Was wir dachten, was wir taten (PDF)
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Lea-Lina Oppermann
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This is an excerpt from a novel titled "Was wir dachten, was wir taten". It revolves around a possible safety incident in a classroom and fictional characters.
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Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html? isbn=978-3-407-74963-5 Leseprobe a...
Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html? isbn=978-3-407-74963-5 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. An die- sem Tag. In diesen 143 Minuten. Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. Kann sein, dass es dich verändert. Kann sein, es lässt dich kalt. Kann sein, dass du schon davon gehört hast, im Fernsehen oder in den Schlagzeilen. So viele Reporter, die darüber be- richtet haben, Fotos geknipst und mit dem Rektor gespro- chen … Wenn ja, vergiss es, nichts davon ist wahr. Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. Wir waren dabei. Mark Winter Fiona Nikolaus A. Filler Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel »Es ist ein schwerwiegendes Sicherheitsproblem aufgetreten. Bitte bewahren Sie Ruhe. Begeben Sie sich sofort in einen geschlossenen Fachraum und warten Sie auf weitere Anweisungen.« Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel MAR k Als es plötzlich im Lautsprecher knackte, war ich schon kurz davor, alles hinzuschmeißen. Die Durchsage war meine Rettung. Während alle an- dern die Decke anstierten, nutzte ich die Gelegenheit, um vom Knallermann die dritte Aufgabe abzuschreiben. Knal- lermann, das ist Sylvester (Mädchenschwarm und Mathe- crack – Knallermann macht’s möglich). Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Herr Filler in meine Richtung spähte. Ein spitzschnabliger Habicht, bereit, sich auf mich zu stürzen. Scheiße, dachte ich, und dabei hatte ich mir so viel Mühe mit der Platzwahl gegeben. Bei Klausuren muss man sich günstig positionieren, am besten ganz hinten in der Ecke bei dem Eingang. Schnell tat ich so, als wäre ich in meine eige- nen Rechnungen vertieft. »Mark!« Ich zuckte zusammen. Er hatte mich erwischt. Sechs, aus, Ende. »Mark Winter! Schließt du mal bitte die Tür ab?« Jetzt erst blickte ich von meinem völlig sinnlosen Gekrit- zel auf. »Was?« »Du schließt sofort die verdammte Tür ab!« Ich war mir nicht sicher, ob mein mathegeplagtes Hirn mir nicht einen Streich gespielt hatte. Konnte das wirklich Herr Filler gesagt haben? Statt den Lautsprecher starrten jetzt alle mich an. 8 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel »Mach endlich die Tür zu, du Depp!«, rief Sylvester. »Beeilung!«, kommandierte Herr Filler. Ich stand auf. Ging die zwei Schritte zur Tür. Drehte den Verschluss zweimal rum. »So okay?« Herr Filler nickte schwer atmend. »Mehr können wir im Augenblick nicht tun.« FIONA Herr Filler war für mich immer nur der smarte Mathelehrer. Der Mann in Jeans und dunkelblauem Sakko, der sich im Unterricht nie hinsetzte und auch nicht hin und her schlen- derte. Herr Filler stand einfach, und zwar mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Wie ein Filmstar, der einen Soldaten spielen soll. In den ersten Wochen hatte es in unserer Klasse keine dringlichere Frage gegeben als die, ob er nun Schulterpolster trug oder nicht und ob er sich die Haare wohl färbte. Blond. Blond mit blauen Augen und ohne Schulterpolster. Das war Herr Filler. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, er könnte auch nur eine Sekunde lang nicht Herr der Lage sein. Herr Filler und Angst, das war unmöglich! Aber ich saß in der ersten Reihe. Und ich kann dir schwö- ren, der hatte so was von Bammel. »Herr Filler? Ist das der Amokalarm?