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This document provides an overview of socialisation and education. The author explores different perspectives on the topic, touching upon historical context, definitions, and related concepts. It is aimed at students studying psychology and pedagogy related topics.

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12 Kapitel 1 Allgemeine Pädagogik: Grundlagen der Erziehungswissenschaft - zusammenhang für einen Begriff ergibt. Ein auf Familienähn- 1 lichkeit gründender Begriff kann nicht streng und abschließend...

12 Kapitel 1 Allgemeine Pädagogik: Grundlagen der Erziehungswissenschaft - zusammenhang für einen Begriff ergibt. Ein auf Familienähn- 1 lichkeit gründender Begriff kann nicht streng und abschließend Synonyme für Bildung: Entwicklung, Entstehung, Zusammenstellung, Form, For- - festgelegt werden, sondern unterliegt historischen Bedeutungs- mierung 2 verschiebungen. Unsere These lautet, dass pädagogische Fach- Erziehung, Wissen, Kenntnis(se), Gelehrtheit, Gebildetsein, begriffe häufig das Merkmal der Familienähnlichkeit aufweisen. Kultur, geistiger Überblick, Ausbildung, Schulung, Allge- 3 meinwissen; ugs.: geistiger Horizont 1.2.1 Erziehung und Bildung (▶ http://www.wissen.de) 4 Erziehung als Aufgabe, Vorgang und Ergebnis stellt das ureigene 5 Forschungsfeld der Erziehungswissenschaft dar. In Überein- Trotz einiger Überschneidungen weisen die Synonyme jedoch stimmung mit Petersen (1931), der die Erziehung als Urfunktion auf Unterschiede im Alltagsverständnis von Erziehung und Bil- menschlichen Daseins überhaupt begriffen hatte, wird Erziehung dung hin. Zugleich wird auch deutlich, was nicht zu den beiden 6 in der deutschen Pädagogik als ein Grundphänomen des mensch- Begriffen gehört. So ist Erziehung keine Dressur oder Abrich- lichen Lebens aufgefasst, das weder zeitlich auf ein bestimmtes tung, auch wenn z. B. Sarrazin (2010) meint, Erziehung ähnele 7 Entwicklungsalter begrenzt noch räumlich an eine Institution der Hundedressur, und dabei auf das Alltagswissen des Jägers gebunden ist. Erziehung erstreckt sich quer durch alle Lebens- zurückgreift (vgl. dazu Thüngen 1865). bereiche und Lebensalter als konstitutive Elemente der Mensch- 8 werdung. Dieser weite Begriff von Erziehung weicht von dem 1.2.1.1 Begriffsklärung: Erziehung Begriff education in der englischen Sprache ab, da hier der Be- Erziehung ist im Vergleich zu Bildung der ältere und weiter ge- 9 griff üblicherweise auf den schulischen Bereich eingeengt wird. fasste Begriff, auch wenn in der derzeitigen Begriffsverwendung Andere Begriffsbestimmungen, wie man sie in englischsprachi- die Erziehungswissenschaft gelegentlich als Teil einer Bildungs- 10 gen Wörterbüchern finden kann, führen auch nicht viel weiter, wissenschaft verstanden wird. Etymologisch ist das Wort aus „zie- da eine Aussage wie „The proper definition of education is the hen“ entstanden, was vom Wortstamm her das Auf- und Großzie- process of becoming an educated person“ zirkulär ist und nichts hen bei Betonung einer pflegerischen Seite meint – wie es z. B. in 11 anderes besagt, als dass Erziehung der Prozess ist, eine erzogene Artikel 6, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes zum Ausdruck Person zu werden; es sei denn, man übersetzt „educated person“ kommt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche 12 mit „gebildete Person“, was dann auf den deutschen Begriff der Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Bildung hinweist. Der komplexe Bedeutungsgehalt von Erziehung ist bereits Wenig hilfreich ist eine historisierende Aufarbeitung, wie in den entsprechenden griechischen und lateinischen Begriffen 13 sie in der älteren Fachliteratur (z. B. Röhrs 1969) zu finden ist, vorgegeben, auf die wir aber nicht näher eingehen. Vielmehr da das Wort „Erziehung“ (engl. education, frz. éducation) in Eu- greifen wir auf einige Definitionen zurück, die in der pädago- 14 ropa im Lauf der Jahrhunderte und insbesondere während der gischen Fachliteratur aus unterschiedlichen Blickwinkeln vor- bürgerlichen Emanzipation im 19. Jahrhundert verschiedene be- getragen wurden. 