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4 1. Einleitung: Ein Gedankenexperiment Sehen Sie sich einmal an, wie dieses Baby lächelt. Wie würden Sie das Lächeln des Babys interpretieren? Was will das Baby? Wenn das Baby n...

4 1. Einleitung: Ein Gedankenexperiment Sehen Sie sich einmal an, wie dieses Baby lächelt. Wie würden Sie das Lächeln des Babys interpretieren? Was will das Baby? Wenn das Baby nun Sie so anlacht, wie würden Sie auf das Baby reagieren? Studierende aus Osnabrück haben, ebenso wie viele deutsche Mütter, eine ziemlich gute Vorstellung davon, was das Lächeln bedeutet und wie man darauf reagiert. Sie interpretieren das Lächeln als einen Ausdruck dafür, dass das Baby Spaß hat, dass es ihm gut geht und dass es interagieren will. Entsprechend reagieren die Studieren- den und lachen zurück und beginnen eine Interaktion mit dem Baby. Abb. 1: Lachendes Baby Kamerunische Mütter hingegen interpretieren das Verhalten dieses Babys anders: Für sie spiegelt das Lächeln die Tatsache wieder, dass das Kind gesund ist. Und da ein gesundes Baby keine Handlung notwendig macht, reagieren kamerunische Mütter auf ein Lächeln nicht; sie ignorieren es. Dieses Beispiel soll deutlich machen, dass das gleiche Verhalten eines Kindes in verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedlich interpretiert werden kann und entsprechend auch zu unterschiedlichen Handlungen führen kann. Unserer Ansicht nach bildet daher der kulturelle Kontext, in dem das Baby aufwächst, den zentralsten Einflussfaktor für die kindliche Entwicklung. Kultur Die Kultur bestimmt, wie definiert, wie viel und welche Nahrung ein Baby bekommt, Kultur definiert, ob Verhalten wahrgenommen, die Eltern des Kindes finanzielle Ressourcen zur Verfügung haben, Kultur defi- interpretiert und beantwor- niert, ob und wie lange das Kind zur Schule gehen wird. Und Kultur beeinflusst tet wird - Kultur ist die Brille, entscheidend, welche Arten von Bindungsbeziehungen das Kind entwickeln durch die wir die Welt sehen wird In diesem Sinne soll in diesem Themenheft der Einfluss von Kultur auf die Entwicklung von Bindungsbeziehungen näher betrachtet werden. 2. Die Annahmen der ethologischen Bindungstheorie Die Bindungstheorie ist eine der einflussreichsten Theorien der Entwicklungs- psychologie und geht davon aus, dass gerade frühe sozio-emotionale Erfah- rungen die weitere Entwicklung einer Person über die gesamte Lebensspanne maßgeblich beeinflussen. Bindung ist ein lebensnot- Der britische Psychoanalytiker und Kinderarzt John Bowlby gilt als Gründungs- wendiges menschliches Be- vater der Bindungstheorie. Er definierte Bindung als emotionales Band zwi- dürfnis schen Kind und Hauptbezugsperson, das sich im Lauf des ersten Lebensjahres entwickelt und für den Säugling lebensnotwendig ist (Bowlby, 1969). Bowlby erkannte als einer der Ersten, dass eine enge Bindung zwischen Kind und Be- zugsperson die Überlebenschancen eine Kindes im Lauf der Evolution erhöh- te; entsprechend vermutete er, dass Bindung als ein biologisches System in 5 den Genen des Menschen verankert ist. Ein angeborenes Bindungsbedürfnis lässt sich in der Tat bei allen Kindern beobachten: Sie äußern dieses Bedürfnis gegenüber ihren Bezugspersonen durch Weinen, Festklammern, Hinkrabbeln, Hinterhergehen, Lächeln. Diese sogenannten Bindungsverhaltensweisen eines Kindes führen bei ihren Bezugspersonen zu Fürsorgeverhalten: Sie spenden Trost, gewähren Nähe und helfen auf diese Weise dem Säugling, physische und / oder