«, fragte Ida-Sophie. Ihre Locken wippten auf und ab. Richtige Korkenzieherlo- cken waren das, keine fedrigen Vogelnestflusen. 9 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Amokalarm. Mit welcher Lockerheit sie das gesagt hatte, als ginge es nur um einen Fehler im Vertretungsplan. Amokalarm. Ein Unbehagen breitete sich zwischen uns aus, hüllte uns ein wie eine dichte Wolke. Ich sah meinen Füllerdeckel über die Tischkante kullern, ohne dass ich ihn aufhielt. Lauschte dem leisen Auftitschen. Merkte, wie Herr Filler bei dem Ge- räusch zusammenzuckte. Es gibt Wörter, da kommt es gar nicht darauf an, wie du sie aussprichst. Es reicht, dass du es tust. »Na ja, kein Grund, gleich den Teufel an die Wand zu ma- len.« Herr Filler versuchte, selbstsicher zu klingen, so wie sonst. »Ein Sicherheitsproblem, das kann alles Mögliche sein.« Er strich sich über sein Sakko, als wollte er die Angst wegschnippen wie einen Fussel. Strich über Schultern, die keine Polsterung nötig hatten. Herr Filler würde nicht zulas- sen, dass uns etwas passierte, das wusste ich. Eigentlich. »Aber wenn es ein Amokalarm wäre«, fragte ich, »dann würde diese Durchsage kommen, oder?« Herr Filler nickte. Woraufhin ein kleiner Tumult ausbrach, alle redeten durcheinander. Was, ein Amokläufer? Nein, das kann nicht sein. Ein echter Amokläufer?! Ich war genauso ungläubig wie der Rest der Klasse. »Wer sollte das denn bitte sein?«, raunte ich meiner Freun- din Greta zu, »so durchgeknallt ist doch hier keiner!« Meine Stimme klang schnell und spuckig und überhaupt nicht nach mir selbst. 10 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Ich sah Greta an. Durch die Brille wirkten ihre Augen noch runder, als sie es ohnehin schon waren – große, dunkle Sorgenaugen. Sag was, dachte ich, los, stimm mir zu, mach mir keine Angst! Greta fummelte an ihrem Brillenbügel. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte oder verlegen war. An manchen Stellen war das Plastik schon ganz blank poliert. »Wahrscheinlich nicht«, antwortete sie. Wahrscheinlich. Das Wort gefiel mir ganz und gar nicht. »Würden die doch endlich verraten, was los ist«, sagte ich. »Herr Filler hat recht, schwerwiegendes Sicherheitsproblem, das kann alles Mögliche sein!« Regentropfen pladderten in der Stille gegen das Fenster. Zerplatzten an der Scheibe wie winzige Geschosse. »Ja«, murmelte Greta, »das kann alles Mögliche sein.« Ich dachte an die letzte Pause zurück, die vielen Schüler, in Grüppchen über den Hof verteilt. Manche quatschend auf den Stufen, manche auf der Mauer, um noch schnell die Hausaufgaben abzuschreiben, manche dahinter … Ein paar komische Typen waren schon dabei. Solche, die sich die Haa- re färbten, alle zwei Tage anders, oder die T-Shirts trugen mit Marilyn-Manson-Zitaten oder die sich die Zunge piercen ließen, einmal mittendurch. Wie verrückt musste man sein für einen Amoklauf? »Herr Filler!« Mark meldete sich, der Idiot aus der letzten Reihe. »Heißt das, wir müssen die Klausur nicht zu Ende schreiben?« 11 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Ich lachte, laut und schrill. Wie absurd war das denn? »Ruhe!« Da war sie wieder. Herrn Fillers Autorität. Er stemmte die Hände in die Hüften und fokussierte uns einen nach dem anderen. »Freunde, wahrscheinlich ist das hier kein echter Amokalarm. Wir warten gemeinsam auf weitere Anweisungen, bis dahin seid ihr einfach ruhig und arbeitet weiter.« Allgemeines Aufstöhnen. »Na toll.