15 griffliche Fassungen erhalten hat (Oelkers 2001). Die Liste von Betrachten wir zunächst die Begriffsklärung von Dolch Definitionen des Begriffs „Erziehung“ ist lang und erzeugt häufig (1965): Für ihn ist Erziehung grundsätzlich ein Vorgang zwischen mehr Verwirrung als Klarheit. Es ist daher verständlich, dass in Menschen – „im allgemeinsten Sinne die Gesamtheit jener zwi- 16 Anbetracht der Vieldeutigkeit des Begriffs „Erziehung“ Zweifel schenmenschlichen Einwirkungen, durch die eine mehr oder min- an seiner Sinnhaftigkeit und Verwendbarkeit aufkommen. Und der dauernde Verbesserung im Verhalten und Handeln eines Men- 17 dabei ist der Begriff der Erziehung im Vergleich zu dem der Bil- schen beabsichtigt oder erreicht wird“ (S. 54). Der Gegenbegriff dung noch leichter zu handhaben, da für den Erziehungsbegriff zur Erziehung ist für Dolch die Verwahrlosung, da hierbei „weder deutlich mehr Übereinstimmungen in Definitionen feststellbar bewusst noch unbewusst etwas in Richtung auf die Verbesserung, 18 sind. Was genau Erziehung und was Bildung ist und was beide Vervollkommnung zu wahrer Menschlichkeit beigetragen wird“ unterscheidet, ist nicht immer klar definiert, obwohl ein Ver- (S. 57). Die Verbesserung von Verhalten und Handeln, die mehr 19 gleich synonymer Begriffe auf unterschiedliche Bedeutungszu- oder minder dauerhaft (d. h. dispositionell) sein muss, stellt das schreibungen hinweist. zentrale Merkmal von Erziehung dar. Das Verhalten und Han- 20 deln eines Menschen reicht „in seinem ganzen Umfang von den - leiblichen Funktionen bis zu den höchsten geistigen Prozessen Synonyme für Erziehung: der Wesensverwirklichung der Person“ (S. 55). Damit sind die 21 Unterweisung, Anleitung, Ausbildung, Schulung, Unter- wesentlichen Bestimmungsstücke für das Grundverständnis von richt, Instruktion, Belehrung, Lehre, Lehrjahre, Lehrzeit, - Erziehung genannt: Es handelt sich um einen zwischenmensch- 22 Vorbereitung, Formung, Prägung, Bildung, Bildungsgang Förderung, Entwicklung, Entfaltung, Ausformung, Vertie- lichen Vorgang, der gezielt auf eine nachhaltige Verbesserung - von Verhalten und Handeln von Personen Einfluss zu nehmen fung, Festigung versucht. 23 Kinderstube, Zucht; ugs.: Schliff In weitgehender Übereinstimmung mit Dolch definiert Klafki den Erziehungsbegriff im umfassendsten Sinne 1.2 Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft 13 1 » als Begriff für alle bewussten Einwirkungen von Menschen, einer kontinuierlichen sozialen Interaktion des Menschen mit die auf die Entwicklung oder die Veränderung des Wissens seiner Umwelt begriffen (Hurrelmann et al. 2008), die die ge- und Könnens, dauerhafter Haltungen und Verhaltensformen samte Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft als Zu- anderer, insbesondere junger Menschen, gerichtet sind (Klafki sammenschluss von Menschen durchdringt. Nach dem heutigen 1971, S. 17). Verständnis von Sozialisation ist damit insbesondere ein Hinein- wachsen in bestimmte vorgegebene Rollen gemeint, die Men- Damit kommt ein neuer Aspekt hinzu, nämlich dass sich Erzie- schen oft verpflichtend prägen, aber ihnen auch genügend Spiel- hung insbesondere an junge Menschen richtet und von Erwach- raum für eigene Initiativen zur Umformung der Rollen gewähren senen ausgeht. Erziehung wird zu einer pädagogisch-anthropo- sollen. In der modernen Gesellschaft ist der Mensch gewöhnlich logischen Kategorie, in der es um ein Grundverhältnis