psychische Sicherheit wiederzugewinnen. Üblicherweise hat sich nach zwölf Monaten im Kontext konkreter Interaktion zwischen Kind und Be- zugsperson eine Bindungsbeziehung entwickelt, in der individuelle Interakti- onsmuster deutlich werden: eine mehr oder weniger tragfähige Bindungsbe- ziehung ist hergestellt. Mary Ainsworth und Kollegen entwarfen in der Folge ein Untersuchungs- verfahren, die sogenannte ‚Fremde Situation’, mit deren Hilfe individuelle Unterschiede in Bindungsbeziehungen beobachtbar gemacht wurden (Ains- worth, Blehar, Waters & Wall, 1978). In der Fremden Situation werden Kinder und Bezugsperson in ein fremdes Versuchslabor eingeladen; dort erlebt das Kind ein Minidrama, in dessen Verlauf es mehrfach von der Mutter getrennt, mit einer Fremden Person konfrontiert, und mit der Mutter wiedervereinigt wird. Die Reaktionen des Kindes führen dann zu einer Klassifikation der Bin- dungsbeziehung als sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent oder Gegen Ende des ersten Le- desorganisiert. Sicher gebundene Kinder zeigen ihre Emotionen offen: In der bensjahres haben sich klar Trennungssituation Angst und Trauer, in der Wiedervereinigung Freude. Un- identifizierbare Bindungs- sicher-vermeidende Kinder unterdrücken ihre Emotionen: Die Trennung von muster herausgebildet, die der Mutter lässt sie scheinbar unbeeindruckt, bei der Rückkehr der Mutter mit Hilfe der Fremden Situa- ignorieren sie diese. Unsicher-ambivalente Kinder zeigen deutliches Bindungs- tion klassifizierbar sind verhalten mit Ärger als stärkster Emotion. Sie scheinen überwältigt vom Tren- nungsschmerz, lassen sich aber auch bei Rückkehr der Mutter nicht beruhigen. Desorganisierten Kinder fehlt jedwede Verhaltensstrategie, die ihnen ermög- lichen würde, mit der Trennungs- und Wiedervereinigungssituation umzuge- hen. Sie zeigen stattdessen bizarres Verhalten, erstarren oder wirken völlig emotionslos. Grundsätzlich betrachtet man also die Emotionsregulation der Kinder unter Stress, um Bindungsmuster zu klassifizieren. Darüber hinaus vermutete Ainsworth aufgrund von Beobachtungen bei Haus- besuchen in US-amerikanischen Familien, dass die Qualität des mütterlichen Verhaltens die spätere Bindungsqualität eines Kindes beeinflusst. Sie erfasste mütterliches Verhalten mit Hilfe des Konzepts der Feinfühligkeit (‚sensitivi- ty’), welche definiert ist als die Wahrnehmung und richtige Interpretation der Mütterliche Feinfühligkeit als kindlichen Signale, sowie Angemessenheit und Promptheit der mütterlichen die Wahrnehmung und richtige Reaktion auf diese Signale. In ihrer US- Studie fand Ainsworth dann auch den Interpretation der kindlichen vermuteten Zusammenhang: Kinder von Müttern, die im Alltag feinfühlig re- Signale sowie Angemessenheit agierten, zeigten in der Fremden Situation häufiger sicheres Verhalten, wohin- und Promptheit der mütterli- gegen Kinder von Müttern, die sich im Alltag als wenig feinfühlig erwiesen, chen Reaktion beeinflussen die in der Fremden Situation häufiger unsicheres Verhalten zeigten (Ainsworth, Bindungsqualität des Kindes Bell & Stayton, 1974). Das Sensitivitätskonzept wurde in der Folge von Meins (1997) auf der sprachlichen Ebene erweitert: Mütter, die sich in die psychi- sche Lage ihres Kindes versetzen und die inneren Zustände ihrer Kinder diffe- renziert verbalisieren können, hatten häufig sicher gebundene Kinder. Diese Mentalisierungs-Fähigkeit bezeichnete Meins als ‚mind-mindedness’. 