« Seufzend ließ Ida-Sophie den Kopf auf die Tisch- platte sinken und eine Welle von Haaren schwappte über die Kante. »Ich dachte, wir müssen kein Mathe mehr machen …« Sie pflückte sich eine Locke aus der Stirn und gähnte. Ich mochte sie nicht besonders, vermutlich weil sie hübsch war. Versteh mich nicht falsch, ich hab nichts gegen hübsche Menschen. Nur gegen solche, die wissen, dass sie hübsch sind, und Ida-Sophie wusste das sehr genau. »Meint ihr, da ist wirklich jemand … unterwegs?«, fragte Tamara vorsichtig. »Jemand mit einer echten Waffe?« Durch die rosa Pausbäckchen wirkte sie immer noch ein wenig wie ein Kind, ein ziemlich verstörtes Kind. Aber vielleicht waren wir das auch alle. Verstörte Kinder. »Ich hab gesagt, ihr sollt abwarten!«, herrschte Herr Fil- ler sie an und Tamara sackte zusammen. »Weiterarbeiten! Freunde, ihr habt noch viel zu tun!« Sylvester hob die Hand, gerade so, dass es wichtig und gleichzeitig lässig aussah. »Sorry, aber wir können doch nicht abwarten und gleichzeitig weiterarbeiten, das geht ein- fach nicht.« Er lächelte verschmitzt. 12 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Und wie das bei ihm so ist, waren alle sofort auf seiner Seite: »Echt.« »Genau!« »Find ich auch.« »Knallermann, go!!« Das ist schwer zu verstehen, wenn man ihn nicht kennt. Wenn mich vor ein paar Jahren jemand gefragt hätte, wie ich mir jemanden vorstellte, der Sylvester hieß, hätte ich si- cher alles Mögliche gesagt, nur nicht cool. Bis unser Sylvester kam und alles über den Haufen warf. Umwerfend, ja, das war er, der Knallermann! Ich weiß nicht, wie er das machte, aber aus seinem Mund klang alles gut und schlau, und selbst wenn er schwieg, sagte das mehr aus als alles, was irgendein anderer von sich gab. Er war einfach ein Wunder, ein Genie, eine Bombe, kurzum: der absolut hinreißendste Junge, den man sich vorstellen kann. Dabei sah er nicht mal besonders modelmäßig aus. Okay, er sah schon gut aus mit seinem rabenschwarzen Haar, dem aufrechten Rücken, dem klaren, blauen Blick … Aber das taten Fabio und Luca auch und trotzdem hielt in ihrer Gegenwart nicht alle Welt den Atem an. Vielleicht war das so eine biologische Reaktion, vielleicht verfügte Sylves- ter über genau die Stimme, das Lachen, den Gang, bei denen jeder sofort »Sympathisch!« denkt, ganz automatisch. Es war ein Phänomen. Wie von selbst nickte ich mit dem Kopf, einfach, weil er das sagte, dabei hätte ich gar nichts dagegen gehabt, die 13 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Klausur noch zu Ende zu schreiben. Ich gebe es ja nur un- gern zu, aber ich mag Mathe. Ich mag Zahlen. Ich mochte sogar Herrn Filler, obwohl ich nicht glaube, dass es irgendwo auf der Welt einen eingebildeteren Mathelehrer gibt. »Danke, Sylvester, für diesen außerordentlich scharfsinni gen Beitrag.« Herr Filler war der Einzige, dem das Sylvester- Syndrom nichts anhaben konnte. Musste ein genetischer Defekt sein. »Keine Ursache!« Herr Filler zog die Stirn kraus, setzte seine »Ich warne euch«-Miene auf. »Freunde, ich warne euch, der Nächste, den ich ermahnen muss, kann sein Matheheft wirklich ab- geben.« »Och, Herr Filler«, Aline schlug die Beine übereinander und guckte so mäuschenmäßig wie möglich, »wir können uns gar nicht mehr konzentrieren …« »Ruhe jetzt, die Zeit läuft weiter!« Hinter mir sprang jemand geräuschvoll vom Stuhl auf, Turnschuhe quietschten über den frisch geputzten Plastik- boden. Ich drehte mich um. Mark. Ohne ein Wort bahnte er sich den Weg durch die einzel- nen Tische nach vorne, die Matheklausur unterm Arm. Besonders cool sah er dabei nicht aus. Der verwaschene Pulli, den er trug, schlackerte zu sehr an ihm herunter, um noch wirklich modisch zu wirken, und die Turnschuhe hin- terließen eine Bröselspur, die genauso matschbraun war wie 14 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel sein Haar. Über seinem linken Auge klaffte eine Narbe, ein- mal quer