Skript Staatsrecht I Teil 3 (1) PDF

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Summary

This document is a lecture script on German constitutional law, focusing on the topic of the social state principle, including examples and relevant legal articles. It details the principles and aspects of the social state in the context of German law, including historical rulings and case studies.

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 E. Sozialstaat ▪ Sozialstaatsprinzip = Staatsstrukturmerkmal in der Form einer (dynamischen) Staatszielbestimmung ▪ Wie jede Staatszielbestimmung (vgl. z.B. Art. 20a, 23 I GG) ist auch das Sozialstaatsprinzip auf...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 E. Sozialstaat ▪ Sozialstaatsprinzip = Staatsstrukturmerkmal in der Form einer (dynamischen) Staatszielbestimmung ▪ Wie jede Staatszielbestimmung (vgl. z.B. Art. 20a, 23 I GG) ist auch das Sozialstaatsprinzip auf eine Ausgestaltung durch den parlamentarischen Gesetzgeber angewiesen. Dieser muss bestimmen, wie dieses Prinzip zu verwirklichen ist („Mediatisierung der Staatszielbestimmung durch Gesetz“). ▪ Dem Gesetzgeber kommt dabei ein weiter Gestaltungs- und Einschätzungsspielraum (Einschätzungsprärogative) zu, der verfassungsgerichtlich nur beschränkt überprüfbar ist. Allerdings muss der Gesetzgeber den Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG (i.S. eines Willkürverbots) beachten. ▪ Aus diesem Grunde können unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip i.d.R. keine subjektiven Rechte (in Gestalt von Anspruchsnormen) hergeleitet werden. ▪ Gestützt auf Art. 1 I i.V.m. Art. 20 I GG lässt das BVerfG hiervon allerdings eine Ausnahme in Bezug auf die Sicherung des Existenzminimums (sei es in Form von direkten Transferleistungen oder indirekten Steuerfreibeträgen) zu. ▪ Entsprechend hat das BVerfG in seiner Hartz IV-Entscheidung vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09 u.a. = BVerfGE 125, 175 ff.) festgestellt: ➢ „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 I i.V.m. Art. 20 I GG sichert jedem Hilfsbedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“ (Hervorhebungen nur hier) – Ls. 1. ➢ Allerdings bedarf es „der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu“ – Ls. 2. ➢ „Zur Ermittlung des Anspruchsumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen“ – Ls. 3. ➢ „Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen“ – Ls. 4. Zur Vertiefung: Schneider, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 879 ff. Seite 34 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Fall 1: Unter dem Motto „Hartz IV ist Armut per Gesetz“ zieht der Langzeitarbeitslose L nach Erschöpfung des Rechtswegs vor das Bundesverfassungsgericht und fordert, dass das Gericht den Regelsatz von 359 € auf 690 € im Monat anhebt. Zur Begründung beruft er sich auf das Sozialstaatsprinzip in Art. 20 I GG. Wird er damit durchdringen? Verfahrensart? Fall 2: Nach Erschöpfung des Rechtswegs vor den Finanzgerichten greift K seinen Steuerbescheid unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip vor dem Bundesverfassungsgericht mit der Begründung an, das Finanzamt habe bei der Bemessung seiner Steuerschuld sein Existenzminimum nicht steuerfrei belassen. War das Finanzamt hierzu verpflichtet? Verfahrensart? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 7) Fall 1: Auf das Sozialstaatsprinzips als solches kann er sich für sein Anliegen nicht berufen. Das BVerfG leitet jedoch aus Art. 1 I i.V.m. Art. 20 I GG einen Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums her, der über die reine Existenzsicherung hinaus auch eine Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben ermöglichen muss. Die konkrete Höhe der Grundsicherung kann, schon aus Gewaltenteilungsgründen (s. oben), jedoch nicht vom BVerfG festgelegt werden; hierfür ist der Gesetzgeber zuständig. Laut BVerfG schuldet der Gesetzgeber jedoch eine Begründung des Inhalts, wie er die konkrete Bedarfshöhe ermittelt hat, damit der gesetzlich festgelegte Betrag vom BVerfG überprüft werden kann. Sein Anliegen könnte L durch eine Verfassungsbeschwerde geltend machen (Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG). Fall 2: Laut BVerfG war die Finanzverwaltung hierzu verpflichtet. Das Existenzminimum, so das Gericht naheliegend und überzeugend, entzieht sich einer Besteuerung. Der Gesetzgeber muss dementsprechend Freibeträge in seinen Steuergesetzen vorsehen. Auch hier kommt eine auf Art. 1 I GG (i.V.m. Art. 20 I GG) gestützte Verfassungsbeschwerde in Betracht. Seite 35 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 F. Rechtsstaat I. Begriff des Rechtsstaats ▪ Der Begriff des Rechtsstaats ist schwer zu fassen. Abstrakt formuliert, handelt es sich um einen Staat, der auf rechtlichen Normen und Prinzipien („rule of law“) basiert und damit für seine Bürger „berechenbar“ ist (Gegenbegriff: „Willkürstaat“). ▪ Art. 20 I GG benennt das Rechtsstaatsprinzip nicht explizit als Staatsstrukturprinzip. Art. 20 II u. III GG buchstabieren dieses Prinzip allerdings – zumindest partiell – aus. In Art. 28 I 1 GG findet es zudem eine explizite verfassungsnormative Verankerung für die Landesebene, was einen Umkehrschluss für die Bundesebene rechtfertigt. II. Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips durch das GG Folgende Rechte und Prinzipien gelten als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips: 1. Grundrechte Die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte (vgl. Art. 93 I Nr. 4a GG) bringen ein materielles Rechtsstaatsverständnis zum Ausdruck, wonach bestimmte fundamentale Lebensbereiche (Leben, Freiheit, Religion, Meinungsfreiheit, Eigentum etc.) vor staatlicher Ingerenz abgeschirmt sind. 2. Gewaltenteilung Auch die Gewaltenteilung (vgl. Art. 20 II 2 GG) gilt als Emanation der Rechtsstaatlichkeit, da sie eine Machtkumulation durch die organisatorische Trennung der Staatsfunktionen verhindert und dadurch freiheitssichernd wirkt. 3. Rechtsgebundenheit der Staatsorgane ▪ Die Rechtsgebundenheit der Staatsorgane kommt in Art. 20 III GG zum Ausdruck. ▪ Dort heißt es: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ ▪ Art. 1 III GG konkretisiert diese Aussage speziell für den grundrechtlichen Bereich. a) „Gesetz und Recht“ ▪ Gesetz = alle geschriebenen (positiven) Rechtssätze (unter Einschluss des Grundgesetzes) ▪ Recht = darüber hinaus auch ungeschriebene Rechtssätze, d.h. Gewohnheitsrecht („consuetudo et opinio iuris“ – Gewohnheit und Rechtsüberzeugung) und sog. Richterrecht ▪ Ob der Begriff „Recht“ darüber hinaus auch als Einfallstor für das sog. „Naturrecht“ (= überpositives, vorstaatliches Recht) zu fungieren vermag, muss im Ergebnis bezweifelt werden (Ausn. Verurteilung der Mauerschützen auf der Grundlage der „Radbruchschen Formel“?). Seite 36 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 b) Vorrang des Gesetzes ▪ Der in Art. 20 III GG (explizit) statuierte Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes ist eine ganz wesentliche Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips. ▪ Hieraus resultiert der Grundsatz: Kein staatliches Handeln, insbesondere kein Eingriff in Freiheit und Eigentum, gegen das Gesetz. c) Vorbehalt des Gesetzes ▪ Die Bindung der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung an Gesetze setzt logisch die Existenz solcher Gesetze voraus. ▪ Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes besagt, dass Eingriffe in die grundrechtliche Sphäre des Bürgers einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Von daher gilt der Grundsatz: „Kein Eingriff in Freiheit und Eigentum ohne ein Gesetz.“ Dieser Grundsatz findet in den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten (vgl. etwa Art. 2 II 3, 5 II, 10 II GG) einen expliziten Ausdruck. ▪ In seiner „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ hat das BVerfG diesen (formellen) Gesetzesvorbehalt zu einem (materiellen) Parlamentsvorbehalt ausgebaut, welcher auf das Rechtsstaatsprinzip (und das Demokratieprinzip) gestützt wird. Konsequenz dieser Rspr.: Alle für den Bürger wesentlichen Entscheidungen sind nicht nur durch ein Gesetz, sondern durch ein parlamentarisches Gesetz zu treffen. Verfassungsgerichtliche Versuche einer Konkretisierung dieses Wesentlichkeitsgedankens: ➢ Wesentlich bedeutet in erster Linie wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte. Ein Gesetz muss deshalb insbesondere die für die Grundrechtsausübung wesentlichen Fragen selbst regeln und zudem hinreichend bestimmt sein. Mithin muss der Gesetzgeber staatliches Handeln in grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimieren und insoweit alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen. (vgl. BVerfGE 98, 218 [251 f.] – Rechtschreibreform). ➢ Im Grundsatz gilt dabei: Je wesentlicher eine Angelegenheit für den Grundrechtsberechtigten oder die Allgemeinheit ist, desto stärker ist der parlamentarische Gesetzgeber gefordert und desto detailreicher hat die gesetzliche Regelung auszufallen („Jedesto-Formel“ – vgl. BVerfGE 107, 71 [111 ff.]). In solchen Konstellationen kann sich der Gesetzgeber folglich nicht auf die Aufstellung allgemein gehaltener Grundsätze beschränken, sondern muss das staatliche Handeln normativ steuern. ➢ Wann und mit welcher Regelungsintensität eine parlamentsgesetzliche Regelung geboten ist, muss laut BVerfG stets mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands beurteilt werden. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind insoweit den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den Grundrechten, zu entnehmen. ➢ Auch hat das BVerfG in seiner Rechtschreibreform-Entscheidung betont, dass es für die Beurteilung der Wesentlichkeit eines Regelungsgegenstands grundsätzlich ohne Relevanz ist, ob im Hinblick auf diesen in der Öffentlichkeit oder zwischen den Betroffenen starke Meinungsverschiedenheiten bestehen (vgl. BVerfGE 98, 218 [251]). Seite 37 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➢ Allerdings erachtet das BVerfG eine Regelung schon dann für gesetzlich ausreichend bestimmt und damit „regelungsdicht“, wenn sich nur „ein hinreichend bestimmter, vom Gesetzgeber gewollter Regelungsgehalt erkennen“ lässt, der „die Möglichkeit einer Auslegung durch die Rechtsprechung eröffnet“ (vgl. BVerfGK 13, 354 ff.; BVerfGE 107, 104 [128]). ▪ Typologie der Gesetzesvorbehalte: ➢ Grundrechtlicher Gesetzesvorbehalt ➢ Institutionell-organisatorischer Gesetzesvorbehalt (vgl. Art. 21 III, 28 II, 33 V, 84 II GG etc.) ➢ Finanz- und haushaltsrechtlicher Gesetzesvorbehalt (vgl. Art. Art. 107 II, 110 II GG etc.) ➢ Gesetzesvorbehalte für internationale Beziehungen (vgl. Art. 23 I, 24 I und 59 II GG) Seite 38 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 d) Rechtsstaatliche Normenhierarchie (Primäres und sekundäres EU-Recht [Anwendungsvorrang]) G E L T U N G S V O R R A N G 4. Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte ▪ Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt zudem ein Justizgewährungsanspruch durch unabhängige Gerichte, damit der Bürger sein Grundrecht aus Art. 19 IV GG (effektiver Rechtsschutz) verwirklichen kann. ▪ Die Gewährung staatlichen Rechtsschutzes durch unabhängige Gerichte ist zwingende Folge des Verbots der Ausübung von Privatgewalt („Selbstjustiz“) und des spiegelbildlichen staatlichen Gewaltmonopols (Hobbes!). ▪ Aus Art. 2 I i.V.m. Art. 20 III GG folgert das BVerfG im Übrigen einen Anspruch auf ein faires gerichtliches Verfahren. 5. Staatshaftung ▪ Zum Rechtsstaatsprinzip gehört auch die Einstandspflicht des Staates für begangenes (Verwaltungs-)Unrecht. ▪ Vgl. insoweit Art. 34 GG. Seite 39 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 6. Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbote ▪ Hintergrund der Rechtssicherheits- und Rückwirkungsproblematik: ➢ Art. 103 II GG: Für Strafgesetze ist die Rückwirkungsproblematik explizit in Art. 103 II GG geregelt („nulla poena sine lege scripta“). ➢ Von einer Rückwirkung können aber auch sonstige Gesetze betroffen sein. Die Beurteilungsmaßstäbe hierfür werden aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet. ➢ Ein bedeutsamer Gesichtspunkt des Rechtsstaatsprinzips ist die Rechtssicherheit, insbesondere in der Form des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Vertrauensschutzes. ➢ Vertrauensschutz bedeutet Schutz des Vertrauens in die Beständigkeit der Gesetze. Dieses Vertrauen kann durch belastende Gesetze, die eine Rückwirkung entfalten, enttäuscht werden. ▪ Ein Verbot der Rückwirkung von belastenden Gesetzen gilt: ➢ Für Strafgesetze uneingeschränkt (Art. 103 II GG); ➢ Für sonstige Gesetze nur eingeschränkt. Insoweit unterscheidet das BVerfG zwischen: • „Unechte“ Rückwirkung (tatbestandliche Rückanknüpfung) = wenn das Gesetz ein Geschehen betrifft, das in der Vergangenheit ins Werk gesetzt, jedoch noch nicht abgeschlossen wurde und die Rechtsfolgen des Gesetzes erst nach seiner Verkündung eintreten. Die Norm knüpft in ihrem Tatbestand an Gegebenheiten vor ihrer Verkündung an, um Rechtsfolgen für die Zukunft zu regeln. => Grundsätzlich zulässig und nur in Ausnahmefällen unzulässig (Abwägung des Wohls/der Interessen der Allgemeinheit mit Vertrauensschutzinteressen des Betroffenen [Verhältnismäßigkeitsprüfung]; im Besonderen ist darauf abzustellen, ob Grundrechte in belastender Weise betroffen sind) • „Echte“ Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen) = wenn der Gesetzgeber nachträglich in Tatbestände eingreift, die in der Vergangenheit begonnen und abgeschlossen wurden, deren Rechtsfolgen also vor Verkündung des Gesetzes eingetreten sind. An bereits abgeschlossene Tatbestände werden neue Rechtsfolgen geknüpft. => Ist aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes grundsätzlich unzulässig. Ausnahmsweise ist die echte Rückwirkung zulässig, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls oder ein nicht vorhandenes Vertrauen des Einzelnen eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots gestatten. Folgende