Allgemeine Wahrnehmung PDF
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This document provides an introduction to perception, focusing on how humans perceive the environment and how it is processed in the brain. It dives deeper into the distinct types of perception and factors influencing the experience. The text also touches on the role of scientific disciplines like physics and physiology in understanding perception. Lastly, optical illusions are examined and explained by the document.
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1. WAHRNEHMUNG Einführung Wahrnehmung ist für Menschen zuallererst Wahrnehmung der Umwelt. Personen, Objekte und Ereignisse der Umwelt werden von Menschen wahrgenommen. Was genau Menschen wahrnehmen, hängt von ihnen selbst ab, von ihren Fähigkeiten, ihren Vorerfahrungen und...
1. WAHRNEHMUNG Einführung Wahrnehmung ist für Menschen zuallererst Wahrnehmung der Umwelt. Personen, Objekte und Ereignisse der Umwelt werden von Menschen wahrgenommen. Was genau Menschen wahrnehmen, hängt von ihnen selbst ab, von ihren Fähigkeiten, ihren Vorerfahrungen und ihren gesellschaftlichen Aufgaben und Positionen. „Man muss bedenken, dass die Mehr- heit der Bevölkerung heute Wirklichkeit außerhalb eines engen persönlichen Rahmens als symbolische wahrnimmt“ (Fischer 2020). Das schreibt der bekannte Rechtswissenschaft- ler Prof. Thomas Fischer im April 2020 in einer Kolumne, die sich mit der Wahrnehmung der Corona-Pandemie in der deutschen Bevölkerung auseinandersetzt. Zum Glück sind die meisten Menschen in Deutschland nicht ernstlich an dem Virus erkrankt. Sie sind mit- telbar betroffen durch die sozialen Auswirkungen der politischen Maßnahmen zur Ein- dämmung des Virus. Ihre Wahrnehmung des Virus ist indirekt und symbolisch. Sie nehmen das wahr, was medial verbreitet wird. Mediale Symbole des Virus sind Bilder von Schutz- masken, von kontrollierender Polizei und von leeren Innenstädten. Ernstlich am Virus Erkrankte haben eine andere Wahrnehmung. Direkt Betroffene erleben Angst und andere negative Gefühle. Der ZEIT-Redakteur Oliver Fritsch beschreibt Schuld- gefühle im Rückblick auf die konkret erlebten Symptome Fieber und Atemnot: „Am Anfang meiner Corona-Infektion verspürte ich, wie das bei Krankheit oft der Fall ist, Scham. Scham, mich angesteckt, nicht genug aufgepasst zu haben“ (Fritsch 2020). Seine Wahrneh- mung beruht auf direkten Erfahrungen mit den Phänomenen Virus und Krankheit. Deshalb ist sie nicht symbolisch, sondern unmittelbar. Sie führt zu konkreten Veränderungen im Denken, Handeln und emotionalen Erleben. Für diese Art der Wahrnehmung interessiert sich die Allgemeine Psychologie. Sie setzt an direkten Erfahrungen an und fragt, welche Veränderungen im Gehirn und im Bewusstsein die Folgen sind. 1.1 Wahrnehmung als Forschungsfeld der Allgemeinen Psychologie Unter Wahrnehmung versteht die Allgemeine Psychologie die Aufnahme und Verarbeitung physikalischer und chemischer Reize in den Sinnesorganen, deren physiologische Weiter- leitung in den Nervenbahnen und die daraus resultierenden Eindrücke und Erlebnisse von Menschen und Tieren. Die Mehrzahl der von Mensch und Tier wahrgenommenen Reize hat ihren Ursprung in der Außenwelt und wird durch das psychophysische Wahrnehmungs- system unter Einschluss des Gehirns verarbeitet. Daneben gibt es innerlich wahrgenom- mene Reize. Sie haben ihren Ursprung im Körperinneren von Menschen und Tieren, wie z. B. Schmerzreize. 14 Spezialisierte Sinnesorgane registrieren die auf einen Organismus treffenden Reize und Sinnesorgane wandeln sie in elektrische Impulse um. Über aufsteigende Nervenbahnen gelangen die Die Sinnesorgane enthal- ten Sinneszellen, die elektrischen Impulse ins Großhirn. Der innere psychophysische Zustand eines Organismus äußere Reize aufnehmen verändert sich. Es entstehen Empfindungen und Gedanken. Die die Informationen emp- und transformieren. So fangenden Zentren im Großhirn leiten wiederum Impulse abwärts zu Muskeln und Orga- wandeln z. B. die Sinnes- zellen der Netzhaut im nen, sodass es im Gegenzug zu psychomotorischen Reaktionen und Handlungen kommt. Sinnesorgan Auge Licht- Diese können bewusst beabsichtigt erfolgen. Oft sind es jedoch Reflexe. reize in elektrische Impulse um. Allen Organismen dient die Wahrnehmung dazu, sich im Alltag zu orientieren und an die jeweilige Lebensumgebung anzupassen. Evolutionsbiologisch erfüllt die Wahrnehmung wichtige Überlebensfunktionen. Organismen nehmen z. B. Gefahren in der Umgebung wahr und reagieren darauf mit Schutzverhalten (Flucht). Auch bei der Nahrungssuche und Fortpflanzung kommt der Wahrnehmung eine entscheidende Rolle zu. Im Kontakt und im Austausch mit anderen ist die soziale Wahrnehmung für Menschen zudem eine wichtige Basis gelingender Kommunikation und Kooperation. Beteiligte Organe Der Körper jedes Lebewesens ist mit spezialisierten Sinnesorganen ausgestattet, die jeweils für die Wahrnehmung und physiologische Transformation unterschiedlicher Sin- nesreize zuständig sind. Bei Menschen werden im Allgemeinen fünf Sinneskanäle unter- schieden: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Die entsprechenden Sinnesor- gane (Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut) nehmen über Rezeptoren physikalische und chemische Reize auf und wandeln sie in elektrische Impulse um, die über die Nervenbah- nen zum Gehirn gesendet werden. Mit dessen Reizung entstehen Seh-, Hör-, Riech-, Geschmacks- und Tastempfindungen. Das Auge reagiert auf elektromagnetische Wellen, das Ohr auf Druckwellen. Die Riechzellen in der Nase und die Geschmacksknospen auf der Zunge lösen chemische Substanzen. Unter den inneren Sinnesorganen sind Schmerzre- zeptoren in Organen für die Registrierung möglicher Beschädigungen dieser Organe zuständig. Der Gleichgewichtssinn koordiniert die Stellung des Körpers im Raum, der Mus- kelsinn die Funktionen der Gelenke, Sehnen und Muskeln. Wahrnehmung der biologischen Umwelt Die Wortstämme „wahr“ und „nehmen“ unterstellen, die Wahrnehmung würde Menschen dazu dienen, die unmittelbar wahre und objektive Wahrheit der äußeren Umwelt in sich aufzunehmen. Dies ist jedoch ein psychologischer und epistemologischer Irrtum. Unsere Epistemologisch Wahrnehmung ist keine geradlinige bruchlose Fortpflanzung von äußeren Reizen in das Die Epistemologie ist die Erkenntnistheorie als Teil Innere des Menschen hinein; Wahrnehmung ist ein psychophysischer Transformationspro- der Philosophie. Sie fragt zess von persönlichen, subjektiven Empfindungen einerseits und fremden, von Sinnesor- nach der Richtigkeit und ganen registrierten physikalischen, chemischen und biologischen Reizen andererseits. dem Zustandekommen von Erkenntnis und Wis- Sinneseindrücke resultieren im Bewusstsein aus einer Mischung von äußeren Reizen und sen. inneren biologischen wie psychologischen Regulationen. Im Ergebnis entsteht ein im Bewusstsein repräsentiertes Wahrnehmungsmuster, das sich von den physikalischen, che- mischen und biologischen Reizen aus der Umwelt löst. Diese werden so transformiert, dass sie in das Bewusstsein „hineinpassen“. Das kann zu „Verzerrungen“ und „Täuschun- gen“ naturwissenschaftlich messbarer Außenreize führen. 15 Optische Täuschungen Dies hat die Wahrnehmungspsychologie am Studium optischer Täuschungen entdeckt. Mit optischen Täuschun- Ein bekanntes Beispiel ist die Müller-Lyer-Täuschung. Sie wurde von dem deutschen Psy- gen sind Verzerrungen beim Sehen von Objekten chiater und Soziologen Franz Müller-Lyer (1857–1916) entdeckt (Müller-Lyer 1889). Bei ihr gemeint. Personen neh- werden zwei gleich lange Linien von Menschen als unterschiedlich lang wahrgenommen. men visuelle Reize so Von Einfluss auf die Verzerrung der Linienlänge ist die Begrenzung der Linien durch unter- wahr, dass ihre visuellen Eindrücke nicht mit den schiedlich ausgerichtete Außenwinkel. geometrischen, stati- schen oder farblichen Ver- hältnissen der Reizvor- Abbildung 1: Müller-Lyer-Täuschung lage übereinstimmen. Quelle: Burkhard Vollmers 2022 in Anlehnung an Müller-Lyer 1889, S. 266. Wahrnehmungspsychologisch ist diese Längentäuschung wie folgt zu erklären (Kreiner 2012, S. 2f.): Eine äußere Reizkonfiguration, das Muster der beiden Linien, trifft auf das Auge als Sinnesorgan. Für den subjektiven Eindruck der Ungleichheit sind physiologische und muskuläre Prozesse im Auge mitverantwortlich. Die menschlichen Augen bewegen sich. Der Bereich der Winkel am Rand und das Gebiet der beiden Linien strukturieren das visuelle Gesamtfeld beim Betrachten der Abbildung. Der Rand des visuellen Feldes, die Winkel, wirken als Kontext in die Wahrnehmung der Linien hinein. So entsteht auf den ers- ten Blick die Ungleichheit der Längen. Die wahrnehmende Person kann ihre Blickrichtung jedoch bewusst steuern und ändern. Aufmerksamkeit und Konzentration haben Einfluss auf Wahrnehmungsprozesse. Konzentriert sich eine Person bei obiger Abbildung auf die beiden waagerechten Linien, mit bewusster Ausblendung der seitlichen Winkel, und geht sie die beiden Linien im Wahrnehmungsfokus gedanklich schrittweise ab, erkennt sie die Längengleichheit. Drei Ebenen der psychophysischen Wahrnehmungsforschung Mit ihrer Wahrnehmung stellen Organismen die Verbindung zur Außenwelt her. Bei der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen sind drei Analyseebenen zu unterscheiden: Die von der Umwelt ausgehenden Reize werden von der Physik (bei Seh-, Hör- und Tastsinn) und der Chemie (bei Geschmacks- und Geruchssinn) analysiert und gemessen. Die Auf- nahme der Reize in die Sinneszellen eines menschlichen oder tierischen Organismus und deren Weiterleitung sowie Verarbeitung im Gehirn werden von der Physiologie und der neurowissenschaftlichen Forschung untersucht. Die Psychologie beschäftigt sich primär mit den empfundenen Wahrnehmungserlebnissen. Für ein umfassendes wissenschaftli- ches Verständnis von Wahrnehmungsprozessen ist die enge Kooperation der Allgemeinen Psychologie mit der Physiologie und den kognitiven Neurowissenschaften erforderlich. 