zwischen Träger mehrerer Rollen, deren Verhältnis zueinander er freilich Generationen geht (vgl. Eisenstadt 1966): Es ist die ältere Gene- selbst bestimmen kann. Mit den Rollen übernimmt eine Person ration, die versucht, die nächste Generation zu erziehen. nicht nur bestimmte Formen und Normen des Verhaltens, son- Das wird auch deutlich in der von Brezinka vorgeschlagenen dern auch kulturelle und soziale Inhalte. Daher ist das flexible Definition: Rollenspiel in der Gesellschaft immer auch ein Prozess der En- kulturation (Wurzbacher 1963), mittels derer der Mensch nach- » Mit „Erziehung“ sind Handlungen gemeint, durch die Erwach- ahmend, übernehmend, lernend, aber auch kritisch reflektierend sene […] versuchen in den Prozeß des Werdens heranwach- in eine Kulturgemeinschaft hineinwächst. sender Persönlichkeiten […] einzugreifen, um Lernvorgänge In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich eine zu unterstützen oder in Gang zu bringen, die zu Disposition deutliche Tendenz vor allem in der Psychologie ab, den Erzie- und Verhaltensweisen führen, welche von den Erwachsenen hungsbegriff durch den Sozialisationsbegriff zu ersetzen (z. B. […] als erwünscht angesehen werden (Brezinka 1972, S. 26). Mietzel 2002). Das führt uns zu der Frage, ob Erziehung und Sozialisation tatsächlich dasselbe meinen. Die Antwort lautet Brezinka betont in seiner Definition die Einflussnahme von nein, denn im Unterschied zur Erziehung verläuft die Sozialisa- Erwachsenen auf Heranwachsende, was aber eine (unnötige) tion nicht als eine selbstbewusste Handlung geplant und zielori- Einengung des Erziehungsbegriffs mit sich bringt, da ja auch entiert, sondern vollzieht sich quasi automatisch ein Leben lang Gleichaltrige auf einander erzieherisch Einfluss nehmen können, in mitunter äußerst komplexen Interaktionen zwischen einem wie das Beispiel der sogenannten Peer-Education zeigt (Nörber Individuum und dessen sozialer und kultureller Umwelt. Ge- 2003). Daher liegt es nahe, Erziehung allgemein als eine soziale legentlich wird die Sozialisation deshalb auch mit dem Begriff Interaktion zwischen zwei oder mehreren Personen zu begreifen, einer funktionalen Erziehung in Verbindung gebracht, der unbe- die auf Änderungen des Verhaltens und Erlebens von Individuen absichtigte Wirkungen des sozialen und kulturellen Umfeldes auf einwirken will (Tausch und Tausch 1998). die Erziehung (wie auch umgekehrt) in den Vordergrund stellt Mit dem Verweis auf die soziale Interaktion, die bei der (Mollenhauer 1983). Erziehung sinnstiftend vorausgesetzt werden muss, wird ein Im Unterschied zur Erziehung laufen Prozesse der Soziali- Perspektivenwechsel angesprochen, der dem sozialen Charak- sation (und Enkulturation) überwiegend funktional und unbe- ter der Erziehung Rechnung trägt – ganz im Sinne des Verdikts wusst ab. Zusätzlich zu den zweifellos stark prägenden Einflüssen von Bernfeld (1925/2006), wonach Erziehung „die Summe aller von Familie, Milieu und Schule beeinflussen auch Gesellschaft, Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ Staat und epochale Strömungen, der sogenannte Zeitgeist, die (Bernfeld 2006, S. 51) ist. Mit Entwicklungstatsache ist gemeint, kulturellen und sozialen Anpassungsprozesse von Menschen an dass der Mensch nicht sofort ein fertiges Mitglied der Gesell- soziale und kulturelle Bedingungen ihrer Umgebung. Die Hilfs- schaft ist, sondern dies erst in einem langen Lernprozess werden begriffe Sozialisation und Enkulturation reichen alleine nicht aus, muss. In weitgehender Entsprechung mit diesem Denkansatz um das Phänomen Erziehung zu erfassen. Sie bilden lediglich wurde in den 1960er Jahren der Begriff der Sozialisation aus der die Tragpfeiler dessen, was als Personalisation bezeichnet wird Soziologie übernommen und auf das