GMN 221-271 Reader 2024-25 PDF
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Summary
This document is a reader for a literature course, specifically semesters III and IV of GMN 221: Introduction to Literature I and II. It contains excerpts from various German literary works, such as from Wolfgang Borchert and Heinrich Böll. It is not an exam paper but a reader for a course.
Full Transcript
Einführung in die Literatur SEMESTER III - GMN 221: Introduction to Literature I WOLFGANG BORCHERT: Die Küchenuhr (1947)........................................................................ 1 WOLFGANG BORCHERT: Das Brot (1947)..........................
Einführung in die Literatur SEMESTER III - GMN 221: Introduction to Literature I WOLFGANG BORCHERT: Die Küchenuhr (1947)........................................................................ 1 WOLFGANG BORCHERT: Das Brot (1947).................................................................................. 3 GÜNTER EICH: Inventur (1947).................................................................................................... 5 ELISABETH LANGGÄSSER: Saisonbeginn (1947)....................................................................... 6 HEINER MÜLLER: Das Eiserne Kreuz (1956)............................................................................... 8 GÜNTER SEUREN: Das Experiment (1966)................................................................................ 10 ILSE AICHINGER: Das Fenstertheater (1953)............................................................................. 13 HEINRICH BÖLL: An der Brücke (1949)..................................................................................... 15 HEINRICH BÖLL: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral (1963)............................................ 17 PETER BICHSEL: San Salvador (1963)...................................................................................... 19 KURT KUSENBERG: Schnell gelebt (1951)................................................................................ 20 MARIE LUISE KASCHNITZ: Hiroshima (1951)............................................................................ 22 SEMESTER IV - GMN 221: Introduction to Literature II WOLFGANG HILDESHEIMER: Eine größere Anschaffung (1962).............................................. 23 BERTOLT BRECHT: Wenn die Haifische Menschen wären (1949)............................................ 25 REINER KUNZE: Element (1976)................................................................................................ 27 CHRISTA REINIG: Skorpion (1968)............................................................................................. 30 HANS JONAS: Über den Umgang der Menschheit mit der Natur (1992)................................... 31 HERMANN KASACK: Mechanischer Doppelgänger.................................................................. 34 FRANZ KAFKA: Eine kaiserliche Botschaft................................................................................ 37 GÜNTER DE BRUYN: Eines Tages ist er wirklich da.................................................................. 38 ROBERT WALSER: Die Schule................................................................................................... 41 ULRICH BECKER: Die Mauer im Kopf........................................................................................ 43 KURT KUSENBERG: Eine ernste Geschichte........................................................................... 47 MAX FRISCH: Sommer in New York.......................................................................................... 49 Anhang........................................................................................................................................ 51 [ ] I [ ] II WOLFGANG BORCHERT: Die Küchenuhr (1947) Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug. Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne saßen. Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übrig geblieben. Er hielt eine runde tellerweiße Küchenuhr vor sich hin und tupfte mit dem Finger die blaugemalten Zahlen ab. Sie hatte weiter keinen Wert, meinte er entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht so besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich. Die Zeiger sind natürlich nur aus Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht. Er machte mit der Fingerspitze einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der Telleruhr entlang. Und er sagte leise: Und sie ist übrig geblieben. Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe und die Frau in ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand: Sie haben wohl alles verloren? Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob die Uhr wieder hoch, als ob die anderen sie noch nicht kannten. Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau. Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz wie immer: weiß und blau. Und wieder zeigte er ihnen seine Uhr. Und was das Schönste ist, fuhr er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja noch überhaupt nicht erzählt. Das Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie mal, sie ist um halb drei stehengeblieben. Ausgerechnet um halb drei, denken sie mal! Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen, sagte der Mann und schob wichtig die Unterlippe vor. Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die Uhren stehen. Das kommt von dem Druck. Er sah seine Uhr an und schüttelte überlegen den Kopf. Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich. Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden. Nein. Um halb drei war ganz etwas anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich der Witz, dass sie gerade um halb drei stehengeblieben ist. Und [ ] 1 nicht um viertel nach vier oder um sieben. Um halb drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts, meine ich. Fast immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz. Er sah die anderen an, aber die hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er fand sie nicht. Da nickte er seiner Uhr zu: Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich ging immer gleich in die Küche Da war es dann immer fast halb drei. Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so leise die Tür aufmachen, sie hat mich immer gehört. Und wenn ich in der dunklen Küche etwas zu essen suchte, ging plötzlich das Licht an. Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und barfuß. Immer barfuß. Und dabei war unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja schon geschlafen. Es war ja Nacht. So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann machte sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und dann hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es so. Und meistens immer um halb drei. Das war selbstverständlich, fand ich, dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät wieder. Aber das sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so selbstverständlich. Das alles war doch immer so gewesen. Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann sagte er leise: Und jetzt? Er sah die anderen an. Aber er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht: Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und ihre Familie? Er lächelte sie verlegen an: Ach, Sie meinen meine Eltern? Ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg. Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an. Da hob er wieder die Uhr hoch und er lachte. Er lachte: Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, dass sie ausgerechnet um halb drei stehengeblieben ist. Ausgerechnet um halb drei. Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies. [ ] 2 WOLFGANG BORCHERT: Das Brot (1947) Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche. Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hochkroch. Und sie sah von dem Teller weg. „Ich dachte, hier wäre was“, sagte er und sah in der Küche umher. „Ich habe auch was gehört“, antwortete sie und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt. „Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich noch.“ Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. Dass er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren. „Ich dachte, hier wäre was“, sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, „ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was.“ „Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts.“ Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke. „Nein, es war wohl nichts“, echote er unsicher. Sie kam ihm zu Hilfe: „Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fliesen.“ Er sah zum Fenster hin. „Ja, das muss wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier.“ Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. „Komm man“, sagte sie und machte das Licht aus, „das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappen sie immer.“ Sie tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten auf den Fußboden. „Wind ist ja“, meinte er. „Wind war schon die ganze Nacht.“ Als sie im Bett lagen, sagte sie: „Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne.“ [ ] 3 „Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne.“ Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre. Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log. „Es ist kalt“, sagte sie und gähnte leise, „ich krieche unter die Decke. Gute Nacht.“ „Nacht“, antwortete er noch: „Ja, kalt ist es schon ganz schön.“ Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam einschlief. Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können. „Du kannst ruhig vier essen“, sagte sie und ging von der Lampe weg. „Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iss du man eine mehr. Ich vertrag es nicht so gut.“ Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr Leid. „Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen“, sagte er auf seinen Teller. „Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss man. Iss man.“ Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch. [ ] 4 GÜNTER EICH: Inventur (1947) Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. Konservenbüchse: Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt. Geritzt hier mit diesem kostbaren Nagel, den vor begehrlichen Augen ich berge. Im Brotbeutel sind ein Paar wollene Socken und einiges, was ich niemand verrate, so dient es als Kissen nachts meinem Kopf. Die Pappe hier liegt zwischen mir und der Erde. Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht. Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn. [ ] 5 ELISABETH LANGGÄSSER: Saisonbeginn (1947) Die Arbeiter kamen mit ihrem Schild und einem hölzernen Pfosten, auf den es genagelt werden sollte, zu dem Eingang der Ortschaft, die hoch in den Bergen an der letzten Passkehre lag. Es war ein heißer Spätfrühlingstag, die Schneegrenze hatte sich schon hinauf zu den Gletscherwänden gezogen. Überall standen die Wiesen wieder in Saft und Kraft; die Wucherblume verschwendete sich, der Löwenzahn strotzte und blähte sein Haupt über den milchigen Stengeln; Trollblumen, welche wie eingefettet mit gelber Sahne waren, platzten vor Glück, und in strahlenden Tümpeln kleinblütiger Enziane spiegelte sich ein Himmel von unwahrscheinlichem Blau. Auch die Häuser und Gasthöfe waren wie neu: ihre Fensterläden frisch angestrichen, die Schindeldächer gut ausgebessert, die Scherenzäune ergänzt. Ein Atemzug noch: dann würden die Fremden, die Sommergäste kommen die Lehrerinnen, die mutigen Sachsen, die Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor allem die Autobesitzer in ihren großen Wagen…Ford und Mercedes, Fiat und Opel, blitzend von Chrom und Glas. Das Geld würde anrollen. Alles war darauf vorbereitet. Ein Schild kam zum anderen, die Haarnadelkurve zu dem Totenkopf, Kilometerschilder und Schilder für Fußgänger: Zwei Minuten zum Café Alpenrose. An der Stelle, wo die Männer den Pfosten in die Erde einrammen wollten, stand ein Holzkreuz, über dem Kopf des Christus war auch ein Schild angebracht. Seine Inschrift war bis heute die gleiche, wie sie Pilatus entworfen hatte: J. N. R. J., die Enttäuschung darüber, dass es im Grunde hätte heißen sollen: er behauptet nur, dieser König zu sein, hatte im Lauf der Jahrhunderte an Heftigkeit eingebüßt. Die beiden Männer, welche den Posten, das Schild und die große Schaufel, um den Pfosten in die Erde zu graben, auf ihren Schultern trugen, setzten alles unter dem Wegkreuz ab; der dritte stellte den Werkzeugkasten, Hammer, Zange und Nägel daneben und spuckte ermunternd aus. Nun beratschlagten die drei Männer, an welcher Stelle die Inschrift des Schildes am besten zur Geltung käme; sie sollte für alle, welche das Dorf auf dem breiten Passweg betraten, besser: befuhren, als Blickfang dienen und nicht zu verfehlen sein. Man kam also überein, das Schild kurz vor dem Wegekreuz anzubringen, gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte. Leider stellt sich aber heraus, dass der Pfosten dann in den Pflasterbelag einer Tankstelle hätte gesetzt werden müssen, eine Sache, die sich selbst verbot, da die Wagen, besonders die größeren, dann am Wenden behindert waren. Die Männer schleppten also den Pfosten noch ein Stück weiter hinaus bis zu der Gemeindewiese und wollten schon mit der Arbeit beginnen, als ihnen auffiel, dass diese Stelle bereits zu weit von dem Ortsschild entfernt war, das den Namen angab und die Gemeinde, zu welcher der Flecken gehörte. Wenn also das Dorf den Vorzug dieses Schildes und seiner Inschrift für sich beanspruchen wollte, musste das Schild wieder näherrücken am besten [ ] 6 gerade dem Kreuz gegenüber, so dass Wagen und Fußgänger zwischen beiden hätten passieren müssen. Dieser Vorschlag, von dem Mann mit den Nägeln und dem Hammer gemacht, fand Beifall. Die beiden anderen luden von neuem den Pfosten auf ihre Schultern und schleppten ihn vor das Kreuz. Nun sollte also das Schild mit der Inschrift zu dem Wegekreuz senkrecht stehen; doch zeigte es sich, dass die uralte Buche, welche gerade hier ihre Äste mit riesiger Spanne nach beiden Seiten wie eine Mantelmadonna ihren Umhang entfaltete, die Inschrift im Sommer verdeckt und ihr Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens abgeschwächt hätte. Es blieb daher nur noch die andere Seite neben dem Herrenkreuz, und da die erste, die in das Pflaster der Tankstelle überging, gewissermaßen den Platz des Schächers zur Linken bezeichnet hätte, wurde jetzt der Platz zur Rechten gewählt und endgültig beibehalten. Zwei Männer hoben die Erde aus, der dritte nagelte rasch das Schild mit wuchtigen Schlägen auf; dann stellten sie den Pfosten gemeinsam in die Grube und rammten ihn rings von allen Seiten mit größeren Feldsteinen an. Ihre Tätigkeit blieb nicht unbeobachtet. Schulkinder machten sich gegenseitig die Ehre streitig, dabei zu helfen, den Hammer, die Nägel hinzureichen und passende Steine zu suchen; auch einige Frauen blieben stehen, um die Inschrift genau zu studieren. Zwei Nonnen, welche die Blumenvase zu Fuße des Kreuzes aufs neue füllten, blickten einander unsicher an, bevor sie weitergingen. Bei den Männern, die von der Holzarbeit oder vom Acker kamen, war die Wirkung verschieden: einige lachten, andere schüttelten nur den Kopf, ohne etwas zu sagen; die Mehrzahl blieb davon unberührt und gab weder Beifall noch Ablehnung kund, sondern war gleichgültig, wie sich die Sache auch immer entwickeln würde. Im Ganzen genommen konnten die Männer mit der Wirkung zufrieden sein. Der Pfosten, kerzengerade, trug das Schild mit der weithin sichtbaren Inschrift, die Nachmittagssonne glitt wie ein Finger über die zollgroßen Buchstaben hin und fuhr jeden einzelnen langsam nach wie den Richtspruch an einer Tafel… Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen: man merkte, sie ging ihn gleichfalls an, welcher bisher von den Leuten als einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden, würde sie ihm nun für lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen. Als die Männer den Kreuzigungsort verließen und ihr Handwerkszeug wieder zusammenpackten, blickten alle drei noch einmal befriedigt zu dem Schild mit der Inschrift auf. Sie lautete: "In diesem Kurort sind Juden unerwünscht." [ ] 7 HEINER MÜLLER: Das Eiserne Kreuz (1956) Im April 1945 beschloss in Stargard in Mecklenburg ein Papierhändler, seine Frau, seine vierzehnjährige Tochter und sich selbst zu erschießen. Er hatte durch Kunden von Hitlers Hochzeit und Selbstmord gehört. Im ersten Weltkrieg Reserveoffizier, besaß er noch einen Revolver, auch zehn Schuss Munition. Als seine Frau mit dem Abendessen aus der Küche kam, stand er am Tisch und reinigte die Waffe. Er trug das Eiserne Kreuz am Rockaufschlag, wie sonst nur an Festtagen. Der Führer habe den Freitod gewählt, erklärte er auf ihre Frage, und er halte ihm die Treue. Ob sie, seine Ehefrau, bereit sei, ihm auch hierin zu folgen. Bei der Tochter zweifle er nicht, dass sie einen ehrenvollen Tod durch die Hand ihres Vaters einem ehrlosen Leben vorziehe. Er rief sie. Sie enttäuschte ihn nicht. Ohne die Antwort der Frau abzuwarten, forderte er beide auf, ihre Mäntel anzuziehen, da er, um Aufsehen zu vermeiden, sie an einen geeigneten Ort außerhalb der Stadt führen werde. Sie gehorchten. Er lud dann den Revolver, ließ sich von der Tochter in den Mantel helfen, schloss die Wohnung ab und warf den Schlüssel durch die Briefkastenöffnung. Es regnete, als sie durch die verdunkelten Straßen aus der Stadt gingen, der Mann voraus, ohne sich nach den Frauen umzusehen, die ihm mit Abstand folgten. Er hörte ihre Schritte auf dem Asphalt. Nachdem er die Straße verlassen und den Fußweg zum Buchenwald eingeschlagen hatte, wandte er sich über die Schulter zurück und trieb zur Eile. Bei dem über der baumlosen Ebene stärker aufkommenden Nachtwind, auf dem regennassen Boden, machten ihre Schritte kein Geräusch. Er schrie ihnen zu, sie sollten vorangehen. Ihnen folgend, wusste er nicht: hatte er Angst, sie könnten ihm davonlaufen, oder wünschte er, selbst davonzulaufen. Es dauerte nicht lange, und sie waren weit voraus. Als er sie nicht mehr sehen konnte, war ihm klar, dass er zu viel Angst hatte, um einfach wegzulaufen, und er wünschte sehr, sie täten es. Er blieb stehen und ließ sein Wasser. Den Revolver trug er in der Hosentasche, er spürte ihn kalt durch den dünnen Stoff. Als er schneller ging, um die Frauen einzuholen, schlug die Waffe bei jedem Schritt an sein Bein. Er ging langsamer. Aber als er in die Tasche griff, um den Revolver wegzuwerfen, sah er seine Frau und die Tochter. Sie standen mitten auf dem Weg und warteten auf ihn. Er hatte es im Wald machen wollen, aber die Gefahr, dass die Schüsse gehört wurden, war hier nicht größer. [ ] 8 Als er den Revolver in die Hand nahm und entsicherte, fiel die Frau ihm um den Hals, schluchzend. Sie war schwer, und er hatte Mühe, sie abzuschütteln. Er trat auf die Tochter zu, die ihn starr ansah, hielt ihr den Revolver an die Schläfe und drückte mit geschlossenen Augen ab. Er hatte gehofft, der Schuss würde nicht losgehen, aber er hörte ihn und sah, wie das Mädchen schwankte und fiel. Die Frau zitterte und schrie. Er musste sie festhalten. Erst nach dem dritten Schuss wurde sie still. Er war allein. Da war niemand, der ihm befahl, die Mündung des Revolvers an die eigene Schläfe zu setzen. Die Toten sahen ihn nicht, niemand sah ihn. Er steckte den Revolver ein und beugte sich über seine Tochter. Dann fing er an zu laufen. Er lief den Weg zurück bis zur Straße und noch ein Stück die Straße entlang, aber nicht auf die Stadt zu, sondern westwärts. Dann ließ er sich am Straßenrand nieder, den Rücken an einen Baum gelehnt, und überdachte seine Lage, schwer atmend. Er fand, sie war nicht ohne Hoffnung. Er musste nur weiterlaufen, immer nach Westen, und die nächsten Ortschaften meiden. Irgendwo konnte er dann untertauchen, in einer größeren Stadt am besten, unter fremdem Namen, ein unbekannter Flüchtling, durchschnittlich und arbeitsam. Er warf den Revolver in den Straßengraben und stand auf. Im Gehen fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, das Eiserne Kreuz wegzuwerfen. Er tat es. [ ] 9 GÜNTER SEUREN: Das Experiment (1966) „Ich geh rückwärts, weil ich nicht länger vorwärtsgehen will“, sagte der Mann. Er war übermittelgross, bleich vor Anstrengung, sich auf das Rückwärtsgehen zu konzentrieren, und hatte eine vom Wind gerötete Nase. Es blies ein heftiger Westwind, und die Böen, die die übrigen Fußgänger, mit denen der Mann in dieselbe Richtung ging, nur als Brise im Rücken empfanden, trafen ihn mitten ins Gesicht. Er bewegte sich langsamer als die anderen, aber stetig wie ein Krebs im Rückwärtsgang. „Eines Tages“, sagte der Mann, „war ich ganz allein in einem windstillen Park. Ich hörte die Amseln neben mir im Gebüsch nach Futter stochern, ich hörte Tauben rufen - und eine große Ruhe überkam mich. Ich ging ein paar Schritte rückwärts, und ich weiß jetzt: Wenn man immer nur vorwärtsgeht, verengt sich der Weg. Als ich anfing, rückwärtszugehen, sah ich die übergangenen und übersehenen Dinge, ich hörte sogar das Überhörte. Sie werden entschuldigen, wenn ich mich Ihnen nicht ganz verständlich machen kann. Verlangen Sie keine Logik von mir, die Entdeckung, die ich gemacht habe, lässt sich nicht in Worte fassen. Und denken Sie auch nicht, dass ich ein Mann der Umkehr bin, nein, ich kehre nicht um, ich…“ Der Mann schwieg ein paar Sekunden und sah entschlossen geradeaus, „es wird Sie verwundern... aber ich bin kein Träumer.