6 Die Kernannahmen der Bindungstheorie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Universalitätsannahme: Alle Neugeborenen, mit Ausnahme von Kin- dern mit massiven neurophysiologischen Schädigungen, entwickeln im Zuge des ersten Lebensjahres eine Bindung an ihre Bezugsperson(en) 2. Normativitätsannahme: Die Mehrheit aller Kinder entwickelt ein siche- res Bindungsmuster, das durch das offene Kommunizieren von Emotionen gekennzeichnet ist 3. Sensititvitätsannahme: Als wichtigste Ursache für Bindungssicherheit gelten feinfühliges Elternverhalten sowie mütterliche mind-mindedness 4. Kompetenzannahme: Bindungssicherheit führt zu einer kompetenteren Bewältigung weiterer Entwicklungsaufgaben, ist also auch im Hinblick auf Bildung zentral Betrachtet man die Kernannahmen der Bindungstheorie aus einer Kulturper- spektive, so spiegeln sie – mit Ausnahme der Universalitätsannahme - Erzie- hungsziele und Erziehungspraktiken in westlichen Mittelschichtfamilien. Die Definition einer sicheren Bindungsbeziehung, von gutem Mutterverhalten und von kindlicher Kompetenz variiert aber in Abhängigkeit vom kulturellen Kontext, in dem wir uns bewegen. Familien mit Kindern aus nicht-westlichen kulturellen Kontexten verfolgen Erziehungsziele und Ideale, die sich nicht in der Bindungstheorie finden lassen, aber ihre eigene Gültigkeit besitzen. Im Folgenden soll daher, basierend auf unseren Forschungsergebnissen, das erste Lebensjahr von Säuglingen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten skiz- ziert werden: Zum Einen, da das erste Lebensjahr als zentral für den Aufbau einer Bindungsbeziehung angesehen wird; zum Anderen, da alle frühkindli- chen Erfahrungen enormen kulturellen Unterschieden unterliegen und als Kon- sequenz den Aufbau qualitativ unterschiedlicher Bindungsbeziehungen nach sich ziehen. 3. Das erste Lebensjahr von Säuglingen in verschiedenen kulturellen Kontexten In unserer Forschung untersuchen wir Mittelschichtfamilien, die sich durch eine hohen Grad an formaler Bildung und eine geringe Anzahl an Kindern aus- zeichnen, ökonomische Sicherheit und gute medizinische Versorgung genie- Kultur definiert, welche Er- ßen (für einen Überblick siehe Keller, 2007, 2011). Mittelschichtfamilien wurden fahrungen Kinder im Lauf in der Vergangenheit häufig von Psychologen untersucht, sie leben überwie- des ersten Lebensjahres gend in den Städten der Länder dieser Welt: Wir haben sie u.a. in Städten machen in Deutschland, USA, Indien und Kamerun besucht und über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet. Traditionell lebende Bauernfamilien, die kaum for- male Bildung erwerben, eine hohe Anzahl an Kindern haben, subsistenz-wirt- schaftlich in ländlichen Regionen dieser Welt leben und eine ungenügende medizinische Versorgung erfahren, bilden die Mehrheit der Weltbevölkerung, sind jedoch in der Forschung unterrepräsentiert. Auch hier haben wir Fami- lien in dörflichen Kontexten in Kamerun und Indien besucht und über Jah- 7 re begleitet. ‚Mittelschichtfamilien’ und ‚traditionelle Bauernfamilien’ bilden Mittelschichtfamilien und nach unserer Auffassung zwei Prototypen für unterschiedliche Kulturen, die traditionelle Bauernfamilien sich nicht nur hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen, sondern auch in ihren Er- als zwei kulturelle ziehungszielen und Erziehungspraktiken deutlich voneinander unterscheiden. Prototypen Und dies hat deutliche Konsequenzen, was den Aufbau von Bindungsbezie- hungen angeht. ‚Meine Mutter’ oder ‚unser Dorf’? Die Bindungstheorie geht davon