Allgemeine Psychologie: Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Denken und Problemlösen PDF

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Dieser Lehrbrief bietet einen Überblick über die Allgemeine Psychologie, mit Schwerpunkten auf Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Denken und Problemlösen. Die Lektionen behandeln grundlegende Theorien und Forschungsansätze. Die Inhalte sind nach didaktischen Gesichtspunkten strukturiert.

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ALLGEMEINE PSYCHOLOGIE: WAHRNEHMUNG, GEDÄCHTNIS, SPRACHE, DENKEN UND PROBLEMLÖSEN DLBPSAPWGSDP01 ALLGEMEINE PSYCHOLOGIE: WAHRNEHMUNG, GEDÄCHTNIS, SPRACHE, DENKEN UND PROBLEMLÖSEN IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Rin...

ALLGEMEINE PSYCHOLOGIE: WAHRNEHMUNG, GEDÄCHTNIS, SPRACHE, DENKEN UND PROBLEMLÖSEN DLBPSAPWGSDP01 ALLGEMEINE PSYCHOLOGIE: WAHRNEHMUNG, GEDÄCHTNIS, SPRACHE, DENKEN UND PROBLEMLÖSEN IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19 D-86675 Buchdorf [email protected] www.iu.de DLBPSAPWGSDP01 Versionsnr.: 001-2023-0105 Burkhard Vollmers ©2022 IU Internationale Hochschule GmbH Dieser Lehrbrief ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Dieser Lehrbrief darf in jeglicher Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung der IU Internationale Hochschule GmbH nicht reproduziert und/oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Autor:innen/Herausgeber:innen haben sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, die Urheber:innen und Quellen der verwendeten Abbildungen zu bestimmen. Sollte es dennoch zu irrtümlichen Angaben gekommen sein, bitten wir um eine dementsprechende Nachricht. 2 PROF. DR. BENNY B. BRIESEMEISTER Herr Briesemeister ist seit 2021 Dozent im Fachbereich Psychologie an der IU Internationale Hochschule. Sein Studium der Psychologie schloss er 2009 an der Freien Universität (FU) Berlin ab, wo er anschließend im Bereich der Allgemeinen und Neurokognitiven Psychologie zur neuronalen Verarbeitung emotionaler Sprache promovierte und als wissenschaftlicher Mitarbeiter Forschung und Lehre unterstützte. Herr Briesemeister war Gründer und geschäftsführender Leiter eines neurowissenschaftlich fundierten Marktforschungsunternehmens mit Schwerpunkt in der Kommunikationsberatung. Später übernahm er die wissenschaftliche Leitung des Deloitte Neuroscience Instituts. Seine praktische Tätigkeit fokussiert sich auf die Bereiche der Marktforschung und Unternehmensberatung mit Schwerpunkt in der Anwendung impliziter psychologischer und neurowissenschaftlicher Testverfahren zur Vorhersage von Entscheidungsverhalten und Kommunikationserfolg. 3 INHALTSVERZEICHNIS ALLGEMEINE PSYCHOLOGIE: WAHRNEHMUNG, GEDÄCHTNIS, SPRACHE, DENKEN UND PROBLEMLÖSEN Wissenschaftliche Kursleitung...................................................... 3 Einleitung Wegweiser durch das Studienskript................................................. 8 Basisliteratur..................................................................... 9 Pflichtliteratur................................................................... 10 Weiterführende Literatur......................................................... 11 Übergeordnete Lernziele......................................................... 12 Lektion 1 Wahrnehmung 13 1.1 Wahrnehmung als Forschungsfeld der Allgemeinen Psychologie.................. 14 1.2 Psychophysik als Beginn der Allgemeinen Psychologie.......................... 21 1.3 Visuelle Wahrnehmung....................................................... 27 1.4 Akustische Wahrnehmung.................................................... 40 1.5 Die Nahsinne: Tasten, Geschmack und Geruch.................................. 46 1.6 Anwendungsbeispiel: Zwei Selbstexperimente zur Adaptation in der Wahrnehmung................................................................................... 49 Lektion 2 Gedächtnis 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 Alltagserlebnisse von Gedächtnisphänomenen................................. 54 Interdisziplinäre Zugänge zum menschlichen Gedächtnis........................ 55 Gedächtnismodelle in der Allgemeinen Psychologie............................. 61 Drei Gedächtnisspeicher...................................................... 68 Lernstrategien und Kontrolltechniken beim Einprägen.......................... 79 Lektion 3 Langzeitgedächtnis 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4 53 85 Wissensmodelle des Langzeitgedächtnisses.................................... 86 Autobiografisches und episodisches Gedächtnis................................ 97 Erinnern und Abrufen....................................................... 101 Erinnerungstäuschungen und Suggestionen................................... 105 Anwendungsbeispiel: Selbstexperiment zum Gedächtnis....................... 111 Lektion 4 Denken und Problemlösen 115 4.1 Einführung in das Themengebiet Denken..................................... 116 4.2 Psychologische Problemlöseforschung: Klassische Studien in der Allgemeinen Psychologie....................................................................... 121 4.3 Typologien der Unterscheidung von Problemen............................... 131 4.4 Untersuchungsmethoden von Denken und Problemlösen...................... 135 4.5 Anwendungsbeispiel........................................................ 142 Lektion 5 Sprache 145 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 146 152 159 165 170 Forschungsfelder der Sprachpsychologie..................................... Grundlagen des Sprachverstehens und der Sprachverarbeitung................. Sprachentwicklung......................................................... Sprachstörungen........................................................... Anwendungsbeispiel: Ein Experiment zu Assoziationen......................... Verzeichnisse Literaturverzeichnis............................................................. 174 Abbildungsverzeichnis.......................................................... 192 5 EINLEITUNG HERZLICH WILLKOMMEN WEGWEISER DURCH DAS STUDIENSKRIPT Dieses Studienskript bildet die Grundlage Ihres Kurses. Ergänzend zum Studienskript stehen Ihnen weitere Medien aus unserer Online-Bibliothek sowie Videos zur Verfügung, mit deren Hilfe Sie sich Ihren individuellen Lern-Mix zusammenstellen können. Auf diese Weise können Sie sich den Stoff in Ihrem eigenen Tempo aneignen und dabei auf lerntypspezifische Anforderungen Rücksicht nehmen. Die Inhalte sind nach didaktischen Kriterien in Lektionen aufgeteilt, wobei jede Lektion aus mehreren Lernzyklen besteht. Jeder Lernzyklus enthält jeweils nur einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt. So können Sie neuen Lernstoff schnell und effektiv zu Ihrem bereits vorhandenen Wissen hinzufügen. In der IU Learn App befinden sich am Ende eines jeden Lernzyklus die Interactive Quizzes. Mithilfe dieser Fragen können Sie eigenständig und ohne jeden Druck überprüfen, ob Sie die neuen Inhalte schon verinnerlicht haben. Sobald Sie eine Lektion komplett bearbeitet haben, können Sie Ihr Wissen auf der Lernplattform unter Beweis stellen. Über automatisch auswertbare Fragen erhalten Sie ein direktes Feedback zu Ihren Lernfortschritten. Die Wissenskontrolle gilt als bestanden, wenn Sie mindestens 80 % der Fragen richtig beantwortet haben. Sollte das einmal nicht auf Anhieb klappen, können Sie die Tests beliebig oft wiederholen. Wenn Sie die Wissenskontrolle für sämtliche Lektionen gemeistert haben, führen Sie bitte die abschließende Evaluierung des Kurses durch. Die IU Internationale Hochschule ist bestrebt, in ihren Skripten eine gendersensible und inklusive Sprache zu verwenden. Wir möchten jedoch hervorheben, dass auch in den Skripten, in denen das generische Maskulinum verwendet wird, immer Frauen und Männer, Inter- und Trans-Personen gemeint sind sowie auch jene, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder können. 8 BASISLITERATUR Horstmann, G./Dreisbach, G. (2012): Allgemeine Psychologie 2 kompakt. Lernen, Emotion, Motivation, Gedächtnis. Beltz, Weinheim/Basel. Spering, M./Schmidt, T. (2012): Allgemeine Psychologie 1 kompakt. Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken, Sprache.Beltz, Weinheim/Basel. 9 PFLICHTLITERATUR LEKTION 1 Strobach, T./Wendt, M. (2019): Wahrnehmung. In: Strobach, T./Wendt, M.: Allgemeine Psychologie. Ein Überblick für Psychologiestudierende und -interessierte. Springer, Berlin, S. 7–13. (Datenbank: Springer). LEKTION 2 Gruber, T. (2018): Gedächtnisprozesse. In: Gruber, T.: Gedächtnis. Springer, Heidelberg, S. 63–93. (Datenbank: Springer). LEKTION 3 Gruber, T. (2018): Langzeitgedächtnissysteme. In: Gruber, T.: Gedächtnis. Springer, Heidelberg, S. 39–61. (Datenbank: Springer). LEKTION 4 Beyer, R./Gerlach, R. (2018): Denken. In: Beyer, R./Gerlach, R.: Sprache und Denken. Springer, Heidelberg, S. 83–204. (Datenbank: Springer). LEKTION 5 Beyer, R./Gerlach, R. (2018): Sprache. In: Beyer, R./Gerlach, R.: Sprache und Denken. Springer, Heidelberg, S. 5–81. (Datenbank: Springer). 10 WEITERFÜHRENDE LITERATUR LEKTION 1 Pollmann, S. (2020): Wahrnehmung. In: Pollmann, S.: Allgemeine Psychologie. 2. Auflage, Reinhardt, München, S. 14–94. (Datenbank: UTB). LEKTION 2 Wirth, M./Bäuml, K.-H. (2020): Category Labels can influence the effects of selective retrieval on nonretrieved items. In: Memory & Cognition, 48. Jg., Heft 3, S. 481–493. (Datenbank: EBSCO). LEKTION 3 Graesser, A./Lippert, A. M./Shubeck, K. T. (2019): Knowledge Representation and Acquisition. In: Sternberg, R. J./Funke, J. (Hrsg.): The Psychology of Human Thought. University Publishers, Heidelberg, S. 71–88. (Datenbank: EBSCO). LEKTION 4 Funke, J. (2019): Problem Solving. In: Sternberg, R. J./Funke, J. (Hrsg.): The Psychology of Human Thought. University Publishers, Heidelberg, S. 155–176. (Datenbank: EBSCO). LEKTION 5 Bender, A. (2019): Language and Thought. In: Sternberg, R. J./Funke, J. (Hrsg.): The Psychology of Human Thought. University Publishers, Heidelberg, S. 213–234. (Datenbank: EBSCO). 11 ÜBERGEORDNETE LERNZIELE In dem Kurs Allgemeine Psychologie: Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Denken und Problemlösen erhalten Sie einen Einblick in die psychologischen Grundlagen dieser Themen. Die genannten Aspekte sind zentral im Erleben und Verhalten aller Menschen. Nach erfolgreichem Abschluss des Kurses können Sie die wichtigsten allgemeinpsychologischen Theorien der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, des Denkens und Problemlösens sowie der Sprache benennen. Sie werden die allgemeinpsychologischen Zusammenhänge dieser fünf Themen und deren Bezüge zu den wichtigsten Nachbardisziplinen verstehen. Sie werden in der Lage sein, alltägliche psychologische Phänomene von Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Problemlösen und Sprache aktiv wahrzunehmen und in wissenschaftliche Analysen in der Allgemeinen Psychologie zu überführen. 12 LEKTION 1 WAHRNEHMUNG LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen,... – wie Wahrnehmungsprozesse in der Allgemeinen Psychologie erforscht werden. – welche anderen wissenschaftlichen Disziplinen die experimentelle Wahrnehmungsforschung in der Allgemeinen Psychologie notwendig ergänzen. – aus welchen Grundannahmen und Gesetzen die Psychophysik besteht. – wie visuelle Wahrnehmung bei Menschen physiologisch und psychologisch verläuft. – wie akustische Wahrnehmung bei Menschen physiologisch und psychologisch verläuft. – wie die fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) zusammenwirken. 