VL 1 Einführung in die Sozialethnologie PDF
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Georg-August-Universität Göttingen
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This document is an introduction to social ethnology, a branch of anthropology focusing on the formation of groups and the ways individuals gain social status. It discusses various concepts related to kinship, social organization, and the role of social structures in society. The document uses examples and theoretical frameworks, providing a general overview of the subject.
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VL 1 Einführung in die Sozialethnologie „Sozialethnologie ist ein Teilgebiet der Ethnologie, das sich mit der Bildung von Gruppen, den Vorgängen zur Erlangung von Positionen und Status in der Gesellschaft befasst“ – Ernst W. Müller „Gruppe, in den Sozialwissenschaften ein Gebilde, das sich von ande...
VL 1 Einführung in die Sozialethnologie „Sozialethnologie ist ein Teilgebiet der Ethnologie, das sich mit der Bildung von Gruppen, den Vorgängen zur Erlangung von Positionen und Status in der Gesellschaft befasst“ – Ernst W. Müller „Gruppe, in den Sozialwissenschaften ein Gebilde, das sich von anderen durch folgende Kriterien unterscheidet: Wir-Gefühl der Mitglieder, Kohäsion, gemeinsame Wertsetzungen, Institutionen und Organe, u. U. eine eigene Verfassung.“ – Müller Warum Sozialethnologie? - Soziale Ordnungen sind Grundlage für Organisation von Gemeinschaften - Verständnis sozialer Ordnungen um zu verstehen wie wirtschaftliche, politische und religiöse Systeme funktionieren Verwandtschaft die Definition von Verwandtschaft ist kulturspezifisch „Verwandtschaft lässt sich „als soziologische Klassifikation von Personen und Gruppen aus der Binnenperspektive der jeweiligen Kultur ansehen“ - Helbling „Die verwandtschaftlichen Klassifikationen und die damit verknüpften Verhaltensregeln verweisen auf ein allgemeines Prinzip von Freundschaftlichkeit, Solidarität und Kooperationsbereitschaft zwischen Verwandten, das Fortes (1969) amity nennt“ – Helbling Britische „Social Anthropology“ - britische "social anthropology" ist mit ethnologischer Theorie des Struktur-Funktionalismus assoziiert (entwickelt 1910, 1930 bis in die 1960er Jahre angewandt) - heute nicht mehr den Ansatz des Struktur-Funktionalismus -> diskursanalytische, praxistheoretische, ethnohistorische und postkoloniale Ansätze ethnologische Repräsentation nicht ‚objektive‘ Abbildungen der Realität, sondern Darstellungen die vor Hintergrund bestimmter Theorien und aus bestimmten Blickwinkeln heraus geschrieben wurden Verbindung Sozialethnologie und Wirtschaftsethnologie - Wirtschaftsethnologie befasst sich mit den Bereichen Produktion, Distribution und Konsum - Verwandtschaft ist in vielen Gesellschaften wesentlicher Faktor für Orga von Arbeit, Produktion und Verteilung VL2 Verwandtschaft als zentrales Thema 1. Womit beschäftigt sich die Sozialethnologie? / Verwandtschaft als zentrales Thema der Sozialethnologie - der Verwandtschaft kommt die Bedeutung eines fundamentalen Ordnungsprinzips in der Gesellschaft zu: Zugang zu anderen Statusrollen hängt von der Zugehörigkeit von Verwandtschaftskategorien ab -> Verwandtschaft als emisch-soziologischer Klassifikationsmodus - !!Verwandtschaft ist kulturspezifisch Benennung von Verwandt-Machen Kulturelle Kategorien und Verwandten: soziale Gruppen - Deskriptiv - biologisch vorgestellten - Kategorien existieren in (Verwandtschaftsgrad, Zusammenhängen, der menschl. Vorstellung Zusammenhänge - sozialem Teilen von - soziale Gruppe besteht auf zwischen Mitgliedern) Nahrung oder Erziehung, menschl. Wesen (Primar- - Klassifizierend (Verwandte; und und Sekundärgruppen) Erwachsene) - Gesetzen Die Mitgliedschaft in einer sozialen Kategorie definiert i. d. R. die Wählbarkeit in eine soziale Gruppe 3. Warum sollten wir uns in die Sozialethnologie einarbeiten? / Zur Relevanz von Sozialethnologie für die ethnologische Praxis