durch die Braue wie ein X. Darunter Furchen, so tief wie bei einem, der seit Monaten kaum geschlafen hat. Wer bist du eigentlich? Mir fiel auf, dass dies das erste Mal war, dass ich ihn aus seiner Ecke herauskommen sah. Normalerweise hockte er bloß mit verschränkten Armen da, gebeugt, als interessiere er sich mehr für seine Schnürsenkel als für uns. Mark stehend und Herr Filler sitzend – das war neu. Drei schrecklich spannungsgeladene Sekunden lang starrten sich die beiden einfach an, lange, unerträglich lange, dann holte Mark aus und klatschte Herrn Filler die Blätter auf den Tisch. Ich erschrak fast so sehr wie Greta. Das hier war eine an- dere Nummer als ein vermasselter Vokabeltest, es war un- sere letzte Klausur vor den Ferien und, wie Herr Filler mehr- fach betont hatte, die wichtigste. »Mark, willst du es nicht zumindest noch mal versu- chen?« Herrn Fillers Kiefer verhärtete sich. »Noch hast du genug Zeit …« Doch der schüttelte nur den Kopf. »Nö. Falls hier wirklich ein Irrer mit ’ner Knarre rumläuft, will ich die letzten Minu- ten meines Lebens nicht mit Mathe verbringen.« Ein Grin- sen huschte über sein Gesicht, stolz vielleicht oder einfach verrückt. Er steckte die Hände in die Taschen und setzte sich zurück auf seinen Platz. 15 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel In diesem Moment verstand ich die Relativitätstheorie (wenn auch nicht ganz so wie Einstein). In der Schule ist alles relativ wichtig. Wichtig also in Re- lation zu anderen Sachen. Wichtiger, als zu Hause auf dem Sofa rumhängen. Unwichtig, wenn es um Leben oder Tod geht. Wer weiß, vielleicht saßen wir nur da rum und lösten Gleichungen, weil uns gerade nichts Besseres einfiel. Jetzt, wo ich so drüber nachdenke, kann ich das erklären. Damals dachte ich nur: Irgendwie hat er recht, diese dämli- che Klausur ist jetzt doch völlig egal. »Diese dämliche Klausur ist jetzt doch völlig egal!«, rief Fabio zwei Reihen hinter mir, anscheinend hatte sich die Re- lativitätstheorie nicht nur mir offenbart. Geschlossen wie eine Gang sprangen Sylvester, Fabio und Ida-Sophie von ihren Stühlen auf. Oder war Sylvester eine Millisekunde vor Fabio und Ida auf den Beinen? Bestimmt, schließlich war er der Anführer, immer. Er blickte sich um und seine Augen funkelten so blau wie nur irgendwas. Sylvester. Mannometer. Fabio schlug ihm auf die Schulter, Fabio, das Kraftpaket, und trotzdem zuckte Sylvester kein bisschen zusammen, er nicht. Stattdessen lächelte er, mit halbem Mundwinkel, schaute kurz zu mir, zu mir!, zu mir!, und dann weiter an mir vorbei zu Ida-Sophie. Sie lächelte zurück. Strahlte, fraß ihn fast auf mit ihren riesigen weißen Zähnen, merkte er das nicht? Es versetzte mir einen Stich, mit welcher Selbstverständ- lichkeit er sich an ihrem Körper vorbeischob, so dicht, dass 16 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel ihre Hände sich streiften, seine braun gebrannt und mit dunklen Härchen besetzt, ihre lang und fein wie Elfenfinger. So traten sie nach vorne, Sylvester, Ida-Sophie und ganz zum Schluss Fabio. Wie eine wahnsinnig schöne Gang. Und mit welcher Eleganz knallten sie Herrn Filler die Klausur- bögen vor die Nase! Erst Sylvester, dann Ida-Sophie und schließlich mit einem unglaublich lauten Wumms Fabio, während Herr Filler daneben stand. Auf einmal wirkte der nicht mehr ganz so smart in seinem maßgeschneiderten Sakko. Arbeitsverweigerung in seinem Unterricht! Unter anderen Umständen hätte das niemand gewagt. Unglaublich, wie schnell sich alles ändern kann, dachte ich, während ich mich streckte, um meine Blätter zu denen der anderen segeln zu lassen. Ja, genau das tat ich, auch wenn ich ein flaues Gefühl dabei hatte: Ich ließ sie Herrn Filler vor die Nase gleiten, genau wie Sylvester, genau wie Mark. Vierein- halb eng bekritzelte Seiten, bedeutungslos mit einem Schlag. Wow. Ich hatte nicht einmal dafür aufstehen müssen. »Fiona! Wenigstens du könntest versuchen, die Arbeit ab- zuschließen.