“ „Was sind Sie dann?“, sagte der Begleiter, ein Mann, der sich im herkömmlichen Vorwärtsgang bewegte. „So kommen Sie doch nicht weiter. Eines Tages sind Sie stehen geblieben, vielleicht wollten Sie das Gras wachsen hören, Sie traten ein paar Schritte zurück, um Abstand zu haben. War es so?“ Der rückwärtsgehende Mann sah seinen Begleiter an, sein Blick war sanft. „Mein Experiment ist noch nicht abgeschlossen“, sagte er. „Glauben Sie, dass Ihre Art der Fortbewegung sich durchsetzen wird?“, sagte der Begleiter. „Eine schwer zu beantwortende Frage“, sagte der Mann und hielt den Blick auf einen Punkt gerichtet, den der Begleiter nicht erkennen konnte. „Übrigens ist meine Idee nicht neu. Wie mir später eingefallen ist, hatte ein längst zu Staub zerfallenes Volk ähnliche Probleme zu lösen wie wir. Es war ebenfalls in ein Stadium getreten, wo sein Weiterleben in Frage stand. Es half sich auch auf eine scheinbar seltsame Weise, Sie können auch Trick sagen, wenn Sie so wollen: Fortan wurden kriegerische Auseinandersetzungen unter den einzelnen Stämmen derart ausgetragen, dass sich die Gegner mit dem Rücken gegeneinander stellten und so lange ihre Streiche und Hiebe in purer Luft ausführten, bis ein Kämpfer nach dem anderen erschöpft zu Boden sank. Schwer atmend fielen ganze Heere ins Gras, und der anschließende [ ] 10 Schlaf war verdient. Es waren tagelange, aber unblutige Schlachten, und die einzige Folge war ein gewaltiger Muskelkater. Wie finden Sie das?“ „Zugegeben - ein brauchbares Ventil für Naturvölker“, sagte der Begleiter, „aber nichts für uns. Was also versprechen Sie sich von Ihrem Rückwärtsgang?“ „Ich hoffe“, sagte der Mann, „dass ich die Aufmerksamkeit auf mich lenke.“ „Das tun Sie auf jeden Fall“, sagte der Begleiter, „das tut auch ein Dauerklavierspieler oder einer, der fünfzig Kilometer auf Händen geht.“ Aber der rückwärtsgehende Mann ließ sich durch solche Anspielungen nicht aus der Fassung bringen. „Ich hoffe, ich werde verstanden“, sagte er. „Als ich das erste Mal rückwärts ging, lebte ich auf.“ „Schon gut“, sagte der andere, „Sie sind nicht der Erste, der solche Ansichten vertritt. Immerhin schlagen Sie etwas Praktisches vor, doch zweifle ich sehr, dass Sie Erfolg haben.“ „Erfolg oder nicht“, sagte der Mann, „wir sollten es versuchen, wir alle.“ „Verzeihung“, sagte der Begleiter, „ich denke in Tatsachen: Haben Sie nie ein Protokoll1 wegen groben Unfugs bekommen?“ Der rückwärtsgehende Mann sah seinem Begleiter zum ersten Mal voll ins Gesicht. „Ein einziges Mal“, sagte er lächelnd, „das war am Anfang, als ich noch unsicher war. “Und heute stoßen Sie mit keinem mehr zusammen?“ „Niemals!“, sagte der Mann, noch immer lächelnd. Sie schwiegen. Mit elastischen Schritten ging der Mann rückwärts. Der Begleiter hatte Mühe, ihm zu folgen. Der Mann, der rückwärtsging, wurde schneller. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „ich muss mich leider etwas beeilen. Ich habe noch eine Verabredung. Auf Wiedersehen.“ Dann verschwand er im Gedränge. Der andere verlangsamte seinen Schritt wie jemand, der zurückbleibt, um Atem zu holen. Wenige Augenblicke später geschah es. Wie aus einem Riss in der Asphaltdecke aufgestiegen explodierte ein mehrstimmiger Schrei. Die Menschen blieben stehen und sahen in eine bestimmte Richtung. Erst waren es einzelne, dann ganze Gruppen, die sich auf einen schnell anwachsenden Kreis aus Menschen zu bewegten. Als der Begleiter schließlich so weit vorgedrungen war, dass er in den Kreis sehen konnte, sah er, dass der Mann, der rückwärts gegangen war, wie eine vom Himmel gefallene, große Marionette auf dem Asphalt lag. Aus dem Kreis sagte jemand: „Der Wagen hat keine Schuld, das kann ich bezeugen.“ Und ein anderer sagte: „Er muss betrunken sein. Er ging rückwärts.“ Der Begleiter schob sich in die Mitte des Kreises und bückte sich über den Mann. „Können Sie mich verstehen?“ „Ja“, sagte der Mann und bewegte sich nicht. Er lag mit der linken Wange auf dem Asphalt und sprach in die graue Decke hinein. „Versuchen Sie es einmal, wenn Sie ganz allein sind. Irgendwo. In einem Park oder [ ] 11 nachts, an einer freien Stelle. Ich hoffe, Sie werden Gefallen daran finden. Und machen Sie es besser als ich.“ Polizisten betraten den Kreis. „Können Sie Angaben machen?“, sagte ein Polizist zu dem Begleiter. „Er wollte rückwärts gehen“, sagte der Begleiter. „Das ist heute schon der Vierte, der das versucht“, sagte der Polizist. „Was ist nur mit den Leuten los?“ [ ] 12 ILSE AICHINGER: Das Fenstertheater (1953) Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leichten Stößen vom Fluss herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu werden. Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, dass der Alte gegenüber Licht angedreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch ehe die Prozession die Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster. Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer, und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, dass er keinen Hut aufhatte, und verschwand im Innern des Zimmers. Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, dass man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur Zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals - einen großen bunten Schal - und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt. Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so dass sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszureißen. [ ] 13 Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich. hinter ihnen her. Als die Tür aufflog, stand der alte Mann, mit dem Rücken zu ihnen gewandt, noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, dass er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. [ ] 14 HEINRICH BÖLL: An der Brücke (1949) Die haben mir meine Beine geflickt und haben mir einen Posten gegeben, wo ich sitzen kann: ich zähle die Leute, die über die neue Brücke gehen. Es macht ihnen ja Spaß, sich ihre Tüchtigkeit mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen Tag geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Nummer auf Nummer häufe, um ihnen abends den Triumph einer Zahl zu schenken. Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis meiner Schicht mitteile, je höher die Zahl, um so mehr strahlen sie, und sie haben Grund, sich befriedigt ins Bett zu legen, denn viele Tausende gehen täglich über ihre neue Brücke... Aber ihre Statistik stimmt nicht. Es tut mir leid, aber sie stimmt nicht. Ich bin ein unzuverlässiger Mensch, obwohl ich es verstehe, den Eindruck von Biederkeit zu erwecken. Insgeheim macht es mir Freude, manchmal einen zu unterschlagen und dann wieder, wenn ich Mitleid empfinde, ihnen ein paar zu schenken. Ihr Glück liegt in meiner Hand. Wenn ich wütend bin, wenn ich nichts zu rauchen habe, gebe ich nur den Durchschnitt an, manchmal unter dem Durchschnitt, und wenn mein Herz aufschlägt, wenn ich froh bin, lasse ich meine Großzügigkeit in einer fünfstelligen Zahl verströmen. Sie sind ja so glücklich! Sie reißen mir förmlich das Ergebnis jedes Mal aus der Hand, und ihre Augen leuchten auf, und sie klopfen mir auf die Schulter. Sie ahnen ja nichts! Und dann fangen sie an zu multiplizieren, zu dividieren, zu prozentualisieren, ich weiß nicht was. Sie rechnen aus, wieviel heute jede Minute über die Brücke gehen und wieviel in zehn Jahren über die Brücke gegangen sein werden. Sie lieben das zweite Futur, das zweite Futur ist ihre Spezialität und doch, es tut mir leid, daß alles nicht stimmt... Wenn meine kleine Geliebte über die Brücke kommt und sie kommt zweimal am Tage -, dann bleibt mein Herz einfach stehen. Das unermüdliche Ticken meines Herzens setzt einfach aus, bis sie in die Allee eingebogen und verschwunden ist. Und alle, die in dieser Zeit passieren, verschweige ich ihnen. Diese zwei Minuten gehören mir, mir ganz allein, und ich lasse sie mir nicht nehmen. Und auch wenn sie abends wieder zurückkommt aus ihrer Eisdiele, wenn sie auf der anderen Seite des Gehsteiges meinen stummen Mund passiert, der zählen, zählen muß, dann setzt mein Herz wieder aus, und ich fange erst wieder an zu zählen, wenn sie nicht mehr zu sehen ist. Und alle, die das Glück haben, in diesen Minuten vor meinen blinden Augen zu defilieren, gehen nicht in die Ewigkeit der Statistik ein: Schattenmänner und Schattenfrauen, nichtige Wesen, die im zweiten Futur der Statistik nicht mitmarschieren werden... Es ist klar, daß ich sie liebe. Aber sie weiß nichts davon, und ich möchte auch nicht, daß sie es erfährt. Sie soll nicht ahnen, auf welche ungeheure Weise sie alle [ ] 15 Berechnungen über den Haufen wirft, und ahnungslos und unschuldig soll sie mit ihren langen braunen Haaren und den zarten Füßen in ihre Eisdiele marschieren, und sie soll viel Trinkgeld bekommen. Ich liebe sie. Es ist ganz klar, daß ich sie liebe. Neulich haben sie mich kontrolliert. Der Kumpel, der auf der anderen Seite sitzt und die Autos zählen muß, hat mich früh genug gewarnt, und ich habe höllisch aufgepaßt. Ich habe gezählt wie verrückt, ein Kilometerzähler kann nicht besser zählen. Der Oberstatistiker selbst hat sich drüben auf die andere Seite gesteilt und hat später das Ergebnis einer Stunde mit meinem Stundenplan verglichen. Ich hatte nur einen weniger als er. Meine kleine Geliebte war vorbeigekommen, und niemals im Leben werde ich dieses hübsche Kind ins zweite Futur transponieren lassen, diese meine kleine Geliebte soll nicht multipliziert und dividiert und in ein prozentuales Nichts verwandelt werden. Mein Herz hat mir geblutet, daß ich zählen mußte, ohne ihr nachsehen zu können, und dem Kumpel drüben, der die Autos zählen muß, bin ich sehr dankbar gewesen. Es ging ja glatt um meine Existenz. Der Oberstatistiker hat mir auf die Schulter geklopft und hat gesagt, daß ich gut bin, zuverlässig und treu. „Eins in der Stunde verzählt", hat er gesagt, „macht nicht viel. Wir zählen sowieso einen gewissen prozentualen Verschleiß hinzu. Ich werde beantragen, daß Sie zu den Pferdewagen versetzt werden." Pferdewagen ist natürlich die Masche. Pferdewagen ist ein Lenz wie nie zuvor. Pferdewagen gibt es höchstens fünfundzwanzig am Tage, und alle halbe Stunde einmal in seinem Gehirn die nächste Nummer fallen zu lassen, das ist ein Lenz! Pferdewagen wäre herrlich. Zwischen vier und acht dürfen überhaupt keine Pferdewagen über die Brücke, und ich könnte spazierengehen oder in die Eisdiele, könnte sie mir lange anschauen oder sie vielleicht ein Stück nach Hause bringen, meine kleine ungezählte Geliebte... [ ] 16 HEINRICH BÖLL: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral (1963) In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen, schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick, und da aller guten Dinge drei sind und sicher sicher ist, ein drittes Mal: klick. Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt. Aber bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes kaum messbare, nie nachweisbare zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist - der Landessprache mächtig - durch ein Gespräch zu überbrücken versucht. "Sie werden heute einen guten Fang machen." Kopfschütteln des Fischers. "Aber man hat mir gesagt, dass das Wetter günstig ist." Kopfnicken des Fischers. "Sie werden also nicht ausfahren?" Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiß liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpasste Gelegenheit. "Oh? Sie fühlen sich nicht wohl?" Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über. "Ich fühle mich großartig", sagt er. "Ich habe mich nie besser gefühlt." Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. "Ich fühle mich phantastisch." Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: "Aber warum fahren Sie dann nicht aus?" Die Antwort kommt prompt und knapp. "Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin." "War der Fang gut?" "Er war so gut, daß ich nicht noch einmal ausfahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen." Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen auf die Schulter. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis. "Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug!" sagte er, um des Fremden Seele zu erleichtern. "Rauchen Sie eine von meinen?" "Ja, danke." [ ] 17 Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen. "Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen", sagt er, "aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Dutzend Makrelen fangen. Stellen Sie sich das mal vor!" Der Fischer nickt. "Sie würden", fährt der Tourist fort, "nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren - wissen Sie, was geschehen würde?" Der Fischer schüttelt den Kopf. "Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen - eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden...", die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, "Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben, sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren - und dann..." - wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. "Und dann", sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken wie einem Kind, das sich verschluckt hat. "Was dann?" fragt er leise. "Dann", sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, "dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen - und auf das herrliche Meer blicken." "Aber das tu ich ja schon jetzt", sagt der Fischer, "ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört." Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, aber es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid. [ ] 18 PETER BICHSEL: San Salvador (1963) Er hatte sich eine Füllfeder gekauft. Nachdem er mehrmals seine Unterschrift, dann seine Initialen, seine Adresse, einige Wellenlinien, dann die Adresse seiner Eltern auf ein Blatt gezeichnet hatte, nahm er einen neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb: „Mir ist es hier zu kalt“, dann, „ich gehe nach Südamerika“, dann hielt er inne, schraubte die Kappe auf die Feder, betrachtete den Bogen und sah, wie die Tinte eintrocknete und dunkel wurde (in der Papeterie garantierte man, dass sie schwarz werde), dann nahm er seine Feder erneut zur Hand und setzte noch großzügig seinen Namen Paul darunter. Dann saß er da. Später räumte er die Zeitungen vom Tisch, überflog dabei die Kinoinserate, dachte an irgend etwas, schob den Aschenbecher beiseite, zerriss den Zettel mit den Wellenlinien, entleerte seine Feder und füllte sie wieder. Für die Kinovorstellung war es jetzt zu spät. Die Probe des Kirchenchores dauert bis neun Uhr, um halb zehn würde Hildegard zurück sein. Er wartete auf Hildegard. Zu all dem Musik aus dem Radio. Jetzt drehte er das Radio ab. Auf dem Tisch, mitten auf dem Tisch, lag nun der gefaltete Bogen, darauf stand in blauschwarzer Schrift sein Name Paul. „Mir ist es hier zu kalt“, stand auch darauf. Nun würde also Hildegard heimkommen, um halb zehn. Es war jetzt neun Uhr. Sie läse seine Mitteilung, erschräke dabei, glaubte wohl das mit Südamerika nicht, würde dennoch die Hemden im Kasten zählen, etwas müsste ja geschehen sein. Sie würde in den „Löwen“ telefonieren. Der „Löwen“ ist mittwochs geschlossen. Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden, vielleicht. Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streichen, mit dem Ringfinger der linken Hand beidseitig der Schläfe entlangfahren, dann langsam den Mantel aufknöpfen. Dann saß er da, überlegte, wem er einen Brief schreiben könnte, las die Gebrauchsanweisung für den Füller noch einmal leicht nach rechts drehen las auch den französischen Text, verglich den englischen mit dem deutschen, sah wieder seinen Zettel, dachte an Palmen, dachte an Hildegard. Saß da. Und um halb zehn kam Hildegard und fragte: „Schlafen die Kinder?“ Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. [ ] 19 KURT KUSENBERG: Schnell gelebt (1951) Schon als Kind erregte er Verwunderung. Er wuchs wie aus der Pistole geschossen und gab das Wachsen ebenso plötzlich wieder auf. Beim Sprechen verhaspelte er sich, weil die Gedanken den Worten entliefen; er war blitzschnell in seinen Bewegungen und wurde oft gleichzeitig an verschiedenen Orten gesehen. Alljährlich übersprang er eine Schulklasse; am liebsten hätte er sämtliche Klassen übersprungen. Aus der Schule entlassen, nahm er eine Stellung als Laufbursche an. Er war der einzige Laufbursche, der je gelaufen ist. Von seinen Botengängen kehrte er so rasch wieder zurück, dass man nicht annehmen konnte, er habe sie wirklich ausgeführt, und ihn deshalb entließ. Er warf sich auf die Kurzschrift und schrieb bald fünfhundert Silben in der Minute. Trotzdem mochte kein Büro ihn behalten, denn er datierte die Post um Wochen vor und gähnte gelangweilt, wenn seine Vorgesetzten zu langsam diktierten. Nach kurzem Suchen, das ihn endlos dünkte, stellte man ihn als Omnibusfahrer ein. Mit Schaudern dachte er später an diese Tätigkeit zurück, die darin bestand, einen fahrenden Wagen fortwährend anzuhalten. Vor ihm winkten Straßenfluchten, die zu durcheilen genussvoll gewesen wäre. An den Haltestellen aber winkten Leute, die einsteigen wollten, und ihnen musste er folgen. Eines Tages aber achtete er der Winkenden nicht, sondern entführte den Omnibus in rasender Gangart weit über das Weichbild der Stadt; so fand auch diese Betätigung ein Ende. Der Fall kam in die Zeitungen und erregte die Aufmerksamkeit sportlicher Kreise. Seine Laufbahn vom Sechstagefahrer bis zum Rennfahrer war ein einziger Triumphzug. Große Firmen rissen sich um seine Gunst; die geldkräftigste obsiegte, sie machte ihn zum Teilhaber. In leitender Stellung bewährte er sich und war ein gefürchteter Verhandlungsführer, der seine Gegner verwirrte und überrannte. Wenige Stunden nach dem Entschluss, einen Hausstand zu gründen, hielt er um die Olympiasiegerin im Hundertmeterlauf an, jagte mit ihr vom Stadion in das Standesamt und erzwang eine Notheirat Gleiche Neigungen verbanden sich zu einzigartigen Leistungen. Die junge Frau setzte alles daran, hinter ihm nicht zurückzustehen. Sie erledigte ihre häuslichen Pflichten mit dem Zeitraffer, trug im Winter schon Sommerkleidung, gebar vor der Zeit, nämlich mit fünf Monaten, ein Fünfmonatskind, das schon in der Wiege fließend sprach und das Laufen noch vor dem Gehen erlernte. Sie erfand neue Schnellgerichte, die man im Flug einnahm und sogleich verdaute. Die Dienstboten wechselten täglich, später stündlich, endlich geriet sie an einen Speisewagenkoch und zwei Flugzeugkellner, die das Zeitmaß begriffen und blieben. Sie war ihrem Gatten in jeder Hinsicht eine Stütze. [ ] 20 Der fuhr fort, sein Leben zu beschleunigen. Da er viel schneller schlief als andere Leute, benötigte er weniger Schlaf. Wenn er sich ins Bett warf, träumte er schon, und bevor ihn der Traum recht umfangen hatte, war er bereits wieder wach. Er frühstückte in der Badewanne und las beim Anziehen die Zeitung. Eine eigens erbaute Rutschbahn beförderte ihn aus der Wohnung in das Auto, das mit angelassenem Motor vor der Haustür hielt und sofort davonschoss. Er sprach so knapp, als telegraphiere er, und wurde von langsamen Menschen selten verstanden. Er versäumte keine sportliche Veranstaltung, bei der es um Schnelligkeit ging, und setzte Preise für Höchstleistungen aus; sie kamen nie zur Verteilung, weil die Bedingungen unerfüllbar waren. Einen Teil seines schnell erworbenen Vermögens steckte er in den Raketenbau. Die erste bemannte Rakete, die abgeschossen wurde, enthielt ihn. Es war die schönste Fahrt seines Lebens. Die Folgen eines so hastigen Daseins blieben nicht aus. Er alterte bedeutend rascher als seine Umwelt, war mit fünfundzwanzig Jahren silbergrau und mit dreißig ein gebrechlicher Greis. Ehe die Wissenschaft sich des seltsamen Falles annehmen konnte, starb er und zerfiel, da er die Verbrennung nicht abwarten wollte, im gleichen Augenblick zu Asche. Es blieb ihm erspart, die Enttäuschung zu erleben, dass die Nachrufe einen Tag zu spät in den Zeitungen erschienen. Seitdem er gestorben ist, kriecht