aus, dass die Personen, die mit dem Kind häufig interagieren, zu Hauptbezugspersonen für das Kind werden. Aufgrund der klassischen Frauenrolle in den 60er Jahren, nach der die Versorgung von Kindern die Aufgabe der Mutter war, sah die Bindungstheorie lange Zeit die Mutter als wichtigste Bezugsperson für das Kind an. Erst im Lauf der letzten Jahre räumte die Bindungstheorie auch engagierten Vätern und betreuenden Großeltern eine potentielle Funktion als Bindungsfiguren ein. Nach Ansicht der Bindungstheorie bildet ein Kind, wenn es mehrere Bezugspersonen zu Verfü- gung hat, eine Hierarchie von Bindungspersonen, entsprechend der Wichtig- keit der Bezugspersonen für das Kind. Die Bindungstheorie geht dabei von maximal drei bis vier Bindungspersonen aus. All dies spiegelt die Familienbe- ziehungen in Mittelschichtkontexten wieder: Die Familie lebt als Kernfamilie mit Mutter, Vater und einem Kind, vielleicht unterstützt durch in der Nähe Abb. 2: eine deutsche Kernfamilie lebende Großeltern. Wer wird aber Bezugsperson für ein Kind, wenn dafür ein ganzes Dorf in Fra- ge kommt? Ein Sprichwort in Kamerun besagt: „It takes a village to raise a In traditionellen Bauernfa- child“, d.h., es ist die Aufgabe des gesamten Dorfes, ein Kind großzuziehen. milien gibt es eine Vielzahl Bei den kamerunischen Nso Bauern, einer Volksgruppe im Norden Kameruns, von Bindungspersonen lässt sich genau dies beobachten. Entsprechend wenig beunruhigt ist eine ka- merunische Nso-Mutter, wenn ihr einjähriges Kind den ganzen Tag verschwun- den scheint – während der westliche Forscher anfängt, sich zu sorgen, hat sie die Gewissheit, dass ihr Kind gut aufgehoben ist im Dorf, auch wenn sie nicht weiß, bei wem das Kind gerade ist. Ähnliches ist von den Beng an der Elfen- beinküste bekannt: Hier wird ein Kind am Tag der Geburt vom ganzen Dorf begrüßt, indem es von einem Arm zum nächsten gereicht wird und so alle potentiellen Bezugspersonen gleich am Tag der Geburt kennen lernt (Gottlieb, 2004). Welche westliche Mutter würde ihr Kind am ersten Tag des Lebens in hundert Hände geben? Die kamerunischen Nso Bauern leben - wie auch viele andere traditionelle Volksgruppen- in Großfamilien zusammen, die Kinder wachsen unmittelbar mit vielen Geschwistern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen sowie ih- ren Großeltern auf (Yovsi et al., 2009). Einem ungeübten Beobachter fällt es schwer, die Familienbeziehungen zu identifizieren. Wer ist die Mutter dieses Kindes? Diejenige, bei der das Kind isst? Diejenige, bei der das Kind im Haus- halt hilft? Oder diejenige, die das Kind maßregelt? Nur bei den Kleinsten ist es einfach: hier ist die Mutter dadurch erkennbar, dass sie diejenige ist, die das Kind stillt. Selbst die Schlafarrangements, viele Kinder zusammen in einem Bett, können täuschen: Oft sind es nicht nur Geschwister, die sich das Bett Abb. 3: Eine kamerunische Großfamilie teilen, sondern auch Cousins und Cousinen oder Spielgefährten, die eben mal hier übernachten. 