Grundverständnis von und als Synonym für Menschwerdung verstanden werden kann. Erziehung angewendet (Wurzbacher 1963), um den Einfluss Die soziokulturelle Beeinflussung, wie sie uns in dem Begriffs- von Umwelt- und Gesellschaftsfaktoren auf die Erziehung des paar Sozialisation und Enkulturation begegnet, umschreibt im Menschen zu betonen. Grunde den Vorgang der Bildung als Voraussetzung der Perso- nalisation. zz Erziehung und Sozialisation Seit ihrer Einführung in die erziehungswissenschaftliche Mit dem Begriff Sozialisation wird gearbeitet, um den Vorgang Diskussion haben die Begriffe „Sozialisation“ und „Enkultura- des sozialen Einfügens und Eingliederns in das soziale und kul- tion“ zweifelsohne das Verständnis von Erziehung nachhaltig turelle Gesamtsystem zu umschreiben. Der Mensch wird als so- beeinflusst, ohne aber je vollständig den über Jahrhunderte ziales Wesen begriffen, das nur in sozial bedeutsamen Lebenssi- angereicherten Bedeutungsgehalt von Erziehung erfassen zu tuationen Mensch werden und bleiben kann. Im Unterschied zur können. Bevor wir uns im Weiteren mit dem Bildungsbegriff frühen Sozialisationsforschung, die Sozialisation als Anpassung auseinandersetzen, wollen wir eine Definition von Erziehung des Menschen an seine Umwelt auffasste, wird die Sozialisation vorschlagen, die mit den oben angeführten Definitionen kom- in modernen Theorien als Vergesellschaftungsprozess im Sinne patibel ist. 14 Kapitel 1 Allgemeine Pädagogik: Grundlagen der Erziehungswissenschaft Um Autorität zu bewahren, muss der Erzieher in der Lage 1 Liebe und Gehorsam sein, gekonnt mit der Spannung zwischen den Erwartungen der Umwelt und der Persönlichkeit des zu Erziehenden umzugehen, 2 Verantwortung d. h. weder das eine noch das andere absolut zu setzen – was nicht immer einfach ist! 3 zu Erziehender Erzieher (Edukandus) 4 Vertrauen 5 Liebe und Autorität 6 7.. Abb. 1.4 Der pädagogische Bezug als Grundkategorie von Erziehung Erziehung 8 Der Begriff der Erziehung beschreibt Prozesse, die Personen (in der Regel Kinder oder Jugendliche) unter Anleitung 9 anderer durchlaufen, um ihre intellektuellen, emotionalen, geistigen, sozialen und physischen Fähigkeiten zu entwi- 10 ckeln (= Personalisation) und zu vollwertigen Mitgliedern der sozial-kulturellen Gemeinschaft zu werden, der sie angehören (= Sozialisation/Enkulturation). 11 12 In dieser Definition sind die Hilfsbegriffe der Personalisation und Sozialisation ebenso enthalten wie die Aspekte des Erzogenwer- dens und des Erziehens. Der erste Aspekt bezieht sich auf die Per- Anna: „Ach ja, es ist wirklich nicht einfach, dem Kind und den 13 son, die erzogen wird, indem sie den Anleitungen folgt und die Erwartungen der Umwelt gerecht zu werden, das kann ich bestä- Hilfen annimmt, die andere Personen mit erzieherischer Absicht tigen. Einen solchen Konflikt hatte ich mal, als ich mit meinem 14 anbieten. Der zweite Aspekt bezieht sich auf die Maßnahmen, die Babysitterkind einkaufen war. Wir waren in der Obstabteilung. Erwachsene vornehmen, um bei Heranwachsenden Lernvorgänge Ich hab da irgendwas gesucht und Luisa kurz aus den Augen ge- 15 zu bewirken, die aus der Sicht der Erwachsenen zu gewünschten lassen. Als ich mich dann wieder nach ihr umgeschaut hab, war Ergebnissen in der Person- und Sozialwerdung führen. sie gerade dabei, die Mangos aus dem Karton auf dem Boden der Größe nach zu sortieren. Sie war dabei hoch konzentriert. 16 zz Der pädagogische Bezug als Wesensmerkmal Da stand ich ziemlich dumm da. Die anderen hatten schon blöd von Erziehung geschaut, so nach dem Motto: ‚Macht die denn gar nichts? Lässt 17 Ein Wesensmerkmal von Erziehung ist die Interaktion zwischen die dem Kind alles durchgehen?