« Herr Filler klang jetzt fast flehend. »Das ist doch einfach nur Trotz, wir sind hier nicht mehr in der fünf- ten Klasse …« Ich schaltete auf Durchzug. Was er sagte, war plötzlich al- bern. Es war irrelevant. »Was machen wir eigentlich, wenn wir Schüsse auf dem Flur hören?«, unterbrach ich ihn. »Stellen wir uns tot?« Ein paar der anderen lachten, doch ich erkannte ihre Stim- men nicht wieder. 17 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel »Genau, was machen wir dann?« Ida-Sophie legte den Kopf schief. »Hatten Sie dazu nicht vielleicht eine Einwei- sung oder so?« HERR FILLER Nein, ich hatte keine Einweisung oder so. Feueralarm ja, Amokalarm nein. Ich war erst seit knapp zwei Jahren an der Schule, Herrgott! »Erst mal warten wir auf weitere Anweisungen.« Ich zwang mich dazu, mich nicht von der Aufregung der Schüler anstecken zu lassen. Vorbildfunktion. »Ich bin sicher, man wird uns bald genauer informieren, so lange bewahren wir bitte Ruhe. « Bitte. Wie es mir auf die Nerven ging, dieses höfliche Ge- tue. Hört mal bitte zu, seid mal bitte leise, benehmt euch bitte nicht wieder wie im Kindergarten … Immer höflich bleiben. Die Schüler akzeptieren. Transparenz. Manchmal wäre ich gern in einem anderen Jahrhundert geboren. Nur Mut, mein Junge. Nachsichtig schaute Pythagoras von seinem Gemälde zu mir herunter, der weiseste Mathematiker aller Zeiten mit wallendem Vollbart und Denkergesicht, ein- gerahmt in Gold. Meine Freundin hatte ihn mir geschenkt, zu Weihnachten, letztes Jahr. Valérie. Wie viel lieber wäre ich jetzt bei ihr daheim gewesen! Hätte mit ihr auf der Couch 18 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel gelegen, ihre herrlichen gefüllten Pfannkuchen vertilgt oder meinetwegen auch für sie den Staubsaugerbeutel gewechselt. Trotz Hausstaubmilbenallergie. Denn natürlich gaben sich die Schüler damit nicht zufrie- den. Warten, das können Jugendliche nicht besonders gut. Schon gar nicht auf weitere Anweisungen. Noch schlaffer als sonst hingen sie auf ihren Stühlen, blass und unsicher, als würden sie von ihrer eigenen Coolness zu Boden gezogen. Ein Haufen Leichen in meinem Klassenraum. Einen winzigen Augenblick lang stellte ich mir das tatsächlich vor, die gan- ze Klasse, ausgelöscht von einem Moment auf den anderen. Was würde mein Chef dazu sagen? »Kann ich bitte mein Handy wiederhaben, ich müsste mal kurz meiner Mum schreiben …« Sehnsüchtig schaute Aline zu der Kiste unter meinem Pult herüber. Enges Top, lange Wimpern und ein Gesicht, dem man ansah, dass sie sich viel Mühe gab, es möglichst erwachsen wirken zu lassen. Sie schob die Unterlippe vor, ihre Augen glänzten mich an. Ali- ne war eines dieser vielen überforderten Mädchen, die ihre Rolle erst noch finden mussten – man musste Geduld mit ihnen haben. »Ich auch!« Gleich mehrere Schüler sprangen auf Alines Handy-Gejammer an. »Dann können wir auch gleich beim Sekretariat nachfragen …« Ida-Sophie hatte sich auf ihrem Stuhl umgedreht und tuschelte hektisch mit Sylvester. »Ruhe im Karton!