16 Die an der Wahrnehmungsforschung beteiligten Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Sinneszellen Physiologie, Hirnforschung) zerlegen ihre Gegenstände in messbare Aspekte. Die Physik Die Sinneszellen transfor- mieren äußere Reize in unterscheidet z. B. bei Geräuschen als drei verschiedene Skalen die Länge einzelner innere elektrische Druckwellen, deren Frequenz sowie den Lautstärkepegel von Geräuschen, in denen sich Impulse, die von den mit mehrere Druckwellen überlagern. Die Psychologie hat es dagegen mit Verhalten als Wahr- ihnen verbundenen Ner- venzellen zum Gehirn nehmungsphänomen zu tun. Menschen nehmen prägnante Muster und Konturen von geleitet werden. Es gibt in Umgebungsreizen als Ganzes wahr, nicht deren Einzelteile. So unterscheiden Menschen z. den Sinnesorganen ana- tomisch und funktionell B. bei Geräuschen als hervorstechende Grundmuster die Lautstärke (laut vs. leise) und unterscheidbare Sinnes- Tonhöhe (hoch vs. tief bzw. hell vs. dunkel). Bei Musik erkennen Menschen Melodien als zellen, z. B. Stäbchen und charakteristische wiederkehrende Tonmuster als ganzheitliche Struktur. Zapfen in der Netzhaut im Auge. Anatomische Spezifika der Sinnesorgane Die gleiche Umwelt wird von verschiedenen Lebewesen unterschiedlich wahrgenommen und sinnlich verarbeitet, weil die entsprechenden Sinnesorgane unterschiedlich beschaf- fen sind. Die Evolution hat z. B. verschiedene Sehorgane hervorgebracht. Funktionsweise und Leistungsvermögen eines Sinnesorgans sind abhängig von dessen Anatomie. Die Augen von Menschen sind anatomisch anders als die von Tieren. Das führt z. B. zu Unter- schieden beim Farbensehen. Menschen können die vier Grundfarben Rot, Grün, Blau und Gelb unterscheiden. Affen unterscheiden offenbar nur Grün, Blau und Gelb (Fernandez/ Morris 2007, S. 11). Hunde können wie Menschen und Affen die Farben Blau und Gelb unterscheiden, leiden aber an einer Rot-Grün-Blindheit (Neitz/Geist/Jacobs 1989, S. 120). Während das Farbensehen höherer Säugetierarten dem von Menschen ähnelt, sieht die Farbenwelt von Insekten ganz anders aus. Bienen können im Unterschied zu Säugetieren kurzwelliges ultraviolettes Licht erkennen. Deshalb erscheinen ihnen viele Objekte in einem eigentümlichen Weiß. Für Rot sind sie dagegen unempfindlich (Dustmann 2000, S. 1). Objekte der Umwelt werden gesehen, weil Licht von ihnen reflektiert wird. Licht ist physi- kalisch elektromagnetische Strahlung verschiedener Wellenlängen. Das für das menschli- che Auge sichtbare Spektrum wird meist in einem Bereich von ca. 400 bis ca. 700 Nanome- tern angegeben (vgl. Birbaumer/Schmidt 2010, S. 384 sowie Grondin 2016, S. 68). Nanometer Ultraviolette Strahlung hat eine Wellenlänge von unter 380 Nanometern. Honigbienen Ein Nanometer ist ein Mil- lionstel Millimeter. können diese optisch registrieren. Infrarotstrahlen haben über 780 Nanometer Wellen- länge. Mit entsprechenden Geräten können Menschen sie messen, obwohl sie die Refle- xion von Infrarotstrahlen bei Objekten selbst nicht wahrnehmen. Verzerrungen und Halluzinationen bei Menschen Bei der oben dargestellten Müller-Lyer-Täuschung wird die physikalische Reizvorlage auf- grund der Wechselwirkungen der Teile im visuellen Wahrnehmungsfeld verzerrt wahrge- nommen, jedoch nicht vollkommen falsch. Bei allen Personen fällt die Verzerrung ähnlich aus. In Abgrenzung zu Verzerrungen sind Halluzinationen als falsche Wahrnehmungen definiert, die andere überhaupt nicht oder in ganz anderen Formen erleben. Ob es zu Hal- luzinationen kommt, hängt von der jeweiligen Umweltsituation und den inneren Zustän- den der betroffenen Personen ab. Optische Halluzinationen können unter starkem Droge- neinfluss (Alkoholrausch, Herointrip) auftreten. Die Betroffenen sehen nicht vorhandene Personen, Tiere oder Objekte. Psychische Krankheiten aus dem Bereich der Psychosen 17 Halluzinationen führen ebenfalls zu schweren Sinnestäuschungen. Die Betroffenen hören etwa Stimmen Als Halluzinationen wer- von nicht anwesenden Personen, die vermeintlich mit ihnen reden oder Befehle geben den eingebildete, aber von Personen für real (Häfner 2010, S. 10). gehaltene Wahrnehmun- gen ohne äußere Reiz- Aber auch psychisch gesunde Menschen können in extremen Situationen Halluzinationen grundlage bezeichnet. Es gibt sie in allen fünf Sin- erleben. Menschen sind existenziell von Außenreizen anhängig. Werden diese in unnatürli- nen. In Psychologie und cher Weise entzogen und die Möglichkeiten der eigenen geistigen Tätigkeit und Ablenkung Psychiatrie werden sie vor für Personen eingeschränkt, liegt eine sensorische Reizdeprivation vor. Ein Beispiel ist die allem im optischen und akustischen Sinn Einzel- bzw. Isolationshaft in Gefängnissen, die allgemeine Menschenrechte verletzt und erforscht. medizinisch und psychologisch als Folter gilt. Isolationshaft führt zu diversen psychiatri- Reizdeprivation schen Symptomen (Mühlleitner 2013, S. 138f.). In der Allgemeinen Psychologie wurden Zu unterscheiden ist zwi- schen psychischer und Deprivationsexperimente nur in Ausnahmefällen und nur kurzzeitig (wenige Stunden) sensorischer Deprivation. durchgeführt. Dabei Sensorische Deprivation ist der von anderen gesteuerte Entzug äuße- werden Versuchspersonen so weit wie möglich von Außenreizen abgeschirmt. Regelmäßig kann rer Reize und Ablenkun- dabei beobachtet werden, wie diese Personen zunächst sehr entspannt sind, oft auch einschla- gen. Psychische Depriva- fen, aber allmählich in eine gesteigerte Unruhe verfallen. Spätestens nach 2 bis 3 Stunden wer- tion ist die von anderen veranlasste Nichterfül- den weiße Gebilde, Schlieren förmige Wahrnehmungseindrücke, bemerkt, die an nächtliche Hal- lung psychischer Grund- luzinationen einer gespensterhaften weißen Frau erinnern und oft in konkrete Wahrnehmungen bedürfnisse (Hunger, überwechseln (Benesch 1996, S. 91). Sicherheit u. a.). Beteiligung des Bewusstseins an der Wahrnehmung Das menschliche Bewusstsein nimmt Einfluss auf Empfindungen, die auf der Wahrneh- mung äußerer Reize basieren. Es wirkt als sensorischer Filter. Aus dem ständigen Strom der aus der Umwelt eintreffenden Reize werden über Verlagerungen der Aufmerksamkeit wichtige Elemente gefiltert und eingeprägt. Als Filterinstanzen entscheiden das Ultrakurz- zeit- und das Kurzzeitgedächtnis darüber, was als bleibende Erinnerung in das Langzeitge- dächtnis gelangt. Wenn Personen die gefilterten Sinneseindrücke zu bedeutsamen Infor- mationen verarbeiten und diese dauerhaft im Langzeitgedächtnis speichern, haben sie etwas Neues gelernt. Das menschliche Bewusstsein richtet sich im Fokus entweder auf die äußere Welt oder auf innere Vorgänge. Eine bewusste Konzentration auf innere Vorgänge im Körper steht im Dienste der Gesundheit. Man nimmt den Sättigungsrad des Magens besser wahr, ebenso mögliche Überlastungen des Herzens oder Schmerzen im Rückgrat. Veränderungen des Verhaltens, die auf diesen inneren Wahrnehmungen basieren, führen zu mehr Gesundheit. Psychosomatisch gestörte Patienten leiden häufig an einer eingeschränkten inneren Wahrnehmung. Trainings zur Achtsamkeit schulen die innere Wahrnehmung der Betroffe- nen (hierzu ausführlich Anderssen-Reuster 2011). Dominanz der Fernsinne Sehen und Hören bei Menschen Lernen vollzieht sich bei Menschen heute zu einem großen Teil über Medien (Texte, Videos, Vorträge). Die beiden Fernsinne Sehen und Hören beeinflussen das Lernen mit Medien, nicht aber die drei Nahsinne Tasten, Riechen und Schmecken. In einigen Situationen erfahren diese allerdings einen deutlichen Bedeutungsgewinn. Beispielsweise sollten Ärzte über einen guten Tastsinn verfügen, besonders, wenn sie als Sportmediziner oder 18 Orthopäden tätig sind und Muskelverletzungen diagnostizieren. Ein ausgefeilter Tastsinn wurde für den langjährigen Mannschaftsarzt der deutschen Fußballnationalmannschaft, Hans-Wilhelm Müller-Wohlfarth, zum zweiten Sehorgan, wie er in seiner Autobiografie schreibt (Müller-Wohlfarth 2018). Ein anderes Beispiel sind Tätigkeiten im Bereich der Lebensmittelproduktion und der Qualitätskontrolle von Ernährungsprodukten. Die Schär- fung und Sensibilisierung des Geruchs- und Geschmackssinns sind dafür notwendig und werden in Aus- und Fortbildungen systematisch trainiert (hierzu ausführlich Busch-Stock- fisch 2015). Psychologisch und biologisch, also für das Lernen und für das Überleben, haben die fünf Sinne für Menschen unterschiedliche Funktionen. Als Fernsinne dienen das Sehen und Hören im Alltag vor allem der Orientierung. Die Nahsinne Tasten, Riechen und Schmecken haben biologisch vor allem Signalcharakter. Sie dienen dem Schutz vor und der Wahrneh- mung von Verletzungen (Tastsinn) und Vergiftungen (Geruch und Geschmack). Im Laufe eines Lebens wandeln sich die psychologischen und biologischen Funktionen der fünf Sinne. Im Unterschied zu Erwachsenen sind für Babys und Kleinkinder Tast- und Geschmackssinn entscheidende Vermittler von Lernerfahrungen. Kleinkinder fassen die Gegenstände in der Umwelt an und nehmen sie in den Mund. Das ist notwendig für ihre geistige Entwicklung. So konstruieren Kinder allmählich abstrakte Schemata über die Dinge. Es entsteht persönliches Wissen über die Elemente der Umwelt und deren Eigen- schaften. Bei älteren Kindern reicht der Anblick der Gegenstände, um die inneren abstrak- ten Konzepte zu aktualisieren. Die Fernsinne haben die Nahsinne als Erkenntnisinstru- mente abgelöst. In der Psychologie wurden die Fernsinne am meisten erforscht. Die Allgemeine Psycholo- gie entstand im 19. Jahrhundert im Schnittfeld von Philosophie und Physiologie. Sie sah sich als empirische Bewusstseinsforschung als Teil der Epistemologie. Deshalb ist es folge- richtig, dass in der Wahrnehmungspsychologie vor allem das Sehen und in zweiter Linie das Hören erforscht werden. Die drei Nahsinne werden in der Allgemeinen Psychologie weniger erforscht. Ähnlich ist die quantitative Verteilung bei der Darstellung der verschie- denen Sinne in den Lehrbüchern zur Wahrnehmungspsychologie (Ansorge/Leder 2017; Goldstein 2015). Abhängigkeit der Wahrnehmung von Körperbewegung und Lebensumgebung Die Wahrnehmung ist eingebettet in die Bewegungen eines Organismus. Leben ist Bewe- gung. Wird die Bewegung eines Organismus künstlich ausgeschaltet, so verändert sich die auf optimale Anpassung an die Umgebung ausgerichtete Wahrnehmung. Die Wahrneh- mungsfunktionen lebender Organismen wurden von der Evolution so konstruiert, dass sie zu ihrer biologischen Lebensumgebung passen. Bei Menschen ist das die begehbare Umwelt auf der Erde, nicht die Unterwasserwelt oder die Welt in 10.000 Metern Höhe. In der Flugunfallforschung wurden Sinnestäuschungen von Piloten als Ursache von Unfällen und Abstürzen identifiziert, die ihren Ausgangspunkt in veränderten Bewegungsempfin- dungen hatten. In einem Flugzeug sind Menschen sitzend hohen Beschleunigungskräften ausgesetzt. Die visuelle Orientierung und das Empfinden des