die Minute wieder auf sechzig Sekunden dahin. [ ] 21 MARIE LUISE KASCHNITZ: Hiroshima (1951) Der den Tod auf Hiroshima warf Ging ins Kloster, läutet dort die Glocken. Der den Tod auf Hiroshima warf Sprang vom Stuhl in die Schlinge, erwürgte sich. Der den Tod auf Hiroshima warf Fiel in Wahnsinn, wehrt Gespenster ab Hunderttausend, die ihn angehen nächtlich, Auferstandene aus Staub für ihn. Nichts von alledem ist wahr. Erst vor kurzem sah ich ihn Im Garten seines Hauses vor der Stadt. Die Hecken waren noch jung und die Rosenbüsche zierlich. Das wächst nicht so schnell, dass sich einer verbergen könnte Im Wald des Vergessens. Gut zu sehen war Das nackte Vorstadthaus, die junge Frau Die neben ihm stand im Blumenkleid Das kleine Mädchen an ihrer Hand Der Knabe, der auf seinem Rücken saß Und über seinem Kopf die Peitsche schwang. Sehr gut erkennbar war er selbst Vierbeinig auf dem Grasplatz, das Gesicht Verzerrt von Lachen, weil der Photograph Hinter der Hecke stand, das Auge der Welt. [ ] 22 WOLFGANG HILDESHEIMER: Eine größere Anschaffung (1962) Eines Abends saß ich im Dorfwirtshaus vor (genauer gesagt, hinter) einem Glas Bier, als ein Mann gewöhnlichen Aussehens sich neben mich setzte und mich mit gedämpft- vertraulicher Stimme fragte, ob ich eine Lokomotive kaufen wolle. Nun ist es zwar ziemlich leicht, mir etwas zu verkaufen, denn ich kann schlecht nein sagen, aber bei einer größeren Anschaffung dieser Art schien mir doch Vorsicht am Platze. Obgleich ich wenig von Lokomotiven verstehe, erkundigte ich mich nach Typ, Baujahr und Kolbenweite, um bei dem Mann den Anschein zu erwecken, als habe er es hier mit einem Experten zu tun, der nicht gewillt sei, die Katze im Sack zu kaufen. Ob ich ihm wirklich diesen Eindruck vermittelte, weiß ich nicht; jedenfalls gab er bereitwillig Auskunft und zeigte mir Ansichten, die das Objekt von vorn, von hinten und von den Seiten darstellten. Sie sah gut aus, diese Lokomotive, und ich bestellte sie, nachdem wir uns vorher über den Preis geeinigt hatten. Denn sie war bereits gebraucht, und obgleich Lokomotiven sich bekanntlich nur sehr langsam abnützen, war ich nicht gewillt, den Katalogpreis zu zahlen. Schon in derselben Nacht wurde die Lokomotive gebracht. Vielleicht hätte ich dieser allzu kurzfristigen Lieferung entnehmen sollen, daß dem Handel etwas Anrüchiges innewohnte, aber arglos wie ich war, kam ich nicht auf die Idee. Ins Haus konnte ich die Lokomotive nicht nehmen; die Türen gestatteten es nicht, zudem wäre es wahrscheinlich unter der Last zusammengebrochen, und so mußte sie in die Garage gebracht werden, ohnehin der angemessene Platz für Fahrzeuge. Natürlich ging sie der Länge nach nur halb hinein, dafür war die Höhe ausreichend; denn ich hatte früher einmal meinen Fesselballon darin untergebracht, aber der war geplatzt. Bald nach dieser Anschaffung besuchte mich mein Vetter. Er ist ein Mensch, der, jeglicher Spekulation und Gefühlsäußerung abhold, nur die nackten Tatsachen gelten läßt. Nichts erstaunt ihn, er weiß alles, bevor man es ihm erzählt, weiß es besser und kann alles erklären. Kurz, ein unausstehlicher Mensch. Wir begrüßten einander, und um die darauffolgende peinliche Pause zu überbrücken, begann ich: «Diese herrlichen Herbstdüfte...» – «Welkendes Kartoffelkraut», entgegnete er, und an sich hatte er recht. Fürs erste steckte ich es auf und schenkte mir von dem Kognak ein, den er mitgebracht hatte. Er schmeckte nach Seife, und ich gab dieser Empfindung Ausdruck. Er sagte, der Kognak habe, wie ich auf dem Etikett ersehen könne, auf den Weltausstellungen in Lüttich und Barcelona große Preise, in St. Louis gar die goldene Medaille erhalten, sei daher gut. Nachdem wir schweigend mehrere Kognaks getrunken hatten, beschloß er, bei mir zu übernachten, und ging den Wagen einstellen. [ ] 23 Einige Minuten darauf kam er zurück und sagte mit leiser, leicht zitternder Stimme, daß in meiner Garage eine große Schnellzuglokomotive stünde. «Ich weiß», sagte ich ruhig und nippte von meinem Kognak, «ich habe sie mir vor kurzem angeschafft». Auf seine zaghafte Frage, ob ich öfters damit fahre, sagte ich, nein, nicht oft, nur neulich, nachts, hätte ich eine benachbarte Bäuerin, die ein freudiges Ereignis erwartete, in die Stadt ins Krankenhaus gefahren. Sie hätte noch in derselben Nacht Zwillingen das Leben geschenkt, aber das habe wohl mit der nächtlichen Lokomotivfahrt nichts zu tun. Übrigens war das alles erlogen, aber bei solchen Gelegenheiten kann ich oft der Versuchung nicht widerstehen, die Wirklichkeit ein wenig zu schmücken. Ob er es geglaubt hat, weiß ich nicht, er nahm es schweigend zur Kenntnis, und es war offensichtlich, daß er sich bei mir nicht mehr wohl fühlte. Er wurde ganz einsilbig, trank noch ein Glas Kognak und verabschiedete sich. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Als kurz darauf die Meldung durch die Tageszeitungen ging, daß den französischen Staatsbahnen eine Lokomotive abhanden gekommen sei (sie sei eines Nachts vom Erdboden – genauer gesagt, vom Rangierbahnhof – verschwunden), wurde mir natürlich klar, daß ich das Opfer einer unlauteren Transaktion geworden war. Deshalb begegnete ich auch dem Verkäufer, als ich ihn kurz darauf im Dorfgasthaus sah, mit zurückhaltender Kühle. Bei dieser Gelegenheit wollte er mir einen Kran verkaufen, aber ich wollte mich in ein Geschäft mit ihm nicht mehr einlassen, und außerdem, was soll ich mit einem Kran? [ ] 24 BERTOLT BRECHT: Wenn die Haifische Menschen wären (1949) "Wenn die Haifische Menschen wären, fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, "wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?" "Sicher", sagte er. "Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden dafür sorgen, dass die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitarische Maßnahmen treffen, wenn z.B. ein Fischlein sich die Flosse verletzten würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht trübsinnig würde, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden z.B. Geographie brauchen, damit sie die großen Haifische, die faul irgendwo rumliegen, finden könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, dass es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freiwillig aufopfert, und sie alle an die Haifische glauben müßten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, dass diese Zukunft nur gesichert sei, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müßten sich die Fischlein hüten, und es sofort melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete. Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, dass zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und könnten einander daher unmöglich verstehen.Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in anderer Sprache schweigende Fischlein, tötete, würden sie Orden aus Seetang anheften und den Titel Held verleihen. Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln läßt, dargestellt wären. Die Theater auf dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Haifischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, dass die Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch, und in die allerangenehmsten Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten. Auch eine Religion gäbe es ja, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würde lehren, dass die Fischlein erst im Bauche der Haifische richtig zu leben begännen. Übrigens würde es auch aufhören, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, [ ] 25 gleich sind. Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig größeren dürften sogar die kleineren fressen. Dies wäre für die Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die größeren, Posten innehabenden Fischlein würden für die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im Kastenbau werden. Kurz, es gäbe erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären." [ ] 26 REINER KUNZE: Element (1976) Auf sein Bücherbrett im Lehrlingswohnheim stellte Michael die Bibel. Nicht, weil er gläubig ist, sondern weil er sie endlich einmal lesen wollte. Der Erzieher machte ihn jedoch darauf aufmerksam, daß auf dem Bücherbrett eines sozialistischen Wohnheims die Bibel nichts zu suchen habe. Michael weigerte sich, die Bibel vom Regal zu nehmen. Welches Lehrlingswohnheim nicht sozialistisch sei, fragte er, und da in einem sozialistischen Staat jedes Lehrlingswohnheim sozialistisch ist und es nicht zu den Obliegenheiten der Kirche gehört, Chemiefacharbeiter mit Abitur auszubilden, folgerte er, daß, wenn der Erzieher recht behalte, in de einem sozialistischen Staat niemand Chemiefacharbeiter mit Abitur werden könne, der darauf besteht, im Wohnheim auf sein Bücherbrett die Bibel stellen zu dürfen. Diese Logik, vorgetragen hinter dem Schild der Lessing-Medaille, die Michael am Ende der zehnten Klasse verliehen bekommen hatte (Durchschnittsnote Einskommanull’), führte ihn steil unter die Augen des Direktors: Die Bibel verschwand, und Michael dachte weiterhin logisch. Die Lehrerin für Staatsbürgerkunde aber begann, ihn als eines jener Elemente zu klassifizieren, die in Mendelejews Periodischem System nicht vorgesehen sind und durch das Adjektiv „unsicher“ näher bestimmt werden. 2 Eines Abends wurde Michael zur Betriebswache gerufen. Ein Herr in Zivil legte ihm einen Text vor, in dem sich ein Ich verpflichtete, während der Weltfestspiele der Jugend und Studenten die Hauptstadt nicht zu betreten, und forderte ihn auf zu unterschreiben. —Warum? fragte Michael. Der Herr blickte ihn an, als habe er die Frage nicht gehört. —Er werde während der Weltfestspiele im Urlaub sein, sagte Michael, und unter seinem Bett stünden nagelneue Bergsteigerschuhe, die er sich bestimmt nicht zu dem Zweck angeschafft habe, den Fernsehturm am Alex zu besteigen. Er werde während der Weltfestspiele nicht einmal im Lande sein. —Dann könne er also unterschreiben, sagte der Herr, langte über den Tisch und legte den Kugelschreiber, der neben dem Blatt lag, mitten aufs Papier. Aber warum? fragte Michael. Der Text Klinge wie das Eingeständnis einer Schuld. Er sei sich keiner Schuld bewußt. Höchstens, daß er einmal beinahe in einem VW-Käfer mit Westberliner Kennzeichen getrampt wäre. Damals hätten sich die Sicherheitsorgane an der Schule über ihn erkundigt. Das sei für ihn aber kein Grund zu unterschreiben, daß er während der Weltfestspiele nicht nach Berlin fahren werde. — Was für ihn ein Grund sei oder nicht, das stehe hier nicht zur Debatte, sagte der Herr. Zur Debatte stehe seine Unterschrift. — Aber das müsse man ihm doch begründen, sagte Michael. —Wer hier was müsse, sagte der Herr, ergäbe sich einzig aus der Tatsache, daß in diesem Staat die Arbeiter und Bauern die Macht ausübten. Es empfehle sich also, keine Sperenzien zu machen. — Michael begann zu befürchten, man könnte ihn nicht in die Hohe Tatra [ ] 27 trampen lassen, verbiß sich die Bemerkung, daß er die letzten Worte als Drohung empfinde, und unterschrieb. Zwei Tage vor Beginn seines Urlaubs wurde ihm der Personalausweis entzogen und eine provisorische Legitimation ausgehändigt, die nicht zum Verlassen der DDR berechtigte, und auf der unsichtbar geschrieben stand: Unsicheres Element. 