Ausnahmefälle sind deshalb anerkannt: o Mit der (Neu-)Regelung war zu rechnen (Problem: ab wann?) → es liegt kein schutzwürdiges Vertrauen vor. o Die Rechtslage war „unklar und verworren“ → es liegt kein schutzwürdiges Vertrauen vor. o Die Regelung bewirkt nur ganz geringfügige Beeinträchtigungen („Bagatellvorbehalt“). Seite 40 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 o Nichtige Norm wird (rückwirkend) durch wirksame Norm gleichen Inhalts ersetzt; o „Zwingende Gründe des öffentlichen Wohls“ (Fallgruppe umstritten) Nota bene: Die Aufzählung ist nicht abschließend. Seite 41 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Echte Rückwirkung Unechte Rückwirkung Zeitraum SV bereits abgeschlossen SV dauert noch an begünstigende Vorschrift immer zulässig immer zulässig Strafgesetze immer unzulässig immer unzulässig sonstige belastende Vorschriften grundsätzlich unzulässig grundsätzlich zulässig Ausnahmen ▪ Neuregelung war vorhersehbar ▪ Alte Regelung war unklar und verworren ▪ Nichtige Norm wird ersetzt ▪ Bloße Bagatelle ▪ (Zwingende Gemeinwohlgründe) Vertrauen des Bürgers ist ausnahmsweise besonders schutzwürdig und überwiegt das öffentliche Interesse an der Neuregelung. Beachte: Überwiegendem Vertrauensschutz kann durch Übergangsvorschriften oder einer finanziellen Entschädigung Rechnung getragen werden. Fall: Nach der Havarie des Atomkraftwerks in Fukushima beschließt der Bundestag das „beschleunigte Atom-Ausstiegsgesetz“, mit dem die 2010 von ihm selbst beschlossene Verlängerung der AKW-Laufzeiten bis ca. zum Jahre 2035 rückgängig gemacht wird. Das neue Gesetz sieht nunmehr einen festen Ausstiegsendpunkt am 31.12.2022 vor. Die Energiewirtschaft ist über dieses Ausstiegsgesetz alles anderer als begeistert und macht geltend, dass man nach 2010 im Vertrauen auf die beschlossene Laufzeitverlängerung bis 2035 einen zweistelligen Milliardenbetrag in die Sicherheit der Atomkraftwerke investiert habe. Diese Investitionen seien jetzt nicht mehr zu refinanzieren. Da das Gesetz auch keine Entschädigungsklausel vorsieht, hält man es für verfassungswidrig. Zu Recht? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 8) Im Fall liegt die Konstellation einer unechten Rückwirkung vor. Die Laufzeit der Atomreaktoren durfte vom Bundestag deshalb grundsätzlich verkürzt werden, zumal die Kraftwerksbetreiber mit Blick auf die erste Ausstiegsentscheidung im Jahre 2000 und die Diskussionen in der Bevölkerung, vor allem nach Fukushima, mit einem solchen vorgezogenen Ausstieg rechnen konnten. Allerdings haben die Kraftwerkbetreiber mit Blick auf die Verlängerung der Laufzeit im Jahre 2010 im berechtigten Vertrauen auf den Bestand dieses Gesetzes Investitionen in ihre Anlagen getätigt, die sie Seite 42 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 jetzt nicht mehr refinanzieren können. Insoweit liegt ein schutzwürdiges Vertrauen vor, welches grundrechtlich durch die Art. 12 I und 14 I GG unterlegt ist. Für einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen dem öffentlichen Interesse (vorgezogener Ausstieg) und dem Vertrauen der Betreiber muss das Gesetz deshalb insoweit einen Entschädigungsregelung vorsehen. Da es das nicht tut, ist es insoweit verfassungswidrig (vgl. hierzu auch BVerfGE 143, 246 – Atomausstieg). Seite 43 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 7. Verhältnismäßigkeit ▪ Zur Ausprägung des (materiellen) Rechtsstaatsprinzips gehört auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. ▪ Er bindet alle drei Staatsgewalten. D.h. der Gesetzgeber hat das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten, wenn er belastende Gesetze erlässt. Die Rechtsanwender (Exekutive, Judikative) haben das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten, wenn das zu vollziehende Gesetz Spielräume belässt (was insbes. dann der Fall ist, wenn die Norm auf der Rechtsfolgenseite Ermessen einräumt, d.h. keine gebundene Rechtsfolge anordnet). ➢ Eine staatliche Maßnahme ist danach verhältnismäßig, wenn sie: • einen legitimen Zweck verfolgt, • geeignet ist, diesen Zweck zu erreichen, • erforderlich zur Zweckerreichung ist (Erforderlichkeit fehlt, wenn der Zweck durch ein gleich geeignetes, aber milderes Mittel erreicht werden kann) und • verhältnismäßig im engeren Sinne (proportional, angemessen, zumutbar) ist (= Zweck-Mittel-Relation). Fall: B ist vor dem AG München wegen Organuntreue angeklagt. Der Schaden der Gesellschaft besteht in 2 Bußgeldern von insgesamt 10.000 €. Das AG ordnet eine Prüfung seiner Zurechnungsfähigkeit an. Daraufhin stellt der Gerichtsarzt einen Verdacht auf Erkrankung des Zentralnervensystems fest und hält zur weiteren Klärung eine Blut- und