‘ Und ich hab da wirklich im Mo- dem, der erziehen will, und dem, der erzogen werden soll. Die- ment gezweifelt, ob ich Luisa zur Ordnung rufen muss. Die war so ses eigentümliche Verhältnis zwischen Interaktionspartnern wird zufrieden und konzentriert. Ich hab mich dann aber entschieden, 18 auch pädagogischer Bezug genannt. Dieser Begriff wurde von ihr die Mangos wegzunehmen und in den Karton zurückzule- Nohl (1933/2002) in die Pädagogik eingeführt und avancierte zu gen. Schließlich hätte ich auch keine Lust, Mangos zu kaufen, die 19 einem der bekanntesten, aber auch umstrittensten Konzepte der schon von allen möglichen Kindern angefingert wurden.“ Pädagogik, wobei sich die Kritik vor allem darauf bezog, dass der 20 Aspekt der Sozialisation nicht ausreichend berücksichtigt werde Jakob: „Und wie hat die Kleine reagiert?“ (Bollnow 1981). Die Beziehung zwischen Erzieher und Kind (als zu Erziehendem) ist getragen von Liebe und Autorität auf Seiten Anna: „Ich hab natürlich versucht, ihr zu erklären, warum ich 21 des Erziehers und von Liebe und Gehorsam auf Seiten des Kin- ihr die Mangos wegnehme. Aber das ging nicht wirklich gut und des. Dabei erwächst die Autorität des Erziehers nicht aus dessen sie hat ziemlich geweint.“ 22 Macht und Überlegenheit, sondern aus seiner Verantwortung gegenüber dem zu Erziehenden, dessen Gehorsam auch nicht Jakob: „Und die anderen haben dann auch wieder blöd geschaut.“ als Unterwerfung unter die Macht des Erziehers zu verstehen 23 ist, sondern als Vertrauen in den Erzieher. In. Abb. 1.4 werden Anna: „Ja, und ich hab mich ziemlich schlecht gefühlt, als Luisa diese Komponenten des pädagogischen Bezugs im Verhältnis weinte. Deshalb habe ich ihr eine Mango gelassen und sie ge- zueinander dargestellt. kauft. Das hat sie dann einigermaßen beruhigt.“ 1.2 Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft 15 1 Jakob: „Das hätte ich wohl auch so getan, obwohl es ja Leute » Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und gibt, die meinen, ein solches Verhalten wäre sehr inkonsequent.“ meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garan- tiere, daß ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Anna: „Ich weiß, aber mir ging es darum, nicht das Vertrauen Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, von Luisa zu verlieren. Denn die war ganz schön enttäuscht von Künstler, Kaufmann oder Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf mir. Aber was hätte ich anders machen sollen? Ich konnte sie seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die doch nicht gewähren lassen …“ Herkunft seiner Vorfahren (Watson 1930, S. 82). Damit der pädagogische Bezug förderlich ist, muss er von ei- Die Gegenposition beschreibt Erziehung als ein organisches nem wechselseitigen Vertrauen zwischen Erzieher und zu Erzie- Wachsenlassen, bei dem sich der Zögling aus sich heraus nach sei- hendem getragen sein. Ohne Vertrauen in den zu Erziehenden nen Wachstumsbedingungen entfaltet. Als Bild wird der Gärtner müsste der Erzieher zwangsläufig die sozialen Normen absolut oder Bauer verwendet, der den natürlichen Entwicklungsprozess setzen; der zu Erziehende wiederum würde ohne Vertrauen dem mit geeigneten Maßnahmen unterstützt und fördert (vgl. Raithel Erzieher nicht folgen, da für ihn die Gründe für das Handeln et al. 2009), indem er potentielle Störfaktoren kontrolliert. Der des Erziehers nicht immer rational nachvollziehbar sein werden. Erzieher sorgt insgesamt für günstige „Wachstumsbedingungen“ Nur durch einen fruchtbaren pädagogischen Bezug kann der und reagiert auf die Impulse, die von Seiten des zu Erziehenden Mensch laut Nohl mündig werden, d. h. ein Leben in Einklang mit kommen, um diese aufzugreifen und Hilfen für eine optimale sich selbst und der Kultur führen. Die Übernahme von Verant- Entfaltung des individuellen Potentials bereitzustellen. Der wohl wortlichkeit für das Werden einer Persönlichkeit, die sich in ihrer prominenteste Vertreter dieser Erziehungskonzeption war kein sozial-kulturellen Umgebung zurechtfindet, ist wesentliches Merk- geringerer als Rousseau, an dem sich später die reformpädago- mal des Erziehens. Junge Menschen dahin zu führen, selbstständig gische Bewegung „vom Kinde aus“ orientierte (▶ Abschn. 