Gleichgewichts funktionie- ren nicht so wie auf der Erde. In ihren Flugzeugen verlieren Piloten ohne Instrumente schnell die Orientierung darüber, in welche Richtung sie sich bewegen, und ob sie mit ihrem Flugzeug steigen, sinken oder sich auf gleicher Höhe fortbewegen. Die hohe Eigen- 19 bewegung verführt Piloten zu falschen Einschätzungen. Im irdischen Alltag können sich sitzende Bahnfahrer durch Bewegungserlebnisse entstehende Sinnestäuschungen verge- genwärtigen. Steht ihr Zug auf dem Bahnhof und der Zug auf dem Nachbargleis fährt lang- sam los, scheint es, als würde sich der eigene Zug in Fahrt setzen. Umgekehrt vermuten Piloten in ihren Flugzeugen bei Nacht, dass unbewegte Reize (z. B. das Licht eines Objekts oder eines Sterns) auf sie zukommen. Sie machen dann abrupte Steuerbewegungen, die unter Umständen zum Unfall führen (LeCompte 2008, S. 1). Passagiere in Verkehrsflugzeugen haben ebenfalls veränderte Sinnesempfindungen. Das Essen in einem Verkehrsflugzeug in 10.000 Metern Höhe schmeckt anders als am Boden. Der an der Universität Oxford lehrende britische Experimentalpsychologe Charles Spence hat die Veränderung von Geschmackserlebnissen in verschiedenen Umgebungen erforscht (hierzu ausführlich Spence 2018). Besonders eng ist die Verzahnung mit dem Geruchssinn. Dessen Einfluss führt zu veränderten Geschmackserlebnissen von Speisen im Flugzeug. Spence sagt dazu in einem Interview: Was wir schmecken, ist nur ein kleiner Teil dessen, was unser Geschmackserleben ausmacht. Etwa 75 bis 95 Prozent dessen, was wir zu schmecken meinen, riechen wir eigentlich. Es betrifft die vielen Aromen, die wir mit der Nase wahrnehmen, aber oft als Geschmack beschreiben – etwa die Noten fruchtig, fleischig, zitrusartig, rauchig, erdig. Diese Riechkomponente ist wichtig – und sie wird durch den niedrigen Kabinendruck und die trockene Luft im Flugzeug erschwert (Reinhardt 2018, S. 47). Synästhesie Die Verschmelzung verschiedener Sinne wird als Synästhesie bezeichnet, wenn sie über das normale Maß hinausgeht. Bei allen Menschen ist die enge Verzahnung von Geschmacks- und Geruchssinn vorhanden, nicht aber eine von Sehen und Geschmack oder Sehen und Hören. Einige Menschen empfinden aber starke Koppelungen von nicht zusammen gehörigen Sinnesmodalitäten. Das Hören von Tönen löst bei ihnen z. B. innere Farbempfindungen aus. Synästhesie in nur einem Sinneskanal liegt vor, wenn z. B. die Prä- sentation von unterschiedlichen Buchstaben oder Ziffern in Schwarz-Weiß verschiedene innere Farbvorstellungen hervorrufen (Cytowic/Eagleman 2009). Soziale Wahrnehmung Die richtige Wahrnehmung und Einschätzung anderer Menschen ist wichtig für die Kom- munikation und Kooperation im Alltag. Sie ist zum Teil eine Frage individueller Interpreta- tionen. Diese sind kulturell bestimmt. So werden z. B. herabhängende Mundwinkel in Westeuropa als depressiv, in etlichen asiatischen Ländern dagegen als freundlich, allen- falls als Anstrengung gedeutet. Solche Einschätzungen sind aber psychologische Deutun- gen. Die äußere Mimik einer Person wird als Anzeichen für deren inneren Zustand gedeu- tet. Bei der Personenwahrnehmung im Alltag ist das üblich und psychologisch hilfreich. Die Allgemeine Psychologie beschäftigt sich allerdings kaum mit der Wahrnehmung ande- rer Personen. Wahrnehmung, Kategorisierung und Bewertung von Personen sowie von komplexen sozialen Ereignissen in der Umwelt sind Forschungsthemen in der Sozialpsy- chologie (Abele/Gendolla 1997). Die Hauptmethode der allgemeinpsychologischen Wahr- 20 nehmungsforschung ist das naturwissenschaftliche Experiment, das in einem medizi- nisch-psychologischen Labor von einem Versuchsleiter an einer Person durchgeführt wird. Das hat den Vorteil, dass die Experimentatoren die Form und die Stärke der äußeren Reize gezielt steuern können. Der Zusammenhang zwischen äußeren physikalischen, chemi- schen und biologischen Reizen einerseits sowie psychologischen inneren Empfindungen andererseits stand am Beginn der psychologischen Wahrnehmungsforschung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie trug die Bezeichnung Psychophysik. 1.2 Psychophysik als Beginn der Allgemeinen Psychologie Zwischen der subjektiven psychologischen Seite der Wahrnehmung, der Empfindung als Repräsentation im Bewusstsein, und der objektiven Seite, den physikalisch und chemisch messbaren Reizen, tut sich in der Wahrnehmungsforschung eine analytische Kluft auf. Für beide Seiten existieren unterschiedliche wissenschaftliche Begriffe zur Kennzeichnung der zu erforschenden Phänomene und unterschiedliche Skalen der Messung. Die Psychophy- sik begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Forschungsrichtung mit der Frage, ob Menschen physikalisch quantitativ unterschiedliche Reize analog in unterschiedlicher Intensität wahrnehmen. Die Psychophysik war die Geburtsstunde der psychologischen experimentellen Forschung. Mit ihr entstand die Allgemeine Psychologie als neue wissen- schaftliche Disziplin im Schnittpunkt von Physik, Physiologie und Philosophie. Die menschliche Wahrnehmung wurde erstmalig in einem naturwissenschaftlichen Labor mit mechanischen Apparaten untersucht (Sinatra 2006, S. 98f.). Reizschwellen Wie stark müssen physikalische Reize sein, damit sie überhaupt von Menschen wahrge- nommen werden? Das war eine Grundfrage in der Psychophysik. Absolute Reizschwellen der Sinne geben an, ab welcher Stärke äußere Reize von Menschen wahrgenommen wer- den. Daneben interessiert sich die Psychophysik auch für Unterschiedsschwellen: In wel- chem Ausmaß müssen die Intensitäten von äußeren Reizen verändert werden, damit sich die Empfindung von Menschen so verändert, dass zwei Empfindungen für zwei Reize ein- deutig unterschieden werden? Veränderungen in der Reizstärke nehmen z. B. Einfluss darauf, ob süßer Geschmack als angenehm oder unangenehm und ein akustisches Signal als beruhigend, störend oder sogar als schmerzauslösend empfunden wird. Experimentelle Methoden der Reizschwellenuntersuchung Die Psychophysik beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den quantitativen Zusammen- hängen von naturwissenschaftlichen Reizstärken und der Intensität wahrgenommener Empfindungen. Dementsprechend funktionieren ihre quantitativ-experimentellen Metho- den. Es sind seit ihren Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts die gleichen vier Grund- methoden: Die Methode der konstanten Reize, die Grenzmethode, die Herstellungsme- thode und die Differenzmethode (Spering/Schmidt 2012, S. 14). 21 Methode der konstanten Reize: Es werden vom Versuchsleiter unterschiedlich starke Reize in zufälliger Reihenfolge präsentiert. Die Versuchsperson muss angeben, ob sie den jeweiligen Reiz wahrgenommen hat oder nicht. Grenzmethode: Der Versuchsleiter präsentiert verschieden starke Reize in auf- oder absteigender Reihenfolge. Die Versuchsperson gibt bei ansteigenden Sequenzen an, ab welcher Reizstärke sie einen Reiz erstmals wahrnimmt. Bei absteigender Reihung gibt sie an, ab welcher Stärke der Reiz unterschwellig wird, also nicht mehr wahrgenommen wird. Herstellungsmethode: Sie funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie die Grenzme- thode. Die Versuchsperson manipuliert aber die physikalischen Reizstärken selbst, bis sie die Reize wahrnimmt. Differenzmethode: Der Versuchsperson werden zwei Reize in unterschiedlicher Stärke präsentiert. Die quantitative Differenz der beiden Reize wird sukzessive verändert. Die Versuchsperson gibt an, wann zwei verschieden starke Reize von ihr noch als gleich empfunden werden. Auf diese Weise werden psychophysische Unterschiedsschwellen bestimmt. Auswertung von Experimenten der Reizschwellenuntersuchung Die Methoden der Psychophysik führen zu quantitativen Ergebnissen von Versuchsreihen. Im Folgenden geht es um quantitative Ergebnisse von Experimenten mit der Methode der konstanten Reize als Beispiel: In einem Entdeckungsexperiment wurden von einem Ver- suchsleiter ganz kurz schwache Lichtpunkte auf einen dunklen Hintergrund projiziert. Auf- gabe der Versuchspersonen war es, in jedem Durchgang anzugeben, ob ein Lichtpunkt überhaupt gesehen wurde. Die Intensität wurde entsprechend der Methode der konstan- ten Reize systematisch verändert, wobei die Intensitäten in zufälliger Reihenfolge präsen- tiert wurden (Spering/Schmidt 2012, S. 15). In der folgenden Abbildung ist als Ergebnis dieses Projektionsexperiments auf der y-Achse die Wahrscheinlichkeit abgetragen, einen Reiz wahrzunehmen (zu entdecken). Sie ist bei sehr starken Reizen ein bzw. 100 Prozent. Alle intensiven Reize werden entdeckt. Auf der x- Achse ist die Reizstärke (Intensität) abgetragen. Die Intensität, bei der Versuchspersonen den Reiz in 50 Prozent der Fälle wahrnehmen, wird als 50-Prozent-Schwelle bezeichnet. Absolute Reizschwelle Sie gilt per Konvention als allgemeine absolute Reizschwelle. Sie wird auch Absolut- schwelle genannt und ist beim Seh- und Hörsinn die minimal notwendige physikalische Energie, um bei Menschen einen schwachen Seh- oder Höreindruck hervorzuru- fen. 22 Abbildung 2: Ergebnisse beim Studium absoluter visueller Schwellen mit der Methode der konstanten Reize Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 15. Signalentdeckungstheorie (Signal Detection Theory) Die vier Experimentalmethoden der Psychophysik gehen davon aus, dass die untersuch- ten Personen unmittelbar, ohne bewusste gedankliche Abwägung, auf die physikalischen Reize reagieren. Tatsächlich findet in Grenzfällen bei subjektiver Unsicherheit aber eine von Kriterien geleitete Entscheidung statt. Im geschilderten Lichtentdeckungsexperiment könnten Versuchspersonen bei schwachen Lichtreizen unsicher sein, ob sie etwas gesehen haben oder nicht. Die Signalentdeckungstheorie wurde in den 1960er-Jahren als neue Messgröße in der Psychophysik entwickelt (Green/Sweets 1966). Sie berücksichtigt das Entscheidungsverhalten von Untersuchungspersonen in psychophysikalischen Experi- menten. 