1. WAHRNEHMUNG Einführung Wahrnehmung ist für Menschen zuallererst Wahrnehmung der Umwelt. Personen, Objekte und Ereignisse der Umwelt werden von Menschen wahrgenommen. Was genau Menschen wahrnehmen, hängt von ihnen selbst ab, von ihren Fähigkeiten, ihren Vorerfahrungen und ihren gesellschaftlichen Aufgaben und Positionen. „Man muss bedenken, dass die Mehrheit der Bevölkerung heute Wirklichkeit außerhalb eines engen persönlichen Rahmens als symbolische wahrnimmt“ (Fischer 2020). Das schreibt der bekannte Rechtswissenschaftler Prof. Thomas Fischer im April 2020 in einer Kolumne, die sich mit der Wahrnehmung der Corona-Pandemie in der deutschen Bevölkerung auseinandersetzt. Zum Glück sind die meisten Menschen in Deutschland nicht ernstlich an dem Virus erkrankt. Sie sind mittelbar betroffen durch die sozialen Auswirkungen der politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Ihre Wahrnehmung des Virus ist indirekt und symbolisch. Sie nehmen das wahr, was medial verbreitet wird. Mediale Symbole des Virus sind Bilder von Schutzmasken, von kontrollierender Polizei und von leeren Innenstädten. Ernstlich am Virus Erkrankte haben eine andere Wahrnehmung. Direkt Betroffene erleben Angst und andere negative Gefühle. Der ZEIT-Redakteur Oliver Fritsch beschreibt Schuldgefühle im Rückblick auf die konkret erlebten Symptome Fieber und Atemnot: „Am Anfang meiner Corona-Infektion verspürte ich, wie das bei Krankheit oft der Fall ist, Scham. Scham, mich angesteckt, nicht genug aufgepasst zu haben“ (Fritsch 2020). Seine Wahrnehmung beruht auf direkten Erfahrungen mit den Phänomenen Virus und Krankheit. Deshalb ist sie nicht symbolisch, sondern unmittelbar. Sie führt zu konkreten Veränderungen im Denken, Handeln und emotionalen Erleben. Für diese Art der Wahrnehmung interessiert sich die Allgemeine Psychologie. Sie setzt an direkten Erfahrungen an und fragt, welche Veränderungen im Gehirn und im Bewusstsein die Folgen sind. 1.1 Wahrnehmung als Forschungsfeld der Allgemeinen Psychologie Unter Wahrnehmung versteht die Allgemeine Psychologie die Aufnahme und Verarbeitung physikalischer und chemischer Reize in den Sinnesorganen, deren physiologische Weiterleitung in den Nervenbahnen und die daraus resultierenden Eindrücke und Erlebnisse von Menschen und Tieren. Die Mehrzahl der von Mensch und Tier wahrgenommenen Reize hat ihren Ursprung in der Außenwelt und wird durch das psychophysische Wahrnehmungssystem unter Einschluss des Gehirns verarbeitet. Daneben gibt es innerlich wahrgenommene Reize. Sie haben ihren Ursprung im Körperinneren von Menschen und Tieren, wie z. B. Schmerzreize. 14 Spezialisierte Sinnesorgane registrieren die auf einen Organismus treffenden Reize und wandeln sie in elektrische Impulse um. Über aufsteigende Nervenbahnen gelangen die elektrischen Impulse ins Großhirn. Der innere psychophysische Zustand eines Organismus verändert sich. Es entstehen Empfindungen und Gedanken. Die die Informationen empfangenden Zentren im Großhirn leiten wiederum Impulse abwärts zu Muskeln und Organen, sodass es im Gegenzug zu psychomotorischen Reaktionen und Handlungen kommt. Diese können bewusst beabsichtigt erfolgen. Oft sind es jedoch Reflexe. Sinnesorgane Die Sinnesorgane enthalten Sinneszellen, die äußere Reize aufnehmen und transformieren. So wandeln z. B. die Sinneszellen der Netzhaut im Sinnesorgan Auge Lichtreize in elektrische Impulse um. Allen Organismen dient die Wahrnehmung dazu, sich im Alltag zu orientieren und an die jeweilige Lebensumgebung anzupassen. Evolutionsbiologisch erfüllt die Wahrnehmung wichtige Überlebensfunktionen. Organismen nehmen z. B. Gefahren in der Umgebung wahr und reagieren darauf mit Schutzverhalten (Flucht). Auch bei der Nahrungssuche und Fortpflanzung kommt der Wahrnehmung eine entscheidende Rolle zu. Im Kontakt und im Austausch mit anderen ist die soziale Wahrnehmung für Menschen zudem eine wichtige Basis gelingender Kommunikation und Kooperation. Beteiligte Organe Der Körper jedes Lebewesens ist mit spezialisierten Sinnesorganen ausgestattet, die jeweils für die Wahrnehmung und physiologische Transformation unterschiedlicher Sinnesreize zuständig sind. Bei Menschen werden im Allgemeinen fünf Sinneskanäle unterschieden: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Die entsprechenden Sinnesorgane (Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut) nehmen über Rezeptoren physikalische und chemische Reize auf und wandeln sie in elektrische Impulse um, die über die Nervenbahnen zum Gehirn gesendet werden. Mit dessen Reizung entstehen Seh-, Hör-, Riech-, Geschmacks- und Tastempfindungen. Das Auge reagiert auf elektromagnetische Wellen, das Ohr auf Druckwellen. Die Riechzellen in der Nase und die Geschmacksknospen auf der Zunge lösen chemische Substanzen. Unter den inneren Sinnesorganen sind Schmerzrezeptoren in Organen für die Registrierung möglicher Beschädigungen dieser Organe zuständig. Der Gleichgewichtssinn koordiniert die Stellung des Körpers im Raum, der Muskelsinn die Funktionen der Gelenke, Sehnen und Muskeln. Wahrnehmung der biologischen Umwelt Die Wortstämme „wahr“ und „nehmen“ unterstellen, die Wahrnehmung würde Menschen dazu dienen, die unmittelbar wahre und objektive Wahrheit der äußeren Umwelt in sich aufzunehmen. Dies ist jedoch ein psychologischer und epistemologischer Irrtum. Unsere Wahrnehmung ist keine geradlinige bruchlose Fortpflanzung von äußeren Reizen in das Innere des Menschen hinein; Wahrnehmung ist ein psychophysischer Transformationsprozess von persönlichen, subjektiven Empfindungen einerseits und fremden, von Sinnesorganen registrierten physikalischen, chemischen und biologischen Reizen andererseits. Sinneseindrücke resultieren im Bewusstsein aus einer Mischung von äußeren Reizen und inneren biologischen wie psychologischen Regulationen. Im Ergebnis entsteht ein im Bewusstsein repräsentiertes Wahrnehmungsmuster, das sich von den physikalischen, chemischen und biologischen Reizen aus der Umwelt löst. Diese werden so transformiert, dass sie in das Bewusstsein „hineinpassen“. Das kann zu „Verzerrungen“ und „Täuschungen“ naturwissenschaftlich messbarer Außenreize führen. Epistemologisch Die Epistemologie ist die Erkenntnistheorie als Teil der Philosophie. Sie fragt nach der Richtigkeit und dem Zustandekommen von Erkenntnis und Wissen. 15 Optische Täuschungen Mit optischen Täuschungen sind Verzerrungen beim Sehen von Objekten gemeint. Personen nehmen visuelle Reize so wahr, dass ihre visuellen Eindrücke nicht mit den geometrischen, statischen oder farblichen Verhältnissen der Reizvorlage übereinstimmen. Dies hat die Wahrnehmungspsychologie am Studium optischer Täuschungen entdeckt. Ein bekanntes Beispiel ist die Müller-Lyer-Täuschung. Sie wurde von dem deutschen Psychiater und Soziologen Franz Müller-Lyer (1857–1916) entdeckt (Müller-Lyer 1889). Bei ihr werden zwei gleich lange Linien von Menschen als unterschiedlich lang wahrgenommen. Von Einfluss auf die Verzerrung der Linienlänge ist die Begrenzung der Linien durch unterschiedlich ausgerichtete Außenwinkel. Abbildung 1: Müller-Lyer-Täuschung Quelle: Burkhard Vollmers 2022 in Anlehnung an Müller-Lyer 1889, S. 266. Wahrnehmungspsychologisch ist diese Längentäuschung wie folgt zu erklären (Kreiner 2012, S. 2f.): Eine äußere Reizkonfiguration, das Muster der beiden Linien, trifft auf das Auge als Sinnesorgan. Für den subjektiven Eindruck der Ungleichheit sind physiologische und muskuläre Prozesse im Auge mitverantwortlich. Die menschlichen Augen bewegen sich. Der Bereich der Winkel am Rand und das Gebiet der beiden Linien strukturieren das visuelle Gesamtfeld beim Betrachten der Abbildung. Der Rand des visuellen Feldes, die Winkel, wirken als Kontext in die Wahrnehmung der Linien hinein. So entsteht auf den ersten Blick die Ungleichheit der Längen. Die wahrnehmende Person kann ihre Blickrichtung jedoch bewusst steuern und ändern. Aufmerksamkeit und Konzentration haben Einfluss auf Wahrnehmungsprozesse. Konzentriert sich eine Person bei obiger Abbildung auf die beiden waagerechten Linien, mit bewusster Ausblendung der seitlichen Winkel, und geht sie die beiden Linien im Wahrnehmungsfokus gedanklich schrittweise ab, erkennt sie die Längengleichheit. Drei Ebenen der psychophysischen Wahrnehmungsforschung Mit ihrer Wahrnehmung stellen Organismen die Verbindung zur Außenwelt her. Bei der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen sind drei Analyseebenen zu unterscheiden: Die von der Umwelt ausgehenden Reize werden von der Physik (bei Seh-, Hör- und Tastsinn) und der Chemie (bei Geschmacks- und Geruchssinn) analysiert und gemessen. Die Aufnahme der Reize in die Sinneszellen eines menschlichen oder tierischen Organismus und deren Weiterleitung sowie Verarbeitung im Gehirn werden von der Physiologie und der neurowissenschaftlichen Forschung untersucht. Die Psychologie beschäftigt sich primär mit den empfundenen Wahrnehmungserlebnissen. Für ein umfassendes wissenschaftliches Verständnis von Wahrnehmungsprozessen ist die enge Kooperation der Allgemeinen Psychologie mit der Physiologie und den kognitiven Neurowissenschaften erforderlich. 16 Die an der Wahrnehmungsforschung beteiligten Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Physiologie, Hirnforschung) zerlegen ihre Gegenstände in messbare Aspekte. Die Physik unterscheidet z. B. bei Geräuschen als drei verschiedene Skalen die Länge einzelner Druckwellen, deren Frequenz sowie den Lautstärkepegel von Geräuschen, in denen sich mehrere Druckwellen überlagern. Die Psychologie hat es dagegen mit Verhalten als Wahrnehmungsphänomen zu tun. Menschen nehmen prägnante Muster und Konturen von Umgebungsreizen als Ganzes wahr, nicht deren Einzelteile. So unterscheiden Menschen z. B. bei Geräuschen als hervorstechende Grundmuster die Lautstärke (laut vs. leise) und Tonhöhe (hoch vs. tief bzw. hell vs. dunkel). Bei Musik erkennen Menschen Melodien als charakteristische wiederkehrende Tonmuster als ganzheitliche Struktur. Sinneszellen Die Sinneszellen transformieren äußere Reize in innere elektrische Impulse, die von den mit ihnen verbundenen Nervenzellen zum Gehirn geleitet werden. Es gibt in den Sinnesorganen anatomisch und funktionell unterscheidbare Sinneszellen, z. B. Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut im Auge. Anatomische Spezifika der Sinnesorgane Die gleiche Umwelt wird von verschiedenen Lebewesen unterschiedlich wahrgenommen und sinnlich verarbeitet, weil die entsprechenden Sinnesorgane unterschiedlich beschaffen sind. Die Evolution hat z. B. verschiedene Sehorgane hervorgebracht. Funktionsweise und Leistungsvermögen eines Sinnesorgans sind abhängig von dessen Anatomie. Die Augen von Menschen sind anatomisch anders als die von Tieren. Das führt z. B. zu Unterschieden beim Farbensehen. Menschen können die vier Grundfarben Rot, Grün, Blau und Gelb unterscheiden. Affen unterscheiden offenbar nur Grün, Blau und Gelb (Fernandez/ Morris 2007, S. 11). Hunde können wie Menschen und Affen die Farben Blau und Gelb unterscheiden, leiden aber an einer Rot-Grün-Blindheit (Neitz/Geist/Jacobs 1989, S. 120). Während das Farbensehen höherer Säugetierarten dem von Menschen ähnelt, sieht die Farbenwelt von Insekten ganz anders aus. Bienen können im Unterschied zu Säugetieren kurzwelliges ultraviolettes Licht erkennen. Deshalb erscheinen ihnen viele Objekte in einem eigentümlichen Weiß. Für Rot sind sie dagegen unempfindlich (Dustmann 2000, S. 1). Objekte der Umwelt werden gesehen, weil Licht von ihnen reflektiert wird. Licht ist physikalisch elektromagnetische Strahlung verschiedener Wellenlängen. Das für das menschliche Auge sichtbare Spektrum wird meist in einem Bereich von ca. 400 bis ca. 700 Nanometern angegeben (vgl. Birbaumer/Schmidt 2010, S. 384 sowie Grondin 2016, S. 68). Ultraviolette Strahlung hat eine Wellenlänge von unter 380 Nanometern. Honigbienen können diese optisch registrieren. Infrarotstrahlen haben über 780 Nanometer Wellenlänge. Mit entsprechenden Geräten können Menschen sie messen, obwohl sie die Reflexion von Infrarotstrahlen bei Objekten selbst nicht wahrnehmen. Nanometer Ein Nanometer ist ein Millionstel Millimeter. Verzerrungen und Halluzinationen bei Menschen Bei der oben dargestellten Müller-Lyer-Täuschung wird die physikalische Reizvorlage aufgrund der Wechselwirkungen der Teile im visuellen Wahrnehmungsfeld verzerrt wahrgenommen, jedoch nicht vollkommen falsch. Bei allen Personen fällt die Verzerrung ähnlich aus. In Abgrenzung zu Verzerrungen sind Halluzinationen als falsche Wahrnehmungen definiert, die andere überhaupt nicht oder in ganz anderen Formen erleben. Ob es zu Halluzinationen kommt, hängt von der jeweiligen Umweltsituation und den inneren Zuständen der betroffenen Personen ab. Optische Halluzinationen können unter starkem Drogeneinfluss (Alkoholrausch, Herointrip) auftreten. Die Betroffenen sehen nicht vorhandene Personen, Tiere oder Objekte. Psychische Krankheiten aus dem Bereich der Psychosen 17 Halluzinationen Als Halluzinationen werden eingebildete, aber von Personen für real gehaltene Wahrnehmungen ohne äußere Reizgrundlage bezeichnet. Es gibt sie in allen fünf Sinnen. In Psychologie und Psychiatrie werden sie vor allem im optischen und akustischen Sinn erforscht. Reizdeprivation Zu unterscheiden ist zwischen psychischer und sensorischer Deprivation. Sensorische Deprivation ist der von anderen gesteuerte Entzug äußerer Reize und Ablenkungen. Psychische