8 Beobachtet man Alltagssituationen, in denen Kinder Bindungsverhalten zei- gen oder auf Fürsorgeverhalten angewiesen sind, so ergeben sich ebenso kon- textuell bedingte Unterschiede: In Mittelschichtfamilien ist für die meisten unter Einjährigen eben ‚nur’ die Mutter oder der Vater kontaktierbar. Entspre- chend werden diese zu den wichtigsten Bezugs- bzw. Bindungspersonen. Im traditionellen afrikanischen Dorfgemeinschaften ist die Mutter meist mit Feld- und Hausarbeit beschäftigt und daher ‚nur’ fürs Stillen des Kindes zuständig: ist ein Kind hungrig, wird es zur Mutter gebracht. Ansonsten hat das Kind aber eine Vielzahl von Personen zur Verfügung, die sich um die Bedürfnisse des Kindes kümmern und auch bei Missgeschick und Tränen trösten und helfen. Eine Hierarchie von wenigen Bezugspersonen lässt sich im dörflichen Kontext bei den Nso nicht finden (Otto, 2008). Ähnliches berichtet die Anthropologin Gottlieb für die Beng, einem in der Elfenbeinküste lebenden Stamm: Hier ha- ben die Kinder täglich Kontakt mit vielen verschiedenen Personen, verbringen dafür im Durchschnitt aber auch nur fünf Minuten bei einer einzelnen Person (Gottlieb, 2004, S. 140). ‚Lach doch mal für Mama’ oder ‚hier weint man nicht’ Kulturelle Besonderheiten finden sich allerdings schon sehr früh - bereits bei Interaktionen von dreimonatigen Säuglingen und ihren Bezugspersonen zei- gen sich gravierende kulturell bedingte Unterschiede (siehe auch Keller & Otto, 2009): In Mittelschichtfamilien steht das Kind meist im Zentrum der Aufmerk- samkeit, die Bezugsperson spricht viel und ‚mind-minded’ mit dem Kind, d.h. sie fragt ein drei Monate altes Baby nach seinen Wünschen und Präferenzen. Meist versuchen die Bezugspersonen in Interaktionssituationen Blickkontakt zum Kind zu halten. Und am wohlsten fühlen sich Bezugsperson und Kind in Interaktionen, in denen eine positive Grundstimmung vorherrscht. Typischer- weise versuchen Mutter oder Vater diesen positiven Affekt im Kind auch zu provozieren, indem sie selbst das Kind anlächeln, auffordern: „lach doch mal“ oder kommentieren: „na, das macht dir Spaß“ (Demuth, 2008). Und der im- mense Wert, der auf Spiel mit Objekten gelegt wird, lässt sich bei einem Be- such in Kinderzimmern leicht erschließen. Diesen Interaktionsstil bezeichnet man als distalen Stil (Keller, 2011), da zwischen Bezugsperson und Kind häufig Abb. 4: Deutsche Mittelschichtmutter in eine gewisse körperliche Distanz vorhanden ist, wenn das Kind während der Interaktion mit ihrem Kind Interaktion beispielsweise auf einer Decke auf dem Rücken liegt. In den Dörfern in Indien und Kamerun stehen Kinder hingegen nicht im Zen- trum der allgemeinen Aufmerksamkeit; sie werden stattdessen in den Alltag und seine Aufgaben integriert. Dies funktioniert am einfachsten, indem Kin- der auf den Rücken der Betreuungsperson gebunden werden und so dorthin gelangen, wo auch immer der Träger hin unterwegs ist. Bereits vierjährige Kinder fungieren so als Babysitter für dreimonate alte Kinder, wobei sie die Kleinsten auf diese Weise bereits in ‚peergroups’ integrieren, also in Kinder- gruppen, die gemeinsam spielen und toben. Bittet man kamerunische Mütter explizit, mit ihren Kindern zu spielen (was eher unüblich ist), so stimulieren diese die Kinder motorisch stark, schütteln die Kinder oder werfen sie gar hoch in die Luft; dies soll das Kind stärken und die motorische Entwicklung be- schleunigen. Diesen Interaktionsstil bezeichnet man als proximalen Interak- tionsstil (Keller, 2011), da hier das Kind meist unmittelbaren Körperkontakt zu den Interaktionspartnern hat. Allgemeine Heiterkeit erzielt man als Weißer, wenn man ein drei Monate altes Nso Kind anspricht: „möchtest du zu mir kommen?