3 Mit der topografischen Vorstellung von der Hohen Tatra im Kopf und Bergsteigerschuhen an den Füßen, brach Michael auf zur Ostsee Da es für ihn nicht günstig gewesen wäre, von Z. auszutrampen, nahm er bis K. den Zug. Auf dem Bahnsteig von K., den er mit geschulterter Gitarre betrat, forderte eine Streife ihn auf, sich auszuweisen. „Aha“, sagte der Transportpolizist, als er des Ausweispapiers ansichtig wurde, und hieß ihn mitkommen. Er wurde zwei Schutzpolizisten übergeben, die ihn zum Volkspolizeikreisamt brachten. „Alles auspacken!“ Er packte aus. „Einpacken!“ Er packte ein. „Unterschreiben!“ Zum zweitenmal unterschrieb er den Text, in dem sich ein Ich verpflichtete, während der Weltfestspiele die Hauptstadt nicht zu betreten. Gegen vierundzwanzig Uhr entließ man ihn. Am nächsten Morgen— Michael hatte sich eben am Straßenrand aufgestellt, um ein Auto zu stoppen—hielt unaufgefordert ein Streifenwagen bei ihm an. „Ihren Ausweis, bitte!“ Kurze Zeit später befand sich Michael wieder auf dem Volkspolizeikreisamt. „Alles auspacken!“ Er packte aus. „Einpacken!“ Diesmal wurde er in eine Gemeinschaftszelle überführt. Kleiner Treff von Gitarren, die Festival- Verbot hatten: Sie waren mit einem Biermann- Song oder mit der Aufschrift ertappt worden: WARTE NICHT AUF BESSRE ZEITEN. Sein Name wurde aufgerufen. „Wohin?“— Eine Schweizer Kapelle braucht einen Gitarristen“, sagte der Wachtmeister ironisch. Er brachte ihn nach Z. zurück. Das Konzert fand auf dem Volkspolizeikreisamt statt. „Sie wollten also nach Berlin.“— ‚Ich wollte zur Ostsee.“— Der Polizist entblößte ihm die Ohren. „Wenn Sie noch einmal lügen, vermittle ich Ihnen einen handfesten Eindruck davon, was die Arbeiter-und- Bauern-Macht ist!“ Michael wurde fotografiert (mit Stirnband, ohne Stirnband) und entlassen. Um nicht weiterhin verdächtigt zu werden, er wolle nach Berlin, entschloß er sich, zuerst nach Osten und dann oderabwärts zur Küste zu trampen. In F. erbot sich ein Kraftfahrer, ihn am folgenden Tag unmißverständlich weit über den Breitengrad von Berlin hinaus mitzunehmen. „Halb acht vor dem Bahnhof.“ Halb acht war der Bahnhofsvorplatz blau von Hemden und Fahnen: Man sammelte sich, um zu den Weltfestspielen nach Berlin zu fahren.? Ein Ordner mit Armbinde fragte Michael, ob er zu einer Fünfzigergruppe gehöre. — „Sehe ich so aus?“—Der Ordner kam mit zwei Bahnpolizisten zurück. „Ihren Ausweis!“ Michael weigerte sich mitzugehen. Er erklärte. Er bat. Sie packten ihn an den Armen. Bahnhofszelle. Verhör. Die Polizisten [ ] 28 rieten ihm, eine Schnellzugfahrkarte zu lösen und zurückzufahren. Er protestierte. Er habe das Recht, seinen Urlaub überall dort zu verbringen, wo er sich mit seinem Ausweis aufhalten dürfe. —Er müsse nicht bis Z. zurückfahren, sagten die Polizisten, sondern nur bis D. Falls er jedoch Schwierigkeiten machen sollte, zwinge er sie, das Volkspolizeikreisamt zu verständigen, und dann käme er nicht zu glimpflich davon. Ein Doppelposten mit Hund begleitete ihn an den Fahrkartenschalter und zum Zug. „Wenn Sie eher aussteigen als in D., gehen Sie in U-Haft!“Auf allen Zwischenstationen standen Posten mit Hund. In D. erwarteten ihn zwei Polizisten und forderten ihn auf, unverzüglich eine Fahrkarte nach Z. zu lösen und sich zum Anschlußzug zu begeben. Er gab auf. Auf dem Bahnsteig in Z. wartete er, bis die Polizisten auf ihn zukamen. Nachdem sie Paßbild und Gesicht miteinander verglichen hatten, gaben sie ihm den Ausweis zurück. „Sie können gehen.“— „Wohin?“ fragte Michael. [ ] 29 CHRISTA REINIG: Skorpion (1968) Er war sanftmütig und freundlich. Seine Augen standen dicht beieinander. Das bedeutete Hinterlist. Seine Brauen stiessen über der Nase zusammen. Das bedeutete Jähzorn. Seine Nase war lang und spitz. Das bedeutete unstillbare Neugier. Seine Ohrläppchen waren angewachsen. Das bedeutete Hang zum Verbrechertum. Warum gehst du nicht unter die Leute? fragte man ihn. Er besah sich im Spiegel und bemerkte einen grausamen Zug um seinen Mund. Ich bin kein guter Mensch, sagte er. Er verbohrte sich in seine Bücher. Als er sie alle ausgelesen hatte, musste er unter die Leute, sich ein neues Buch kaufen gehen. Hoffentlich gibt es kein Unheil, dachte er und ging unter die Leute. Eine Frau sprach ihn an und bat ihn, ihr einen Geldschein zu wechseln. Da sie sehr kurzsichtig war, musste sie mehrmals hin- und zurücktauschen. Der Skorpion dachte an seine Augen, die dicht beieinander standen und verzichtete darauf, sein Geld hinterlistig zu verdoppeln. In der Straßenbahn trat ihm ein Fremder auf die Füße und beschimpfte ihn in einer fremden Sprache. Der Skorpion dachte an seine zusammengewachsenen Augenbrauen und ließ das Geschimpfe, das er ja nicht verstand, als Bitte um Entschuldigung gelten. Er stieg aus, und vor ihm lag eine Brieftasche auf der Straße. Der Skorpion dachte an seine Nase und bückte sich nicht und drehte sich auch nicht um. In der Buchhandlung fand er ein Buch, das hätte er gern gehabt. Aber es war zu teuer. Es hätte gut in seine Manteltasche gepasst. Der Skorpion dachte an seine Ohrläppchen und stellte das Buch ins Regal zurück. Er nahm ein anderes. Als er es bezahlen wollte, klagte ein Bücherfreund: Das ist das Buch, das ich seit Jahren suche. Jetzt kauft’s mir ein anderer weg. Der Skorpion dachte an den grausamen Zug um seinen Mund und sagte: Nehmen Sie das Buch. Ich trete zurück. Der Bücherfreund weinte fast. Er presste das Buch mit beiden Händen an sein Herz und ging davon. Das war ein guter Kunde, sagte der Buchhändler, aber für Sie ist auch noch was da. Er zog aus dem Regal das Buch, das der Skorpion so gern gehabt hätte. Der Skorpion winkte ab: Das kann ich mir nicht leisten. - Doch, Sie können, sagte der Buchhändler, eine Liebe ist der anderen wert. Machen Sie den Preis. Der Skorpion weinte fast. Er presste das Buch mit beiden Händen fest an sein Herz, und, da er nichts mehr frei hatte, reichte er dem Buchhändler zum Abschied seinen Stachel. Der Buchhändler drückte den Stachel und fiel tot um. [ ] 30 HANS JONAS: Über den Umgang der Menschheit mit der Natur Spiegel: Herr Jonas, vor 13 Jahren haben Sie Ihr Buch „Das Prinzip Verantwortung“ veröffentlicht. In diesem Werk rufen Sie die Menschheit dazu auf, sich ihrer Verantwortung gegenüber der von Technik und Industrie bedrohten Natur bewußt zu werden, 13 Jahre später: Hat sich im Umgang des Menschen mit der Natur irgend etwas verbessert? Jonas: Im tatsächlichen Umgang nichts, doch immerhin etwas im Bewußtsein der Menschen: 1979, als mein Buch erschien, war der Ruf nach Verantwortung des Menschen für die Natur noch nicht so oft gehört und diskutiert wie heute. Spiegel: Und was hat sich am realen Zustand geändert? Jonas: Der reale Zustand hat sich in summa nur verschlechtern können. Bis jetzt ist nichts geschehen, um den Gang der Dinge zu verändern, und da dieser kumulativ katastrophenträchtig ist, so sind wir heute dem bösen Ende eben um ein Jahrzehnt näher als damals. Spiegel: Zusammengefaßt lautet mithin die Diagnose: Die Einsichtsfähigkeit des Menschen nimmt zu. Die Fähigkeit, nach diesen Einsichten zu handeln, nimmt jedoch ab. Jonas: Ja, sie nimmt ab. Die Menschen können sich nicht freimachen von den Sachzwängen, in die sie sich mit dem technologischen Anschlag auf die Natur begeben haben. Der Raubbau an der Natur ist übergegangen in die Lebensgewohnheiten der Menschen, besonders die der westlichen Industriegesellschaft. Spiegel: Ozonloch und Klimakatastrophe drohen; Luft, Wasser und Boden sind in weiten Teilen der Erde schwer geschädigt oder schon zerstört. Wie ist es zu erklären, daß solche Signale zu keinen durchgreifenden Verhaltensänderungen führen? Jonas: Wer nicht selbst unmittelbar bedroht ist, ringt sich nicht zu einer wirklichen Revision der Lebensführung durch. Bei einer akuten Bedrohung ist das anders, individuell und kollektiv. Wenn der Vulkanausbruch beginnt, dann flüchtet man. Auf unmittelbare Bedrohung reagiert der Mensch unmittelbar, mal rational, mal irrational. Die Fernperspektiven aber, besonders wenn sie erst künftige Generationen betreffen, bringen die Menschen offenbar nicht zu Verhaltensänderungen. Spiegel: Tschernobyl war ein Schock.* Aber er wirkte nur kurzfristig. Man könnte die ketzerische Frage stellen: Braucht die Menschheit mehr Tschernobyls? Jonas: Die Frage ist nicht unberechtigt. Sie ist zynisch, und die Antwort ist auch zynisch. Vielleicht ist der Mensch ohne ernsthafte Warnschüsse und schon sehr [ ] 31 schmerzhafte Reaktionen der gepeinigten Natur nicht zur Vernunft zu bringen. Es könnte sein, daß es schon ziemlich schlimm kommen muß, damit man aus dem Rausch immer wachsender Bedürfnisse, zu der man die Macht hat, wieder zurückkehrt zu einem Niveau, das mit dem Fortbestand der dafür nötigen Umwelt verträglich ist. Es muß wieder ein einigermaßen stabiles Gleichgewicht zustande kommen. Es könnte bei der jetzigen Menschenzahl, die noch im Steigen ist, dafür schon zu spät sein. In dem Fall müßte die bisherige Vermehrung sogar in eine Wiederverminderung der Weltbevölkerung umgekehrt werden. Spiegel: Kürzlich wurde in einer deutschen Fernsehsendung an die Zuschauer die Frage gerichtet: Ist die Erde noch zu retten? 