selbst Inhalt, Zweck und Ausmaß („Bestimmtheitstrias“) der Ermächtigung hinreichend bestimmen => Generalermächtigung (wie z.B. beim sog. Ermächtigungsgesetz von 1933) genügt also nicht! ➢ Gemäß Art. 80 I 3 GG muss die Rechtsgrundlage in der RVO angegeben werden (Zitiergebot). Zur Funktion des Zitiergebots vgl. BVerfGE 101, 1: • Im gewaltenteilenden System des GG dient das Gebot dem Zweck, die Delegation von Rechtsetzungskompetenzen auf die Exekutive in ihren gesetzlichen Grundlagen verständlich und kontrollierbar zu machen. • Ferner soll dadurch die Prüfung erleichtert werden, ob sich der Verordnungsgeber im Rahmen der ihm erteilten Ermächtigung gehalten hat => Erforderlich ist somit das vollständige Zitat aller Ermächtigungsgrundlagen, auf denen die RVO beruht. Zur Vertiefung: Müller-Terpitz, Rechtsverordnungen auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts, DVBl 2000, 232 ff. ▪ Besondere Verfahrensvorschriften für den Erlass von RVOen bestehen, wie oben bereits erwähnt, nicht. Das Initiativrecht kommt dem jeweils zuständigen Exekutivorgan zu. ▪ In den Fällen des Art. 80 II GG bedürfen RVOen der Zustimmung des Bundesrates; der Bundesgesetzgeber kann das Zustimmungsbedürfnis ferner auf weitere Fälle erstrecken. Seite 119

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