« Ich zwang mich zur Konzentration. Vielleicht war irgendwo in der Schule ein Problem aufge- treten – nun gut, das lag außerhalb meines Handlungsbe- 19 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel reiches, daran konnte ich nichts ändern. Später würde man mich informieren. Bis dahin musste ich, so gut es ging, die Stellung halten. Was ich brauchte, war ein Plan. Es ist wie im Krieg: Wenn man gewinnen will, dann reicht es nicht, sich seine eigene Taktik zu überlegen, nein, man muss auch die Aufstellung des Gegners studieren. Günstigerweise handelte es sich um eine kleine Klasse, nur acht Doppeltische. In vorderster Front: die Musterschü- ler, natürlich. Fiona, Brillen-Greta und an einem zweiten Tisch daneben Tamara mit ihrem dicklichen Kindergesicht. Folgsam und pflegeleicht alle drei. Was hatte Fiona sich bloß dabei gedacht, mir ihre Klausur hinzuschmeißen? Linker Flügel: die Desinteressierten, die sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, Mark zu folgen. David und Jill in ihrer Friedhofstracht – ein wenig unheimlich, aber harmlos. Im Zentrum: Ida-Sophie, die lockige Anführerin, flankiert von ihrer besten Freundin, deren Namen ich ständig vergaß. (Thea oder Svea oder so ähnlich). Bei ihr musste ich vorsich- tiger sein. Wenn ich Ida-Sophie verärgerte, hatte ich in Kür- ze den ganzen Raum gegen mich. Dahinter, in der Mitte, lungerte die Muskelkohorte, Sylves- ter und seine durchtrainierten Kumpane. Luca und Fabio. De- ren betonte Lässigkeit, die mir sonst so auf die Nerven ging, war heute vielleicht ausnahmsweise einmal nützlich. Jeden, der half, Panik zu vermeiden, konnte ich gut gebrauchen. Zumal Lucas momentane Freundin und Sitznachbarin Aline mit ihrem Gejammer noch immer Unruhe stiftete. 20 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Rechts am Fenster: diejenigen, die es nicht in die Muskel- kohorte geschafft hatten – der eine, Jan, weil er zu fett war, der andere, weil er ständig von seinen Eltern zum Lernen verdonnert wurde. Lasse. Sein Vater war im Elternrat. Und dann war da noch Mark. Einzelkämpfer, zum Glück. Von ihm ging eindeutig die größte Gefahr aus. Typisch für ihn, sich direkt an der gegenüberliegenden Wand zu positi- onieren. So nah wie möglich am Ausgang und so weit wie möglich entfernt von mir und der Tafel. Man war ja schließlich nicht zum Lernen hier. Das Tuscheln breitete sich aus, zunehmend erregter. »We- nigstens ein Handy könnten Sie zur Sicherheit rausrücken«, brummte Sylvester, »meins zum Beispiel …« Luca nickte zustimmend. »Mein Vater ist im Elternrat!«, rief Lasse. Allmählich geriet ich wirklich ins Schwitzen. Mathe, Sport und Geschichte, das konnte ich den Kindern beibringen, aber nicht, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Ich wusste es ja selbst nicht! Verzweifelt kramte ich in mei- nem Gedächtnis nach brauchbaren Verhaltensregeln, aber da waren keine Regeln. Bloß eine schwache Erinnerung an diese aufdringliche Frau mit der schwarzen Fleecejacke, wie sie ein Handout nach dem andern austeilte. Beim Vortrag letztes Jahr. Stundenlang hatte die krakeelt über Risikofak- toren und Prävention – es war die längste Konferenz meines Lebens gewesen und am Ende konnte ich mich trotzdem nur noch an die vielen blondierten Haare erinnern, die an ihrer Jacke klebten (sechs auf den Schultern, drei auf dem Rücken 21 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel und acht auf der Brust). Was hatte die noch gleich zum The- ma Amoklauf gesagt? Ruhe bewahren. Ablenken. Auf keinen Fall eine Massenpanik bei den Eltern auslösen. Das war alles, was ich behalten hatte. Diese verfluchten Haare! »Die Handys bleiben bei mir«, sagte ich. »Vielleicht brau- chen wir die noch, um … äh … mit der Polizei in Verbindung zu bleiben.« Entsetzte Blicke. »Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass es da wirklich ein ernstes Problem gibt!«, fügte ich hastig hinzu. Hervorragend, jetzt hast du zwar nicht bei den Eltern, aber dafür bei den Schülern eine Massenpanik ausgelöst. »Der hat das doch voll nicht unter Kontrolle«, piepste Aline und am liebsten hätte ich sie dafür mit ihrem Smart phone abgeworfen, »vielleicht sind wir gleich alle tot!