Z.B. Verwandtschaft und Native Title: - Landrechte der Aborigines sind eng mit kultureller Kontinuität verbunden. - Gruppen werden oft durch biologische Verwandtschaft (Blut) definiert. - “Blut” wird als zentraler Begriff für Zugehörigkeit und Landanspruch betrachtet. -> kulturelle Unterschiede in der Verwandtschaftsdefinition zu verstehen, ermöglicht Analyse von sozialen und politischen Konflikten 4. Grundbegriffe: Auswahl I Dezendenz eine Beziehung, die durch die Verbindung zu einem Vorfahren oder einer Vorfahrin definiert ist, wobei diese Beziehung durch eine kulturell anerkannte Abfolge von Eltern-Kind- Gliedern konstituiert wird Patrilineare Deszendenz über eine Linie von Ahnen in der männlichen Linie Matrilineare Prinzip der Abstammung von einer Ahnin über ihre Tochter zur Tochters Tochter, und so weiter (in der weiblichen Linie) Bilineare/ doppelte Ein System, in dem zwei Sets von sozialen Gruppen oder Kategorien (für verschiedene Zwecke) in der gleichen Gesellschaft existieren; ein Set/eine Kategorie auf der Grundlage von patrilinearer Deszendenz und das/die andere auf der Basis von matrilinearer Deszendenz (so dass eine Person zu der patrilinearen Gruppe seines/ihres Vaters gehört und zur matrilinearen Gruppe seiner/ihrer Mutter). Abstammungskategorien Klan eine unilineare Deszendenzgruppe oder Deszendenzkategorie, deren Mitglieder patrilineare Deszendenz oder matrilineare Deszendenz von einem Urahnen oder einer Urahnin ableiten, aber die genealogischen Glieder, die sie mit diesem Urahnen bzw. dieser Urahnin verbinden, nicht genau kennen Lineage eine unilineare Deszendenzgruppe, die auf patrilinearer Deszendenz oder matrilinearer Deszendenz beruht, deren Mitglieder die Abstammung von einem Urahnen bzw. einer Urahnin über bekannte genealogische Glieder angeben Filiation Verwandtschaftsbeziehung einer Person zu oder durch ihren Vater bzw. zu oder durch ihre Mutter Bilateralität Verwandtschaft zu Verwandten durch den Vater und die Mutter 4. Was hat Verwandtschaft mit Geschlechtsspezifik zu tun? / Perspektiven auf Verwandtschaft und Gender -> kulturelle soziale Struktur von Geschlecht VL3 Methodische Ansätze: Die Erhebung von Genealogien 1. Begriffsklärungen: Was verstehen wir unter "Genealogie"? a) Genealogie' bezeichnet (…) die Kenntnisse von Abstammung, Geschwisterschaft und Heirat (bei Untersuchten)" d.h. bei Mitgliedern einer untersuchten kulturellen Gemeinschaft b) 'Genealogie' bezeichnet die Darstellung indigener Kenntnisse von Abstammung, Geschwisterschaft und Heirat (in 'Stammbäumen') 2. Die Relevanz von Genealogien Unterscheidung: Vorschlag von Barnes (1967:103): - indigene Genealogien - "pedigree" - wissenschaftliche Genealogien - "genealogy" -> Grundlage für die Zuschreibung spezifischer Rechte und Pflichten, von Mitgliedschaft und Status also: analytisches Instrument von Ethnologen, Instrument von sozialen Akteuren Relevanz der Methode - Verwandtschaft: Deszendenz und Heirat - Erbfolge und Nachfolge (auch Weitergabe von Ämtern und Titeln) - Namen (Weitergabe von Namen) - Geschichte (Informationen zu Geschichte und räumliche Veränderungen) - Demographie - kulturelle Praktiken 3. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der genealogischen Methode W. H. R. Rivers 4. die genealogische Methode Aufnahme, Darstellung und Auswertung, Gebiete: Feldforschung, Angewandte Ethnologie ( Entwicklungsethnologie, Arbeit mit Migranten), ethnohistorischen Forschung 5. Aufnahme von Genealogien Barnes (1967:105) empfiehlt: - zuerst: genealogische Erzählungen von Gesprächspartner*innen so aufzuschreiben, wie sie erzählt werden; - zuerst aufzunehmen, welche Information über seine/ihre Verwandten ein/e Gesprächspartner*in für wichtig hält, und in welcher Form er/sie diese Information darbietet. z.B. wie er/sie seine Verwandten wahrnimmt und welche Version ihrer Namen und ihres Status er/sie benutzt; - dann: systematische Fragen als Ethnograph*innen zu stellen; - Dabei sollte nach all den Verwandten der Gesprächspartner*innen gefragt und mit ethnologischer Sensibilität vorgegangen werden 6. Symbole, Schreibweisen und Anordnungen VL4 Deszendenz 1. Patrilinearität als Modalität der Deszendenz Definition: Deszendenz über die männliche Linie, von Vater zu Sohn (auch agnatische Deszendenz) Merkmale: Betonung der Rolle des Vaters in der Abstammungslinie Beispiel: Bhil (Indien) - soziale Gruppen werden entlang der väterlichen Linie organisiert. 