“ Man sollte doch wohl wissen, dass das Kind noch zu klein ist, um 9 diese Frage zu beantworten. Lacht ein Kind, so wird dies bei den Nso als ein Zeichen von Gesundheit interpretiert und führt ansonsten zu keiner weiteren Reaktion. Zeigt das Kind aber negative Emotionen oder weint, so führt dies sofort zu heftigem Schütteln des Kindes und klarer Schelte, denn „ bei uns hier wird nicht geweint“ (Demuth, 2008). Was zeichnet eine gute Mutter aus? Die Bindungstheorie ging davon aus, dass eine gute Mutter sensitiv auf die Be- dürfnisse des Kindes reagiert; ein sensitives Verhalten gegenüber Kindern fin- den wir üblicherweise bei den Bezugspersonen von Mittelschichtkindern (z.B. Grossmann & Grossmann, 2004). Forschungsergebnisse zeigen, dass gerade diese Art des Umgangs mit dem Kind die Entwicklung von Selbstwirksamkeit und Individualität schon in der frühen Kindheit fördert. Sind Bezugspersonen hingegen sehr direktiv im Umgang mit dem Kind oder unterbrechen sie gar intrusiv das Spiel des Kindes, deutet dies auf schlechtes, egoistisches Eltern- verhalten hin, das beim Kind zu einer negativen Entwicklung führen kann. Bei den Nso gilt solchermaßen sensitives Verhalten nicht als gutes Mutter- Abb. 5: Kamerunisches Kind betreut Ge- verhalten. Nso-Mütter sehen keinen Sinn darin, sich an den Bedürfnissen und schwister Wünschen von Kindern zu orientieren; nur der Wunsch gestillt zu werden wird sofort und über eine lange Zeit hinweg prompt erfüllt. Ansonsten empfin- In Mittelschichtkontexten den es Erwachsene und auch ältere Kinder als ihre Aufgabe, den Kleinsten zu ist sensitives Verhalten und zeigen, ‚wo es lang geht’. Sie sind die Experten, die wissen, was für das Kind im traditionell ländlichen wichtig ist, welches Verhalten es zu erlernen gilt und welche Verhaltensweisen Kontext der Nso responsiv- abtrainiert werden sollen. Entsprechend kontrollieren und dirigieren sie das kontrollierendes Verhalten Spiel- und Explorationsverhalten der Kleinsten (Yovsi et al., 2009). Auf den zentral westlichen Betrachter wirkt dies unter Umständen negativ, da er die Entwick- lung von Individualität und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit beim Kind dadurch als stark eingeschränkt oder unterbunden erlebt. Und er hat Recht: Was hier gefördert wird, ist tatsächlich etwas anderes: es ist die Verwobenheit mit anderen, die Einordnung in Hierarchien und die Akzeptanz von Normen und Werten. Wer hat Angst vorm fremden Mann Die Bindungstheorie geht davon aus, dass eine fremde Person in Abwesenheit der Mutter Fremdenfurcht beim Kind auslöst. Entsprechend werden Kinder in der Fremden Situation, dem Verfahren zur Bestimmung von Bindungsquali- täten, mit einer fremden Person konfrontiert; Fremdenfurcht wird in vielen Kinder aus Mittelschichtfa- Psychologie-Lehrbüchern als universelles Phänomen betrachtet, das im Schnitt milien zeigen gegen Ende der mit neun Monaten bei Kindern zu beobachten ist. Bei Mittelschichtfamilien in ersten Lebenjahres Fremden- Deutschland lässt sich das Fremdeln von Kindern in diesem Alter auch tatsäch- furcht lich gut beobachten. Ebenso lässt sich beobachten, dass kleinen Kindern von Anfang an beigebracht wird, Fremden erst einmal kein Vertrauen entgegen zu bringen, entsprechend hören Kinder die Ermahnung: „Geh nicht mit Fremden Personen mit!“ In anderen Kontexten ist das Phänomen der Fremdenfurcht nicht zu beobach- ten: Gottlieb (2004) berichtet von den Beng an der Elfenbeinküste, dass Frem- Fremdenfurcht lässt sich bei denfurcht nicht auftritt, da Kinder von Geburt an mit vielen verschiedenen Per- den traditionellen afrikani- sonen Umgang pflegen. Zudem hat ein Fremder bei den Beng an und für sich schen Kulturen der Beng und nichts Bedrohliches, der Besuch eines Fremden ist ein besonderes Ereignis, er der Nso nicht beobachten wird freudig empfangen und erfährt Gastfreundschaft. Beng-Babies erleben 10 dies von Anfang an, und dies hat entsprechende Konsequenzen. Gottlieb be- richtet: “Die Babies, die ich beobachtete, gingen bereitwillig zu ihren neuen einstweiligen Babysittern und es war äußerst selten, dass sie weinten oder anderweitig Bedauern, Angst, Beklemmung oder Ärger zum Ausdruck brach- ten, wenn ihre Mütter aus ihrem Sichtfeld verschwanden.