23 Die Signalentdeckungstheorie postuliert, dass Untersuchungspersonen ein zusätzliches Kriterium für die Entscheidung benutzen, ob Reize wahrgenommen werden oder nicht. Übersteigt die subjektive Empfindungsstärke ein selbst gesetztes Kriterium, gibt die Unter- suchungsperson an, dass ein Reiz von ihr wahrgenommen wurde. Unterschreitet die Emp- findungsstärke dagegen das persönliche Kriterium, so entscheidet sich die Versuchsper- son dafür, den Reiz als nicht wahrgenommen zu klassifizieren. Die von den Versuchspersonen benutzten Kriterien sind subjektiv und vielfältig. Sie stammen zumeist aus dem äußeren Kontext eines Experiments. Bei dem oben beschriebenen Lichtentde- ckungsexperiment haben die kurz projizierten Lichtblitze eine bestimmte Form (z. B. oval oder rechteckig). Diese Form gerät bei schwachen Reizen „ins Schwimmen“. Die Untersu- chungspersonen könnten als zusätzliches Kriterium für ihre Wahrnehmungsentscheidung ansetzen, ob sie den Umriss der Form gesehen haben oder nicht. Vier Arten von Entscheidungen sind grundsätzlich möglich. Wird unter Hinzuziehung der Kriterien bei schwachen Reizen oberhalb der physikalischen Reizschwelle richtig entschie- den, so liegt eine zutreffende Entscheidung vor. Wird dagegen bei schwachen Reizen unterhalb der physikalischen Reizschwelle entschieden, dass kein Reiz wahrgenommen wurde, so liegt eine korrekte Ablehnung vor. In den beiden gegenläufigen Entscheidungen handelt es sich um Fehler. Tabelle 1: Klassifikation der Antworten bei Reizschwellenexperimenten gemäß der Signalentdeckungstheorie physikalischer Reiz über- physikalischer Reiz unter- schwellig schwellig Versuchsperson entscheidet: zutreffende Entdeckung Fehler 2. Art: falsche Entdeckung Reiz entdeckt Versuchsperson entscheidet: Fehler 1. Art: fälschliche Ableh- richtige Ablehnung kein Reiz entdeckt nung Quelle: Burkhard Vollmers 2022. Die Signalentdeckungstheorie hat damit als Messgröße die besondere Sensitivität der Ver- suchspersonen in die Psychophysik eingeführt. Die Sensitivität basiert auf dem Entschei- dungsverhalten. Je häufiger eine Untersuchungsperson richtig entschieden hat, ob ein Fehler 1. und 2. Art Reiz präsentiert wurde oder nicht, desto besser ist ihre Sensitivität. Fehler 1. und 2. Art Die Fehler 1. und 2. Art werden von hochsensitiven Personen minimiert. Die Treffsicherheit der Entscheidungen bzw. Alpha- und Betafeh- ler sind Kategorien in der hängt generell von der Trennschärfe der eingesetzten Kriterien ab. In der allgemeinpsy- Inferenzstatistik und im chologischen Fachliteratur werden weiche von harten Kriterien unterschieden (Spering/ Qualitätsmanagement. Schmidt 2012, S. 17). Weiche Kriterien erhöhen die Fehler 1. und 2. Art, harte minimieren Umgangssprachlich wer- den sie auch als blinder sie. Beim Lichtentdeckungsexperiment wäre z. B. ein hartes Kriterium die beschriebene und unterlassener Alarm Formerkennung, ein schwaches Kriterium die subjektive Einschätzung der eigenen Leis- bezeichnet. tungsfähigkeit. Wer die eigene Leistungsfähigkeit in der Wahrnehmung als unterdurch- schnittlich einschätzt, z. B. aufgrund von Krankheit oder Sinnesbehinderung, ist geneigt, nicht gesehene unterschwellige Lichtblitze als objektiv wahrnehmbar und damit auch als wahrgenommen zu klassifizieren. In der allgemeinpsychologischen Fachliteratur werden diverse Entscheidungskriterien für verschiedene psychophysische Experimente und unter- schiedliche Sinne (Sehen, Hören, Tasten) beschrieben (MacMillan/Creelman 2004). 24 Erste quantitative Wahrnehmungsgesetze der Psychophysik Die Pioniere der Psychophysik verfolgten ihre Forschungen mit dem Ziel, allgemeine naturwissenschaftliche Gesetze aufzustellen. Am bekanntesten wurden die quantitativen Gesetzesformeln der Psychologen Ernst Weber (1795–1878), Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und Stanley Smith Stevens (1906–1973). Sie finden sich in jedem Lehrbuch zur Wahrnehmungspsychologie (Ansorge/Leder 2017, S. 44f.). Alle drei Gesetze hängen eng miteinander zusammen bzw. bauen aufeinander auf. Das jüngere Gesetz ist eine Diffe- renzierung des älteren, d. h., das von Fechner spezifiziert das von Weber und das von Ste- vens das von Fechner. Das Gesetz von Weber In abstrakter Form lautet das Webersche Gesetz: „Die Unterschiedsschwelle ΔS zweier Reize ist proportional zur Größe des Vergleichsreizes S1, also ∆ 𝑆 = 𝑘 · 𝑆1. Dabei ist k die Webersche Konstante, die für jede Reizmodalität unterschiedlich ist“ (Spering/Schmidt 2012, S. 15). Weber untersuchte als erster experimentell Unterschiedsschwellen bei Men- schen für die Unterscheidung zweier Reize. Er fand heraus, dass die gleichen Unterschiede zwischen zwei Reizstärken in Abhängigkeit von den Reizstärken unterschiedlich wahrge- nommen werden. Im Alltag kann man sich das in einem Selbstexperiment veranschauli- chen: Befindet sich in einer Tasse Tee oder Kaffee ein Stück Würfelzucker und wird ein zweites hinzugefügt, so schmeckt jede Person einen deutlichen Unterschied in der Süße des Getränks. Befinden sich dagegen in der gleichen Menge des Getränks zehn Stücke Würfelzucker, so führt das Hinzufügen des elften Stückes zu keinem merklichen Geschmacksunterschied. Die Unterschiedsschwelle, die psychologisch notwendige quan- titative Differenz der äußeren Reize für den von Personen subjektiv wahrnehmbaren Geschmacksunterschied, steigt also mit der Reizstärke an. Bei zehn Stücken Würfelzucker müssten deutlich mehr als ein Stück hinzugegeben werden. Weber experimentierte als Naturwissenschaftler vorwiegend mit Temperatur- und Druck- unterschieden auf der Haut sowie mit Gewichtsunterschieden beim Hochheben von Gegenständen. Er erforschte also die Unterschiedsschwellen beim Tastsinn (hierzu aus- führlich Weber 1864). Wenn man ein hochzuhebendes Gewicht von 1.000 Gramm um zehn Prozent (100 Gramm) steigern muss, um einen subjektiven Gewichtsunterschied zu ver- spüren, so ist für 2.000 Gramm eine Steigerung um 200 Gramm für den analogen Unter- schiedseffekt vonnöten. Der Ausgangsreiz muss in diesem Fall immer um zehn Prozent gesteigert werden, um einen Unterschied zu spüren. In der Formel von Weber entsprechen diese zehn Prozent dem Wert für 𝑘. Sie sind also die Konstante für die Reizmodalität Gewicht. Das Gesetz von Fechner Dieses Gesetz lautet allgemein: „Die Empfindungsstärke 𝐸 ist proportional zum natürli- chen Logarithmus der Reizstärke 𝑆 , also 𝐸 = 𝑐 · ln 𝑆. Dabei ist 𝑐 wieder eine für jede Reizmodalität verschiedene Konstante, die sog. Fechner-Konstante“ (Spering/Schmidt 2012, S. 15). 25 Logarithmus Das Gesetz von Fechner besagt, dass eine Steigerung der äußeren physikalischen Reize in Der Logarithmus einer einer geometrischen Folge zu einer kontinuierlichen Steigerung der Empfindungsstärke vorher festgelegten Zahl ist der Exponent, mit dem führt. Anders ausgedrückt: Die Empfindungsstärke wächst proportional mit dem Logarith- diese Zahl potenziert wer- mus der dazu passenden physikalischen Reizstärke. Das Gesetz von Fechner stimmt psy- den muss, um ein chologisch mit dem von Weber überein: Je stärker die physikalischen Reize sind, desto bestimmtes Ergebnis zu erhalten. mehr müssen sie gesteigert werden, um die psychologischen Empfindungen von Men- schen in der Intensität zu steigern, wie das oben angeführte Beispiel vom Würfelzucker eindrücklich belegt. Das Gesetz von Stevens Dessen Definition ist: „Die Empfindungsstärke ist eine Potenzfunktion der Reizstärke 𝑆 , 𝑎 also 𝐸 = 𝑏 · 𝑆. Dabei ist die Konstante 𝑏 nur zur Skalierung nötig, um die 𝐸- und 𝑆 -Vari- ablen in den gleichen Einheiten ausdrücken zu können; die eigentlich wichtige Größe ist 𝑎, die wieder für jede Reizmodalität unterschiedlich ist“ (Spering/Schmidt 2012, S. 15). Das Gesetz von Stevens ist eine Neufassung des Gesetzes von Fechner, da zahlreiche psy- chophysikalische Experimente dessen Allgemeingültigkeit als zweifelhaft erscheinen lie- ßen (Stevens 1957). Ist in der Formel der Wert der Hochzahl 𝑎 kleiner als 1, steigt die Emp- findungsstärke mit zunehmender Reizstärke immer langsamer an. Liegt der Wert von 𝑎 dagegen über 1, so steigt die Empfindungsstärke immer schneller an, bei nur geringfügen Reizzunahmen. Ein Wert unter 1 würde für obiges Würfelzuckerbeispiel gelten. Das Hinzu- fügen des elften Stückes zu zehn vorhandenen hat einen viel kleineren Empfindungseffekt als das Hinzufügen des zweiten Stückes, wenn nur eines im Getränk vorhanden ist. Die Ermittlung des genauen Wertes für 𝑎 in einer Reizmodalität erfordert sehr aufwändige psy- chophysikalische Versuchsreihen. Die aktuelle Bedeutung der klassischen Psychophysik Die Gesetze von Weber, Fechner und Stevens sind in die Jahre gekommen. Ihre simplen Methoden zur Bestimmung von Reizschwellen wirken altbacken und überholt. Aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung wurden von ihnen naturgemäß nicht berücksichtigt. Den- noch sind die Forschungsfragen und Forschungsmethoden der klassischen Psychophysik in Medizin und Psychologie nach wie vor aktuell. In veränderter Form und unter Einsatz der modernen Medizin- und Computertechnik werden psychophysische Reiz- und Unter- schiedsschwellen bei Sinnesleistungen in der medizinischen und psychologischen Diag- nostik in vielen Anwendungsbereichen bestimmt. Typische Einsatzfelder sind die Diag- nose von Seh- und Höreinschränkungen bei geriatrischen und neurologischen Patienten sowie sonderpädagogische Fragestellungen zum Förderbedarf von Kindern (Ziehl et al. 2012; Hoth/Steffens 2015). Die moderne medizinische und psychologische Leistungsdiag- nostik umfasst Sinnesdiagnostik und damit auch die Psychophysik. 