2. Matrilinearität als Modalität der Deszendenz Definition: Abstammung über die weibliche Linie, von Mutter zu Tochter (auch uterine Deszendenz) Merkmale: Der Vater gehört nicht zur gleichen Matrilinie wie seine Kinder Beispiel: Bemba (Sambia), Trobriand-Insulaner - zentrale Rolle von Geschwistern, v.a. Bruder-Schwester-Beziehung 3. Doppelte Unilinearität als Modalität der Deszendenz Definition: Kombination von patrilinearer und matrilinearer Deszendenz Merkmale: Individuen gehören gleichzeitig zur patrilinearen Gruppe des Vaters und zur matrilinearen Gruppe der Mutter Funktion: Unterschiedliche soziale Rollen können an beide Linien gebunden sein 4. Bilaterale Verwandtschaft Definition: Verwandtschaftsbeziehungen bestehen zu beiden Elternseiten (mütterlich und väterlich) Begriffe: Konsanguine (Blutsverwandtschaft) und kognatische Verwandtschaft Merkmale: Größere Flexibilität in sozialen Beziehungen, mögliche egalitäre Erbverteilungen (gleiches Erbrecht für Söhne und Töchter) 5. Die Kindred Definition: Alle Personen, die von einem Ego als Verwandte betrachtet werden Merkmale: Individueller, ego-zentrierter Verwandtschaftskreis, nicht an feste Linien gebunden Flexibilität: Der Umfang und die Zusammensetzung der Kindred variieren je nach Perspektive des Individuums VL5 Adoption und Freundschaft 1. Adoption Adoption: Grundbegriffe Adoption dient der Schaffung sozialer Beziehungen und ist mit Rechten und Identitätsstatus verbunden. Typen von Adoption: Kind-, Enkelkind-, Schwester- und Bruderadoption Elternschaft: Unterscheidung zwischen biologischen Eltern (Genetrix, Genitor) und sozialen Eltern (Mater, Pater) Zur Definition von Adoption Nach Esther Goody drei Funktionen: Bereitstellung eines Zuhauses für Waisenkinder, Nachwuchs für Kinderlose, Sicherung des Erbes. Elternrolle: Umfasst biologische und soziale Elternschaft, Fürsorge (Erziehung und Pflege) und Bürgschaft Unterschied zu Pflegschaft: Pflegeeltern übernehmen nur Pflege und Erziehung, nicht alle Aspekte der Elternrolle Weitere Perspektiven auf Adoption Fokus auf Identifikation, Strategien des Adoptierens und Prozesshaftigkeit von Adoptionen. Frühere Kategorisierungen von Adoption Früher als "Pseudo-Verwandtschaft" oder "fiktive Verwandtschaft" bezeichnet, heute als reale soziale Beziehung anerkannt. Darstellung in genealogischen Diagrammen Entweder keine besondere Kennzeichnung oder Verwendung gestrichelter Linien für die Filiation. 2. Fallbeispiele für Adoption Banaban Gesellschaft (Ozeanien): Bilaterale Deszendenz mit Adoption als Kind, Enkelkind, Schwester oder Bruder. 3. Freundschaft und rituelle Verwandtschaft Freundschaft: Definiert als auf gegenseitiger Sympathie basierende Präferenzbeziehung (Guichard 2007). Rituelle Verwandtschaft: Beziehungen werden rituell geschaffen und durch kulturelle Ausdrucksweisen von Verwandtschaft bezeichnet. Komplementär zu biologischer Verwandtschaft (Pitt-Rivers 1973). VL6 Heirat, Wohnsitz Allianz 1. Heirat Grundbegriffe: Heirat ist ein Prozess, der zu einer rechtlich anerkannten Lebensgemeinschaft führt. Sie regelt sexuelle Beziehungen, definiert soziale Positionen, begründet Rechte und Interessen, schafft Haushaltswirtschaftseinheiten und dient als politisches Instrument und VERTRAG zwischen Gruppen Affinalität: Verwandtschaft über Heirat, affinale Verwandte sind durch Heirat gewonnene Verwandte. Formen der Heirat: - Levirat: Bruder des verstorbenen Ehemanns heiratet die Witwe. - Sororat: Schwester der verstorbenen Ehefrau heiratet den Witwer. - Polygynie: Ein Mann mit mehreren