75 Prozent derer, die sich meldeten, verneinten die Frage. Es ist doch erstaunlich, daß trotz solch apokalyptischer Einschätzungen die Menschheit einfach so weitermacht wie bisher. Jonas: Was heißt hier „retten“? Was „Untergang“? In Gefahr ist nicht „die Erde“, sondern ihr gegenwärtiger Artenreichtum, in dem wir eine schreckliche Verarmung anrichten. Erdgeschichtlich, über die Jahrmillionen, wird auch das nur eine Episode sein, aber menschengeschichtlich kann es das tragische Scheitern höherer Kultur überhaupt bedeuten, ihren Absturz in eine neue Primitivisierung, die wir durch gedankenlose Verschwendungssucht auf der Höhe unserer Macht verschuldet hätten. Spiegel: Was meinen Sie mit Primitivisierung? Jonas: Daß es zu Massenelend, Massensterben und Massenmorden kommt, daß es dabei zum Verlust aller der Schätze der Menschlichkeit kommt, die der Geist außer der Ausbeutung der Natur ja auch hervorgebracht hat. Spiegel: Moderne Demokratien verheißen dem einzelnen die Möglichkeit individueller Glückserfüllung; „pursuit of happiness“ heißt es in der amerikanischen Verfassung. Sind Sie der Ansicht, daß solche Präambeln ersetzt werden müssen durch andere, die das Allgemeinwohl und die Erhaltung der Natur als oberste Ziele herausstellen? Jonas: Sie werfen eine Frage auf, die man ganz kapital so formulieren kann: War vielleicht die Modernität ein Irrtum, der berichtigt werden muß? Ist der Weg richtig, den wir mit dieser Kombination von wissenschaftlich technischem Fortschritt und der Steigerung individueller Freiheit erreicht haben? War das moderne Zeitalter in gewissen Hinsichten ein Irrweg, der nicht weitergegangen werden darf? Der Philosoph ist durchaus frei, das zu überdenken und sogar zu gewissen Schlüssen zu kommen. Aber ob das irgendwo Gehör findet, ob es möglich ist, die Menschen zu einer solchen Umkehr zu bewegen, ist doch die Frage, an die wir dauernd stoßen. Ich habe keine Antwort auf die Frage, wie die sich jetzt abzeichnende und unzweifelhafte Gefährdung der menschlichen Zukunft im Verhältnis zur irdischen Umwelt abgewendet werden kann. Ich weiß nur eines: Man darf die Frage nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie immer neu zu stellen; immer neu zu überdenken; immer neu auch [ ] 32 daran mitzuarbeiten, daß sich ein schlechtes Gewissen in den ungeheuerlichen Hedonismus der modernen Genußkultur hineinfrißt dies ist eine unabweisbare Pflicht. Spiegel: Von Brecht stammt der Satz: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Ist der Dialog, den wir hier über den notwendigen Verzicht führen, vielleicht ein Dialog der Gesättigten, der Begünstigten? Wir reden von der westlichen Industriewelt: die östlichen Länder kämpfen derzeit verzweifelt um einen höheren Lebensstandard; von der südlichen Halbkugel wollen wir gar nicht reden, da können die Menschen auf gar nichts verzichten. Jonas: Auf die große Vermehrung könnten die Menschen in der Dritten Welt schon verzichten. Aber es stimmt vollkommen, das macht unseren ganzen Diskurs verdächtig, daß es ein Gespräch unter den Bevorzugten ist. Wenn da von Bescheidung und Verzicht die Rede ist, haben wir in den westlichen Industriestaaten einen großen Spielraum; selbst ein beträchtliches Herabsteigen läßt uns noch auf ziemlich hohem Niveau. Man darf den Notleidenden und Hungernden dieser Erde nicht mit irgendwelchen Ansinnen kommen, sie sollten verzichten. Ausgenommen die Fortpflanzung, da kann man Beschränkung verlangen. Spiegel: Marx hat gefordert: Die Philosophie muss die Welt nicht interpretieren, sie muss sie verändern. An Sie die Frage: Kann der Philosoph, kann die Philosophie die Welt verändern? Welche Rolle spielt der Philosoph heute? Soll er sich einmischen? Kann er Prozesse einleiten, steuern? Jonas: Nein, wahrscheinlich nicht. Die Philosophie kann dazu beitragen, daß in der Erziehung ein Sinn dafür entwickelt wird, wie sich menschliches Handeln auf längere Sicht auf das sehr delikate Gewichtsverhältnis zwischen menschlichen Ansprüchen und Leistungsfähigkeit der Natur auswirkt. Sie kann durch ihre Reflexion und Artikulation daran mitwirken, daf3 Initiativen zur Rettung und Erhaltung der Umwelt zustande kommen. Kommt es zu ihnen, dann haben die Wirtschaftler, Politiker und Einzelwissenschaftler sehr viel mehr zu sagen als der bestinformierte Philosoph. Aber dann bleibt immer noch eine Aufgabe der Philosophie: zu wachen über die Menschlichkeit der Maßnahmen, mit denen man das Unheil zu stoppen versucht. [ ] 33 HERMANN KASACK: Mechanischer Doppelgänger „Ein Herr wünscht Sie zu sprechen“, meldete die Sekretärin. Ich las auf der Besuchskarte: Tobias Hull, B.A. — Keine Vorstellung." Auf meinen fragenden Blick: „Ein Herr in den besten Jahren, elegant.“ Anscheinend ein Ausländer. Immer diese Störungen Irgendein Vertreter. Oder? Was weiß man. — „Ich lasse bitten.“ Herr Tobias Hull tritt mit vorsichtigen Schritten ein. Er setzt Fuß vor Fuß, als fürchte er, zu stark aufzutreten. Ob er leidend ist? Ich schätze sein Alter auf Mitte vierzig. Eine große Freundlichkeit strahlt aus seinem glattrasierten, nicht unsympathischen Gesicht. Sehr korrekt angezogen, beinahe zu exakt in seinen verbindlichen Bewegungen, scheint mir. Nun, man wird sehen. Mit der Hand zum Sessel weisend: „Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“ „Oh! Ich wollte mich Ihnen nur vorstellen.“ „Sehr angenehm“, sage ich. „Oh! Sie verstehen!“ Dieses mit einem leicht jaulenden Ton vorgebrachte Oh! ist unnachahmlich. Seine müde, etwas monotone Stimme hat einen kleinen fremden Akzent. Er sieht mich mit freundlicher Erwartung an. Über das Benehmen meines Besuches doch ein wenig erstaunt, wiederhole ich: „Sehr angenehm. Aber darf ich Sie fragen — „ Da werde ich sogleich mit seinem „Oh!“ unterbrochen: „Bitte fragen Sie mich nicht.“ Und dann beginnt er, seine Geschichte zu erzählen, die er anscheinend schon hundertmal vorgebracht hat: „Ich bin nämlich ausgestopft!“ „Aber — erlauben Sie mal“ Das eigentümliche Wesen, das mich überlegen fixiert, beachtet den Einwurf? nicht, sondern fährt unbeirrt fort: Erschrecken Sie nicht, weil ich eine Art Automat bin, eine Maschine in Menschenform, ein Ersatz sozusagen. Mr. Tobias Hull existiert wirklich. Der Chef einer großen Fabrik zur Herstellung von mechanischen Doppelgängern. Ich bin, wie sagt man, seine Projektion, ja, Agent in Propaganda. Ich kann Ihnen natürlich meinen Mechanismus im einzelnen nicht erklären — Sie verstehen: Fabrikationsgeheimnis! Aber wenn Sie daran denken, daß die meisten Menschen heutzutage ganz schablonenmäßig leben, handeln und denken, dann werden Sie sofort begreifen, worauf sich unsere Theorie gründet! Herz und Verstand werden bei uns ausgeschaltet. Sie sind es ja, die im Leben so oft die störenden Komplikationen hervorrufen. Bei uns ersetzt die Routine alles. Sehr einleuchtend, nicht wahr?“ [ ] 34 Ich nickte verstört. „Oh! Mein Inneres ist ein System elektrischer Ströme, automatischer Hebel, großartig! Eine Antennenkonstruktion, die auf die feinsten Schwingungen reagiert. Sie läßt mich alle Funktionen eines menschlichen Wesens verrichten, ja, in gewisser Weise noch darüber hinaus. Sie sehen selbst, wie gut ich funktioniere. “ Zweifelnd, mißtrauisch betrachte ich das seltsame Geschöpf. „Unmöglich!“ sage ich. „Ein Taschenspielertrick. Sehr apart. Indessen — “ „Oh! Ich kann mich in sieben Sprachen verständigen. Wenn ich zum Beispiel den obersten Knopf meiner Weste drehe, so spreche ich fließend englisch, und wenn ich den nächsten Knopf berühre, so spreche ich fließend französisch, und wenn ich — “ „Das ist wirklich erstaunlich!“ „Oh! In gewisser Weise; vor allem aber angenehm. Wünschen Sie ein Gespräch über das Wetter, über Film, über Sport? Über Politik oder abstrakte Malerei? Fast alle Themen und Vokabeln des modernen Menschen sind in mir vorrätig. Auch eine Spule von Gemeinplätzen läßt sich abrollen. Alles sinnreich, komfortabel und praktisch. Wie angenehm wird es für Sie sein, wenn Sie sich erst einen mechanischen Doppelgänger von sich halten — oder besser, wenn Sie gleich zwei Exemplare von sich zur Verfügung haben. Sie könnten gleichzeitig verschiedene Dienstreisen unternehmen, an mehreren Tagungen teilnehmen, überall gesehen werden und selber obendrein ruhig zu Hause sitzen. Sie haben einen Stellvertreter Ihres Ich, der Ihre Geschäfte wahrscheinlich besser erledigt als Sie selbst. Sie werden das Doppelte verdienen und können Ihre eigene Person vor vielen Überflüssigkeiten des Lebens bewahren. Ihr Wesen ist vervielfältigt. Sie können sogar sterben, ohne daß die Welt etwas davon merkt. Denn wir Automaten beziehen unsere Existenz aus jeder Begegnung mit wirklichen Menschen.“ „Aber dann werden ja die Menschen allmählich ganz überflüssig.“ „Nein. Aus eben diesem Grunde nicht. Zwei Menschenautomaten können mit sich selber nur wenig anfangen. Haben Sie also einen Auftrag für mich ?“ Mit jähem Ruck sprang das Wesen auf und sauste im Zimmer hin und her. „Oh! Wir können auch die Geschwindigkeit regulieren. Berühmte Rennfahrer und Wettläufer halten sich schon Doppelgänger-Automaten, die ihre Rekorde ständig steigern.“ „Phantastisch! Man weiß bald nicht mehr, ob man einen Menschen oder einen Automaten vor sich hat.“ [ ] 35 „Oh!“ zischte es an mein Ohr, „das letzte Geheimnis der Natur werden wir nie ergründen. — Darf ich also ein Duplikat von Ihnen herstellen lassen? Sie sind nicht besonders kompliziert zusammengesetzt, das ist günstig. Das hineingesteckte Kapital ‘wird sich bestimmt rentieren. Morgen wird ein Herr kommen und Maß nehmen.“ „Die Probe Ihrer Existenz war in der Tat verblüffend, jedoch — “ Mir fehlten die Worte und ich tat so, als ob ich überlegte. „Jedoch, sagen Sie nur noch: Der Herr, der morgen kommen soll, ist das nun ein Automat oder ein richtiger Mensch?“ „Ich nehme an, noch ein richtiger Mensch. Aber es bliebe sich gleich. Guten Tag.