26 1.3 Visuelle Wahrnehmung Objekte der Umwelt werden von Menschen gesehen, weil Licht von der Oberfläche der Objekte absorbiert und reflektiert wird. Das Licht trifft auf das menschliche Auge. Dessen Nervenbahnen verlaufen zum Großhirn. Aufmerksamkeit, Blickrichtung und Gehirn sorgen für visuelle Empfindungen der Helligkeit, Farbe, Kontrast und Kontur von Objekten. Vor dem Hintergrund der psychophysischen Transformation äußerer Lichtreize in subjektive Sehempfindungen können analytisch drei Ebenen bei der Gesamtanalyse der visuellen Wahrnehmung unterschieden werden. Die Physik des Sehens konzentriert sich auf die Funktionen des Lichts. Ihre Fragestellungen verfolgen den Weg des Lichts von der äußeren Reizquelle bis zum Auge als Sinnesorgan. Die Physiologie des Sehens untersucht den gesamten Sinnes- und Nervenapparat, soweit dieser an der visuellen Wahrnehmung betei- ligt ist. Auge, Nervenbahn und Großhirn gehören dazu. Die Psychologie beschäftigt sich mit der Entstehung des Wahrnehmungsbildes von Objekten im Bewusstsein. Die Wahrneh- mungspsychologie sucht experimentell vor allem nach den psychologischen Grundbedin- gungen von Seheindrücken (Benesch 1996, S. 91). Um Seheindrücke wissenschaftlich zu verstehen, ist die Integration aller drei Ebenen erforderlich. Physikalische Optik Physikalisch lässt sich Licht zugleich als elektromagnetische Welle und als Materie bzw. Teilchen (Korpuskel, Photon) beschreiben. Die elektromagnetischen Wellen bzw. Photo- nen breiten sich im Raum aus und treffen auf Objekte, welche die Wellen bzw. Teilchen teilweise absorbieren und teilweise reflektieren. Als Transportmedium im Raum wirkt eine Trägersubstanz, in der Regel Luft oder Wasser. Dass z. B. ein in Wasser getauchter gerader Stab bei der Betrachtung von oben wie an der Wasseroberfläche abgeknickt wahrgenom- men wird, hängt mit der unterschiedlichen Durchlässigkeit von Wasser und Luft zusam- men. Im Wasser wird die Ausbreitung des Lichts verlangsamt (Benesch 1996, S. 93). Licht breitet sich gradlinig und wellenförmig aus. Wellen haben eine unterschiedliche Länge. Farbeindrücke beim Sehen werden zum einen durch unterschiedliche Wellenlän- gen hervorgerufen, zum anderen durch die Reflexion und Absorption der für Menschen sichtbaren elektromagnetischen Wellen durch die Objekte der Umgebung. Die vier Grund- farben sind blau, grün, gelb und rot nach dem Klassifikationsraster des Physiologen Ewald Hering (1834–1918). Es wird in der Fachliteratur als Gegenfarbentheorie bezeichnet Gegenfarbentheorie (Goldstein 2015, S. 209). Sie sind physikalisch durch unterschiedliche Wellenlängen cha- Die Gegenfarben sind einerseits rot und grün, rakterisiert: Blau durch Wellenlängen von 380 bis 480 Nanometern, Rot durch Wellenlän- andererseits blau und gen von 650 bis 750 Nanometern. Elektromagnetische Wellen mit niedrigerer und höherer gelb. Länge können vom menschlichen Auge nicht wahrgenommen werden, existieren aber physikalisch und werden dementsprechend gemessen. Deutlich kürzere Wellenlängen als 380 Nanometer haben kosmische Strahlen und Röntgenstrahlen, höhere Wellenlängen als 780 Nanometer haben Radiowellen. Für die unterschiedlichen Farben gesehener Objekte ist die unterschiedliche Reflexion von Lichtwellen verantwortlich. Ein Beispiel eines markanten Farbobjekts ist ein Stoppschild im Straßenverkehr. Es sieht deshalb rot aus, weil es das rote Licht mit hoher Wellenlänge reflektiert und die Farben der anderen Wellenlängen (blau, grün und gelb) absorbiert. Schwarz und Weiß als Farbeindrü- cke entstehen ebenfalls durch das Verhältnis von Reflexion und Absorption. Weiße Ober- 27 flächen reflektieren alle Wellenlängen gleichmäßig, schwarze Oberflächen absorbieren alle Wellenlängen gleichmäßig. Weil Licht bei der Absorption in Wärme umgewandelt wird, heizen sich dunkle Oberflächen im Sonnenlicht deutlich stärker auf als helle (Gold- stein 2015, S. 200f.). Physikalische Optik und die Psychologie des Sehens Neben der Farbe ist die Helligkeit eine Eigenschaft der Oberflächenwahrnehmung von Objekten. Physikalisch ist sie abhängig von der Intensität der Lichtquelle (z. B. einer Lampe), von der das Licht ausgeht und auf das Objekt trifft. Die von der Lichtquelle aus- gehende Lichtintensität wird in der Physik Illuminanz genannt. Ein gebräuchliches physi- kalisches Maß für die Illuminanz (I) ist Candela pro Quadratmeter (cd/m2). Ein Teil des ein Objekt treffenden Lichts wird bei der Betrachtung des Objekts durch eine Person in Rich- tung ihres Auges reflektiert. Die physikalische Bezeichnung dafür ist die Reflektanz (R) der Oberfläche. Die verbleibende Lichtmenge, die durch die spezifische Reflektanz von Objek- ten noch das Auge erreicht, heißt Luminanz (L) der Oberfläche. Illuminanz, Reflektanz und Luminanz hängen physikalisch auf einfache Weise zusammen: Wenn ein Licht von 60 cd/m2 auf eine Fläche mit einer Reflektanz von 0,5 (also 50 Prozent) trifft, führt das zu einer Luminanz der Fläche von 30 cd/m2 (𝐿 = 𝐼 · 𝑅). Eine weiße Fläche hat eine Reflektanz von etwa 0,9 (90 Prozent); sie gibt fast alles einfallende Licht wieder ab. Eine schwarze Oberfläche besitzt hingegen eine Reflektanz von etwa 10 Prozent. Der Rest des einfallenden Lichts wird absorbiert und in Wärme umgewandelt (Spering/Schmidt 2012, S. 32). Die drei physikalischen Größen Illuminanz, Reflektanz und Luminanz lassen sich auf drei Helligkeitswahr- analoge psychologische Größen der Helligkeitswahrnehmung beziehen, die in der expe- nehmung rimentellen Wahrnehmungspsychologie gemessen werden. In der Forschung sind dafür Sowohl Brightness wie Lightness sind in der englische Bezeichnungen üblich. Es sind die Brightness einer Lichtquelle, die Brightness Optik am besten als Hel- einer Oberfläche und die Lightness einer Oberfläche. ligkeit ins Deutsche zu übersetzen. Lightness gibt an, dass es um das Tabelle 2: Physikalische und psychologische Größen der Helligkeitsmessung und reflektierte Licht (Light) Wahrnehmung von Objekten geht. physikalische Größe psychologische Größe Illuminanz: Leuchtdichte der Lichtquelle Brightness einer Lichtquelle (wahrgenommene Illu- minanz) Luminanz: Leuchtdichte des von der Oberfläche Brightness einer Oberfläche (wahrgenommene eines Objekts ins Auge reflektierten Lichts Luminanz) Reflektanz: Prozentsatz des von der Oberfläche Lightness einer Oberfläche (wahrgenommene reflektierten Lichts Reflektanz) Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 33. Die Nähe von physikalischen und psychologischen Begriffen in der psychophysikalischen Helligkeitsforschung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass physikalische und psycho- logische Kategorien epistemologisch auseinanderfallen. Sie sind nicht ineinander über- 28 führbar. Die Physik zerlegt optische Phänomene der Umwelt und misst deren quantitative Ausprägungen. Die Psychologie hat es dagegen mit einer innerpsychischen, integrativen Organisation der Wahrnehmung zu tun. Bei der Helligkeitsempfindung wirken als zwei markante psychologische Organisationsprinzipien die Konstanz und die Adaptation. Trotz Adaptation wechselnder Beleuchtungsintensität in der Umgebung kann von Menschen die Lightness Die Adaption ist eine Grundfunktion der Wahr- einer Oberfläche als konstant empfunden werden. Wenn z. B. von zwei Oberflächen glei- nehmung in allen fünf cher Luminanz eine im Licht und eine im Schatten liegt, wird die im Schatten liegende von Sinnen. Sie bezeichnet der Person psychologisch als die mit der höheren Reflektanz interpretiert. Für das physiologisch und psy- chologisch registrierbare menschliche Wahrnehmungssystem ist im Gegensatz zur Physik das von der Oberfläche Anpassungen der Sinne auf das Auge treffende Licht keine absolute Größe (hierzu ausführlich Gilchrist 2006). an die Umwelt. Mit ihr geht eine Abschwächung der zum Gehirn geleiteten Adaptation ist das psychologische Wahrnehmungsprinzip, dass sich die Sinneswahrneh- Nervenimpulse einher. mung an die Umwelt anpasst. Wiederholte Reizung der Sinneszellen über einen längeren Zeitraum führt zu einer graduellen Abnahme ihrer Reizantwort. Bei der visuellen Wahrneh- mung kann sich trotz gleichbleibender äußerer Beleuchtungsintensität die Helligkeit der wahrgenommenen Objekte durch die Adaptation über die Zeit verändern. Wenn z. B. Men- schen aus einem hellen in einen dunklen Raum treten, sehen sie die dortigen Objekte anfangs aufgrund der fehlenden Beleuchtung nicht. Durch die Adaptation gelingt Perso- nen jedoch nach kurzer Zeit die vollständige Wahrnehmung der Objekte. Deren Konturen werden mit der Zeit sichtbar, ohne dass sich die Lichtverhältnisse in dem Raum geändert haben. Das menschliche Auge Das menschliche Auge ist ein komplizierter optischer Apparat, der dafür sorgt, dass durch den Lichteinfall ein möglichst scharfes Bild der mit der Blickrichtung fixierten Umgebung auf der Netzhaut entsteht. Dort befinden sich spezialisierte Sinnesrezeptoren, die das ein- fallende Licht in elektrische Impulse umwandeln, die über Nervenbahnen zum Großhirn geleitet werden. Im Verlauf der Evolution hat sich ein Linsenauge bei Menschen entwi- ckelt, das ähnlich wie eine Kamera mit einer Linse über die Brechung von Lichtstrahlen ein Bild auffängt. 29 Abbildung 3: Querschnitt durch das menschliche Auge Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 19. Abbildung eines Objekts auf der Netzhaut (Retina) Das von einem Objekt, etwa eines fixierten Apfels (links), reflektierte Licht trifft auf die Augenöffnung. Es wird durch die Linse gebündelt. Das fixierte Objekt liegt auf der waage- rechten Sehachse in der Augenmitte. Es wird rechts an der Stelle des schärfsten Sehens (Fovea) in der Netzhaut (Retina) abgebildet. Die Retina ist die lichtempfindliche Schicht des Auges. Rechts am Ausgang des Sehnervs befindet sich der Blinde Fleck (Papille) (Gold- stein 2015, S. 20). Der Weg des Lichts durch das Auge Das Licht gelangt links in das Auge durch die transparente Hornhaut (Cornea). Die Horn- haut schützt das Auge vor mechanischen Erschütterungen. Das Licht dringt dann weiter vor durch die mit Flüssigkeit gefüllte vordere Augenkammer und die Pupille der Regenbo- genhaut (Iris). Diese regelt den Lichteinfall und funktioniert wie die Blende einer Kamera. Dann passiert das Licht die Linse und den gallertartigen Glaskörper, der dem Auge die sta- bile runde Form gibt. Damit auf der Netzhaut (Retina) ein scharfes Bild erzeugt wird, muss die Dicke der Linse je nach Abstand des gesehenen Objektes verstellt werden. Das geschieht durch einen ringförmigen Muskel (Ziliarkörper), der über feine Muskelfasern an den Rändern der Linse zieht (Goldstein 2015, S. 21). Akkommodation des Auges Blende (Iris) und Linse sind verstellbar. Bei starkem Licht wird die Iris eng gestellt, sodass die Pupille klein wird. Bei schwachem Licht öffnet sie sich. Die Linse wird von ihrer Ring- muskulatur an die Entfernung der fixierten Objekte angepasst. Wird ein weiter entferntes 30 Objekt betrachtet, weitet sich die Ringmuskulatur und die Linse flacht sich ab. Dadurch wird ihr Brennpunkt verändert und das betrachtete Objekt wird scharf auf der Netzhaut abgebildet. Bei der Fixierung eines nahen Gegenstandes spannen sich die Ringmuskeln und die Linse wird kugeliger. So werden die Lichtstrahlen stärker gebrochen und das nahe Objekt erscheint scharf. Mit zunehmendem Lebensalter fällt die Akkommodation der Akkommodation Linse immer schwerer, da der Ringmuskel wie andere Muskeln an Elastizität verliert. Die Mit Akkommodation ist die dynamische Anpas- Linse wird beim Betrachten naher Objekte nicht mehr rund genug und bei der Fixierung sung der Brechkraft der weiter entfernter Gegenstände nicht mehr flach genug. Diese Altersweitsichtigkeit wird Linse des Auges gemeint, mit einer Brille ausgeglichen, die die Lichtstrahlen vor dem Auge bricht (Goldstein 2015, um nah und fern scharf zu sehen. S. 22f.). Ausstattung der Netzhaut mit Sinneszellen