Liquoruntersuchung für erforderlich. Da B damit nicht einverstanden ist, ordnet das AG ihre Vornahme nach § 81a StPO an. Hiergegen erhebt B Verfassungsbeschwerde und rügte u.a. die Verletzung des Art. 2 II 1 GG, weil die Liquorentnahme seine Gesundheit aufs Schwerste gefährde und nicht notwendig sei, da es genügend andere Methoden zur Aufklärung seiner Zurechnungsfähigkeit gebe. Wie wird das BVerfG entscheiden? (BVerfGE 16, 194 ff. – Liquorentnahme) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 9) Das BVerfG wird B Recht geben. Ob eine Liquorentnahme gerichtlich angeordnet wird, steht gem. § 81a stopp im Ermessen des Richters. Bei seiner Ermessensausübung ist er an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden. Vorliegend erscheint die Entnahme zum einen nicht erforderlich. Zudem ist sie mit Blick auf ihre Gefährlichkeit und den nur geringen Schuldvorwurf auch nicht zumutbar. Zur Vertiefung (Verhältnismäßigkeitsprinzip): Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 416 ff.; Stuckenberg, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 150 ff. (zu BVerfGE 16, 194 ff. – Liquorentnahme) Zur Vertiefung (Rechtsstaatsprinzip): Voßkuhle/Kaufhold, Das Rechtsstaatsprinzip, JuS 2010, 116 ff.; Geis, Examens-Repetitorium Staatsrecht, Fall 3 und 4 Seite 44 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 G. Politische Parteien I. Begriff und Funktion der politischen Parteien 1. Begriff der Partei ▪ Begriffsdefinition in § 2 PartG (lesen!) ▪ Keine Parteien sind demnach: ➢ Bürger- und Wählerinitiativen ➢ „Rathausparteien“ ➢ „Europaparteien“ ▪ Der einfachgesetzliche Parteienbegriff in § 2 I PartG gilt als verfassungskonforme Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Parteienbegriffs (BVerfGE 91, 262 [267] – str.). 2. Funktion der Parteien ▪ „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ (Art. 21 I 1 GG, § 1 I 2 PartG). ▪ Ausführliche Funktionsbeschreibung in § 1 II PartG (lesen!) ▪ Parteien kommt insbes. Funktion zu, ➢ an Wahlen mitzuwirken („Wahlvorbereitungsorganisationen“ – BVerfGE 91, 262 [268]) und ➢ den gleichgerichteten politischen Willen der Bürger in Gestalt von handlungsfähigen Einheiten zu bündeln und zu artikulieren („Bündelungsfunktion“). ▪ Nota bene: Parteien wurzeln primär im politisch-gesellschaftlichen Bereich und erfüllen eine Mittlerfunktion zwischen Volk und Staat. Daraus folgt insbesondere: ➢ Parteien sind private „Vereinigungen von Bürgern“ (vgl. § 2 I PartG), d.h. privatrechtliche Vereine gem. § 21 (z.B. FDP, CSU) bzw. § 54 BGB (z.B. CDU, SPD); vgl. insoweit auch §§ 3 u. 37 PartG. Beachte: Die vereinsrechtlichen Regelungen des BGB wie auch des VereinsG (s. § 2 I, II Nr. 1 VereinsG) werden vom PartG als lex specialis überlagert! ➢ Parteien sind grundrechtsfähig (vgl. Art. 19 III GG). Beachte: Art. 9 I GG wird durch Art. 21 GG als lex specialis überlagert. ➢ Laut BVerfG sind sie aber auch „verfassungsrechtliche Institutionen“ (BVerfGE 20, 56 [97 ff.]), nicht indes Staats- oder Verfassungsorgane. Dennoch sind sie laut BVerfG gem. Art. 93 I Nr. 1 GG im Organstreitverfahren antragsbefugt, soweit sie um ihre Rechte aus Art. 21 GG streiten (BVerfGE 60, 53 [61 f.]). Seite 45 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 II. Gründungsfreiheit und innere Ordnung der Parteien 1. Gründungsfreiheit (äußere Parteifreiheit) ▪ Die Gründung einer Partei ist weder genehmigungs- noch anzeigepflichtig (Art. 21 I 2 GG). ▪ Die Gründungsfreiheit umfasst Organisations- und Programmfreiheit. ▪ Staat darf Bei- und Austritte nicht behindern, Parteien dürfen Bei- und Austritte nicht erzwingen. ▪ Aber: ➢ Parteien sind frei in der Aufnahme von Mitgliedern (§ 10 I PartG). ➢ Allerdings dürfen Mitglieder nur unter engen Voraussetzungen ausgeschlossen werden (§ 10 IV, V PartG). Über die Rechtmäßigkeit des Parteiausschlusses entscheiden ein innerparteiliches Schiedsgericht (vgl. § 10 V PartG) und die Zivilgerichte (vgl. § 1059 ZPO). Zur Vertiefung: Kotzur, JuS 2001, 54 ff. (Fallbearbeitung) Fall 1: Im Rahmen eines Vortrags vertritt der C-Abgeordnete H die Auffassung, dass – historisch betrachtet – Juden nicht nur Opfer, sondern – im Zuge der kommunistischen Revolution – selbst auch Täter gewesen seien. In der C-Partei ist man über diesen historisch falschen Vergleich und die Relativierung des Holocausts zutiefst empört und strengt ein Parteiausschlussverfahren an. Mit Erfolg? Fall 2: Nachdem die Wahl der S-Spitzenkandidatin „Frau XY“ zur Ministerpräsidentin des Bundeslandes H zum zweiten Mal an 4 „Abweichlern“ aus der eigenen S-Fraktion gescheitert ist, beschließt die S-Partei, diese wegen „parteischädigenden Verhaltens“ aus der Partei auszuschließen. Wäre ein solcher Ausschluss zulässig? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 10) Fall 1: Durch die klar antisemitische Äußerung verstößt H in eklatanter Weise gegen die Prinzipien und Überzeugungen der C-Partei (Aussöhnung mit dem Staate Israel, Anerkennung von Verantwortung und Schuld für den Holocaust), dass ein Parteiausschluss gerechtfertigt ist. Fall 2: Der Ausschluss wäre unzulässig. Die 4 „Abweichler“ machen von ihrem verfassungsgemäßen Recht Gebrauch, als Abgeordnete des Landtages in H eine geheime und freie Personalentscheidung über die Wahl der Ministerpräsidentin zu treffen. Aus der gleichen Parteizugehörigkeit fließt kein Anspruch von XY auf Wahl in das Amt. Vielmehr können die Abgeordneten und Parteikollegen durch die Nicht-Wahl Seite 46 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 zum Ausdruck bringen, dass sie XY für dieses Amt für ungeeignet halten und sich dort eine andere Person (aus ihrer Partei) wünschen. Ein solches Verhalten kann nicht – schon aus Gründen des Schutzes der freien Abgeordnetenentscheidung bei Personalwahlen – als parteienschädigend qualifiziert werden. 2. Innere Ordnung der Parteien (innere Parteifreiheit) ▪ Verfassungsrechtlicher Grundsatz: Art. 21 I 3 GG („Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.“). Dies soll eine „Entscheidungsbildung von unten nach oben“, d.h. aus der Bevölkerung heraus ermöglichen bzw. sicherstellen (Bündelungsfunktion). → Parteiinterne Wahlen müssen Grundsätzen des Art. 38 I 1 GG entsprechen. Aber: Berücksichtigung der politischen Zielsetzung (z.B. satzungsmäßige Festlegung einer Frauenquote) ▪ Einfachrechtliche Ausgestaltung u.a.: ➢ Vorhandensein schriftlicher Satzungen und Programme (§ 6 PartG) ➢ Sicherung der Transparenz und Mitbestimmung für Parteimitglieder (§§ 7, 15, 17 PartG) ➢ Regelmäßige Wiederwahl der Parteiorgane (z.B. § 11 ParteiG) III. Chancengleichheit der Parteien Fall: Um die politisch heikle N-Partei aus der Stadt fernzuhalten, weigert sich die Stadt P, ihr die städtische N-Halle für ihren Bundesparteitag zu vermieten. Allerdings wurden in der Vergangenheit bereits andere Parteien für derartige Veranstaltungen in der Halle zugelassen. Ist diese Weigerung rechtmäßig? ▪ Das BVerfG leitet aus Art. 21 I i.V.m. Art. 3 I bzw. Art. 38 I GG einen formal-egalitären Gleichbehandlungsanspruch der Parteien her. Der Staat hat deshalb grds. alles zu unterlassen, was die Chancen der Parteien untereinander in und außerhalb von Wahlkampfzeiten beeinträchtigt (Grundsatz der Chancengleichheit; Gebot staatlicher Neutralität). ▪ Dieser Grundsatz ist nicht auf das Vorfeld von Wahlen beschränkt, sondern umfasst den gesamten Wirkungsbereich von Parteien. ▪ Von diesem Grundsatz der „streng formalen“ Chancengleichheit lässt das BVerfG nur aus zwingenden Gründen Ausnahmen (und damit Differenzierungen) zu (Bsp.): ➢ 5%-Klausel (dazu noch später) ➢ Staatliche Parteienfinanzierung in Abhängigkeit vom Wahlergebnis (dazu gleich) ➢ „Abgestufte“ Chancengleichheit nach der Bedeutung der Parteien beim Zurverfügungstellen öffentlicher Einrichtungen (z.B. Stadthalle) oder der Gewährung anderer öffentlicher Leistungen (z.B. Sendezeiten im Rundfunk) – § 5 PartG (lesen!) Seite 47 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Nota bene: Es handelt sich bei § 5 PartG nicht um eine originäre Anspruchsgrundlage, sondern um ein akzessorisches Gleichbehandlungsgebot („Wenn ein Träger Parteien Einrichtungen zur Verfügung stellt, dann hat er § 5 PartG zu beachten.“). Zur Vertiefung: Görisch, in: Pieroth (Hrsg.), Hausarbeit im Staatsrecht, S. 163 ff. ▪ In der Vergangenheit wurde die Chancengleichheit des Öfteren durch Äußerungen von Regierungsmitgliedern oder sonstigen Amtsträgern beeinträchtigt. Hierzu hat sich eine reichhaltige Judikatur des BVerfG ergeben. Aktuelle Rechtsprechung insoweit: Äußerungen von Bundeskanzlerin Merkel zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 verletzten das Recht auf Chancengleichheit der Parteien (BVerfG, Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20 = BeckRS 2022, 13335); Äußerungen des Bundesinnenministers Seehofer über die AfD, soweit sie über die Homepage des Ministeriums veröffentlich wurden, griffen in die Chancengleichheit der Parteien ein (BVerfGE 154, 320, Rn. 89); das Abschalten der Beleuchtung durch die Gemeinde sowie der Aufruf zum Abschalten der Beleuchtung privater Haushalte auf der städtischen Internetseite greift in die Chancengleichheit der Parteien ein, sofern gegen eine solche gerichtet (vgl. OVG Münster NVwZ 2017, 1316 „Licht aus gegen rechts“). IV. Staatliche Parteienfinanzierung ▪ Finanzielle Basis der Parteien: Mitgliedsbeiträge, Spenden (§ 25 PartG), staatliche