“ Mr. Tobias Hull war fort. Von Einbildung kann keine Rede sein, die Sekretärin ist mein Zeuge. Aber es muß diesem Gentlemangeschöpf unmittelbar nach seinem Besuch bei mir etwas zugestoßen sein, denn weder am nächsten noch an einem späteren Tage kam jemand, um für meinen Doppelgänger Maß zu nehmen. Doch hoffe ich, wenigstens durch diese Zeilen die Aufmerksamkeit der Tobias-Hull-Gesellschaft wieder auf meine Person zu lenken. Denn eines weiß ich seit jener Unterhaltung gewiß: Ich bin inzwischen vielen Menschen begegnet, im Theater und im Kino, bei Versammlungen und auf Gesellschaften, im Klub und beim Stammtisch, die bestimmt nicht sie selber waren, sondern bereits ihre mechanischen Doppelgänger. [ ] 36 FRANZ KAFKA: Eine kaiserliche Botschaft Der Kaiser - so heißt es - hat dir, dem einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, dass er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes alle hindernden Wände werden niedergebrochen, und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs -, vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen, und bald wohl hörtest du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müsste er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor - aber niemals, niemals kann es geschehen, liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. - Du aber sitzt (!) an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt. [ ] 37 GÜNTER DE BRUYN: Eines Tages ist er wirklich da Und eines Tages dann ist Karlheinz, mein großer Bruder, wirklich wieder da. Er ist am Kino vorbeigegangen bis zur Litfaßßsäule, und genau an der Stelle, die wir alle benutzten und die ich noch heute benutze, kommt er über die Straße, im weißen Nylonhernd, das Jackett im Arm, eine Hand in der Tasche, ohne jedes jedes Gepäck—das werden zwei Lastträger bringen oder das Expreßgutauto. Er geht genau auf die Stelle zu, an der das Eckhaus gestanden hat, durch das wir immer hindurch mußten, sieht die Rasenfläche und hebt dann den Blick zu unserem vierten Stock hinauf. Irgendwann einmal wird er beim Anblick des jetzt im Licht stehenden Hinterhauses? „Die Sonne bringt es an den Tag, ausgleichende Gerechtigkeit“ oder ähnliches sagen, aber jetzt ist er noch zu erstaunt, kennt sich nicht gleich aus, zweiundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Er ist nicht verwirrt, nur erstaunt und dabei ruhig und souverän wie immer. Sein Blick sagt: So ist das also jetzt mit dem Haus, in dem ich geboren bin, das hatte ich anders in Erinnerung, fertig, abgemacht, und er geht über die Straße, die leer und still ist, denn es ist wohl ein Sonntagmorgen im Sommer, und ich gehe Milch holen, den Kleinen an der Hand, dem es ein Erlebnis ist, mit seinem Vater auf die Straße zu gehen, und der hoffentlich niemals vergessen wird, wie das war, als sein Onkel heimkam, morgens, unerwartet. Und wir gehen aufeinander zu, langsam, zögernd, gar nicht so, wie man sich das als kinoerfahrener Mensch vorstellt. Zwar habe ich ihn sofort erkannt, wäre aber doch vorbeigegangen an ihm, wenn er nicht reagiert hätte; denn schließlich ist er ja vorbereitet, er weißs, daß er nach Hause kommt, muf3 damit rechnen, seinen jüngsten Bruder zu treffen; ich aber gehe aus dem Haus, um für meine Kinder Milch zu holen, und kann nicht ahnen, daß der große Bruder plötzlich nach zweiundzwanzig Jahren ohne Nachricht über die Straße kommt, da muß man zögern, auch wenn er sich kaum verändert hat oder gerade deshalb, denn das ist doch gegen jede Erfahrung, aber wahrscheinlich sieht man die Falten und Schärfen des Gesichts, den verbrauchten Glanz der Augen, den Fettansatz erst später, jetzt nur die noch immer vertrauten Züge, den spöttisch-wohlwollenden Blick, die schmale Hand, gegen die die eigene stets plump und bäurisch schien und einem klarmachte, daß dem Großen nachzueifern ziemlich sinnlos war. Natürlich ist dieser fatale Eindruck der Unterlegenheit auch gleich wieder da, als ich ihm die Hand schüttle und ihm dann etwas spät und nicht ohne das Gefühl unzulässigen Theaterspielens um den Hals falle und er wie immer lacht über meinen Hang zur Rührseligkeit. Und auch als ich ihm seinen Neffen vorstelle, lacht er ein bischen, weil es ihm komisch vorkommt, dafs sein kleiner Bruder eine Familie hat, und bei mir kommt sofort was von dem alten Trotz wieder: Ja, grinse nur, aber ich will eben nichts anderes als immer zu Hause bleiben [ ] 38 und mittelmäßig und normal sein. Natürlich will ich das nur, weil ich weiß, daß ich nichts anderes kann, schlimm ist nur, daß auch meine Frau das plötzlich weiß, als sie Karlheinz gegenübersteht. Ich bin ein bißchen beschämt, ein bißchen eifersüchtig, ein bifschen bockig, sehr, sehr stolz auf meinen großen Bruder und von einer Riesenfreude erfüllt über diese Heimkehr, an der ich ja nie gezweifelt habe, die nun aber durch die unvermutete Unterbrechung der angenehmen Monotonie meines Lebens etwas Unwirkliches zu haben scheint. Am schnellsten überwindet meine Tochter diesen Eindruck. Ungeduldig hört sie sich noch mit an, wie ich von unserer letzten Begegnung erzähle, vierundvierzig, der zerstörte Bahnhof, Aussteigeverbot, zehn Minuten Aufenthalt, er mit vielen anderen in der Tür des Viehwaggons, gedrängt die Mütter davor, ein Pfiff, Winken, Weinen, dann fragt sie ungeduldig ihren Onkel, wie er es fertiggebracht hat, zweiundzwanzig Jahre Mutter und Bruder ohne Nachricht zu lassen, und ich habe Angst, daß er jetzt die Wirklichkeit seiner Heimkehr durch Unsicherheit und ungenaue Erinnerung selbst in Frage stellen, daß er vielleicht sogar zugeben wird, Karlheinz nicht zu sein. Aber er beginnt sofort sicher und genau zu erzählen, und alles stimmt mit dem überein, was wir schon wissen: Saint-Nazaire, im Rücken schon der Motorenlärm der amerikanischen Panzer, er sagt zu seinem Fahrer, wir machen Privatfrieden, sie steigen aus, laufen den Allied Forces entgegen, eine Hecke trennt sie plötzlich, für immer. Ja, das stimmt, das wußten wir schon; siebenundvierzig kam der Fahrer zurück und besuchte uns. Aber dann? Was geschah dann? Wir sitzen alle um den Küchentisch, er mir gegenüber und stopft sich die Pfeife mit märchenhaft duftendem Tabak, eine Spezial-Blend, er raucht keine fabrikmäßig gemischten Sorten. Zwei Minuten nach der Trennung vom Fahrer hatten sie ihn schon geschnappt, Verhöre, Gegenüberstellungen, kurze Ausbildung und dann ein feines Leben in Luxemburg am Sender für die deutsche Armee, aber nur bis Mai fünfundvierzig, dann PW, Lager, Hunger, Läuse, er war reif für ein Angebot vom Geheimdienst, zwanzig Jahre Verpflichtung, Schweiz, Österreich. Tanger, Griechenland, Südafrika. Er schüttelt sich. Aus, vorbei! Angst, hierherzukommen? Da lacht er wieder den kleinen Bruder aus, den Weltfremden, den Hausvater. Keine Bange, der Wechsel war lange geplant, er hat es sich verdient, hier auszuruhen. Es fällt mir schwer, verstehend zu lächeln, weil ich an Mutter denke. In unserem Trabant fahren wir hinaus zu ihr ins Altersheim. Noch ist Sonntag. Er fährt. Ich habe Angst vor jedem Polizisten, weil ich nicht wage, ihn nach seiner Fahrerlaubnis zu fragen. Aber er fährt gut, das hat er im Kloster gelernt bei den französischen Trappisten, den Schweigemönchen, die nicht sprechen und nicht schreiben dürfen, aber Auto fahren. ‘Zwanzig Jahre hat er für eine Irrenanstalt Kranke gefahren. Gleich nach der Trennung vom Fahrer war er hinter der Hecke auf Leute vom Maquis gestoßen, war geflohen, hatte plötzlich vor einer endlosen Mauer gestanden, einer weißen, hohen, unüberwindlichen, er hatte sie überwunden, die stummen Brüder hatten ihn verborgen, in den Tagen der Ardennenschlacht schon hat [ ] 39 er die Gelübde abgelegt, ehrlichen Glaubens, aber es gibt Heimweh von solcher Stärke, daß alle Schwüre der Welt dagegen unwirksam werden. Dann gehen wir den Parkweg zum Heim hinauf, er voran, den Kleinen an der Hand, meine Tochter am Arm wie seine Braut. Als wir ihm Mutters weißes Haar hinter dem Fenster zeigen, winkt er ausgelassen, er weiß ja nicht, daß sie so weit nicht mehr sieht. Natürlich spricht er auch viel zu leise mit ihr, aber sie fährt ihn nicht an wie uns immer: Habt ihr denn nicht schon in der Schule deutlich und laut sprechen gelernt? Ihn umarmt sie nur immer- fort und redet mit ihm wie mit Vater, an den ich mich kaum noch erinnere, denn er fiel schon in Polen, für mich war Karlheinz immer so was wie Vater, und jetzt ist er wieder da, beruhigend vertraut in seiner Selbstsicherheit, verwirrend fremd in seiner Jugendlichkeit, endlich wieder da, im weißen Hemd, nach zweiundzwanzig Jahren. Er hat doch nicht schreiben können bei Gefahr seines Lebens. Kaum war sein Fahrer hinter der Hecke verschwunden gewesen, hatte er sich ans Steuer gesetzt und war losgebraust, Richtung Heimat, zwei Monate hatte er sich am Rhein verstecken müssen, ehe er unbemerkt hinüberkam. Winterschlaf bei einer Bäuerin im Harz, ’an einem Aprilabend endlich hatte er die Stadtgrenze erreicht, in einer Feldscheune bei Schönefeld—in vier Stunden hätte er zu Hause sein können— hatte ihn der Russe erwischt oder eine Russin vielmehr, eine Majorin, die ihn bei sich behielt, vier Monate in Uniform, ohne ein Wort Russisch zu können, Nataschas Entlassung, Heimkehr nach Sibirien, dort lebt er als Pelztierjäger, drei Kinder, in vier Wochen muß er zurück, der Flug dauert nur Stunden, Tage dann aber die Fahrt mit dem Hundeschlitten. Irrsinniger Schmerz überfällt mich bei dem Gedanken an die Entfernung, die uns bald wieder trennen wird, aber er sieht mich von seinem Platz neben der Mutter her spöttisch an, und ich lasse meinen Kopf nicht an seine Schulter fallen, weil meine Frau dabei ist und die Kinder, die Große schon dreizehn, und ich weiß, daß ich Fieber habe, nicht schlafen kann und ruhig liegen muß, um die Frau nicht zu stören, die neben mir atmet, aber ich kann nicht mehr ruhig liegen, mein Kopf schmerzt, mich dürstet, doch das alles ist nicht so schlimm, da ja endlich mein großer Bruder wieder da ist, im weißen Nylonhemd, nach zweiundzwanzig Jahren. [ ] 40 ROBERT WALSER: Die Schule „Über den Nutzen und die Notwendigkeit der Schule“, so lautet das Thema an der Wandtafel. Ich behaupte, die Schule ist nützlich. Sie behält mich sechs bis acht Stunden im Tag zwischen ihren eisernen oder hölzernen Klauen (Schulbänke) und behütet meinen Geist, in Liederlichkeit auszuarten. Ich muß lernen, das ist vortrefflich. Sie bereitet mich auf das bevorstehende öffentliche Leben vor: das ist noch besser. Sie ist da und ich liebe und verehre Tatsachen. Ich gehe gern zur Schule und verlasse sie gern. Das ist die schönste Abwechslung, die ein unnützer Schlingel verlangen kann. In der Schule wird ein Maßstab an jedermanns Kenntnisse gelegt. Jetzt gelten keine Unterschiede mehr. Der ärmste Bengel hat das Recht, am reichsten an Kenntnissen und Begabung zu sein. Niemand, nicht einmal der Lehrer, wehrt ihm, sich auszuzeichnen. Alles hat Respekt vor ihm, wenn er glänzt; alles schämt sich seiner, wenn er unwissend ist. Ich finde, das ist eine hübsche Einrichtung, so den Ehrgeiz zu reizen und einem zu gestatten, um die Bewunderung der Kameraden zu buhlen. Ich bin fürchterlich ehrgeizig. Nichts beglückt so sehr meine Seele, als das Gefühl, den Lehrer mit einer klugen Antwort überrascht zu haben. Ich weiß, daß ich einer der besten Schüler bin, aber ich zittere beständig vor dem Gedanken, daß ein noch Geschickterer mich überflügeln könnte. Dieser Gedanke ist hei?