« Luca nickte, sein brauner Pony fiel ihm bis fast über die Augen. Er schlang seiner Freundin beschützend den Arm um die Schulter, während er mich finster musterte. »Echt.« Ich beschloss, es ganz wie die Monarchen im 19. Jahrhun- dert zu machen: die Meute durch kleinere Zugeständnisse ruhigstellen. »Na schön, ich seh ja ein, dass es unter diesen Umständen etwas viel verlangt ist, noch zu Ende zu schreiben. Gebt die Blätter ab, ich werte das Ganze als Test, und nächste Woche wird wiederholt. In Ordnung?« 22 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Das wirkte. Sylvester klopfte anerkennend auf die Tisch- platte, Fabio grinste. Aline befreite sich aus Lucas Umar- mung und entblößte eine Reihe äußerst gerader Zähne. »Danke, Herr Filler! Sie sind voll nett!« Noch vor einem Jahr wäre ich rot angelaufen vor Stolz, heute nickte ich nur knapp. Schüler sind eine wankelmütige Mas- se und sie sind bestechlich. Sehr bestechlich. Kein Kapitän wäre mit einer solchen Mannschaft in See gestochen – einer Mannschaft, bei der jederzeit die Gefahr einer Meuterei be- stand, nur weil die Wellen ein wenig höher schlugen. Ich lehnte mich gegen die Tischkante. Mein Rücken krib- belte unter dem vollgeschwitzten Stoff der Schulterpolster, doch ich zog das Sakko nicht aus. Falls ich schon sterben sollte, dann wenigstens ordentlich gekleidet. »Also schön, Freunde, dann schickt mir mal den Rest der Blätter nach vorne.« So tun, als wäre das alles so geplant, das war der Trick. Dazu eine gesunde Portion Selbstbewusst- sein und der Röntgenblick – mehr brauchte es nicht, um den Schülern Respekt einzuflößen. Keine Klingel, wie die Pap- penheim sie immer benutzte, und auch keine dieser lächer- lichen Klangschalen. Schon war das ganze Klassenzimmer erfüllt von eilferti- gem Rascheln, das Flüstern verstummt. Ich spürte wie mei- ne Schultermuskeln sich lockerten. Alles war gut. Man gehorchte mir. Stapel von kariertem Papier wurden von Reihe zu Reihe 23 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel nach vorne durchgegeben, schlitterten über Tische, glitten hinunter, wurden wieder aufgehoben und landeten schließ- lich auf Gretas Schoß. »Bitte schön, Herr Filler.« Hastig drückte sie mir die Bö- gen in die Hand, schlug schnell die Augen nieder, bevor ich etwas erwidern konnte. (Noch eine dieser Schülereigenar- ten: Schau niemals einem Lehrer in die Augen!) Ich räusperte mich. »Und jetzt«, fuhr ich besänftigend fort, »sind wir am besten komplett leise. Falls, nur falls, da draußen von jemandem Gefahr ausgeht, wird er denken, der Raum sei leer.« Kaum, dass ich das gesagt hatte, klopfte es. MAR k Fast hätte ich gelacht. Da steht der großkotzigste Lehrer der Welt vor dir, und plötzlich klappt ihm die Kinnlade runter, als hätte er gerade erfahren, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Oder ihm wäre soeben aufgegangen, dass er seinen Fall- schirm vor dem Sprung im Flugzeug liegen gelassen hat. Nur blöd, dass ich wahrscheinlich genauso geguckt habe. Abgesehen davon, dass ich kurz davor war, laut loszuprus- ten, hatte ich eine Mordsangst. Ich will hier raus! Nie zuvor hatte ich das inbrünstiger gespürt als jetzt, gefangen in Herrn Fillers Klassenzim- mer. Scheiße, ich wollte so dringend woandershin, raus aus diesem verdammten Käfig! Mein Blick flog hinüber zum Fenster, suchte nach einem Weg nach draußen. Über die 24 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Fensterbank? An der klapprigen Regenrinne entlang? Run- terspringen, aus dem zweiten Stock?! Es war ausweglos. Auch wenn ich kein Mathe konnte, die Gesetze der Schwerkraft kannte ich. »Amokläufer klopfen nicht«, behauptete Lasse in die Stil- le hinein, »so was machen die nicht, das weiß ich, mein Vater ist bei der Polizei.