Zuwendungen; vgl. ferner § 24 IV PartG ▪ Der Staat unterstützt Parteien auf folgenden Wegen: ➢ Unmittelbare finanzielle Zuwendungen (ca. 30% der Gesamteinnahmen einer Partei) ➢ Mittelbare steuerliche Begünstigung von Parteispenden ▪ Die staatliche Parteienfinanzierung reflektiert den Umstand, dass Parteien eine Aufgabe im Interesse des Gemeinwesens (politische Willensbildung) wahrnehmen. ▪ Andererseits muss jedoch sichergestellt werden, dass sich die in den Gesetzgebungsorganen vertretenen Parteien nicht einen wettbewerbsverzerrenden Zugriff auf staatliche Mittel verschaffen. ▪ In seiner Grundsatzentscheidung vom 9.4.1992 (BVerfGE 85, 264 ff.) hat das BVerfG für die Parteienfinanzierung deshalb folgende Grundsätze aufgestellt: ➢ Parteienfinanzierung bedarf einer gesetzlichen Grundlage (Stärkung des Gleichheitsprinzips, Wesentlichkeitsgedanke, Transparenz). ➢ Unmittelbare staatliche Leistungen an Parteien sind zulässig (streitig, ob auch Verpflichtung zu staatlicher Finanzierung besteht – im Ergebnis wohl zu verneinen). Allerdings darf die staatliche Finanzierung nur als Teilfinanzierung gewährt werden; die Eigenfinanzierung muss Vorrang behalten (vgl. insofern § 18 I 1, II und V PartG). ➢ Die Mittelzuweisung muss sich am Erfolg der Parteien beim Wähler orientieren, um ihren Erfolg im politischen Wettbewerb nicht zu verfälschen (zu den Maßstabsgrundsätzen vgl. § 18 I 2, III PartG). ➢ Mindestquoren (z.B. 0,5 % bzw. 1 % der für die Parteilisten abgegebenen gültigen Stimmen) sind zulässig (vgl. § 18 IV PartG). Seite 48 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➢ Bei der Begünstigung von Parteispenden (§ 34g EStG u. § 10b II EStG – mittelbare Parteienfinanzierung) muss der Grundsatz der staatsbürgerlichen Gleichheit (vgl. Art. 38 I 1 GG) gewahrt bleiben. Spenden dürfen deshalb nur in einer Größenordnung steuerlich begünstigt werden, wie sie von durchschnittlichen Einkommensbeziehern erreichbar ist (derzeit 1.650 bzw. 3.300 €). Spenden juristischer Personen dürfen steuerlich überhaupt nicht begünstigt werden! ➢ Gem. Art. 21 I 4 GG muss über die Herkunft der Mittel Rechenschaft abgelegt werden (Einzelheiten hierzu sind in den §§ 23 ff. PartG geregelt). ➢ Bei Unrichtigkeit des Rechenschaftsberichts greifen die Sanktionsvorschriften der §§ 31a ff. PartG (Rücknahme der Festsetzung staatlicher Mittel, Strafzahlungen, Strafbarkeit). V. Verbot verfassungswidriger Parteien Fall: Die NPD möchte bei der Sparkasse P ein Girokonto eröffnen. Unter Hinweis auf ihre verfassungsfeindlichen Ziele verweigert ihr der Sparkassen-Vorstand jedoch den Abschluss eines Kontoführungsvertrags. Hätte eine Klage auf Abschluss eines solchen Vertrags Erfolg? ▪ Unter den Voraussetzungen des Art. 21 II GG sind Parteien verfassungswidrig. Die Bestimmung reflektiert das historische Trauma von 1933 – 1945. Sie ist Ausprägung der sog. „wehrhaften Demokratie“ (dazu nachfolgend H.). ▪ Zu den Begrifflichkeiten vgl. § 4 BVerfSchG. Das BVerfG fordert zudem eine aktiv-kämpferische, aggressive Haltung gegen die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ (FDGO). ▪ Art. 21 IV GG statuiert das sog. „Parteienprivileg“  Solange über die Frage der Verfassungswidrigkeit einer Partei vom BVerfG nicht entschieden worden ist („Entscheidungsmonopol des BVerfG“), dürfen sich der Staat und seine Untergliederungen grds. nicht darauf berufen, es handele sich um eine verfassungswidrige Partei. Entsprechend sind exekutive Maßnahmen (z.B. Parteiauflösung) unzulässig.  Relevanz für Fall? Die NPD kann einen Anspruch aus § 826 BGB i.V.m. § 249 I BGB auf Abschluss eines Girokontovertrags erfolgreich einklagen. Wegen Art. 21 II i.V.m. IV GG ist es der Sparkasse als Anstalt des öffentlichen Rechts verwehrt, der Partei den Abschluss eines solchen Vertrags zu verwehren. ▪ Dieses Privileg erstreckt sich grds. auch auf die Funktionäre und Mitglieder einer politischen Partei, soweit diese mit allgemein erlaubten Mitteln für die Partei tätig sind. ▪ Dieses Parteienprivileg wird vom BVerfG für den Bereich des öffentlichen Dienstes (vgl. Art. 33 II, IV und V GG) allerdings eingeschränkt (dazu noch unten H. II. – „Radikalenerlass“). Seite 49 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ▪ Auch die nachrichtendienstliche Beobachtung von Funktionären und sonstigen Mitgliedern einer als verfassungsfeindlich geltenden Partei ist grds. zulässig. Von daher ist es unter den Voraussetzungen des § 4 I 3 BVerfSchG grds. gestattet, (Bundestags-)Abgeordnete (konkret: Bodo Ramelow von der Linken-Fraktion) „nachrichtendienstlich“ zu beobachten, obschon hierin ein Eingriff in das freie Mandat des Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG zu