Deprivation ist die von anderen veranlasste Nichterfüllung psychischer Grundbedürfnisse (Hunger, Sicherheit u. a.). führen ebenfalls zu schweren Sinnestäuschungen. Die Betroffenen hören etwa Stimmen von nicht anwesenden Personen, die vermeintlich mit ihnen reden oder Befehle geben (Häfner 2010, S. 10). Aber auch psychisch gesunde Menschen können in extremen Situationen Halluzinationen erleben. Menschen sind existenziell von Außenreizen anhängig. Werden diese in unnatürlicher Weise entzogen und die Möglichkeiten der eigenen geistigen Tätigkeit und Ablenkung für Personen eingeschränkt, liegt eine sensorische Reizdeprivation vor. Ein Beispiel ist die Einzel- bzw. Isolationshaft in Gefängnissen, die allgemeine Menschenrechte verletzt und medizinisch und psychologisch als Folter gilt. Isolationshaft führt zu diversen psychiatrischen Symptomen (Mühlleitner 2013, S. 138f.). In der Allgemeinen Psychologie wurden Deprivationsexperimente nur in Ausnahmefällen und nur kurzzeitig (wenige Stunden) durchgeführt. Dabei werden Versuchspersonen so weit wie möglich von Außenreizen abgeschirmt. Regelmäßig kann dabei beobachtet werden, wie diese Personen zunächst sehr entspannt sind, oft auch einschlafen, aber allmählich in eine gesteigerte Unruhe verfallen. Spätestens nach 2 bis 3 Stunden werden weiße Gebilde, Schlieren förmige Wahrnehmungseindrücke, bemerkt, die an nächtliche Halluzinationen einer gespensterhaften weißen Frau erinnern und oft in konkrete Wahrnehmungen überwechseln (Benesch 1996, S. 91). Beteiligung des Bewusstseins an der Wahrnehmung Das menschliche Bewusstsein nimmt Einfluss auf Empfindungen, die auf der Wahrnehmung äußerer Reize basieren. Es wirkt als sensorischer Filter. Aus dem ständigen Strom der aus der Umwelt eintreffenden Reize werden über Verlagerungen der Aufmerksamkeit wichtige Elemente gefiltert und eingeprägt. Als Filterinstanzen entscheiden das Ultrakurzzeit- und das Kurzzeitgedächtnis darüber, was als bleibende Erinnerung in das Langzeitgedächtnis gelangt. Wenn Personen die gefilterten Sinneseindrücke zu bedeutsamen Informationen verarbeiten und diese dauerhaft im Langzeitgedächtnis speichern, haben sie etwas Neues gelernt. Das menschliche Bewusstsein richtet sich im Fokus entweder auf die äußere Welt oder auf innere Vorgänge. Eine bewusste Konzentration auf innere Vorgänge im Körper steht im Dienste der Gesundheit. Man nimmt den Sättigungsrad des Magens besser wahr, ebenso mögliche Überlastungen des Herzens oder Schmerzen im Rückgrat. Veränderungen des Verhaltens, die auf diesen inneren Wahrnehmungen basieren, führen zu mehr Gesundheit. Psychosomatisch gestörte Patienten leiden häufig an einer eingeschränkten inneren Wahrnehmung. Trainings zur Achtsamkeit schulen die innere Wahrnehmung der Betroffenen (hierzu ausführlich Anderssen-Reuster 2011). Dominanz der Fernsinne Sehen und Hören bei Menschen Lernen vollzieht sich bei Menschen heute zu einem großen Teil über Medien (Texte, Videos, Vorträge). Die beiden Fernsinne Sehen und Hören beeinflussen das Lernen mit Medien, nicht aber die drei Nahsinne Tasten, Riechen und Schmecken. In einigen Situationen erfahren diese allerdings einen deutlichen Bedeutungsgewinn. Beispielsweise sollten Ärzte über einen guten Tastsinn verfügen, besonders, wenn sie als Sportmediziner oder 18 Orthopäden tätig sind und Muskelverletzungen diagnostizieren. Ein ausgefeilter Tastsinn wurde für den langjährigen Mannschaftsarzt der deutschen Fußballnationalmannschaft, Hans-Wilhelm Müller-Wohlfarth, zum zweiten Sehorgan, wie er in seiner Autobiografie schreibt (Müller-Wohlfarth 2018). Ein anderes Beispiel sind Tätigkeiten im Bereich der Lebensmittelproduktion und der Qualitätskontrolle von Ernährungsprodukten. Die Schärfung und Sensibilisierung des Geruchs- und Geschmackssinns sind dafür notwendig und werden in Aus- und Fortbildungen systematisch trainiert (hierzu ausführlich Busch-Stockfisch 2015). Psychologisch und biologisch, also für das Lernen und für das Überleben, haben die fünf Sinne für Menschen unterschiedliche Funktionen. Als Fernsinne dienen das Sehen und Hören im Alltag vor allem der Orientierung. Die Nahsinne Tasten, Riechen und Schmecken haben biologisch vor allem Signalcharakter. Sie dienen dem Schutz vor und der Wahrnehmung von Verletzungen (Tastsinn) und Vergiftungen (Geruch und Geschmack). Im Laufe eines Lebens wandeln sich die psychologischen und biologischen Funktionen der fünf Sinne. Im Unterschied zu Erwachsenen sind für Babys und Kleinkinder Tast- und Geschmackssinn entscheidende Vermittler von Lernerfahrungen. Kleinkinder fassen die Gegenstände in der Umwelt an und nehmen sie in den Mund. Das ist notwendig für ihre geistige Entwicklung. So konstruieren Kinder allmählich abstrakte Schemata über die Dinge. Es entsteht persönliches Wissen über die Elemente der Umwelt und deren Eigenschaften. Bei älteren Kindern reicht der Anblick der Gegenstände, um die inneren abstrakten Konzepte zu aktualisieren. Die Fernsinne haben die Nahsinne als Erkenntnisinstrumente abgelöst. In der Psychologie wurden die Fernsinne am meisten erforscht. Die Allgemeine Psychologie entstand im 19. Jahrhundert im Schnittfeld von Philosophie und Physiologie. Sie sah sich als empirische Bewusstseinsforschung als Teil der Epistemologie. Deshalb ist es folgerichtig, dass in der Wahrnehmungspsychologie vor allem das Sehen und in zweiter Linie das Hören erforscht werden. Die drei Nahsinne werden in der Allgemeinen Psychologie weniger erforscht. Ähnlich ist die quantitative Verteilung bei der Darstellung der verschiedenen Sinne in den Lehrbüchern zur Wahrnehmungspsychologie (Ansorge/Leder 2017; Goldstein 2015). Abhängigkeit der Wahrnehmung von Körperbewegung und Lebensumgebung Die Wahrnehmung ist eingebettet in die Bewegungen eines Organismus. Leben ist Bewegung. Wird die Bewegung eines Organismus künstlich ausgeschaltet, so verändert sich die auf optimale Anpassung an die Umgebung ausgerichtete Wahrnehmung. Die Wahrnehmungsfunktionen lebender Organismen wurden von der Evolution so konstruiert, dass sie zu ihrer biologischen Lebensumgebung passen. Bei Menschen ist das die begehbare Umwelt auf der Erde, nicht die Unterwasserwelt oder die Welt in 10.000 Metern Höhe. In der Flugunfallforschung wurden Sinnestäuschungen von Piloten als Ursache von Unfällen und Abstürzen identifiziert, die ihren Ausgangspunkt in veränderten Bewegungsempfindungen hatten. In einem Flugzeug sind Menschen sitzend hohen Beschleunigungskräften ausgesetzt. Die visuelle Orientierung und das Empfinden des Gleichgewichts funktionieren nicht so wie auf der Erde. In ihren Flugzeugen verlieren Piloten ohne Instrumente schnell die Orientierung darüber, in welche Richtung sie sich bewegen, und ob sie mit ihrem Flugzeug steigen, sinken oder sich auf gleicher Höhe fortbewegen. Die hohe Eigen- 19 bewegung verführt Piloten zu falschen Einschätzungen. Im irdischen Alltag können sich sitzende Bahnfahrer durch Bewegungserlebnisse entstehende Sinnestäuschungen vergegenwärtigen. Steht ihr Zug auf dem Bahnhof und der Zug auf dem Nachbargleis fährt langsam los, scheint es, als würde sich der eigene Zug in Fahrt setzen. Umgekehrt vermuten Piloten in ihren Flugzeugen bei Nacht, dass unbewegte Reize (z. B. das Licht eines Objekts oder eines Sterns) auf sie zukommen. Sie machen dann abrupte Steuerbewegungen, die unter Umständen zum Unfall führen (LeCompte 2008, S. 1). Passagiere in Verkehrsflugzeugen haben ebenfalls veränderte Sinnesempfindungen. Das Essen in einem Verkehrsflugzeug in 10.000 Metern Höhe schmeckt anders als am Boden. Der an der Universität Oxford lehrende britische Experimentalpsychologe Charles Spence hat die Veränderung von Geschmackserlebnissen in verschiedenen Umgebungen erforscht (hierzu ausführlich Spence 2018). Besonders eng ist die Verzahnung mit dem Geruchssinn. Dessen Einfluss führt zu veränderten Geschmackserlebnissen von Speisen im Flugzeug. Spence sagt dazu in einem Interview: Was wir schmecken, ist nur ein kleiner Teil dessen, was unser Geschmackserleben ausmacht. Etwa 75 bis 95 Prozent dessen, was wir zu schmecken meinen, riechen wir eigentlich. Es betrifft die vielen Aromen, die wir mit der Nase wahrnehmen, aber oft als Geschmack beschreiben – etwa die Noten fruchtig, fleischig, zitrusartig, rauchig, erdig. Diese Riechkomponente ist wichtig – und sie wird durch den niedrigen Kabinendruck und die trockene Luft im Flugzeug erschwert (Reinhardt 2018, S. 47). Synästhesie Die Verschmelzung verschiedener Sinne wird als Synästhesie bezeichnet, wenn sie über das normale Maß hinausgeht. Bei allen Menschen ist die enge Verzahnung von Geschmacks- und Geruchssinn vorhanden, nicht aber eine von Sehen und Geschmack oder Sehen und Hören. Einige Menschen empfinden aber starke Koppelungen von nicht zusammen gehörigen Sinnesmodalitäten. Das Hören von Tönen löst bei ihnen z. B. innere Farbempfindungen aus. Synästhesie in nur einem Sinneskanal liegt vor, wenn z. B. die Präsentation von unterschiedlichen Buchstaben oder Ziffern in Schwarz-Weiß verschiedene innere Farbvorstellungen hervorrufen (Cytowic/Eagleman 2009). Soziale Wahrnehmung Die richtige Wahrnehmung und Einschätzung anderer Menschen ist wichtig für die Kommunikation und Kooperation im Alltag. Sie ist zum Teil eine Frage individueller Interpretationen. Diese sind kulturell bestimmt. So werden z. B. herabhängende Mundwinkel in Westeuropa als depressiv, in etlichen asiatischen Ländern dagegen als freundlich, allenfalls als Anstrengung gedeutet. Solche Einschätzungen sind aber psychologische Deutungen. Die äußere Mimik einer Person wird als Anzeichen für deren inneren Zustand gedeutet. Bei der Personenwahrnehmung im Alltag ist das üblich und psychologisch hilfreich. Die Allgemeine Psychologie beschäftigt sich allerdings kaum mit der Wahrnehmung anderer Personen. Wahrnehmung, Kategorisierung und Bewertung von Personen sowie von komplexen sozialen Ereignissen in der Umwelt sind Forschungsthemen in der Sozialpsychologie (Abele/Gendolla 1997). Die Hauptmethode der allgemeinpsychologischen Wahr- 20 nehmungsforschung ist das naturwissenschaftliche Experiment, das in einem medizinisch-psychologischen Labor von einem Versuchsleiter an einer Person durchgeführt wird. Das hat den Vorteil, dass die Experimentatoren die Form und die Stärke der äußeren Reize gezielt steuern können. Der Zusammenhang zwischen äußeren physikalischen, chemischen und biologischen Reizen einerseits sowie psychologischen inneren Empfindungen andererseits stand am Beginn der psychologischen Wahrnehmungsforschung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie trug die Bezeichnung Psychophysik. 1.2 Psychophysik als Beginn der Allgemeinen Psychologie Zwischen der subjektiven psychologischen Seite der Wahrnehmung, der Empfindung als Repräsentation im Bewusstsein, und der objektiven Seite, den physikalisch und chemisch messbaren Reizen, tut sich in der Wahrnehmungsforschung eine analytische Kluft auf. Für beide Seiten existieren unterschiedliche wissenschaftliche Begriffe zur Kennzeichnung der zu erforschenden Phänomene und unterschiedliche Skalen der Messung. Die Psychophysik begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Forschungsrichtung mit der Frage, ob Menschen physikalisch quantitativ unterschiedliche Reize analog in unterschiedlicher Intensität wahrnehmen. Die Psychophysik war die Geburtsstunde der psychologischen experimentellen Forschung. Mit ihr entstand die Allgemeine Psychologie als neue wissenschaftliche Disziplin im Schnittpunkt von Physik, Physiologie und Philosophie. Die menschliche Wahrnehmung wurde erstmalig in einem naturwissenschaftlichen Labor mit mechanischen Apparaten untersucht (Sinatra 2006, S. 98f.). Reizschwellen Wie stark müssen physikalische Reize sein, damit sie überhaupt von Menschen wahrgenommen werden? Das war eine Grundfrage in der Psychophysik. Absolute Reizschwellen der Sinne geben an, ab welcher Stärke äußere Reize von Menschen wahrgenommen werden. Daneben interessiert sich die Psychophysik auch für Unterschiedsschwellen: In welchem Ausmaß müssen die Intensitäten von äußeren Reizen verändert werden, damit sich die Empfindung von Menschen so verändert, dass zwei Empfindungen für zwei Reize eindeutig unterschieden werden? Veränderungen in der Reizstärke nehmen z. B. Einfluss darauf, ob süßer Geschmack als angenehm oder unangenehm und ein akustisches Signal als beruhigend, störend oder sogar als schmerzauslösend empfunden wird. Experimentelle Methoden der Reizschwellenuntersuchung Die Psychophysik beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den quantitativen Zusammenhängen von naturwissenschaftlichen Reizstärken und der Intensität wahrgenommener Empfindungen. Dementsprechend funktionieren ihre quantitativ-experimentellen Methoden. Es sind seit ihren Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts die gleichen vier Grundmethoden: Die Methode der konstanten Reize, die Grenzmethode, die Herstellungsmethode und die Differenzmethode (Spering/Schmidt 2012, S. 14). 