« Vielleicht hätten die Leute ihm eher geglaubt, wenn seine Stimme nicht so sehr dabei gezittert hätte. »Oder, Herr Filler? Ist doch so?« Hilfe suchend wandte er sich nach vorne, glotzte zu Herrn Filler, als wäre der das Ora- kel vom Dienst. »Der würde nicht klopfen, ne?« Als ob Herr Filler das wüsste! Der stand noch immer da wie erstarrt. Verkniffener Mund, Tropfen an der Adlernase, Augen wie zwei wild flackernde Blaulichter. Es klopfte erneut. »Wir machen nicht auf, Herr Filler, ja?« Sofort hatte Ida-Sophie einen ganzen Fanclub auf ihrer Seite. Aufmachen? Niemals! Wir waren doch nicht lebens- müde! Ich schnaubte verächtlich. Betrachtete die andren wie über eine Mauer hinweg, als wäre da eine unüberwindliche Grenze zwischen ihnen und mir. Ich sah sie reden und dis- kutieren und miteinander streiten … Als könnten sie sich da- durch in Sicherheit bringen. Durch Labern. Nur Jill schwieg hinter ihrem lila Pony, aber das war nor- mal. Jill lag das Reden nicht besonders, sie sprach lieber über die Farben ihrer Klamotten: Gelb oder Orange hieß: Alles 25 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel okay. Rot hieß: Vorsicht, bissig! Und Schwarz: Der Nächste, der mich anspricht, erlebt einen grausamen Tod. Jills Klamotten waren fast immer schwarz. Aus dem Klopfen wurde ein Schluchzen. Wer auch immer da draußen wartete, er wollte wirklich verdammt dringend hier rein. »Und was, wenn das ein Schüler ist, der ausgeschlossen auf dem Flur rumsteht und Hilfe braucht? Vielleicht war er gerade auf dem Klo und jetzt lässt ihn niemand rein …« Gre- tas Stimme versickerte in Unsicherheit. Sie war auch sonst nicht die Mutigste. Hilfsbereit schon, aber nicht mutig. »Wie gesagt«, antwortete Herr Filler mechanisch, »fürs Erste halten wir uns einfach an die Anweisungen, danach können wir immer noch …« »Aber wir können doch nicht einfach nichts tun!«, unter- brach ihn Fiona ungeduldig. Es war das erste Mal, dass ich sie so mit einem Lehrer sprechen sah, so wütend, so klar: »Sie sind Vertrauenslehrer, Herr Filler, Helfen ist Ihr ver- dammter Job!« Ich fand das gut. Herr Filler nicht. Die Tür blieb verschlossen. »Jemand sollte den da draußen nach seinem Namen fra- gen«, befahl Sylvester. »Mark, du sitzt am nächsten an der Tür!« Ich weiß nicht mehr, wer es war, der diesen Geistesblitz hatte (vermutlich Lasse). 26 Leseprobe aus Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, ISBN 978-3-407-74963-5 © 2019 Gulliver in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel Eigentlich ist es aber auch ganz egal, denn alle anderen waren sofort derselben Meinung: »Schnell, Mark, geh zur Tür und frag, was der will!« Ich krallte die Finger umeinander, begann ganz langsam, mir die Härchen auf dem Handrücken auszureißen, eines nach dem anderen. Es war dieses Wimmern. Diese beschissenen Schluchzge- räusche katapultierten mich irgendwie woandershin, nach Hause, nach Früher, nach Dunkel, und plötzlich hämmerten die Fäuste auch auf mich ein. Dröhnten, krachten, wurden mit jedem Schlag mehr zu denen meines Vaters, seinen fes- ten, dicht behaarten Händen, während sich das Wimmern da draußen in mein eigenes verwandelte … »Mach schon!« Ich schreckte auf, grapschte mir instinktiv ins Gesicht. Fast erwartete ich, in das matschige, rote Etwas von damals zu greifen, aber natürlich war die Narbe längst verheilt. Natürlich. Ich fuhr mir durchs Haar, merkte, dass meine Finger zit- terten. Alle starrten mich an. »Okay«, stieß ich hervor, »ich mach’s.« Ein kurzer Blick zu Herrn Filler, doch der hob bloß die Schultern und machte irgendeine fahrige Bewegung, die so- wohl als Nicken als auch als Kopfschütteln zu deuten war. Feigling. Ich erhob mich. 27