“ (Gottlieb, 2004, p. 160). Ähnliches gilt für die Nso Kindern in Kamerun: Ihre Mütter erwarten, dass die Kinder ohne Furcht auf den Arm einer Fremden wechseln; die wenigen Kindern, die dies nicht tun, werden als ungezogen ausgeschimpft (Otto, 2008). 4. Kulturspezifische Bindungsorganisation Es sind die frühen Erfahrungen während des ersten Lebensjahres, die bestim- men, wie die Bindungsbeziehungen von einjährigen Kindern aussehen. Da, wie oben beschrieben, die Erfahrungen von Säuglingen großen kulturellen Unterschieden unterliegen, wundert es nicht, dass auch Bindungsbeziehun- gen kulturspezifisch ausfallen: Gemäß der Bindungstheorie gilt eine sichere Bindung als beste Bindungsstrategie und unsichere Bindungsbeziehungen oder gar Desorganisation als Abweichungen von dieser Norm. 1988 schrieb Bowlby: “Die drei Hauptbindungsmuster der ersten Lebensjahre konnten jetzt reliabel identifiziert werden, zusammen mit den Familienbedingungen, die sie bedingen: Eines dieser Muster steht im Einklang mit einer gesunden Entwick- lung des Kindes, zwei sind prädiktiv für eine gestörte Entwicklung” (Bowlby, zitiert nach Belsky & Rovine, 1988, p. 166). Charakteristisch für das sichere Bindungsmuster ist der offene Ausdruck von Emotionen, das Bevorzugen der Bezugsperson vor der Fremden und das Nähesuchen zur Bezugsperson nach der Trennung. Gegen die universelle Gültigkeit des sicheren Bindungsmusters als Norm spre- In unterschiedlichen chen Befunde von traditionellen ländlichen Kulturen: Bei den kamerunischen kulturellen Kontexten sind Nso ist die häufigste kindliche Bindungsstrategie ein extrem passives und unterschiedliche Bindungs- emotionsloses Verhalten, das aus Sicht der traditionellen Bindungstheorie strategien optimal auf eine wenig adaptive Strategie hinweisen würde. Unter Umständen könnte solch ein Verhalten sogar zu der Klassifikation Desorganisation führen. Nso- Mütter schätzen diese Passivität der Kinder jedoch, da ruhige Kinder problem- los von verschiedenen Bezugspersonen betreut werden können und dadurch ihren Müttern ermöglichen, ihrer alltäglicher Arbeit nachzugehen. Dieses Ide- al eines ruhigen und emotionslosen Kindes wird auch für andere ländliche Stichproben beschrieben: Friedl (1997) berichtet dies von einer iranischen Volksgruppe, Howrigan (1988) von den Maya in Yucatan und Broch (1990) für Einwohner Indonesiens. Auch andere Studien berichten Befunde, die gegen eine Normativität der sicheren Bindung sprechen. Harwood, Miller & Irizar- ry (1995) legten puertorikanischen und angloamerikanischen Müttern Bilder mit Ausschnitten aus der Fremden Situation vor, auf denen die typischen Verhaltensweisen von sicher- und unsicher-gebundenen Kindern dargestellt waren. Sie entdeckten, dass sich die Einschätzungen der Mütter in Bezug auf erwünschtes und unerwünschtes kindliches Verhalten deutlich unterschieden: so bevorzugten puertorikanische Mütter Verhaltensweisen, die zufolge der Bindungstheorie unsicher sind oder lehnten Verhaltensweisen ab, die zufolge der Bindungstheorie als sicher gelten. 