Die Netzhaut besteht aus verschiedenen Sinnes- und Nervenzellen, die so miteinander verbunden sind, dass die Umwandlung der eintreffenden Lichtwellen in elektrische Impulse für das Großhirn funktioniert. Die beiden unterschiedlichen Gruppen von Sinnes- zellen heißen Zapfen und Stäbchen. Sie werden auch als Fotorezeptoren bezeichnet. Fotorezeptoren Über dazwischengeschaltete Bipolarzellen sind sie mit Ganglienzellen verbunden, die den Die Fotorezeptoren ver- danken ihren Namen dem Anfang der zum Gehirn aufsteigenden Nervenbahnen markieren. Ganglienzellen sind Ner- Begriff des Photons. venzellen. Sie leiten elektrische Impulse an das Großhirn weiter. Wenn viele Fotorezepto- Elektromagnetische ren mit nur einer Ganglienzelle verbunden sind, hat das eine verstärkende Wirkung. Selbst Strahlung ist physikalisch Licht und besteht aus bei schwachem Lichteinfall kann die Ganglienzelle aktiviert werden, auch wenn die betei- Photonen als den Licht- ligten Sinneszellen nur schwach aktiv sind. Für ein gutes räumliches Auflösungsvermögen teilchen bzw. Lichtquan- ten. ist es notwendig, dass einzelne Sinneszellen mit einzelnen Ganglienzellen in der Impuls- Ganglienzellen weiterleitung verbunden sind (Goldstein 2015, S. 21). Als Ganglienzellen wird eine Schicht von Nerven- In beiden Augen gibt es eine Stelle, die keine Sinneszellen, also weder Stäbchen noch Zap- zellen in der Netzhaut bezeichnet, deren Ner- fen, enthält. Das ist der Blinde Fleck (siehe obige Abbildung). Dort bilden die Nervenfasern venfasern gemeinsam (Axiome) der Ganglienzellen den Sehnerv, der das Auge in Richtung Großhirn verlässt. Die den Sehnerv bilden, der an dieser Stelle fehlenden Sinnesinformationen ergänzt das Großhirn. Die Blinden Flecken zum Großhirn führt. in beiden Augen werden von der wahrnehmenden Person nicht bemerkt. Außerdem liegen die Blinden Flecken nicht an korrespondierenden Stellen in den beiden Netzhäuten. Die blinde Stelle des einen Auges kann durch Sinnesinformationen aus dem anderen Auge im Gehirn ergänzt werden. Eine kleine Übung zum Blinden Fleck Zeichnen Sie auf ein Blatt links ein Pluszeichen (+) und rechts einen Punkt bzw. Kreis (). Betrachten Sie das Blatt im normalen Leseabstand. Schließen Sie das linke Auge (oder decken Sie es mit der Hand ab). Schauen Sie auf das +. Den Punkt sehen Sie weiterhin. Wenn Sie das Blatt langsam näher zu den Augen führen (oder umgekehrt die Augen zum Blatt), verschwindet der Punkt plötzlich. Mit dem linken Auge funktioniert es analog bzw. seitenverkehrt. 31 Spezialisierung von Zapfen und Stäbchen Neuroanatomische Studien zeigen eine unterschiedliche Verteilung und Konzentration von Zapfen und Stäbchen in der Netzhaut. Die Zapfen befinden sich vorwiegend in der Stelle des schärfsten Sehens (Fovea centralis). Außerdem ist dort offenbar jede Zapfen- zelle mit genau einer Ganglienzelle verbunden (Tessier-Lavigne 1991, S. 401f.). Da das räumliche Sehen vor allem im Zentrum der Blickrichtung und damit dem Zentrum der Netzhaut gut funktioniert, wird angenommen, dass dafür vor allem die Zapfen zuständig sind. Ebenso wird ihnen der Schwerpunkt des Farbensehens zugesprochen, da es drei ver- schiedene Typen von Zapfen gibt, die chemisch unterschiedlich auf Licht verschiedener Wellenlängen reagieren. Die K-Zapfen reagieren am besten auf kurzwelliges Licht, wäh- rend die M- und L-Zapfen vor allem auf mittel- und langwelliges Licht ansprechen. Wenn in Experimenten Versuchspersonen mit konstanter Blickfixierung gleichförmige Objekte in verschiedenen Farben präsentiert werden, dann zeigen neurophysiologische Ableitungen bei verschiedenen Farben charakteristische Mischungen der Erregungsmuster der drei Zapfenarten (Gegenfurtner 2003). Neurophysiologische Studien am Gehirn weisen darauf hin, dass in der Dunkelheit die Stäbchen elektrisch hoch aktiv sind, die Zapfen dagegen kaum. Das belegt einerseits die Bedeutung der Zapfen für das Farbensehen bei Tageslicht und andererseits die Funktion der Stäbchen für Hell-Dunkel-Unterscheidungen (Goldstein 2015, S. 41f.). Der Weg der Lichtreize von der Netzhaut zum Gehirn Die Seh- bzw. Nervenbahnen beider Augen verlaufen zu verschiedenen Teilen des Gehirns. Die Netzhaut wird neuroanatomisch in einen nasalen (linken) und einen temporalen (rech- ten) Teil gegliedert. Die Nervenfasern der nasalen Retinahälften beider Augen kreuzen sich im Chiasma opticum und verlaufen in die zu den beiden Augen gegenläufigen Hirnhälften. Chiasma opticum ist die anatomische Bezeichnung für den Kreuzungsort der beiden Bah- nen. Die Nervenbahnen der temporalen Retinahälften kreuzen sich dagegen nicht. 50 Pro- zent der Sehnerven verlaufen damit zur gegenüberliegenden Seite im Gehirn, 50 Prozent zur gleichen Seite. Für das zweiseitige Blickfeld des Menschen ist diese Aufteilung der visu- ellen Informationsverarbeitung in den Nervenbahnen optimal. Die Fasern der nasalen Retinahälfte des einen und der temporalen Hälfte des anderen Auges werden im Corpus geniculatum laterale (CGL) auf Neuronen umgeschaltet, die zum Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) des Großhirns verlaufen. Der CGL liegt im Thala- mus. Der für das Sehen zuständige Teil des Okzipitallappens wird als primärer visueller Cortex bezeichnet. Die folgende Abbildung zeigt die Sehbahn von den Augen zum Gehirn. 32 Abbildung 4: Querschnitt durch die Neuroanatomie des visuellen Systems beim Menschen Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 23. Neben dem primären visuellen Cortex, der etwa 15 Prozent der Fläche des Großhirns aus- macht, wurden physiologisch mehr als 30 weitere Gebiete des Großhirns beschrieben, die an der elektrischen Reizweiterleitung beim Sehen mitwirken. Insgesamt sind etwa 60 Pro- zent der Fläche des Großhirns an der Verarbeitung visueller Sinnesreize beteiligt (Felle- man/Essen 1991, S. 4). Vom visuellen Cortex ausgehend verläuft die kortikale Weiterverar- beitung über zwei verschiedene Nervenstränge. Der dorsale Strang verläuft zum Parietallappen (Scheitellappen), der ventrale zum unteren Temporallappen (Schläfenlap- pen). Zwischen dorsalem und ventralem Strom gibt es Unterschiede in den Zuständigkei- ten bei der visuellen Wahrnehmung. Die dorsalen Nervenbahnen sind verantwortlich für die Steuerung visuell geleiteter Körperbewegungen. Sie leiten motorische Reaktionen ein. Der ventrale Strom ist dagegen für visuelle Erkennungsleistungen in der Umwelt verant- wortlich (hierzu ausführlich Milner/Goodale 1995). Der Frontallappen des Großhirns ist ebenfalls an der Verarbeitung visueller Reize beteiligt. Sehen ist eine komplexe Integrationsleistung des Gehirns. Die verschachtelte, auf vielfäl- tige Weise verknüpfte Anatomie der optischen Nervenbahnen schafft dafür die Grundla- gen. Durch die Kreuzung von 50 Prozent der Sehnerven im Chiasma opticum enthält jede Hirnhälfte den gleichen Anteil visueller Informationen aus beiden Augen. Im primären visuellen Cortex wird die Information aus beiden Augen integriert (Spering/Schmidt 2012, S. 24). 33 Prinzipien der neurophysiologischen Verarbeitung in der visuellen Wahrnehmung Die neurophysiologische Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten einige Grundprin- zipien der Informationsverarbeitung in den auf- und absteigenden Nervenbahnen zwi- schen Augen und Großhirn herausgearbeitet. Wichtig für ein psychologisches Verständnis der menschlichen Wahrnehmung sind die beiden Prinzipien der Konvergenz bzw. Diver- genz und der lateralen Hemmung. Konvergenz und Divergenz Als Konvergenz bzw. konvergente Verschachtelung wird die neurophysiologische Tatsache bezeichnet, dass über 100 Millionen Sinneszellen in jeder Retina mit nur etwa einer Million Fasern im zum Gehirn führenden Sehnerv verbunden sind. Damit ist jede Zelle im Cortex für einen größeren Ausschnitt des Sehfeldes verantwortlich. Die eine Million Fasern des Sehnervs interagieren mit Milliarden von Zellen im Großhirn, die sich mit der weiteren Ver- arbeitung und Integration der verschiedenen visuellen Impulse beschäftigen. Dies wird als Divergenz oder divergente Verarbeitung bezeichnet. Konvergenz und Divergenz erklären die Bedeutung des Großhirns bei der visuellen Verarbeitung. Überspitzt gesagt: Das Wahr- nehmungsbild von Objekten entsteht im Gehirn, nicht im Auge. Die Nervenzellen in der Netzhaut weisen bei Säugetieren eine die elektrische Impulsverar- beitung differenzierende Zentrum-Umfeld-Organisation auf. Der deutsche Neurophysio- loge Günther Baumgartner (1924–1991) setzte Katzen Mikroelektroden in den Sehnerv und zeichnete die elektrischen Ströme in den Sinneszellen und Nervenbahnen zum Gehirn auf. Er beschrieb als wichtigstes Ergebnis seiner Experimente, dass die Informationen von mehreren Lichtsinneszellen oft in nur einer Zelle der aufsteigenden Nervenbahnen zusam- menlaufen. Die Fülle der Signale in den Sinneszellen der Retina wird schon im Sehnerv verdichtet. Der kreisrunde Einzugsbereich einer Nervenzelle auf der Netzhaut bezeichnete Baumgartner als rezeptives Feld (Baumgartner 1961). Danach durchgeführte neurophysio- logische Studien ergaben, dass die Hälfte der von der Netzhaut aufsteigenden Nervenzel- On-Center-Zellen len On-Center-Zellen sind. Sie werden elektrophysiologisch erregt, wenn ein Lichtreiz in Die On-Center- und Off- ihr rezeptives Feld im Zentrum fällt. Sie werden gehemmt, d. h., sie senden keine Impulse Center-Zellen zeigen neu- rophysiologisch ein spie- an das Gehirn weiter, wenn der Lichtreiz in die Region des Umfeldes fällt. Die restlichen gelbildliches Verhalten Nervenzellen sind Off-Center-Zellen, die durch Licht im Umfeld erregt werden und durch bei der Reizweiterleitung. Licht im Zentrum gehemmt werden. Das Prinzip wechselseitiger Hemmungen in den Ner- venbahnen vom Auge zum Gehirn wurden mit neurophysiologischen Experimenten in den 1970er-Jahren an verschiedenen Tierarten vom späteren Nobelpreisträger für Medizin Eric Kandel ausführlich beschrieben (Mason/Kandel 1991, S. 422f.). Tatsächlich ist die Idee einer gegenseitigen Hemmung von benachbarten Zellverbänden in den Nervenbahnen zum Gehirn wissenschaftlich älter. Der Physiker und Philosoph Ernst Mach (1836–1916) äußerte diese Annahme schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Bezug auf die mensch- liche Sinneswahrnehmung und erklärte so übersteigerte, mit der physikalischen Reizvor- lage nicht mehr übereinstimmende Kontrastphänomene in der visuellen Wahrnehmung (Mach 1922, S. 81f.). 