21 Methode der konstanten Reize: Es werden vom Versuchsleiter unterschiedlich starke Reize in zufälliger Reihenfolge präsentiert. Die Versuchsperson muss angeben, ob sie den jeweiligen Reiz wahrgenommen hat oder nicht. Grenzmethode: Der Versuchsleiter präsentiert verschieden starke Reize in auf- oder absteigender Reihenfolge. Die Versuchsperson gibt bei ansteigenden Sequenzen an, ab welcher Reizstärke sie einen Reiz erstmals wahrnimmt. Bei absteigender Reihung gibt sie an, ab welcher Stärke der Reiz unterschwellig wird, also nicht mehr wahrgenommen wird. Herstellungsmethode: Sie funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie die Grenzmethode. Die Versuchsperson manipuliert aber die physikalischen Reizstärken selbst, bis sie die Reize wahrnimmt. Differenzmethode: Der Versuchsperson werden zwei Reize in unterschiedlicher Stärke präsentiert. Die quantitative Differenz der beiden Reize wird sukzessive verändert. Die Versuchsperson gibt an, wann zwei verschieden starke Reize von ihr noch als gleich empfunden werden. Auf diese Weise werden psychophysische Unterschiedsschwellen bestimmt. Auswertung von Experimenten der Reizschwellenuntersuchung Die Methoden der Psychophysik führen zu quantitativen Ergebnissen von Versuchsreihen. Im Folgenden geht es um quantitative Ergebnisse von Experimenten mit der Methode der konstanten Reize als Beispiel: In einem Entdeckungsexperiment wurden von einem Versuchsleiter ganz kurz schwache Lichtpunkte auf einen dunklen Hintergrund projiziert. Aufgabe der Versuchspersonen war es, in jedem Durchgang anzugeben, ob ein Lichtpunkt überhaupt gesehen wurde. Die Intensität wurde entsprechend der Methode der konstanten Reize systematisch verändert, wobei die Intensitäten in zufälliger Reihenfolge präsentiert wurden (Spering/Schmidt 2012, S. 15). Absolute Reizschwelle Sie wird auch Absolutschwelle genannt und ist beim Seh- und Hörsinn die minimal notwendige physikalische Energie, um bei Menschen einen schwachen Seh- oder Höreindruck hervorzurufen. 22 In der folgenden Abbildung ist als Ergebnis dieses Projektionsexperiments auf der y-Achse die Wahrscheinlichkeit abgetragen, einen Reiz wahrzunehmen (zu entdecken). Sie ist bei sehr starken Reizen ein bzw. 100 Prozent. Alle intensiven Reize werden entdeckt. Auf der xAchse ist die Reizstärke (Intensität) abgetragen. Die Intensität, bei der Versuchspersonen den Reiz in 50 Prozent der Fälle wahrnehmen, wird als 50-Prozent-Schwelle bezeichnet. Sie gilt per Konvention als allgemeine absolute Reizschwelle. Abbildung 2: Ergebnisse beim Studium absoluter visueller Schwellen mit der Methode der konstanten Reize Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 15. Signalentdeckungstheorie (Signal Detection Theory) Die vier Experimentalmethoden der Psychophysik gehen davon aus, dass die untersuchten Personen unmittelbar, ohne bewusste gedankliche Abwägung, auf die physikalischen Reize reagieren. Tatsächlich findet in Grenzfällen bei subjektiver Unsicherheit aber eine von Kriterien geleitete Entscheidung statt. Im geschilderten Lichtentdeckungsexperiment könnten Versuchspersonen bei schwachen Lichtreizen unsicher sein, ob sie etwas gesehen haben oder nicht. Die Signalentdeckungstheorie wurde in den 1960er-Jahren als neue Messgröße in der Psychophysik entwickelt (Green/Sweets 1966). Sie berücksichtigt das Entscheidungsverhalten von Untersuchungspersonen in psychophysikalischen Experimenten. 23 Die Signalentdeckungstheorie postuliert, dass Untersuchungspersonen ein zusätzliches Kriterium für die Entscheidung benutzen, ob Reize wahrgenommen werden oder nicht. Übersteigt die subjektive Empfindungsstärke ein selbst gesetztes Kriterium, gibt die Untersuchungsperson an, dass ein Reiz von ihr wahrgenommen wurde. Unterschreitet die Empfindungsstärke dagegen das persönliche Kriterium, so entscheidet sich die Versuchsperson dafür, den Reiz als nicht wahrgenommen zu klassifizieren. Die von den Versuchspersonen benutzten Kriterien sind subjektiv und vielfältig. Sie stammen zumeist aus dem äußeren Kontext eines Experiments. Bei dem oben beschriebenen Lichtentdeckungsexperiment haben die kurz projizierten Lichtblitze eine bestimmte Form (z. B. oval oder rechteckig). Diese Form gerät bei schwachen Reizen „ins Schwimmen“. Die Untersuchungspersonen könnten als zusätzliches Kriterium für ihre Wahrnehmungsentscheidung ansetzen, ob sie den Umriss der Form gesehen haben oder nicht. Vier Arten von Entscheidungen sind grundsätzlich möglich. Wird unter Hinzuziehung der Kriterien bei schwachen Reizen oberhalb der physikalischen Reizschwelle richtig entschieden, so liegt eine zutreffende Entscheidung vor. Wird dagegen bei schwachen Reizen unterhalb der physikalischen Reizschwelle entschieden, dass kein Reiz wahrgenommen wurde, so liegt eine korrekte Ablehnung vor. In den beiden gegenläufigen Entscheidungen handelt es sich um Fehler. Tabelle 1: Klassifikation der Antworten bei Reizschwellenexperimenten gemäß der Signalentdeckungstheorie physikalischer Reiz überschwellig physikalischer Reiz unterschwellig Versuchsperson entscheidet: Reiz entdeckt zutreffende Entdeckung Fehler 2. Art: falsche Entdeckung Versuchsperson entscheidet: kein Reiz entdeckt Fehler 1. Art: fälschliche Ablehnung richtige Ablehnung Quelle: Burkhard Vollmers 2022. Fehler 1. und 2. Art Die Fehler 1. und 2. Art bzw. Alpha- und Betafehler sind Kategorien in der Inferenzstatistik und im Qualitätsmanagement. Umgangssprachlich werden sie auch als blinder und unterlassener Alarm bezeichnet. 24 Die Signalentdeckungstheorie hat damit als Messgröße die besondere Sensitivität der Versuchspersonen in die Psychophysik eingeführt. Die Sensitivität basiert auf dem Entscheidungsverhalten. Je häufiger eine Untersuchungsperson richtig entschieden hat, ob ein Reiz präsentiert wurde oder nicht, desto besser ist ihre Sensitivität. Fehler 1. und 2. Art werden von hochsensitiven Personen minimiert. Die Treffsicherheit der Entscheidungen hängt generell von der Trennschärfe der eingesetzten Kriterien ab. In der allgemeinpsychologischen Fachliteratur werden weiche von harten Kriterien unterschieden (Spering/ Schmidt 2012, S. 17). Weiche Kriterien erhöhen die Fehler 1. und 2. Art, harte minimieren sie. Beim Lichtentdeckungsexperiment wäre z. B. ein hartes Kriterium die beschriebene Formerkennung, ein schwaches Kriterium die subjektive Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit. Wer die eigene Leistungsfähigkeit in der Wahrnehmung als unterdurchschnittlich einschätzt, z. B. aufgrund von Krankheit oder Sinnesbehinderung, ist geneigt, nicht gesehene unterschwellige Lichtblitze als objektiv wahrnehmbar und damit auch als wahrgenommen zu klassifizieren. In der allgemeinpsychologischen Fachliteratur werden diverse Entscheidungskriterien für verschiedene psychophysische Experimente und unterschiedliche Sinne (Sehen, Hören, Tasten) beschrieben (MacMillan/Creelman 2004). Erste quantitative Wahrnehmungsgesetze der Psychophysik Die Pioniere der Psychophysik verfolgten ihre Forschungen mit dem Ziel, allgemeine naturwissenschaftliche Gesetze aufzustellen. Am bekanntesten wurden die quantitativen Gesetzesformeln der Psychologen Ernst Weber (1795–1878), Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und Stanley Smith Stevens (1906–1973). Sie finden sich in jedem Lehrbuch zur Wahrnehmungspsychologie (Ansorge/Leder 2017, S. 44f.). Alle drei Gesetze hängen eng miteinander zusammen bzw. bauen aufeinander auf. Das jüngere Gesetz ist eine Differenzierung des älteren, d. h., das von Fechner spezifiziert das von Weber und das von Stevens das von Fechner. Das Gesetz von Weber In abstrakter Form lautet das Webersche Gesetz: „Die Unterschiedsschwelle ΔS zweier Reize ist proportional zur Größe des Vergleichsreizes S1, also ∆ S = k · S1. Dabei ist k die Webersche Konstante, die für jede Reizmodalität unterschiedlich ist“ (Spering/Schmidt 2012, S. 15). Weber untersuchte als erster experimentell Unterschiedsschwellen bei Menschen für die Unterscheidung zweier Reize. Er fand heraus, dass die gleichen Unterschiede zwischen zwei Reizstärken in Abhängigkeit von den Reizstärken unterschiedlich wahrgenommen werden. Im Alltag kann man sich das in einem Selbstexperiment veranschaulichen: Befindet sich in einer Tasse Tee oder Kaffee ein Stück Würfelzucker und wird ein zweites hinzugefügt, so schmeckt jede Person einen deutlichen Unterschied in der Süße des Getränks. Befinden sich dagegen in der gleichen Menge des Getränks zehn Stücke Würfelzucker, so führt das Hinzufügen des elften Stückes zu keinem merklichen Geschmacksunterschied. Die Unterschiedsschwelle, die psychologisch notwendige quantitative Differenz der äußeren Reize für den von Personen subjektiv wahrnehmbaren Geschmacksunterschied, steigt also mit der Reizstärke an. Bei zehn Stücken Würfelzucker müssten deutlich mehr als ein Stück hinzugegeben werden. Weber experimentierte als Naturwissenschaftler vorwiegend mit Temperatur- und Druckunterschieden auf der Haut sowie mit Gewichtsunterschieden beim Hochheben von Gegenständen. Er erforschte also die Unterschiedsschwellen beim Tastsinn (hierzu ausführlich Weber 1864). Wenn man ein hochzuhebendes Gewicht von 1.000 Gramm um zehn Prozent (100 Gramm) steigern muss, um einen subjektiven Gewichtsunterschied zu verspüren, so ist für 2.000 Gramm eine Steigerung um 200 Gramm für den analogen Unterschiedseffekt vonnöten. Der Ausgangsreiz muss in diesem Fall immer um zehn Prozent gesteigert werden, um einen Unterschied zu spüren. In der Formel von Weber entsprechen diese zehn Prozent dem Wert für k. Sie sind also die Konstante für die Reizmodalität Gewicht. Das Gesetz von Fechner Dieses Gesetz lautet allgemein: „Die Empfindungsstärke E ist proportional zum natürlichen Logarithmus der Reizstärke S , also E = c · ln S. Dabei ist c wieder eine für jede Reizmodalität verschiedene Konstante, die sog. Fechner-Konstante“ (Spering/Schmidt 2012, S. 15). 25 Logarithmus Der Logarithmus einer vorher festgelegten Zahl ist der Exponent, mit dem diese Zahl potenziert werden muss, um ein bestimmtes Ergebnis zu erhalten. Das Gesetz von Fechner besagt, dass eine Steigerung der äußeren physikalischen Reize in einer geometrischen Folge zu einer kontinuierlichen Steigerung der Empfindungsstärke führt. Anders ausgedrückt: Die Empfindungsstärke wächst proportional mit dem Logarithmus der dazu passenden physikalischen Reizstärke. Das Gesetz von Fechner stimmt psychologisch mit dem von Weber überein: Je stärker die physikalischen Reize sind, desto mehr müssen sie gesteigert werden, um die psychologischen Empfindungen von Menschen in der Intensität zu steigern, wie das oben angeführte Beispiel vom Würfelzucker eindrücklich belegt. Das Gesetz von Stevens Dessen Definition ist: „Die Empfindungsstärke ist eine Potenzfunktion der Reizstärke S , a also E = b · S. Dabei ist die Konstante b nur zur Skalierung nötig, um die E- und S -Variablen in den gleichen Einheiten ausdrücken zu können; die eigentlich wichtige Größe ist a, die wieder für jede Reizmodalität unterschiedlich ist“ (Spering/Schmidt 2012, S. 15). Das Gesetz von Stevens ist eine Neufassung des Gesetzes von Fechner, da zahlreiche psychophysikalische Experimente dessen Allgemeingültigkeit als zweifelhaft erscheinen ließen (Stevens 1957). Ist in der Formel der Wert der Hochzahl a kleiner als 1, steigt die Empfindungsstärke mit zunehmender Reizstärke immer langsamer an. Liegt der Wert von a dagegen über 1, so steigt die Empfindungsstärke immer schneller an, bei nur geringfügen Reizzunahmen. Ein Wert unter 1 würde für obiges Würfelzuckerbeispiel gelten. Das Hinzufügen des elften Stückes zu zehn vorhandenen hat einen viel kleineren Empfindungseffekt als das Hinzufügen des zweiten Stückes, wenn nur eines im Getränk vorhanden ist. Die Ermittlung des genauen Wertes für a in einer Reizmodalität erfordert sehr aufwändige psychophysikalische Versuchsreihen. Die aktuelle Bedeutung der klassischen Psychophysik Die Gesetze von Weber, Fechner und Stevens sind in die Jahre gekommen. Ihre simplen Methoden zur Bestimmung von Reizschwellen wirken altbacken und überholt. Aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung wurden von ihnen naturgemäß nicht berücksichtigt. Dennoch sind die Forschungsfragen und Forschungsmethoden der klassischen Psychophysik in Medizin und Psychologie nach wie vor aktuell. In veränderter Form und unter Einsatz der modernen Medizin- und Computertechnik werden psychophysische Reiz- und Unterschiedsschwellen bei Sinnesleistungen in der medizinischen und psychologischen Diagnostik in vielen Anwendungsbereichen bestimmt. Typische Einsatzfelder sind die Diagnose von Seh- und Höreinschränkungen bei geriatrischen und neurologischen Patienten sowie sonderpädagogische Fragestellungen zum Förderbedarf von Kindern (Ziehl et al. 2012; Hoth/Steffens 2015). Die moderne medizinische und psychologische Leistungsdiagnostik umfasst Sinnesdiagnostik und damit auch die Psychophysik. 