sehen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.7.2010 – 6 C 22/09 m. Anm. Cornils, ZJS 5/2010, 667 ff.; im Grds., nicht aber in Bezug auf die Person, bestätigt durch BVerfGE 134, 141 ff.). ▪ Verbotsverfahren (§§ 13 Nr. 2, 43 ff., 15 IV BVerfGG) Zulässigkeit BVerfG wird nur auf Antrag tätig. Antragsberechtigung: Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung (§ 43 BVerfGG) [Antragsberechtigung der Partei selbst?] Antragstellung liegt im politischen Ermessen der Antragsberechtigten. Antragsgegner: nur eine politische Partei i.S.d. § 2 I PartG Kein Rechtsschutzbedürfnis erforderlich (objektives Verfahren) Form: § 23 I BVerfGG, keine Frist Vorverfahren nach § 45 BVerfGG Begründetheit Antrag begründet, wenn Antragsgegner in aktiv-kämpferischer Weise darauf hinarbeitet, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden. Nota bene I: Innerhalb des Senats des BVerfG ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Verbotsentscheidung erforderlich (§ 15 IV i.V.m. § 13 Nr. 2 BVerfGG). Nota bene II: Um eine Kongruenz mit der EGMR-Rspr. zu Parteiverboten herzustellen, hat das BVerfG in seiner 2. NPD-Parteiverbotsentscheidung zudem folgende Voraussetzung aufgestellt: „Dass dadurch eine konkrete Gefahr für die durch Art. 21 Abs. 2 GG geschützten Rechtsgüter begründet wird, ist nicht erforderlich. Allerdings bedarf es konkreter Anhaltspunkte von Gewicht, die einen Erfolg des gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Handelns zumindest möglich erscheinen lassen.“ (BVerfGE 144, 20 ff.) ▪ Vollstreckung des Parteiverbots: § 32 PartG ▪ Zum Verbot von Ersatzorganisationen vgl. § 33 PartG ▪ Bisherige Verbotsverfahren: SRP (1951 – BVerfGE 2, 1 ff.) und KPD (1956 – BVerfGE 5, 85 ff.) – beide erfolgreich – sowie NPD (2003 – BVerfGE 107, 339 ff.) – im Ergebnis (aus prozessualen Erwägungen – kein faires Verfahren [„Gegnerfreiheit“] möglich) erfolglos; ebenso erneutes Verbotsverfahren gegen die NPD auf Antrag des Bundesrates (2017 – BVerfGE 144, 20 ff.). ▪ Konsequenz des Verbots für Abgeordnete: Verlust des Mandats (§ 46 I Nr. 5 BWahlG) Seite 50 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Zur Vertiefung: Rensmann, SRP und KPD, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 59 ff. Seite 51 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 H. „Wehrhafte Verfassung“ I. Verfassungsänderungen und Änderungsresistenz ▪ S. hierzu bereits oben § 1 A. III. 2. e) ▪ Formelle Voraussetzungen für Verfassungsänderung: Art. 79 I u. II GG ▪ Verfassungsänderung durch den „pouvoir constitué“ findet seine Grenze an der sog. „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 III GG. ▪ Art. 79 III GG fungiert zugleich als Schranke für die europäische Integration (vgl. Art. 23 I 3 GG). ▪ Leitentscheidungen: BVerfGE 30, 1 ff. – Abhörentscheidung u. BVerfGE 109, 279 ff. – großer Lauschangriff II. Weitere Sicherungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ▪ Das GG versteht sich als „wehrhafte (streitbare) Verfassung“. ▪ Dieses Prinzip findet neben Art. 79 GG u.a. Ausprägung in folgenden weiteren Bestimmungen: ➢ Art. 9 II GG ➢ Art. 18 GG (Grundrechtsverwirkung – zum Verfahren vgl. §§ 36 ff. BVerfGG; bislang vier erfolglose Verfahren – vgl. Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. I, 6. Aufl. 2010, Art. 18 Rn. 10) ➢ Art. 20 IV GG (Widerstandsrecht – „andere Abhilfe“ besteht, wenn dem Bürger rechtsstaatliche Möglichkeiten [etwa gerichtlicher Rechtsschutz] offenstehen, um sich gegen die Beseitigung der bundesrepublikanischen Ordnung [etwa durch Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Union] zur Wehr zu setzen – BVerfGE 89, 155 [180] – Maastricht) ➢ Art. 21 II GG (Parteiverbot – s. oben § 2 G. V.) ➢ Art. 33 V GG: Politische Treuepflicht des Beamten als „hergebrachte(r) Grundsatz des Berufsbeamtentums“. Diese fordert mehr als nur eine formal korrekte, im Übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung. Sie fordert vom Beamten insbesondere, dass er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren – BVerfGE 39, 334 – „Extremistenbeschluss“; einfachrechtliche Ausprägung dieser Treuepflicht: § 7 I Nr. 2 BeamtStG. Die Partei muss i.Ü. nicht vom BVerfG als verfassungswidrig erklärt worden sein; das Verhalten der verfassungsfeindlichen Partei kann einem ihrer Mitglieder vielmehr zugerechnet werden, wenn er sich nicht erkennbar von den Zielsetzungen dieser Partei distanziert (vgl. hierzu OVG Thüringen, Bschl. v. 17.9.2014, Az. 3 ZKO 503/13 – Nichtzulassung eines NPD-Mitglieds zur Bürgermeisterwahl). Enger demgegenüber EGMR, NJW 1996, 375 ff. – Lehrerin mit DKP-Mitgliedschaft. Seite 52

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