Frauen. - Polyandrie: Eine Frau mit mehreren Männern. - Polygamie: Allgemeiner Begriff für Mehrfachehen. Heiratsvorschriften: - Endogamie: Heirat innerhalb einer sozialen Gruppe. - Exogamie: Heirat außerhalb einer sozialen Gruppe. Transaktionen: - Brautgabe: Gaben von der Familie des Bräutigams an die der Braut. - Brautdienst: Arbeitsleistungen des Bräutigams für die Familie der Braut. - Mitgift, dowry: Gaben von der Familie der Braut an diese oder den Bräutigam. Fallstudie Papua-Neuguinea: Heiratsperformanzen verdeutlichen die Bedeutung von Ritualen und Transaktionen zwischen Gruppen 2. Heirat und Wohnsitz Grundbegriffe: - Virilokal: Wohnsitz bei den Verwandten des Ehemanns. - Patrilokal: Wohnsitz am Ort des Vaters des Ehemanns. - Uxorilokal: Wohnsitz bei den Verwandten der Ehefrau. - Matrilokal: Wohnsitz am Ort der Mutter der Ehefrau. - Neolokal: Neuer, unabhängiger Haushalt. - Avunkulokal: Wohnsitz bei Mutters Bruder Fallbeispiele: - Bemba (Sambia): Uxorilokal, Frauen kontrollieren Nahrungsmittelvorräte. - Mukkuvar (Indien): Uxorilokal, Frauen organisieren Finanzen, Männer als Haushaltsvorstand. - Gurung (Nepal): Virilokal, Einschränkung des Handlungsspielraums von Frauen. Schlussfolgerungen: Der postnuptiale Wohnsitz beeinflusst das genderspezifische Handlungspotenzial (Agency) 3. Heirat und Allianz Formen der Heirat zwischen Verwandten: - Kreuzverwandtenheirat: Mit Kindern von Geschwistern verschiedenen Geschlechts (z.B. Vaters Schwester). - Parallelverwandtenheirat: Mit Kindern von Geschwistern gleichen Geschlechts (z.B. Vaters Bruder) Definition von Allianz: System affinaler Beziehungen zwischen Deszendenzgruppen durch vorgeschriebene oder häufige Heiraten Allianztheorie nach Lévi-Strauss und Oppitz: Eingeschränkter Tausch: Frauen werden zwischen paarweisen Gruppen ausgetauscht. Verallgemeinerter Tausch: Indirekter Austausch über mehrere Gruppen hinweg. Grundstrukturen: Bilaterale, matrilaterale und patrilaterale Kreuzkusinenheirat. 🧩 Muster zur Identifikation von Begriffen 1. Präfixe und Suffixe als Hinweise Patri- → vom Lateinischen pater = „Vater“ → Patrilinearität = Abstammung über die väterliche Linie → Patrilokalität = Wohnsitz bei der Familie des Vaters Matri- → vom Lateinischen mater = „Mutter“ → Matrilinearität = Abstammung über die mütterliche Linie → Matrilokalität = Wohnsitz bei der Familie der Mutter Uni- → Lateinisch für „eins“ → Unilinearität = Abstammung folgt einer Linie (entweder väterlich oder mütterlich) Bi- oder Bilateral- → „zwei“ → Bilinearität / doppelte Unilinearität = Abstammung über beide Linien → Bilaterale Verwandtschaft = Verwandtschaft bezieht sich auf mütterliche und väterliche Seite Avunkul- → vom Lateinischen avunculus = „Onkel (mütterlicherseits)“ → Avunkulokalität = Wohnsitz bei Mutters Bruder 2. Beziehungen durch Wortbestandteile erkennen Deszendenz = „Abstieg“ → beschreibt Abstammungslinien Filiation → von filia/filio = „Tochter/Sohn“ → beschreibt Eltern-Kind-Beziehung direkt Kindred → englischer Begriff = „Verwandtschaftskreis“ (ego-zentriert, also aus der Perspektive des Individuums) 3. Funktionale Unterscheidungen (Heirat & Wohnsitz, VL6) -lokal = „Ort“ → Patrilokal = beim Vater → Matrilokal = bei der Mutter → Neolokal = „neu“ → eigenes Zuhause gründen → Uxorilokal → uxor = „Ehefrau“ → Wohnsitz bei der Familie der Frau Levirat / Sororat (Sekundärheiraten) → Levirat → levir = „Schwager“ → Bruder heiratet Witwe → Sororat → soror = „Schwester“ → Schwester ersetzt verstorbene Ehefrau 4. Allianz und Tauschtheorie (VL6) Eingeschränkter Tausch → direkter Austausch (Gruppe A ↔ Gruppe B) Verallgemeinerter Tausch → indirekter Austausch (A → B → C → A) 💡 Merken: „Verallgemeinert“ klingt nach „mehr“ → also mehr Gruppen im Tausch involviert. 5. Eselsbrücken für schwierige Begriffe Bilateral = beide Seiten (wie „binoculars“ für beide Augen) Patri = Papa → väterliche Linie Matri = Mama → mütterliche Linie Avunkulo → „Onkel“ → Mutters Bruder Neolokal = „neu“ → neues Zuhause gründen