26 1.3 Visuelle Wahrnehmung Objekte der Umwelt werden von Menschen gesehen, weil Licht von der Oberfläche der Objekte absorbiert und reflektiert wird. Das Licht trifft auf das menschliche Auge. Dessen Nervenbahnen verlaufen zum Großhirn. Aufmerksamkeit, Blickrichtung und Gehirn sorgen für visuelle Empfindungen der Helligkeit, Farbe, Kontrast und Kontur von Objekten. Vor dem Hintergrund der psychophysischen Transformation äußerer Lichtreize in subjektive Sehempfindungen können analytisch drei Ebenen bei der Gesamtanalyse der visuellen Wahrnehmung unterschieden werden. Die Physik des Sehens konzentriert sich auf die Funktionen des Lichts. Ihre Fragestellungen verfolgen den Weg des Lichts von der äußeren Reizquelle bis zum Auge als Sinnesorgan. Die Physiologie des Sehens untersucht den gesamten Sinnes- und Nervenapparat, soweit dieser an der visuellen Wahrnehmung beteiligt ist. Auge, Nervenbahn und Großhirn gehören dazu. Die Psychologie beschäftigt sich mit der Entstehung des Wahrnehmungsbildes von Objekten im Bewusstsein. Die Wahrnehmungspsychologie sucht experimentell vor allem nach den psychologischen Grundbedingungen von Seheindrücken (Benesch 1996, S. 91). Um Seheindrücke wissenschaftlich zu verstehen, ist die Integration aller drei Ebenen erforderlich. Physikalische Optik Physikalisch lässt sich Licht zugleich als elektromagnetische Welle und als Materie bzw. Teilchen (Korpuskel, Photon) beschreiben. Die elektromagnetischen Wellen bzw. Photonen breiten sich im Raum aus und treffen auf Objekte, welche die Wellen bzw. Teilchen teilweise absorbieren und teilweise reflektieren. Als Transportmedium im Raum wirkt eine Trägersubstanz, in der Regel Luft oder Wasser. Dass z. B. ein in Wasser getauchter gerader Stab bei der Betrachtung von oben wie an der Wasseroberfläche abgeknickt wahrgenommen wird, hängt mit der unterschiedlichen Durchlässigkeit von Wasser und Luft zusammen. Im Wasser wird die Ausbreitung des Lichts verlangsamt (Benesch 1996, S. 93). Licht breitet sich gradlinig und wellenförmig aus. Wellen haben eine unterschiedliche Länge. Farbeindrücke beim Sehen werden zum einen durch unterschiedliche Wellenlängen hervorgerufen, zum anderen durch die Reflexion und Absorption der für Menschen sichtbaren elektromagnetischen Wellen durch die Objekte der Umgebung. Die vier Grundfarben sind blau, grün, gelb und rot nach dem Klassifikationsraster des Physiologen Ewald Hering (1834–1918). Es wird in der Fachliteratur als Gegenfarbentheorie bezeichnet (Goldstein 2015, S. 209). Sie sind physikalisch durch unterschiedliche Wellenlängen charakterisiert: Blau durch Wellenlängen von 380 bis 480 Nanometern, Rot durch Wellenlängen von 650 bis 750 Nanometern. Elektromagnetische Wellen mit niedrigerer und höherer Länge können vom menschlichen Auge nicht wahrgenommen werden, existieren aber physikalisch und werden dementsprechend gemessen. Deutlich kürzere Wellenlängen als 380 Nanometer haben kosmische Strahlen und Röntgenstrahlen, höhere Wellenlängen als 780 Nanometer haben Radiowellen. Für die unterschiedlichen Farben gesehener Objekte ist die unterschiedliche Reflexion von Lichtwellen verantwortlich. Gegenfarbentheorie Die Gegenfarben sind einerseits rot und grün, andererseits blau und gelb. Ein Beispiel eines markanten Farbobjekts ist ein Stoppschild im Straßenverkehr. Es sieht deshalb rot aus, weil es das rote Licht mit hoher Wellenlänge reflektiert und die Farben der anderen Wellenlängen (blau, grün und gelb) absorbiert. Schwarz und Weiß als Farbeindrücke entstehen ebenfalls durch das Verhältnis von Reflexion und Absorption. Weiße Ober- 27 flächen reflektieren alle Wellenlängen gleichmäßig, schwarze Oberflächen absorbieren alle Wellenlängen gleichmäßig. Weil Licht bei der Absorption in Wärme umgewandelt wird, heizen sich dunkle Oberflächen im Sonnenlicht deutlich stärker auf als helle (Goldstein 2015, S. 200f.). Physikalische Optik und die Psychologie des Sehens Neben der Farbe ist die Helligkeit eine Eigenschaft der Oberflächenwahrnehmung von Objekten. Physikalisch ist sie abhängig von der Intensität der Lichtquelle (z. B. einer Lampe), von der das Licht ausgeht und auf das Objekt trifft. Die von der Lichtquelle ausgehende Lichtintensität wird in der Physik Illuminanz genannt. Ein gebräuchliches physikalisches Maß für die Illuminanz (I) ist Candela pro Quadratmeter (cd/m2). Ein Teil des ein Objekt treffenden Lichts wird bei der Betrachtung des Objekts durch eine Person in Richtung ihres Auges reflektiert. Die physikalische Bezeichnung dafür ist die Reflektanz (R) der Oberfläche. Die verbleibende Lichtmenge, die durch die spezifische Reflektanz von Objekten noch das Auge erreicht, heißt Luminanz (L) der Oberfläche. Illuminanz, Reflektanz und Luminanz hängen physikalisch auf einfache Weise zusammen: Wenn ein Licht von 60 cd/m2 auf eine Fläche mit einer Reflektanz von 0,5 (also 50 Prozent) trifft, führt das zu einer Luminanz der Fläche von 30 cd/m2 (L = I · R). Eine weiße Fläche hat eine Reflektanz von etwa 0,9 (90 Prozent); sie gibt fast alles einfallende Licht wieder ab. Eine schwarze Oberfläche besitzt hingegen eine Reflektanz von etwa 10 Prozent. Der Rest des einfallenden Lichts wird absorbiert und in Wärme umgewandelt (Spering/Schmidt 2012, S. 32). Helligkeitswahrnehmung Sowohl Brightness wie Lightness sind in der Optik am besten als Helligkeit ins Deutsche zu übersetzen. Lightness gibt an, dass es um das reflektierte Licht (Light) geht. Die drei physikalischen Größen Illuminanz, Reflektanz und Luminanz lassen sich auf drei analoge psychologische Größen der Helligkeitswahrnehmung beziehen, die in der experimentellen Wahrnehmungspsychologie gemessen werden. In der Forschung sind dafür englische Bezeichnungen üblich. Es sind die Brightness einer Lichtquelle, die Brightness einer Oberfläche und die Lightness einer Oberfläche. Tabelle 2: Physikalische und psychologische Größen der Helligkeitsmessung und Wahrnehmung von Objekten physikalische Größe psychologische Größe Illuminanz: Leuchtdichte der Lichtquelle Brightness einer Lichtquelle (wahrgenommene Illuminanz) Luminanz: Leuchtdichte des von der Oberfläche eines Objekts ins Auge reflektierten Lichts Brightness einer Oberfläche (wahrgenommene Luminanz) Reflektanz: Prozentsatz des von der Oberfläche reflektierten Lichts Lightness einer Oberfläche (wahrgenommene Reflektanz) Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 33. Die Nähe von physikalischen und psychologischen Begriffen in der psychophysikalischen Helligkeitsforschung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass physikalische und psychologische Kategorien epistemologisch auseinanderfallen. Sie sind nicht ineinander über- 28 führbar. Die Physik zerlegt optische Phänomene der Umwelt und misst deren quantitative Ausprägungen. Die Psychologie hat es dagegen mit einer innerpsychischen, integrativen Organisation der Wahrnehmung zu tun. Bei der Helligkeitsempfindung wirken als zwei markante psychologische Organisationsprinzipien die Konstanz und die Adaptation. Trotz wechselnder Beleuchtungsintensität in der Umgebung kann von Menschen die Lightness einer Oberfläche als konstant empfunden werden. Wenn z. B. von zwei Oberflächen gleicher Luminanz eine im Licht und eine im Schatten liegt, wird die im Schatten liegende von der Person psychologisch als die mit der höheren Reflektanz interpretiert. Für das menschliche Wahrnehmungssystem ist im Gegensatz zur Physik das von der Oberfläche auf das Auge treffende Licht keine absolute Größe (hierzu ausführlich Gilchrist 2006). Adaptation ist das psychologische Wahrnehmungsprinzip, dass sich die Sinneswahrnehmung an die Umwelt anpasst. Wiederholte Reizung der Sinneszellen über einen längeren Zeitraum führt zu einer graduellen Abnahme ihrer Reizantwort. Bei der visuellen Wahrnehmung kann sich trotz gleichbleibender äußerer Beleuchtungsintensität die Helligkeit der wahrgenommenen Objekte durch die Adaptation über die Zeit verändern. Wenn z. B. Menschen aus einem hellen in einen dunklen Raum treten, sehen sie die dortigen Objekte anfangs aufgrund der fehlenden Beleuchtung nicht. Durch die Adaptation gelingt Personen jedoch nach kurzer Zeit die vollständige Wahrnehmung der Objekte. Deren Konturen werden mit der Zeit sichtbar, ohne dass sich die Lichtverhältnisse in dem Raum geändert haben. Adaptation Die Adaption ist eine Grundfunktion der Wahrnehmung in allen fünf Sinnen. Sie bezeichnet physiologisch und psychologisch registrierbare Anpassungen der Sinne an die Umwelt. Mit ihr geht eine Abschwächung der zum Gehirn geleiteten Nervenimpulse einher. Das menschliche Auge Das menschliche Auge ist ein komplizierter optischer Apparat, der dafür sorgt, dass durch den Lichteinfall ein möglichst scharfes Bild der mit der Blickrichtung fixierten Umgebung auf der Netzhaut entsteht. Dort befinden sich spezialisierte Sinnesrezeptoren, die das einfallende Licht in elektrische Impulse umwandeln, die über Nervenbahnen zum Großhirn geleitet werden. Im Verlauf der Evolution hat sich ein Linsenauge bei Menschen entwickelt, das ähnlich wie eine Kamera mit einer Linse über die Brechung von Lichtstrahlen ein Bild auffängt. 29 Abbildung 3: Querschnitt durch das menschliche Auge Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 19. Abbildung eines Objekts auf der Netzhaut (Retina) Das von einem Objekt, etwa eines fixierten Apfels (links), reflektierte Licht trifft auf die Augenöffnung. Es wird durch die Linse gebündelt. Das fixierte Objekt liegt auf der waagerechten Sehachse in der Augenmitte. Es wird rechts an der Stelle des schärfsten Sehens (Fovea) in der Netzhaut (Retina) abgebildet. Die Retina ist die lichtempfindliche Schicht des Auges. Rechts am Ausgang des Sehnervs befindet sich der Blinde Fleck (Papille) (Goldstein 2015, S. 20). Der Weg des Lichts durch das Auge Das Licht gelangt links in das Auge durch die transparente Hornhaut (Cornea). Die Hornhaut schützt das Auge vor mechanischen Erschütterungen. Das Licht dringt dann weiter vor durch die mit Flüssigkeit gefüllte vordere Augenkammer und die Pupille der Regenbogenhaut (Iris). Diese regelt den Lichteinfall und funktioniert wie die Blende einer Kamera. Dann passiert das Licht die Linse und den gallertartigen Glaskörper, der dem Auge die stabile runde Form gibt. Damit auf der Netzhaut (Retina) ein scharfes Bild erzeugt wird, muss die Dicke der Linse je nach Abstand des gesehenen Objektes verstellt werden. Das geschieht durch einen ringförmigen Muskel (Ziliarkörper), der über feine Muskelfasern an den Rändern der Linse zieht (Goldstein 2015, S. 21). Akkommodation des Auges Blende (Iris) und Linse sind verstellbar. Bei starkem Licht wird die Iris eng gestellt, sodass die Pupille klein wird. Bei schwachem Licht öffnet sie sich. Die Linse wird von ihrer Ringmuskulatur an die Entfernung der fixierten Objekte angepasst. Wird ein weiter entferntes 30 Objekt betrachtet, weitet sich die Ringmuskulatur und die Linse flacht sich ab. Dadurch wird ihr Brennpunkt verändert und das betrachtete Objekt wird scharf auf der Netzhaut abgebildet. Bei der Fixierung eines nahen Gegenstandes spannen sich die Ringmuskeln und die Linse wird kugeliger. So werden die Lichtstrahlen stärker gebrochen und das nahe Objekt erscheint scharf. Mit zunehmendem Lebensalter fällt die Akkommodation der Linse immer schwerer, da der Ringmuskel wie andere Muskeln an Elastizität verliert. Die Linse wird beim Betrachten naher Objekte nicht mehr rund genug und bei der Fixierung weiter entfernter Gegenstände nicht mehr flach genug. Diese Altersweitsichtigkeit wird mit einer Brille ausgeglichen, die die Lichtstrahlen vor dem Auge bricht (Goldstein 