11 Die Tatsache, dass die gleichen Verhaltensweisen in Beziehung zu völlig ver- schiedenen Sozialisationszielen gesetzt werden, zeigt den elementaren Ein- fluss kultureller Wertesysteme. Kindliches Bindungsverhalten stellt immer auch ein Sozialisationsergebnis dar, das von kulturspezifischen Wertesyste- men geprägt ist. Diese Wertesysteme können in unterschiedlichen soziokultu- rellen Kontexten durchaus konträr ausfallen, wodurch die Annahme, dass eine kindliche Verhaltensweise -die ‚sichere’ Bindung- in allen Kontexten die opti- male Verhaltensstrategie repräsentiert, grundsätzlich in Frage zu stellen ist. 5. Praktische Implikationen Aufgrund des hohen Stellenwerts, der heute frühkindlichen Bildungsprozessen zugesprochen wird, ist auch Bindung wieder zunehmend in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt: als notwendige Grundlage für Bildungspro- zesse. Entsprechend bildet die Bindungstheorie die Grundlage für eine Viel- zahl von Frühförder- und Bildungsprogrammen sowie Präventions- und Inter- ventionsprogrammen. Was hier jedoch zumeist noch unberücksichtigt bleibt, sind die Grenzen der Anwendbarkeit der Bindungstheorie auf Personen, die nicht euro-amerikanischen Mittelschicht-Idealen folgen. Migranten in Deutsch- land stammen häufig aus traditionellen ländlichen Kontexten und verfolgen somit andere Erziehungsziele und Erziehungspraktiken als sie von der Bin- dungstheorie vertreten werden. Sie sind in ihren Vorstellungen traditionellen ländlichen Kulturgruppen wie beispielsweise den kamerunischen Nso oft viel näher als den Mittelschichtfamilien in Deutschland. Diese traditionellen Vor- stellungen finden im Alltag in Deutschland oft keine Entsprechung oder füh- ren immer wieder zu Missverständnissen: Eine Mutter mit einem solchen Mig- rationshintergrund mag den Sinn einer Eingewöhnungsphase in der Kita nicht sehen, da das Kind doch längst gelernt haben sollte, mit vielen verschiedenen Bezugspersonen umzugehen; diese Mutter wird eine Erzieherin, die sie zum Bleiben und Begleiten des Kindes auffordert, als inkompetent einschätzen; je- der kann doch mit einem Kind klarkommen und gerade eine Erzieherin sollte doch nicht auf die Mutter des Kindes angewiesen sein! Umgekehrt empfindet es die Erzieherin als Zumutung, dass hier ein neues Kind einfach an der Türe abgeben wird und die Mutter sich nicht die Zeit nimmt, die Eingewöhnungs- phase gemeinsam mit dem Kind zu meistern. Eine Rabenmutter! Beispiele die- ser Art gibt es viele. Diskrepanzen zwischen verschiedenen kulturellen Werthaltungen ergeben sich auch in Bezug auf die Mehrzahl der existierenden Frühförderprogramme, die meist auf die Annahmen der Bindungstheorie zurückgreifen. Ein Beispiel ist Erfolgreiche Bildungs- und das Herstellen von Situationen, in denen ein Erwachsener mit einem einzelnen Förderprogramme müssen Kind interagiert und dadurch exklusive Aufmerksamkeit herstellt; dies ist für kulturelle Varianz in Be- Kinder aus traditionell ländlichen Kontexten eine unnatürliche Situation, die tracht ziehen einschüchternd wirken kann. In vielen Förderprogrammen ist das Herstellen von Blickkontakt zu Erwachsenen wichtig; dies kann in Kontexten, in denen man den Blick vor älteren Personen abwendet, als Provokation aufgefasst wer- den. Will man erfolgreiche Bildungs- und Förderprogramme für Kinder aus ver- schiedenen Kulturen entwerfen, sollte man daher einer kultursensitive Konzep- tion von Bindung folgen, nicht dem normativen Ideal der Bindungstheorie.

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