2.4.2). zu werden, Anerkennung zu finden, in der Wertegemeinschaft an- In dem Buch Führen oder Wachsenlassen fordert Litt (1927) und aufgenommen zu werden, das sind die Beweggründe für die eine Synthese beider Positionen: Erziehung im Sinne der Personalisation, wie sie auch von Nohl pro- pagiert wurde. Erziehung gelingt aber nur, wenn die vom Erzieher » In verantwortungsbewusstem Führen niemals das Recht unternommenen Einflussversuche vom zu Erziehenden akzeptiert vergessen, das dem aus eigenem Grunde wachsenden Leben werden und sich in dessen Verhalten niederschlagen. Erziehung zusteht – in ehrfürchtig-geduldigem Wachsenlassen niemals ist nach diesem Verständnis nicht der Versuch der Einflussnahme die Pflicht vergessen, in der der Sinn erzieherischen Tuns sich an sich, sondern muss als „akzeptierter Beeinflussungsversuch“ im gründet – das ist der pädagogischen Weisheit letzter Schluß Verhalten des Beeinflussten zu einem offenen Ausdruck gelangen. (Litt 1927, S. 100). Die Zielgerichtetheit der erzieherischen Einflussnahme durch den Erzieher korrespondiert mit der Anerkennung und Akzeptanz auf Die Entfaltung der inneren Kräfte des zu Erziehenden wird da- Seiten des zu Erziehenden. Für dieses Wechselspiel haben sich in mit genauso wichtig genommen wie die Notwendigkeit, ihn in der Literatur unterschiedliche Metaphern eingebürgert, auf die die Objektwelt und in die Werte und Normen einer Gesellschaft nun kurz eingegangen werden soll. einzuführen. Im Zusammenschluss von Wachsenlassen und Füh- ren hilft Erziehung dem zu Erziehenden, eine eigene Haltung zz Metaphern des Erziehens zur Objektwelt herauszubilden und eigenverantwortlich und Die beiden vermutlich bekanntesten Metaphern sind die von selbstständig in der Gesellschaft zu handeln. Das setzt nicht nur Litt (1927/1967) verwendeten Umschreibungen des Erziehens einen Abwägungsprozess voraus, um Führen und Wachsenlas- als Führen oder Wachsenlassen, die zwei entgegengesetzte An- sen auszubalancieren, sondern auch die Anwendung geeigneter sätze der Pädagogik markieren, von Litt wie auch in den meis- Formen der Erziehung. ten pädagogischen Theorien aber als Synthese begriffen werden. Beim Führen ist der Erzieher tonangebend. Er kennt das jeweils zz Grundformen der Erziehung zu verfolgende Ziel wie auch den Weg dahin. Er lenkt daher den Im Allgemeinen wird zwischen zwei Grundformen der Erzie- zu Erziehenden in eine bestimmte Richtung, indem er bestimmte hung unterschieden: Methoden der Einflussnahme verwendet, um das Ziel möglichst 1. der intentionalen Erziehung und effizient und effektiv zu erreichen. Werden die gesetzten Ziele 2. der funktionalen Erziehung. nicht erreicht, hat entweder der Erzieher die falschen Methoden eingesetzt, oder Defizite auf Seiten des zu Erziehenden verhin- Intentionales Erziehen wird als zielgeleitetes und absichtsvolles dern die Zielerreichung. Erziehen wird als handwerkliches Tun, Handeln beschrieben. Selbstverständlich kann Erziehung auch als ein Machen und Formen betrachtet, was natürlich voraussetzt, dann stattfinden, wenn keine Absicht vorliegt (Treml 2000), und dass der zu Erziehende beliebig lenk- und formbar ist. Raithel ebenso kann Erziehung stattgefunden haben, ohne dass sie sich et al. (2009) sprechen deshalb auch vom Erzieher als Bildhauer als erfolgreich im Sinne der Zielerreichung erweist. Obwohl dies oder Handwerker, der bestimmte Mittel und Methoden einsetzt, der Fall sein