2015, S. 22f.). Akkommodation Mit Akkommodation ist die dynamische Anpassung der Brechkraft der Linse des Auges gemeint, um nah und fern scharf zu sehen. Ausstattung der Netzhaut mit Sinneszellen Die Netzhaut besteht aus verschiedenen Sinnes- und Nervenzellen, die so miteinander verbunden sind, dass die Umwandlung der eintreffenden Lichtwellen in elektrische Impulse für das Großhirn funktioniert. Die beiden unterschiedlichen Gruppen von Sinneszellen heißen Zapfen und Stäbchen. Sie werden auch als Fotorezeptoren bezeichnet. Über dazwischengeschaltete Bipolarzellen sind sie mit Ganglienzellen verbunden, die den Anfang der zum Gehirn aufsteigenden Nervenbahnen markieren. Ganglienzellen sind Nervenzellen. Sie leiten elektrische Impulse an das Großhirn weiter. Wenn viele Fotorezeptoren mit nur einer Ganglienzelle verbunden sind, hat das eine verstärkende Wirkung. Selbst bei schwachem Lichteinfall kann die Ganglienzelle aktiviert werden, auch wenn die beteiligten Sinneszellen nur schwach aktiv sind. Für ein gutes räumliches Auflösungsvermögen ist es notwendig, dass einzelne Sinneszellen mit einzelnen Ganglienzellen in der Impulsweiterleitung verbunden sind (Goldstein 2015, S. 21). In beiden Augen gibt es eine Stelle, die keine Sinneszellen, also weder Stäbchen noch Zapfen, enthält. Das ist der Blinde Fleck (siehe obige Abbildung). Dort bilden die Nervenfasern (Axiome) der Ganglienzellen den Sehnerv, der das Auge in Richtung Großhirn verlässt. Die an dieser Stelle fehlenden Sinnesinformationen ergänzt das Großhirn. Die Blinden Flecken in beiden Augen werden von der wahrnehmenden Person nicht bemerkt. Außerdem liegen die Blinden Flecken nicht an korrespondierenden Stellen in den beiden Netzhäuten. Die blinde Stelle des einen Auges kann durch Sinnesinformationen aus dem anderen Auge im Gehirn ergänzt werden. Fotorezeptoren Die Fotorezeptoren verdanken ihren Namen dem Begriff des Photons. Elektromagnetische Strahlung ist physikalisch Licht und besteht aus Photonen als den Lichtteilchen bzw. Lichtquanten. Ganglienzellen Als Ganglienzellen wird eine Schicht von Nervenzellen in der Netzhaut bezeichnet, deren Nervenfasern gemeinsam den Sehnerv bilden, der zum Großhirn führt. Eine kleine Übung zum Blinden Fleck Zeichnen Sie auf ein Blatt links ein Pluszeichen (+) und rechts einen Punkt bzw. Kreis (). Betrachten Sie das Blatt im normalen Leseabstand. Schließen Sie das linke Auge (oder decken Sie es mit der Hand ab). Schauen Sie auf das +. Den Punkt sehen Sie weiterhin. Wenn Sie das Blatt langsam näher zu den Augen führen (oder umgekehrt die Augen zum Blatt), verschwindet der Punkt plötzlich. Mit dem linken Auge funktioniert es analog bzw. seitenverkehrt. 31 Spezialisierung von Zapfen und Stäbchen Neuroanatomische Studien zeigen eine unterschiedliche Verteilung und Konzentration von Zapfen und Stäbchen in der Netzhaut. Die Zapfen befinden sich vorwiegend in der Stelle des schärfsten Sehens (Fovea centralis). Außerdem ist dort offenbar jede Zapfenzelle mit genau einer Ganglienzelle verbunden (Tessier-Lavigne 1991, S. 401f.). Da das räumliche Sehen vor allem im Zentrum der Blickrichtung und damit dem Zentrum der Netzhaut gut funktioniert, wird angenommen, dass dafür vor allem die Zapfen zuständig sind. Ebenso wird ihnen der Schwerpunkt des Farbensehens zugesprochen, da es drei verschiedene Typen von Zapfen gibt, die chemisch unterschiedlich auf Licht verschiedener Wellenlängen reagieren. Die K-Zapfen reagieren am besten auf kurzwelliges Licht, während die M- und L-Zapfen vor allem auf mittel- und langwelliges Licht ansprechen. Wenn in Experimenten Versuchspersonen mit konstanter Blickfixierung gleichförmige Objekte in verschiedenen Farben präsentiert werden, dann zeigen neurophysiologische Ableitungen bei verschiedenen Farben charakteristische Mischungen der Erregungsmuster der drei Zapfenarten (Gegenfurtner 2003). Neurophysiologische Studien am Gehirn weisen darauf hin, dass in der Dunkelheit die Stäbchen elektrisch hoch aktiv sind, die Zapfen dagegen kaum. Das belegt einerseits die Bedeutung der Zapfen für das Farbensehen bei Tageslicht und andererseits die Funktion der Stäbchen für Hell-Dunkel-Unterscheidungen (Goldstein 2015, S. 41f.). Der Weg der Lichtreize von der Netzhaut zum Gehirn Die Seh- bzw. Nervenbahnen beider Augen verlaufen zu verschiedenen Teilen des Gehirns. Die Netzhaut wird neuroanatomisch in einen nasalen (linken) und einen temporalen (rechten) Teil gegliedert. Die Nervenfasern der nasalen Retinahälften beider Augen kreuzen sich im Chiasma opticum und verlaufen in die zu den beiden Augen gegenläufigen Hirnhälften. Chiasma opticum ist die anatomische Bezeichnung für den Kreuzungsort der beiden Bahnen. Die Nervenbahnen der temporalen Retinahälften kreuzen sich dagegen nicht. 50 Prozent der Sehnerven verlaufen damit zur gegenüberliegenden Seite im Gehirn, 50 Prozent zur gleichen Seite. Für das zweiseitige Blickfeld des Menschen ist diese Aufteilung der visuellen Informationsverarbeitung in den Nervenbahnen optimal. Die Fasern der nasalen Retinahälfte des einen und der temporalen Hälfte des anderen Auges werden im Corpus geniculatum laterale (CGL) auf Neuronen umgeschaltet, die zum Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) des Großhirns verlaufen. Der CGL liegt im Thalamus. Der für das Sehen zuständige Teil des Okzipitallappens wird als primärer visueller Cortex bezeichnet. Die folgende Abbildung zeigt die Sehbahn von den Augen zum Gehirn. 32 Abbildung 4: Querschnitt durch die Neuroanatomie des visuellen Systems beim Menschen Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 23. Neben dem primären visuellen Cortex, der etwa 15 Prozent der Fläche des Großhirns ausmacht, wurden physiologisch mehr als 30 weitere Gebiete des Großhirns beschrieben, die an der elektrischen Reizweiterleitung beim Sehen mitwirken. Insgesamt sind etwa 60 Prozent der Fläche des Großhirns an der Verarbeitung visueller Sinnesreize beteiligt (Felleman/Essen 1991, S. 4). Vom visuellen Cortex ausgehend verläuft die kortikale Weiterverarbeitung über zwei verschiedene Nervenstränge. Der dorsale Strang verläuft zum Parietallappen (Scheitellappen), der ventrale zum unteren Temporallappen (Schläfenlappen). Zwischen dorsalem und ventralem Strom gibt es Unterschiede in den Zuständigkeiten bei der visuellen Wahrnehmung. Die dorsalen Nervenbahnen sind verantwortlich für die Steuerung visuell geleiteter Körperbewegungen. Sie leiten motorische Reaktionen ein. Der ventrale Strom ist dagegen für visuelle Erkennungsleistungen in der Umwelt verantwortlich (hierzu ausführlich Milner/Goodale 1995). Der Frontallappen des Großhirns ist ebenfalls an der Verarbeitung visueller Reize beteiligt. Sehen ist eine komplexe Integrationsleistung des Gehirns. Die verschachtelte, auf vielfältige Weise verknüpfte Anatomie der optischen Nervenbahnen schafft dafür die Grundlagen. Durch die Kreuzung von 50 Prozent der Sehnerven im Chiasma opticum enthält jede Hirnhälfte den gleichen Anteil visueller Informationen aus beiden Augen. Im primären visuellen Cortex wird die Information aus beiden Augen integriert (Spering/Schmidt 2012, S. 24). 33 Prinzipien der neurophysiologischen Verarbeitung in der visuellen Wahrnehmung Die neurophysiologische Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten einige Grundprinzipien der Informationsverarbeitung in den auf- und absteigenden Nervenbahnen zwischen Augen und Großhirn herausgearbeitet. Wichtig für ein psychologisches Verständnis der menschlichen Wahrnehmung sind die beiden Prinzipien der Konvergenz bzw. Divergenz und der lateralen Hemmung. Konvergenz und Divergenz Als Konvergenz bzw. konvergente Verschachtelung wird die neurophysiologische Tatsache bezeichnet, dass über 100 Millionen Sinneszellen in jeder Retina mit nur etwa einer Million Fasern im zum Gehirn führenden Sehnerv verbunden sind. Damit ist jede Zelle im Cortex für einen größeren Ausschnitt des Sehfeldes verantwortlich. Die eine Million Fasern des Sehnervs interagieren mit Milliarden von Zellen im Großhirn, die sich mit der weiteren Verarbeitung und Integration der verschiedenen visuellen Impulse beschäftigen. Dies wird als Divergenz oder divergente Verarbeitung bezeichnet. Konvergenz und Divergenz erklären die Bedeutung des Großhirns bei der visuellen Verarbeitung. Überspitzt gesagt: Das Wahrnehmungsbild von Objekten entsteht im Gehirn, nicht im Auge. On-Center-Zellen Die On-Center- und OffCenter-Zellen zeigen neurophysiologisch ein spiegelbildliches Verhalten bei der Reizweiterleitung. 34 Die Nervenzellen in der Netzhaut weisen bei Säugetieren eine die elektrische Impulsverarbeitung differenzierende Zentrum-Umfeld-Organisation auf. Der deutsche Neurophysiologe Günther Baumgartner (1924–1991) setzte Katzen Mikroelektroden in den Sehnerv und zeichnete die elektrischen Ströme in den Sinneszellen und Nervenbahnen zum Gehirn auf. Er beschrieb als wichtigstes Ergebnis seiner Experimente, dass die Informationen von mehreren Lichtsinneszellen oft in nur einer Zelle der aufsteigenden Nervenbahnen zusammenlaufen. Die Fülle der Signale in den Sinneszellen der Retina wird schon im Sehnerv verdichtet. Der kreisrunde Einzugsbereich einer Nervenzelle auf der Netzhaut bezeichnete Baumgartner als rezeptives Feld (Baumgartner 1961). Danach durchgeführte neurophysiologische Studien ergaben, dass die Hälfte der von der Netzhaut aufsteigenden Nervenzellen On-Center-Zellen sind. Sie werden elektrophysiologisch erregt, wenn ein Lichtreiz in ihr rezeptives Feld im Zentrum fällt. Sie werden gehemmt, d. h., sie senden keine Impulse an das Gehirn weiter, wenn der Lichtreiz in die Region des Umfeldes fällt. Die restlichen Nervenzellen sind Off-Center-Zellen, die durch Licht im Umfeld erregt werden und durch Licht im Zentrum gehemmt werden. Das Prinzip wechselseitiger Hemmungen in den Nervenbahnen vom Auge zum Gehirn wurden mit neurophysiologischen Experimenten in den 1970er-Jahren an verschiedenen Tierarten vom späteren Nobelpreisträger für Medizin Eric Kandel ausführlich beschrieben (Mason/Kandel 1991, S. 422f.). Tatsächlich ist die Idee einer gegenseitigen Hemmung von benachbarten Zellverbänden in den Nervenbahnen zum Gehirn wissenschaftlich älter. Der Physiker und Philosoph Ernst Mach (1836–1916) äußerte diese Annahme schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Bezug auf die menschliche Sinneswahrnehmung und erklärte so übersteigerte, mit der physikalischen Reizvorlage nicht mehr übereinstimmende Kontrastphänomene in der visuellen Wahrnehmung (Mach 1922, S. 81f.). Laterale Hemmung „Die laterale Hemmung bezeichnet ein allgemeines Verschaltungsprinzip im Gehirn, nachdem sich benachbarte Zellen oder Zellen mit ähnlichen Verarbeitungseigenschaften wechselseitig hemmen“ (Spering/Schmidt 2012, S. 25). Die zuerst von Mach postulierte Hemmung benachbarter Nervenzellen untersuchte dieser an der nach ihm so benannten optischen Täuschung der Mach-Bänder oder Mach-Streifen. Betrachtet man eine Abbildung mit Streifen in verschiedenen Grautönen, so werden bei einem allmählichen Übergang von hell nach dunkel an den Grenzen der Übergangsbereiche an der hellen Seite ein hellerer Streifen und auf der dunklen Seite ein dunklerer Streifen wahrgenommen. Je nach der Helligkeit der angrenzenden Flächen erscheinen die Streifen an den Kanten heller oder dunkler. Abbildung 5: Kontrastphänomen als optische Täuschung in den Mach-Streifen Quelle: Burkhard Vollmers 2022. Mach zufolge werden die Zellen in einem homogenen hellen oder dunklen Feld gleichmäßig von ihren ähnlich aktiven Nachbarn gehemmt. An den Grenzen zwischen helleren und dunkleren Streifen werden die Zellen jedoch nur noch von der Hälfte der Umgebungszellen gehemmt. Deshalb reagieren sie stärker, als es durch die visuelle Reizvorlage gerechtfertigt wäre. Auf der hellen Seite der Kontrastgrenze wird so ein zu heller Wert durch die Nervenzellen signalisiert, auf der dunkleren Seite ein zu dunkler. So entstehen die beiden Linien an den Streifengrenzen. Die Reizvorlage verzerrende Kontrastempfindungen lassen sich mit anderen visuellen Mustern noch deutlicher herstellen. Der Psychologe Ludimar Herrmann (1838–1914) beschrieb das nach ihm so benannte Herrmann-Gitter. In den Kreuzungspunkten der schwarzen Felder erscheinen für Betrachter objektiv nicht vorhandene graue Punkte. 