34 Laterale Hemmung „Die laterale Hemmung bezeichnet ein allgemeines Verschaltungsprinzip im Gehirn, nach- dem sich benachbarte Zellen oder Zellen mit ähnlichen Verarbeitungseigenschaften wech- selseitig hemmen“ (Spering/Schmidt 2012, S. 25). Die zuerst von Mach postulierte Hem- mung benachbarter Nervenzellen untersuchte dieser an der nach ihm so benannten optischen Täuschung der Mach-Bänder oder Mach-Streifen. Betrachtet man eine Abbil- dung mit Streifen in verschiedenen Grautönen, so werden bei einem allmählichen Über- gang von hell nach dunkel an den Grenzen der Übergangsbereiche an der hellen Seite ein hellerer Streifen und auf der dunklen Seite ein dunklerer Streifen wahrgenommen. Je nach der Helligkeit der angrenzenden Flächen erscheinen die Streifen an den Kanten hel- ler oder dunkler. Abbildung 5: Kontrastphänomen als optische Täuschung in den Mach-Streifen Quelle: Burkhard Vollmers 2022. Mach zufolge werden die Zellen in einem homogenen hellen oder dunklen Feld gleichmä- ßig von ihren ähnlich aktiven Nachbarn gehemmt. An den Grenzen zwischen helleren und dunkleren Streifen werden die Zellen jedoch nur noch von der Hälfte der Umgebungszel- len gehemmt. Deshalb reagieren sie stärker, als es durch die visuelle Reizvorlage gerecht- fertigt wäre. Auf der hellen Seite der Kontrastgrenze wird so ein zu heller Wert durch die Nervenzellen signalisiert, auf der dunkleren Seite ein zu dunkler. So entstehen die beiden Linien an den Streifengrenzen. Die Reizvorlage verzerrende Kontrastempfindungen lassen sich mit anderen visuellen Mustern noch deutlicher herstellen. Der Psychologe Ludimar Herrmann (1838–1914) beschrieb das nach ihm so benannte Herrmann-Gitter. In den Kreuzungspunkten der schwarzen Felder erscheinen für Betrachter objektiv nicht vorhandene graue Punkte. 35 Abbildung 6: Herrmann-Gitter als Kontrasttäuschung Quelle: Donner 2017. Als psychophysiologische Erklärung wurde beim Herrmann-Gitter in der Wahrnehmungs- psychologie über viele Jahrzehnte ebenfalls eine laterale Hemmung angenommen. Heute wird diese Erklärung zurückgewiesen. Der ungarische Forscher Janos Geier veröffentlichte mit zwei Kollegen eine veränderte Variante des Gitters (Geier/Séra/Bernáth 2004). Werden die weißen Flächen zwischen den schwarzen Quadraten leicht verzerrt, geht beim Betrachten die Kontrasttäuschung deutlich zurück. Abbildung 7: Abwandlung des Herrmann-Gitters mit verminderten Kontrasteffekten Quelle: Donner 2017. Da bei beiden Gittern die gleichen Areale der Nervenbahnen erregt werden, müsste in bei- den Fällen das Prinzip der lateralen Hemmung wirken. Als Erklärung für den stärkeren Kontrasteffekt bei der ursprünglichen Variante des Gitters scheidet es damit aus. In der 36 heutigen Neurophysiologie wird als Hauptursache für diesen Kontrasteffekt die Stärke der Reizung einer funktionell ähnlichen Gruppe von Nervenzellen im visuellen Cortex ange- nommen (Schiller/Carvey 2005, S. 1390f.). Psychologische Prinzipien der visuellen Wahrnehmungsorganisation Menschen ist die visuelle Neurophysiologie der eigenen Sinne als Erlebnis im Bewusstsein selbst nicht zugänglich. Die Reizleitung im Nervensystem erfolgt unbemerkt. Menschen können bei der Betrachtung von Gegenständen bewusst verschiedene Perspektiven im Raum einnehmen und Aufmerksamkeit und Konzentration steuern. Das verschafft ver- schiedene visuelle Eindrücke des gleichen Gegenstands. Die Wahrnehmungspsychologie sucht nach allgemeinen Organisationsprinzipien visueller Eindrücke. Optische Täuschun- gen sind hilfreich für das Verständnis psychologischer Organisationsprinzipien. Seit Beginn der psychologischen Wahrnehmungsforschung in der Mitte des 19. Jahrhun- derts haben Wissenschaftler optische Täuschungen psychologisch und biologisch analy- siert. Psychologisch und biologisch kann die Kontrastillusion im Hermann-Gitter auch als eine milde Form der biologischen Überanpassung gedeutet werden. Der Kontrast ist eine Kontrast Wahrnehmungsverbesserung. Durch ihn werden besonders die Begrenzungsflächen Das Kontrastprinzip ist ein allgemeines Wahrneh- betont und Konturen erkannt. „Die verschiedenen Formen des Kontrasts (Rand-, Flächen-, mungsprinzip in allen Simultan-, Helligkeits-, Farbkontrast) bewirken insgesamt eine Genauigkeitsverbesserung fünf Sinnen. Kontrastef- der an sich nicht sehr ausgeprägten Abbildung auf der Retina“ (Benesch 1996, S. 101). fekte sind psychologische Verzerrungen eines wahr- genommenen Objekts, Neben dem Kontrastprinzip fungiert das Konstanzprinzip als wichtiges psychologisches die durch Wirkungen des wahrgenommenen Kon- Organisationsprinzip visuellen Erkennens. In der visuellen Wahrnehmung gibt es bei Men- textes, der als Gegensatz schen die starke Tendenz, in der Umwelt konstante Objekte zu identifizieren und wieder- oder Gegenpol zum zuerkennen. Die Wahrnehmung tendiert zur eindeutigen Objekt-Umwelt-Differenzierung, Objekt fungiert, verstärkt werden. die in der visuellen Wahrnehmungspsychologie auch Figur-Grund-Unterscheidung genannt wird. Als einer der ersten Wahrnehmungspsychologen hat sie der dänische Psy- chologe Edgar Rubin (1886–1951) systematisch untersucht (hierzu ausführlich Rubin 1921). Von ihm stammt die nach ihm benannte Rubin-Vase, auch Rubin-Pokal genannt. 37 Abbildung 8: Rubin-Pokal als Kippfigur Quelle: Burkhard Vollmers 2022 in Anlehnung an Rubin 1921, Anhang, Abb. 3. Bei der Betrachtung schwankt die menschliche Wahrnehmung permanent zwischen zwei Objekten. Entweder wird der Pokal bzw. die Vase in der Bildmitte wahrgenommen, oder links und rechts zwei schwarze Frauenköpfe. Betrachter sehen immer nur eines der beiden Bilder, niemals zugleich Pokal und Frauenköpfe. Visuelle Figuren bzw. Objekte sind Bedeutungseinheiten, die auf Betrachter als Ganzes wirken. Nach welchen wahrnehmungspsychologischen Prinzipien die Figur-Grund-Unter- scheidung funktioniert, haben viele Wahrnehmungspsychologen untersucht. Der amerika- nische Wahrnehmungspsychologe Harry Helson (1898–1977) hat eine Liste von 114 wahr- nehmungspsychologischen Faktoren präsentiert, die bei Menschen zur Unterscheidung von Figur (Kontur) und Grund (Kontext) führen (hierzu ausführlich Helson 1933). In neu- eren psychologischen Lehrbüchern finden sich mit Bezug auf den deutschen Wahrneh- mungspsychologen Wolfgang Metzger (1899–1979) zumeist fünf bis acht psychologische Organisationsprinzipien der Figur-Grund-Unterscheidung (Becker-Carus/Wendt 2017, S. 125f.; Goldstein 2015, S. 100f.). Die folgende Abbildung veranschaulicht fünf davon: 38 Abbildung 9: Visuelle Organisationsprinzipien der Figur-Grund-Unterscheidung Quelle: Benesch 1996, S. 104. Kontur: Figuren aus Flächen sind begrenzt. Sie werden in der Wahrnehmung umrandet, auch wenn die Figur unvollständig oder nur eine Skizze ist, wie z. B. die Katze (C1). Ähnlichkeit: Geometrische Muster werden in der Wahrnehmung nach ähnlichen Bedeu- tungen gruppiert und zusammengefasst. Obwohl die Figuren in C2 den gleichen waage- rechten und senkrechten Abstand haben, werden sie von Betrachtern zu Streifen von Kreisen und Kreuzen zusammengefasst. Kontinuität: In C3 überlagern sich zwei von links nach rechts kontinuierlich verlaufende Figuren. Wie in einer Kippfigur können beide als Vorder- oder Hintergrund gesehen wer- den. Auf den ersten Blick liegt die Wellenform auf den Säulen. Die wellenförmige Linie könnte aber als Tal im Hintergrund zwischen Berggipfeln wahrgenommen werden. 39 Gruppierung: C4 zeigt oben wahllos gezeichnete Kreise, die von Betrachtern öfter als Gruppe zu einer Drachenform gruppiert werden. Ähnlich werden im unteren Bereich jeweils vier Kreise als ein Quadrat (Gruppe) wahrgenommen. Kohärenz: C5 zeigt drei verschiedene Beispiele der Kohärenz als synthetisches (verdich- tendes) Organisationsprinzip der visuellen Wahrnehmung. In a links werden die beiden Figuren als überdeckt wahrgenommen, obwohl das Bild als zwei Figuren mit einem Zwi- schenraum gedeutet werden könnte (a rechts). In b ist das Motorrad in beiden Fällen gleich groß, wirkt aber unten durch die größere Person kleiner. In c wird das grüne Quadrat auf den ersten Blick als Anker für die aufrechte Ellipse gesehen. Es kann aber auch als Teil der gestrichelten Ellipse gesehen werden und liegt dann am Boden. Vorwissen und Gedächtnis in der visuellen Wahrnehmung Die visuelle Wahrnehmung dient im Alltag der Anpassung der Menschen an ihre Lebens- umwelt. Objekte in der Umwelt werden wiedererkannt, weil sie allgemeinen abstrakten gedanklichen Bilden, also den persönlichen Vorstellungen von z. B. Kreisen, Motorrädern und Katzen, entsprechen. Persönliche Vorstellungen von Alltagsobjekten verdichten psy- chologisch wichtige Kennzeichen von ähnlichen Objekten in der Umwelt. In der Wahrneh- mung wirkt dieses subjektive Vorwissen von Alltagsobjekten als Grundlage der sinnlichen Wahrnehmung. Es stammt aus den Erfahrungen eines Menschen mit ähnlichen Gegen- ständen. Wie solche inneren Bilder unsere Wahrnehmung und Wiedererkennung von Objekten und Personen steuern, hat als erster ausführlich der britische Gedächtnispsy- Schema chologe Frederic Charles Bartlett (1886–1969) mit dem Begriff des Schemas beschrieben. Ein Schema ist nach Bart- Visuelle Wahrnehmungspsychologie ist zum Teil auch Gedächtnispsychologie. lett ein implizites (vorbe- wusstes) Muster bzw. Wis- sen über Elemente in der Umwelt. Es wirkt auf deren Wahrnehmung ord- nend ein. 1.4 Akustische Wahrnehmung Wie in der visuellen sind auch in der akustischen Wahrnehmungsforschung die physikali- sche, physiologische und psychologische Ebene analytisch zu unterscheiden. In der akus- tischen Wahrnehmungsforschung werden sie integriert. Die folgende Darstellung beginnt mit der physikalischen Ebene. Physikalische Akustik und psychologische Empfindungen Die Akustik untersucht den von Objekten und Ereignissen ausgehenden Schall als akusti- sches Phänomen. Schall ist ein Geräuschphänomen. Geräusche (z. B. Motorengeräusche) entstehen durch mechanischen Druck und Vibrationen. Es kommt zu einer Freisetzung und Umwandlung von Energie. Physikalisch besteht Schall aus Wellen, die von einem Objekt oder Ereignis ausgehen und sich in einem das Objekt bzw. Ereignis umgebenden Trägermedium ausbreiten. Gewöhnlich ist die Luft das Trägermedium des Schalls. Schall- wellen machen sich in der Umgebungsluft als messbare Luftdruckänderungen bemerkbar (Goldstein 2015, S. 258). In der Physik werden zwei Hauptmerkmale von Schallwellen unterschieden: die Wellen- länge (Schwingung) und die Wellenauslenkung (Amplitude). Die Schwingung wird als Länge pro