kann, ist es analytisch durchaus sinnvoll, zwischen um einen angestrebten Zweck zu erfüllen. Prozessen des Erziehens mit zugrundliegender Absicht und sol- Erziehung als Führung war u. a. das Credo von Watson, dem chen ohne explizite Absicht zu unterscheiden. Intentionale Erzie- Begründer der behavioristischen Psychologie: hung bezieht sich auf diejenigen Handlungen, die ein Erzieher mit 16 Kapitel 1 Allgemeine Pädagogik: Grundlagen der Erziehungswissenschaft Absicht und Zweck vollzieht, um bei einem zu Erziehenden Vor- Nur in gemeinsamen Handlungen kann die emotionale und ko- 1 gänge der Person- und Sozialwerdung auszulösen und zu fördern. gnitive Intelligenz des Kindes allmählich wach werden und sich Während man im alltäglichen Sprachgebrauch Erziehen als entwickeln – im geglückten Fall – zur Entfaltung der Mündig- 2 ein Handeln mit positiver Absicht begreift, wird Manipulieren keit und Freiheit. Die insbesondere von Adorno vertretene Auf- als ein Handeln verstanden, dem tendenziell eine negative Ab- fassung von Erziehung als Bewegung zur Mündigkeit vermeidet sicht zugrundeliegt. Was jedoch positive und negative Absichten es, eine bestimmte Wirkung zu erwarten, wie es in bestimmten 3 sind, unterscheidet sich je nach Zeitgeist und unterscheidet sich Vorstellungen und Formen von Erziehung der Fall ist. Erzie- auch von Mensch zu Mensch. Ob intentionale Erziehung in die hung zur Mündigkeit soll eine schrittweise „Bewusstwerdung“ 4 Nähe von Manipulation als einer gezielten, aber verdeckten Ein- bzw. Einsicht in die Gegebenheiten der (eigenen) Sozialisation flussnahme rückt, hängt davon ab, ob die Einflussnahme negativ ermöglichen. Dementsprechend werden als Ziele der Erziehung 5 oder positiv zu bewerten ist. Zielt sie auf eine Fremdbestimmung zur Mündigkeit die Ermöglichung eigenständigen Denkens, des zu Erziehenden gegen seinen Willen, also auf Unmündigkeit, angemessenen Urteilens und sozial verantwortlichen Handelns spricht man von Manipulation mit einer negativen Konnotation, genannt. Das sich dabei allmählich entwickelnde, aber nicht ab- 6 wird ein positives Ergebnis angestrebt oder erreicht, handelt es schließbare Herausbilden eines selbstverantwortlichen Handelns sich um Überzeugung. und eines Selbst- und Weltverhältnisses, zu dem die Erziehung 7 Die Gegenposition zur intentionalen Erziehung ist die funk- zur Mündigkeit hinführen soll, kann auch als Teil der Bildung tionale Erziehung, die in lebensweltlichen Situationen ihren Aus- verstanden werden, die von Generation zu Generation weiter- gangspunkt findet. Raithel et al. (2009) sprechen von „gesellschaft- gegeben wird. 8 lich wirksamen Faktoren“, zu denen die Medien ebenso wie das Wertesystem einer Gesellschaft gehören. Funktionale Erziehung >> Erzieherisches Handeln kann ausschließlich durchge- 9 tendiert sehr stark in Richtung der Sozialisation. In der Interaktion führt werden, um zu erziehen (intentionale Erziehungs- mit der sozial-kulturellen Umwelt findet Erziehung „nebenbei“ handlungen); es kann aber auch ein Handeln sein, das 10 statt, sie ist weder geplant noch verfolgt sie ein bestimmtes Ziel. Gelegenheiten schafft, von denen sich der Erzieher Zwischen der intentionalen und funktionalen Erziehung liegt erhofft, dass sie eine Person erziehen (extensionale eine Form, die als nebenläufige Erziehung bezeichnet werden Erziehungshandlungen). Für beide Grundformen gilt, 11 kann.3 Treml (2000) verwendet hierfür die Bezeichnung extensio- dass erzieherische Maßnahmen erst durch individuelles nale Erziehung. Unter diesen Begriff fallen alle jene Handlungen, Mitwirken des zu Erziehenden realisierbar werden. 12 die ein Erzieher primär zwar nicht ausführt, um zu erziehen, an denen er aber den zu Erziehenden mit Absicht teilhaben lässt. 