35 Abbildung 6: Herrmann-Gitter als Kontrasttäuschung Quelle: Donner 2017. Als psychophysiologische Erklärung wurde beim Herrmann-Gitter in der Wahrnehmungspsychologie über viele Jahrzehnte ebenfalls eine laterale Hemmung angenommen. Heute wird diese Erklärung zurückgewiesen. Der ungarische Forscher Janos Geier veröffentlichte mit zwei Kollegen eine veränderte Variante des Gitters (Geier/Séra/Bernáth 2004). Werden die weißen Flächen zwischen den schwarzen Quadraten leicht verzerrt, geht beim Betrachten die Kontrasttäuschung deutlich zurück. Abbildung 7: Abwandlung des Herrmann-Gitters mit verminderten Kontrasteffekten Quelle: Donner 2017. Da bei beiden Gittern die gleichen Areale der Nervenbahnen erregt werden, müsste in beiden Fällen das Prinzip der lateralen Hemmung wirken. Als Erklärung für den stärkeren Kontrasteffekt bei der ursprünglichen Variante des Gitters scheidet es damit aus. In der 36 heutigen Neurophysiologie wird als Hauptursache für diesen Kontrasteffekt die Stärke der Reizung einer funktionell ähnlichen Gruppe von Nervenzellen im visuellen Cortex angenommen (Schiller/Carvey 2005, S. 1390f.). Psychologische Prinzipien der visuellen Wahrnehmungsorganisation Menschen ist die visuelle Neurophysiologie der eigenen Sinne als Erlebnis im Bewusstsein selbst nicht zugänglich. Die Reizleitung im Nervensystem erfolgt unbemerkt. Menschen können bei der Betrachtung von Gegenständen bewusst verschiedene Perspektiven im Raum einnehmen und Aufmerksamkeit und Konzentration steuern. Das verschafft verschiedene visuelle Eindrücke des gleichen Gegenstands. Die Wahrnehmungspsychologie sucht nach allgemeinen Organisationsprinzipien visueller Eindrücke. Optische Täuschungen sind hilfreich für das Verständnis psychologischer Organisationsprinzipien. Seit Beginn der psychologischen Wahrnehmungsforschung in der Mitte des 19. Jahrhunderts haben Wissenschaftler optische Täuschungen psychologisch und biologisch analysiert. Psychologisch und biologisch kann die Kontrastillusion im Hermann-Gitter auch als eine milde Form der biologischen Überanpassung gedeutet werden. Der Kontrast ist eine Wahrnehmungsverbesserung. Durch ihn werden besonders die Begrenzungsflächen betont und Konturen erkannt. „Die verschiedenen Formen des Kontrasts (Rand-, Flächen-, Simultan-, Helligkeits-, Farbkontrast) bewirken insgesamt eine Genauigkeitsverbesserung der an sich nicht sehr ausgeprägten Abbildung auf der Retina“ (Benesch 1996, S. 101). Neben dem Kontrastprinzip fungiert das Konstanzprinzip als wichtiges psychologisches Organisationsprinzip visuellen Erkennens. In der visuellen Wahrnehmung gibt es bei Menschen die starke Tendenz, in der Umwelt konstante Objekte zu identifizieren und wiederzuerkennen. Die Wahrnehmung tendiert zur eindeutigen Objekt-Umwelt-Differenzierung, die in der visuellen Wahrnehmungspsychologie auch Figur-Grund-Unterscheidung genannt wird. Als einer der ersten Wahrnehmungspsychologen hat sie der dänische Psychologe Edgar Rubin (1886–1951) systematisch untersucht (hierzu ausführlich Rubin 1921). Von ihm stammt die nach ihm benannte Rubin-Vase, auch Rubin-Pokal genannt. Kontrast Das Kontrastprinzip ist ein allgemeines Wahrnehmungsprinzip in allen fünf Sinnen. Kontrasteffekte sind psychologische Verzerrungen eines wahrgenommenen Objekts, die durch Wirkungen des wahrgenommenen Kontextes, der als Gegensatz oder Gegenpol zum Objekt fungiert, verstärkt werden. 37 Abbildung 8: Rubin-Pokal als Kippfigur Quelle: Burkhard Vollmers 2022 in Anlehnung an Rubin 1921, Anhang, Abb. 3. Bei der Betrachtung schwankt die menschliche Wahrnehmung permanent zwischen zwei Objekten. Entweder wird der Pokal bzw. die Vase in der Bildmitte wahrgenommen, oder links und rechts zwei schwarze Frauenköpfe. Betrachter sehen immer nur eines der beiden Bilder, niemals zugleich Pokal und Frauenköpfe. Visuelle Figuren bzw. Objekte sind Bedeutungseinheiten, die auf Betrachter als Ganzes wirken. Nach welchen wahrnehmungspsychologischen Prinzipien die Figur-Grund-Unterscheidung funktioniert, haben viele Wahrnehmungspsychologen untersucht. Der amerikanische Wahrnehmungspsychologe Harry Helson (1898–1977) hat eine Liste von 114 wahrnehmungspsychologischen Faktoren präsentiert, die bei Menschen zur Unterscheidung von Figur (Kontur) und Grund (Kontext) führen (hierzu ausführlich Helson 1933). In neueren psychologischen Lehrbüchern finden sich mit Bezug auf den deutschen Wahrnehmungspsychologen Wolfgang Metzger (1899–1979) zumeist fünf bis acht psychologische Organisationsprinzipien der Figur-Grund-Unterscheidung (Becker-Carus/Wendt 2017, S. 125f.; Goldstein 2015, S. 100f.). Die folgende Abbildung veranschaulicht fünf davon: 38 Abbildung 9: Visuelle Organisationsprinzipien der Figur-Grund-Unterscheidung Quelle: Benesch 1996, S. 104. Kontur: Figuren aus Flächen sind begrenzt. Sie werden in der Wahrnehmung umrandet, auch wenn die Figur unvollständig oder nur eine Skizze ist, wie z. B. die Katze (C1). Ähnlichkeit: Geometrische Muster werden in der Wahrnehmung nach ähnlichen Bedeutungen gruppiert und zusammengefasst. Obwohl die Figuren in C2 den gleichen waagerechten und senkrechten Abstand haben, werden sie von Betrachtern zu Streifen von Kreisen und Kreuzen zusammengefasst. Kontinuität: In C3 überlagern sich zwei von links nach rechts kontinuierlich verlaufende Figuren. Wie in einer Kippfigur können beide als Vorder- oder Hintergrund gesehen werden. Auf den ersten Blick liegt die Wellenform auf den Säulen. Die wellenförmige Linie könnte aber als Tal im Hintergrund zwischen Berggipfeln wahrgenommen werden. 39 Gruppierung: C4 zeigt oben wahllos gezeichnete Kreise, die von Betrachtern öfter als Gruppe zu einer Drachenform gruppiert werden. Ähnlich werden im unteren Bereich jeweils vier Kreise als ein Quadrat (Gruppe) wahrgenommen. Kohärenz: C5 zeigt drei verschiedene Beispiele der Kohärenz als synthetisches (verdichtendes) Organisationsprinzip der visuellen Wahrnehmung. In a links werden die beiden Figuren als überdeckt wahrgenommen, obwohl das Bild als zwei Figuren mit einem Zwischenraum gedeutet werden könnte (a rechts). In b ist das Motorrad in beiden Fällen gleich groß, wirkt aber unten durch die größere Person kleiner. In c wird das grüne Quadrat auf den ersten Blick als Anker für die aufrechte Ellipse gesehen. Es kann aber auch als Teil der gestrichelten Ellipse gesehen werden und liegt dann am Boden. Vorwissen und Gedächtnis in der visuellen Wahrnehmung Schema Ein Schema ist nach Bartlett ein implizites (vorbewusstes) Muster bzw. Wissen über Elemente in der Umwelt. Es wirkt auf deren Wahrnehmung ordnend ein. Die visuelle Wahrnehmung dient im Alltag der Anpassung der Menschen an ihre Lebensumwelt. Objekte in der Umwelt werden wiedererkannt, weil sie allgemeinen abstrakten gedanklichen Bilden, also den persönlichen Vorstellungen von z. B. Kreisen, Motorrädern und Katzen, entsprechen. Persönliche Vorstellungen von Alltagsobjekten verdichten psychologisch wichtige Kennzeichen von ähnlichen Objekten in der Umwelt. In der Wahrnehmung wirkt dieses subjektive Vorwissen von Alltagsobjekten als Grundlage der sinnlichen Wahrnehmung. Es stammt aus den Erfahrungen eines Menschen mit ähnlichen Gegenständen. Wie solche inneren Bilder unsere Wahrnehmung und Wiedererkennung von Objekten und Personen steuern, hat als erster ausführlich der britische Gedächtnispsychologe Frederic Charles Bartlett (1886–1969) mit dem Begriff des Schemas beschrieben. Visuelle Wahrnehmungspsychologie ist zum Teil auch Gedächtnispsychologie. 1.4 Akustische Wahrnehmung Wie in der visuellen sind auch in der akustischen Wahrnehmungsforschung die physikalische, physiologische und psychologische Ebene analytisch zu unterscheiden. In der akustischen Wahrnehmungsforschung werden sie integriert. Die folgende Darstellung beginnt mit der physikalischen Ebene. Physikalische Akustik und psychologische Empfindungen Die Akustik untersucht den von Objekten und Ereignissen ausgehenden Schall als akustisches Phänomen. Schall ist ein Geräuschphänomen. Geräusche (z. B. Motorengeräusche) entstehen durch mechanischen Druck und Vibrationen. Es kommt zu einer Freisetzung und Umwandlung von Energie. Physikalisch besteht Schall aus Wellen, die von einem Objekt oder Ereignis ausgehen und sich in einem das Objekt bzw. Ereignis umgebenden Trägermedium ausbreiten. Gewöhnlich ist die Luft das Trägermedium des Schalls. Schallwellen machen sich in der Umgebungsluft als messbare Luftdruckänderungen bemerkbar (Goldstein 2015, S. 258). In der Physik werden zwei Hauptmerkmale von Schallwellen unterschieden: die Wellenlänge (Schwingung) und die Wellenauslenkung (Amplitude). Die Schwingung wird als Länge pro Sekunde in der Einheit Hertz gemessen 40 (1 Hertz = 1 Schwingung pro Sekunde). Die Amplitude wird in Längenmaßen (z. B. Zentimeter) angegeben. Eine weitere bedeutsame physikalische Messgröße, insbesondere bei der Ortung von Objekten und Ereignissen, ist die Schallgeschwindigkeit. Diese hängt vom Trägermedium und von der Temperatur ab. Bei warmer Luft von 20 Grad Celsius beträgt sie 343 Meter pro Sekunde, bei null Grad dagegen nur 311 Meter pro Sekunde. In Wasser zwischen 0 und 20 Grad liegt sie bei 1.480 Metern pro Sekunde (Benesch 1996, S. 113). Die physikalisch einfachsten Schallereignisse sind Sinustöne. Es sind Einzeltöne. Misst man außen an einem Lautsprecher, der einen Sinuston erzeugt, den Luftdruck, so entsteht ein periodisches Muster von Luftdruckänderungen als Pendelform. Die in einem Koordinatensystem dargestellte Kurve der gemessenen Luftdruckänderungen ist eine Sinuskurve. Abbildung 10: Sinuskurve einer einfachen Tonschwingung Quelle: Burkhard Vollmers 2022. Schallereignisse des Alltags bestehen aus Überlagerungen verschiedener Schallwellen. Haben Schallwellen ein gemeinsames periodisches Muster, so liegt ein harmonischer Gleichklang vor, der sich mit der musikalischen Harmonielehre beschreiben lässt. Die meisten Schallereignisse folgen jedoch keinem geordneten, in wenige Einzelteile zerlegbaren Wellenmuster. Schallwellen sind wie Lichtwellen bei der Ausbreitung verschiedenen Abweichungen unterworfen. Sie treffen auf Objekte und Räume, die den Schall abschwächen oder verstärken. Deshalb klingen physikalisch identische Schallwellen, die von einem Objekt ausgehen, in einem mit Wänden abgeschlossenen engen Raum anders als in einem großen Saal einer Konzerthalle. Harmonielehre Die Harmonielehre ist die musikalische Beschreibung des Zusammenklingens verschiedener Töne. Lautstärke Die Physik berechnet den Schalldruck als Veränderungen des Luftdrucks. Dieser wird wie der Luftdruck in den Einheiten Pascal oder Bar gemessen. Pascal (N/m2) ist die geläufigste Einheit der Schalldruckmessung in der Physik. Die Lautheit eines Schallereignisses für Menschen hängt vor allem vom Schalldruck des Ereignisses ab, steigt aber nicht gleichför- 41 mig linear, sondern logarithmisch mit diesem an. In Medizin und Psychologie wird deshalb mit Dezibel (dB) als Skala für den Lautheitseindruck gearbeitet. Dezibel messen den Schalldruckpegel nach der Formel dB = 20 · log10 p p0. In dieser Formel ist p der von der Schallwelle ausgelöste physikalische Schalldruck (in N/m2), log10 ist der Logarithmus zur Basis 10, p0 die Konstante 0,00002 N/m2 als Referenzschalldruck. Die Dezibelskala ist eine objektive naturwissenschaftliche Skala. Ihr gelingt der Brückenschlag von der Physik (Schalldruck) zur Psychologie (Lautheitsempfindung). Lautheitserlebnisse im Alltag lassen sich durch Dezibel charakterisieren. Tabelle 3: Schalldruckpegel von Alltagsgeräuschen Schallereignis im Alltag Schalldruckpegel gerade hörbarer Ton (absolute Reizschwelle) 0 dB raschelnde Blätter im Wind 20 dB Geräusche in verkehrsberuhigter Wohnstraße 40 dB Gesprächslautstärke in geschlossenen Räumen 60 dB Verkehrslärm in der Stadt 80 dB U-Bahn bei Einfahrt in Station 100 dB Rockkonzert 120 dB Start eines Düsenflugzeugzeuges neben Hörer 140 dB Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 51. Die Dezibelskala ist eine logarithmische Skala. Die Erhöhung des Schalldruckpegels um 10 dB entspricht der Verdoppelung des subjektiven Lautheitsempfindens von Personen. Subjektive Einschätzungen der Lautheit von Schallereignissen werden in Medizin und Psychologie mit den klassischen Methoden der Psychophysik durchgeführt. Tonhöhe Neben der Lautstärke (leise vs. laut) gibt es für Menschen eine zweite charakteristische Hörempfindung, die Tonhöhe (hoch vs. tief oder hell vs. dunkel). Je höher die Frequenz von physikalisch gemessenen Schallereignissen ist, desto höher ist im Allgemeinen die Tonhöhe. Der für das menschliche Ohr wahrnehmbare Wellenbereich liegt zwischen 20 und 20.000 Hertz. Die folgende Darstellung veranschaulicht schematisch den Zusammenhang zwischen Wellenschwingung (Hertz), Schalldruckpegel (Dezibel) und Lautstärke. Der Lautstärkepegel ist rechts in der physikalischen Maßeinheit Phon abgetragen. Sie gibt an, welchen Schalldruckpegel ein Sinuston mit einer Frequenz von 1.000 Hertz haben müsste, damit dieser Ton genauso laut empfunden wird wie ein betrachtetes Schallereignis. Bei einer Schallfrequenz von 1.000 Hertz stimmen Schalldruckpegel (Dezibel) und Lautstärkepegel (Phon) überein. Die Querlinien deuten die Abhängigkeit von Lautheit und Frequenz 42 in der Tonhöhe an. Von links nach rechts nimmt die Lautstärke zu. Aus dem für Menschen hörbaren Frequenzspektrum werden nur Teile für Gespräche (schraffierter Bereich) und für die Musik (helltürkis umrandeter Bereich) verwendet. Abbildung 11: Quantitative Zusammenhänge von Schalldruckpegel (dB), Lautstärkepegel und Wellenfrequenz (Hz) beim menschlichen Hören Phon Mit Phon ist ein physikalisches Maß für Lautstärke gemeint. Die subjektiv beurteilte Lautheit von Geräuschen oder Tönen wird in der akustischen Wahrnehmungsforschung mit der Einheit Sone gemessen. 