Sekunde in der Einheit Hertz gemessen 40 (1 Hertz = 1 Schwingung pro Sekunde). Die Amplitude wird in Längenmaßen (z. B. Zentimeter) angegeben. Eine weitere bedeutsame physikalische Messgröße, insbe- sondere bei der Ortung von Objekten und Ereignissen, ist die Schallgeschwindigkeit. Diese hängt vom Trägermedium und von der Temperatur ab. Bei warmer Luft von 20 Grad Cel- sius beträgt sie 343 Meter pro Sekunde, bei null Grad dagegen nur 311 Meter pro Sekunde. In Wasser zwischen 0 und 20 Grad liegt sie bei 1.480 Metern pro Sekunde (Benesch 1996, S. 113). Die physikalisch einfachsten Schallereignisse sind Sinustöne. Es sind Einzeltöne. Misst man außen an einem Lautsprecher, der einen Sinuston erzeugt, den Luftdruck, so entsteht ein periodisches Muster von Luftdruckänderungen als Pendelform. Die in einem Koordina- tensystem dargestellte Kurve der gemessenen Luftdruckänderungen ist eine Sinuskurve. Abbildung 10: Sinuskurve einer einfachen Tonschwingung Quelle: Burkhard Vollmers 2022. Schallereignisse des Alltags bestehen aus Überlagerungen verschiedener Schallwellen. Haben Schallwellen ein gemeinsames periodisches Muster, so liegt ein harmonischer Gleichklang vor, der sich mit der musikalischen Harmonielehre beschreiben lässt. Die Harmonielehre meisten Schallereignisse folgen jedoch keinem geordneten, in wenige Einzelteile zerlegba- Die Harmonielehre ist die musikalische Beschrei- ren Wellenmuster. Schallwellen sind wie Lichtwellen bei der Ausbreitung verschiedenen bung des Zusammenklin- Abweichungen unterworfen. Sie treffen auf Objekte und Räume, die den Schall abschwä- gens verschiedener Töne. chen oder verstärken. Deshalb klingen physikalisch identische Schallwellen, die von einem Objekt ausgehen, in einem mit Wänden abgeschlossenen engen Raum anders als in einem großen Saal einer Konzerthalle. Lautstärke Die Physik berechnet den Schalldruck als Veränderungen des Luftdrucks. Dieser wird wie der Luftdruck in den Einheiten Pascal oder Bar gemessen. Pascal (N/m2) ist die geläufigste Einheit der Schalldruckmessung in der Physik. Die Lautheit eines Schallereignisses für Menschen hängt vor allem vom Schalldruck des Ereignisses ab, steigt aber nicht gleichför- 41 mig linear, sondern logarithmisch mit diesem an. In Medizin und Psychologie wird deshalb mit Dezibel (dB) als Skala für den Lautheitseindruck gearbeitet. Dezibel messen den p Schalldruckpegel nach der Formel dB = 20 · log10 p0. In dieser Formel ist p der von der Schallwelle ausgelöste physikalische Schalldruck (in N/m2), log10 ist der Logarithmus zur Basis 10, p0 die Konstante 0,00002 N/m2 als Referenzschalldruck. Die Dezibelskala ist eine objektive naturwissenschaftliche Skala. Ihr gelingt der Brückenschlag von der Physik (Schalldruck) zur Psychologie (Lautheitsempfindung). Lautheitserlebnisse im Alltag lassen sich durch Dezibel charakterisieren. Tabelle 3: Schalldruckpegel von Alltagsgeräuschen Schallereignis im Alltag Schalldruckpegel gerade hörbarer Ton (absolute Reizschwelle) 0 dB raschelnde Blätter im Wind 20 dB Geräusche in verkehrsberuhigter Wohnstraße 40 dB Gesprächslautstärke in geschlossenen Räumen 60 dB Verkehrslärm in der Stadt 80 dB U-Bahn bei Einfahrt in Station 100 dB Rockkonzert 120 dB Start eines Düsenflugzeugzeuges neben Hörer 140 dB Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 51. Die Dezibelskala ist eine logarithmische Skala. Die Erhöhung des Schalldruckpegels um 10 dB entspricht der Verdoppelung des subjektiven Lautheitsempfindens von Personen. Subjektive Einschätzungen der Lautheit von Schallereignissen werden in Medizin und Psy- chologie mit den klassischen Methoden der Psychophysik durchgeführt. Tonhöhe Neben der Lautstärke (leise vs. laut) gibt es für Menschen eine zweite charakteristische Hörempfindung, die Tonhöhe (hoch vs. tief oder hell vs. dunkel). Je höher die Frequenz von physikalisch gemessenen Schallereignissen ist, desto höher ist im Allgemeinen die Tonhöhe. Der für das menschliche Ohr wahrnehmbare Wellenbereich liegt zwischen 20 und 20.000 Hertz. Die folgende Darstellung veranschaulicht schematisch den Zusammen- hang zwischen Wellenschwingung (Hertz), Schalldruckpegel (Dezibel) und Lautstärke. Der Lautstärkepegel ist rechts in der physikalischen Maßeinheit Phon abgetragen. Sie gibt an, welchen Schalldruckpegel ein Sinuston mit einer Frequenz von 1.000 Hertz haben müsste, damit dieser Ton genauso laut empfunden wird wie ein betrachtetes Schallereignis. Bei einer Schallfrequenz von 1.000 Hertz stimmen Schalldruckpegel (Dezibel) und Lautstärke- pegel (Phon) überein. Die Querlinien deuten die Abhängigkeit von Lautheit und Frequenz 42 in der Tonhöhe an. Von links nach rechts nimmt die Lautstärke zu. Aus dem für Menschen Phon hörbaren Frequenzspektrum werden nur Teile für Gespräche (schraffierter Bereich) und Mit Phon ist ein physikali- sches Maß für Lautstärke für die Musik (helltürkis umrandeter Bereich) verwendet. gemeint. Die subjektiv beurteilte Lautheit von Geräuschen oder Tönen Abbildung 11: Quantitative Zusammenhänge von Schalldruckpegel (dB), wird in der akustischen Lautstärkepegel und Wellenfrequenz (Hz) beim menschlichen Hören Wahrnehmungsforschung mit der Einheit Sone gemessen. 40 Phon wer- den im Allgemeinen mit 1 Sone als Lautheit bewer- tet. Quelle: Benesch 1996, S. 112. Diese Abbildung ist eine Vereinfachung. Laustärke und Tonhöhe hängen von weiteren Fak- toren ab, z. B. von der Distanz eines Hörers zum Schallereignis. Bei Gewitter klingt deshalb das Donnergeräusch für Menschen lauter und heller, wenn es nahe ist. In der Ferne ver- nehmen Personen ein Gewitter als leises Grollen. Das menschliche Ohr Das menschliche Ohr wandelt Schallwellen (Luftdruckänderungen), die auf das Trommel- fell im Innenohr treffen und mechanischen Druck ausüben, in elektrische Impulse um. Diese gelangen über die aufsteigenden Nervenbahnen zum Gehirn. Anatomisch werden Außenohr (Ohrmuschel und Gehörgang), Mittelohr (Trommelfell mit Gehörknöchelchen) und Innenohr (Schnecke) unterschieden. 43 Abbildung 12: Schematischer Querschnitt durch das menschliche Ohr Quelle: Spering/Schmidt 2012, S. 48. Schallschwingungen treffen vom Außenohr (links) auf das Trommelfell. Es wird in Schwingungen versetzt. Durch einen Hebelmechanismus in der mit Luft gefüllten Pauken- höhle des Mittelohres, der aus den Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel besteht, werden die Schwingungen verstärkt. Über das ovale Fenster werden die Schwing- ungen an die Cochlea im Innenohr übergeben. Die Cochlea ist ein schneckenförmiger Tun- nel mit drei Spuren, die durch zwei Membranen (Zellwände) getrennt sind. Die Schwingun- gen verlaufen über die obere Spur (Scala vestibuli) in die Cochlea. Dort werden die schallempfindlichen Sinneszellen erregt. Die Schwingungen verlaufen weiter über die Spitze der Schnecke wieder in Richtung Mittelohr zurück. Über das runde Fenster verlas- sen die Schwingungen das Ohr. Das Mittelohr ist über die Eustachsche Röhre mit dem Nasenraum verbunden. Das eigentliche Sinnesorgan ist die Basilarmembran in der Cochlea. Sie enthält feine Haar- zellen. Wenn sich die Basilarmembran durch die Schwingungen auf und ab bewegt, bewe- gen sich die Haarzellen mit. Dabei stoßen sie mit ihren empfindlichen Zellen (Stereocilien) gegen eine weitere Membran, die Tektorialmembran. Die Stereocilien werden verbogen und setzen chemische Prozesse in Gang, die zum Aufbau elektrischer Potenziale an der 44 Außenhaut der Haarzellen führen. Diese werden als elektrische Impulse zum Gehirn gelei- tet. Das Corti-Organ (in der Abbildung oben rechts) besteht aus Haarzellen, Stereocilien und Tektorialmembran. Die Reizleitung vom Ohr zum Gehirn Die elektrischen Signale aus dem Innenohr gelangen über den Hörnerv in das Gehirn. Der Weg der auditiven Signalleitung zum Großhirn verläuft über verschiedene Schaltstellen in Hirnstamm, Mittelhirn und Thalamus. Ähnlich wie beim visuellen System gibt es im auditi- ven eine Kreuzung der aufsteigenden Nervenbahnen. Den größten Teil der Informationen aus dem linken Ohr erhält die rechte Hälfte des Großhirns und umgekehrt. Wie beim visu- ellen System ist jede Gehirnhälfte überwiegend für die auditiven Informationen der gegen- überliegenden Seite des Kopfes zuständig. Physiologische und psychologische Organisationsprinzipien Neurophysiologie und Wahrnehmungspsychologie beschreiben für das auditive System die gleichen physiologischen Verarbeitungsprinzipien und ähnliche psychologische Orga- nisationsprinzipien wie für das Sehen. Konvergenz, Divergenz und laterale Hemmung Verglichen mit dem Sehsinn überwiegt beim Hörsinn die Divergenz gegenüber der Konver- genz bei der Impulsverarbeitung in den Nervenbahnen zum Gehirn. Mit den 3.000 Haarzel- len im Innenohr sind etwa 90 Prozent der etwa 40.000 Nervenfasern des Hörnervs verbun- den. Im Gehirn werden die Impulse aus 40.000 Nervenfasern von mehreren Milliarden Nervenzellen weiterverarbeitet (Spering/Schmidt 2012, S. 49). Für den primären auditorischen Cortex, der sich auf der oberen Windung des Temporal- lappens im Großhirn befindet, weisen neurophysiologische Ableitungen in Experimenten an Katzen darauf hin, dass bestimmte Zellen von bestimmten Schallfrequenzen erregt werden und von benachbarten Schallfrequenzen gehemmt werden. Das ist eine Form late- raler Hemmung, die ähnlich wie im visuellen System als Kontrastverstärker im Sinnesein- druck gedeutet wird (hierzu ausführlich Rhode/Greenberg 1994). Psychologische Organisationsprinzipien des Hörens Gruppierungen und Konturierungen von auditiven Eindrücken finden bei Menschen nach ähnlichen Gestaltungsprinzipien statt wie bei visuellen Mustern. Es werden auch akustisch Figur und Grund unterschieden. In einem Rockmusikstück sind das z. B. der Klang der Rockgitarre (Figur) und der Klang der begleitenden Instrumente (Grund). Wer die Klänge eines Musikstücks bewusst verfolgt, fasst Tonfolgen nach Ähnlichkeiten zu Einheiten zusammen. Es entstehen Melodien als charakteristische Linien bzw. Konturen in der audi- tiven Wahrnehmung. Diese bleiben den Rezipienten oft gedanklich als Schema präsent und werden beim erneuten Hören von Musikstücken von den Personen wiedererkannt (Bregman 1990). 45 Psychologische Funktionen des Hörens im Alltag Im Alltag dient das Hören Menschen der Schallortung und damit zur Orientierung im Raum und zur Vermeidung von Gefahren (z. B. Unfällen im Straßenverkehr). Bedeutsam ist das beidseitige Hören bei der Schallortung. Diese beruht auf der kurzzeitigen Wahrneh-