40 Phon werden im Allgemeinen mit 1 Sone als Lautheit bewertet. Quelle: Benesch 1996, S. 112. Diese Abbildung ist eine Vereinfachung. Laustärke und Tonhöhe hängen von weiteren Faktoren ab, z. B. von der Distanz eines Hörers zum Schallereignis. Bei Gewitter klingt deshalb das Donnergeräusch für Menschen lauter und heller, wenn es nahe ist. In der Ferne vernehmen Personen ein Gewitter als leises Grollen. Das menschliche Ohr Das menschliche Ohr wandelt Schallwellen (Luftdruckänderungen), die auf das Trommelfell im Innenohr treffen und mechanischen Druck ausüben, in elektrische Impulse um. Diese gelangen über die aufsteigenden Nervenbahnen zum Gehirn. Anatomisch werden Außenohr (Ohrmuschel und Gehörgang), Mittelohr (Trommelfell mit Gehörknöchelchen) und Innenohr (Schnecke) unterschieden. 43 Abbildung 12: Schematischer Querschnitt durch das menschliche Ohr Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 48. Schallschwingungen treffen vom Außenohr (links) auf das Trommelfell. Es wird in Schwingungen versetzt. Durch einen Hebelmechanismus in der mit Luft gefüllten Paukenhöhle des Mittelohres, der aus den Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel besteht, werden die Schwingungen verstärkt. Über das ovale Fenster werden die Schwingungen an die Cochlea im Innenohr übergeben. Die Cochlea ist ein schneckenförmiger Tunnel mit drei Spuren, die durch zwei Membranen (Zellwände) getrennt sind. Die Schwingungen verlaufen über die obere Spur (Scala vestibuli) in die Cochlea. Dort werden die schallempfindlichen Sinneszellen erregt. Die Schwingungen verlaufen weiter über die Spitze der Schnecke wieder in Richtung Mittelohr zurück. Über das runde Fenster verlassen die Schwingungen das Ohr. Das Mittelohr ist über die Eustachsche Röhre mit dem Nasenraum verbunden. Das eigentliche Sinnesorgan ist die Basilarmembran in der Cochlea. Sie enthält feine Haarzellen. Wenn sich die Basilarmembran durch die Schwingungen auf und ab bewegt, bewegen sich die Haarzellen mit. Dabei stoßen sie mit ihren empfindlichen Zellen (Stereocilien) gegen eine weitere Membran, die Tektorialmembran. Die Stereocilien werden verbogen und setzen chemische Prozesse in Gang, die zum Aufbau elektrischer Potenziale an der 44 Außenhaut der Haarzellen führen. Diese werden als elektrische Impulse zum Gehirn geleitet. Das Corti-Organ (in der Abbildung oben rechts) besteht aus Haarzellen, Stereocilien und Tektorialmembran. Die Reizleitung vom Ohr zum Gehirn Die elektrischen Signale aus dem Innenohr gelangen über den Hörnerv in das Gehirn. Der Weg der auditiven Signalleitung zum Großhirn verläuft über verschiedene Schaltstellen in Hirnstamm, Mittelhirn und Thalamus. Ähnlich wie beim visuellen System gibt es im auditiven eine Kreuzung der aufsteigenden Nervenbahnen. Den größten Teil der Informationen aus dem linken Ohr erhält die rechte Hälfte des Großhirns und umgekehrt. Wie beim visuellen System ist jede Gehirnhälfte überwiegend für die auditiven Informationen der gegenüberliegenden Seite des Kopfes zuständig. Physiologische und psychologische Organisationsprinzipien Neurophysiologie und Wahrnehmungspsychologie beschreiben für das auditive System die gleichen physiologischen Verarbeitungsprinzipien und ähnliche psychologische Organisationsprinzipien wie für das Sehen. Konvergenz, Divergenz und laterale Hemmung Verglichen mit dem Sehsinn überwiegt beim Hörsinn die Divergenz gegenüber der Konvergenz bei der Impulsverarbeitung in den Nervenbahnen zum Gehirn. Mit den 3.000 Haarzellen im Innenohr sind etwa 90 Prozent der etwa 40.000 Nervenfasern des Hörnervs verbunden. Im Gehirn werden die Impulse aus 40.000 Nervenfasern von mehreren Milliarden Nervenzellen weiterverarbeitet (Spering/Schmidt 2012, S. 49). Für den primären auditorischen Cortex, der sich auf der oberen Windung des Temporallappens im Großhirn befindet, weisen neurophysiologische Ableitungen in Experimenten an Katzen darauf hin, dass bestimmte Zellen von bestimmten Schallfrequenzen erregt werden und von benachbarten Schallfrequenzen gehemmt werden. Das ist eine Form lateraler Hemmung, die ähnlich wie im visuellen System als Kontrastverstärker im Sinneseindruck gedeutet wird (hierzu ausführlich Rhode/Greenberg 1994). Psychologische Organisationsprinzipien des Hörens Gruppierungen und Konturierungen von auditiven Eindrücken finden bei Menschen nach ähnlichen Gestaltungsprinzipien statt wie bei visuellen Mustern. Es werden auch akustisch Figur und Grund unterschieden. In einem Rockmusikstück sind das z. B. der Klang der Rockgitarre (Figur) und der Klang der begleitenden Instrumente (Grund). Wer die Klänge eines Musikstücks bewusst verfolgt, fasst Tonfolgen nach Ähnlichkeiten zu Einheiten zusammen. Es entstehen Melodien als charakteristische Linien bzw. Konturen in der auditiven Wahrnehmung. Diese bleiben den Rezipienten oft gedanklich als Schema präsent und werden beim erneuten Hören von Musikstücken von den Personen wiedererkannt (Bregman 1990). 45 Psychologische Funktionen des Hörens im Alltag Schallschatten Ein Schallschatten entsteht, wenn sich auf dem direkten Weg des Schalls von der Quelle zum Ohr Hindernisse befinden. Der Kopf ist also ein Schallschatten für ein Ohr, wenn sich die Schallquelle aufseiten des anderen Ohres befindet. Im Alltag dient das Hören Menschen der Schallortung und damit zur Orientierung im Raum und zur Vermeidung von Gefahren (z. B. Unfällen im Straßenverkehr). Bedeutsam ist das beidseitige Hören bei der Schallortung. Diese beruht auf der kurzzeitigen Wahrnehmung von Laufzeit- und Intensitätsunterschieden. Befindet sich eine Schallquelle links von einer Person, dann erreicht der Schall das linke Ohr wenige Millionstel Sekunden früher als das rechte. Außerdem wirft der Kopf einen Schallschatten. Bei einer links von der Person befindlichen Schallquelle bekommt das rechte Ohr weniger Schall ab. Das betrifft vor allem hohe Frequenzen. Niederfrequente Schallwellen werden vom menschlichen Körper dagegen kaum gedämpft. Die wahrgenommenen Laufzeit- und Intensitätsunterschiede des Schalls in Abhängigkeit vom Ort der Schallquelle und der Stellung des menschlichen Körpers im Raum sind sehr gering. Dennoch haben sie einen Einfluss auf die Leistungen von Menschen mit Schallortungen. Personen, die auf einem Ohr taub sind, schneiden im Allgemeinen schlechter ab bei Ortungsexperimenten. Dem Gehirn stehen weniger Informationsmöglichkeiten bei Taubheit auf einem Ohr zur Verfügung (McAlpine/ Jiang/Palmer 2001). Zudem wird die Ortung einer Schallquelle präziser, wenn die Schallquelle selbst oder die sie Hörenden sich bewegen. Bewegungen verstärken die Wahrnehmung von Laufzeit- und Intensitätsdifferenzen. Geräusche und Klänge haben für die psychische Gesundheit im menschlichen Leben wichtige Funktionen. Sie gehen über die akustische Wahrnehmung, die die Allgemeine Psychologie erforscht, hinaus. Besucher von klassischen Konzerten erleben z. B. audiovisuelle Assoziationen als innere Bilder, die durch Klänge hervorgerufen werden. Sie wirken beruhigend und entspannend. Besucher von Rockkonzerten erleben häufig emotionale Aufwallungen, die als ekstatisches Ausagieren abreagiert werden. Musik als komplexes harmonisches Klangmuster spricht Menschen emotional an und berührt sie als Ganzes. Musikpsychologie und Musiktherapie möchten die gesunde Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung von Menschen fördern (Kraus 2002, S. 13f.). 1.5 Die Nahsinne: Tasten, Geschmack und Geruch Die drei Nahsinne werden von der Forschung in der Allgemeinen Psychologie stiefmütterlich behandelt. Die Nahsinne wurden früher in Physiologie und Psychologie als niedere Sinne bezeichnet, durchaus ein Zeichen ihrer Geringschätzung (Benesch 1996, S. 117). Im Folgenden wird kurz in psychologische und physiologische Aspekte von Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn eingeführt. Taktile Sinne Der Tastsinn umfasst drei Sinnesempfindungen: Druck, Temperatur und Schmerz. In der Fachliteratur sind auch die Bezeichnungen taktile Sinne, Hautsinne und Oberflächensinne üblich (Goldstein 2015, S. 331). Das primäre Sinnesorgan des Tastsinns ist die Haut. Physiologische Experimente mit aufgesetzten Reizen zeigen eine topologische Differenzierung 46 von Oberhautregionen des menschlichen Körpers in Bezug auf vier verschiedene Sinneseindrücke: Es gibt Druckpunkte, Schmerzpunkte, Wärmepunkte und Kältepunkte. Diese auf taktile Reize spezialisierten vier verschiedenen Hautpunkte sind auf der Körperfläche unterschiedlich dicht verteilt. Darauf weisen Ergebnisse aus psychophysikalischen Experimenten zur Bestimmung von Unterschiedsschwellen hin: Um zwei Spitzen auf der Haut (z. B. die Enden zweier feiner Nadelspitzen) als zwei Reize (und nicht als einen) zu identifizieren, sind in verschiedenen Hautregionen die folgenden Mindestabstände vonnöten: Fingerkuppe 2,3 mm, Handfläche 11,3 mm, Fußsohle 16,0 mm, Handrücken 31,6 mm, Nacken 54,0 mm, Rücken 67, 1 mm (Benesch 1996, S. 119). In der Hautoberfläche liegen anatomisch unterscheidbare Gruppen von Sinneszellen, deren eigentümliche Namen auf ihre wissenschaftlichen Entdecker zurückgehen. Die Zuordnung der Sinneszellengruppen als taktile Rezeptoren zu den vier psychologischen Empfindungen Druck, Schmerz, Wärme und Kälte ist allerdings nicht eindeutig. An der sensorischen Verarbeitung der äußeren Reize und der Weiterleitung daraus resultierender Impulse zum Gehirn sind zumeist mehrere Sinneszellgruppen zugleich beteiligt. Fünf Gruppen von Sinneszellen in der Haut werden in Lehrbüchern unterschieden (Goldstein 2015, S. 332f.): 1. Pacini-Körperchen: Diese haben verglichen mit den anderen vier Gruppen große rezeptive Felder und reagieren vor allem auf Vibrationen. 2. Meissner-Körperchen: Diese haben kleine rezeptive Felder und reagieren besonders auf eng lokalisierte Tastreize (z. B. feine Nadelspitzen). Sie schwächen sich in der Reizung schnell ab, d. h., sie adaptieren an die Außenreize. 3. Merkel-Scheiben: Sie haben ebenfalls kleine rezeptive Felder. Sie adaptieren deutlich langsamer als die Meissner-Körperchen. Nach Aufsetzen eines Druckreizes auf der Haut bleibt die Empfindung erhalten. 4. Ruffini-Endungen: Diese haben große rezeptive Felder und signalisieren Verzerrungen und Streckungen in der Haut. 5. Freie Nervenendigungen: Sie sind vor allem für Temperatur und Schmerzempfindungen zuständig. Schmerzrezeptoren können auf verschiedene Reize spezialisiert sein, etwa auf körpereigene chemische Botenstoffe, die bei Hautverletzungen ausgeschüttet werden, oder auf Hitze und Verbrennungen. Schmerzinformationen werden aufsteigend über das Rückenmark, das Mittelhirn und den Thalamus zum Großhirn geleitet. Im Frontallappen liegt die wichtigste Region des Großhirns für Schmerzempfindungen, die Inselrinde. Sie wird auch als Insula oder Inselcortex bezeichnet. Die Empfindung und emotionale Bewertung von Schmerz ist mit dieser Hirnregion verknüpft. Sie ist außerdem eng verbunden mit motorischen Hirnzentren (Goldstein 2015, S. 349f.). Für das emotionale Wohlbefinden und eine gesunde psychische Entwicklung wird angenehmen körperlichen Berührungen (Streicheln, Liebkosen) durch nahe Bezugspersonen in Psychologie und Humanwissenschaften, die sich mit menschlichen Beziehungen befassen, eine hohe Bedeutung zugeschrieben (hierzu ausführlich Berenike-Schmidt/Schetsche 2012). Die Allgemeine Psychologie widmet sich allerdings nicht di

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