1.2.1.2 Begriffsklärung: Bildung Extensionale oder nebenläufige Erziehung ist als indirekte Ein- 13 flussnahme durch die Bereitstellung von Umweltgegebenheiten zu verstehen. 14 Jakob: „Dann haben mich also meine Eltern erzogen, als sie 15 mich darin bestärkt haben, ein Jahr im Ausland zu studieren.“ Anna: „Ja. Und wenn andere Eltern bewusst entscheiden, keinen 16 Fernseher im Haus zu haben, dann ist das auch eine Form der nebenläufigen Erziehung ihrer Kinder.“ 17 Unabhängig davon, ob dabei zwischen intentionaler, funktionaler und nebenläufiger Erziehung unterschieden wird, wird in der 18 Pädagogik seit langem (insbesondere aber nach den Erfahrungen mit Nazideutschland) eine Erziehung angestrebt, die imstande 19 ist, den Menschen aus dem Zustand der Unmündigkeit in den Zustand der Mündigkeit zu führen (Blankertz 1982). 20 » Eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. 21 Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen (Adorno 1969, S. 133). 22 Jakob: „Es ist zum Verzweifeln. Ich suche jetzt schon seit einer 3 Dabei legen wir folgende Definition von Nebenläufigkeit zugrunde: Zwei halben Stunde nach einer brauchbaren Definition von Bildung.“ 23 Vorgänge A und B heißen nebenläufig, wenn sie voneinander unabhängig sind. Dabei ist es egal, ob zuerst der Vorgang A und dann der Vorgang B stattfindet, ob beide in umgekehrter Reihenfolge stattfinden oder gleich- Anna: „Schau doch mal nach, was du unter dem Stichwort ‚empi- zeitig. rische Bildungsforschung‘ finden kannst. Das ist doch zurzeit in.“ 1.2 Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft 17 1 Jakob: „Was denkst du denn, was ich gerade gemacht habe? Bildung voneinander zu unterscheiden? Sind Erziehung und Ich habe fast alle Internetseiten der Institute für empirische Bil- Bildung überhaupt klar trennbare Phänomene oder bezeichnen dungswissenschaft durchgeackert und bin nicht schlau daraus sie ein und dasselbe? Um solche Fragen beantworten zu können, geworden, was unter Bildung zu verstehen ist.“ sind die Bedeutung und die Geltungsbreite des Begriffs der Bil- dung zu bestimmen. Dies erscheint derzeit umso dringlicher, Wann ist jemand gebildet? Ist jemand gebildet, der möglichst viel als der Bildungsbegriff infolge der PISA-Studien und der durch enzyklopädisches Wissen angehäuft hat und einen Doktortitel sie ausgelösten Diskussion um eine grundlegende Reform des trägt – oder der Goethe und Schiller gelesen hat und an ihnen Bildungswesens ein gesellschaftliches Schlagwort geworden ist. sittlich gereift ist? Oder ist jemand gebildet, wenn er mehrere Darüber hinaus ist zu beobachten, dass zahlreiche Universitäten Fremdsprachen beherrscht und die Pyramiden in Ägypten be- dazu übergegangen sind, die Bezeichnung Bildungswissenschaft sucht hat – oder wenn er mindestens einmal im Monat ein Mu- anstatt Erziehungswissenschaft zu verwenden. Dies steht in einem seum und eine Theater- oder Konzertveranstaltung besucht? Und Missverhältnis zu der Kritik, welcher der Bildungsbegriff über wie steht es mit der sogenannten Herzensbildung? Jahrzehnte ausgesetzt war. Für die Begriffe der Aus-, Fort- und Weiterbildung ist es rela- Jede Debatte über den Bildungsbegriff mündet früher oder tiv leicht, übereinstimmende Definitionen zu finden: später in einem Verweis auf Wilhelm von Humboldt (1767–1835) und einer Neuauflage seines Bildungsideals, aus dem die unter- Ausbildung – Ausbildung umfasst nach allgemeinem Verständnis die Vermitt- lung von Fertigkeiten, Fähigkeiten, Kenntnissen und Wissen an Menschen be- schiedlichsten Bildungskonzepte abgeleitet wurden und werden liebigen Alters durch eine ausbildende Institution (z. B. eine Schule, eine Hoch- (Benner 2003). Bei Humboldt heißt es: schule oder ein Handwerksbetrieb). Wesentliches Merkmal ist die Vollendung und Zweckbestimmtheit. Am Ende einer Ausbildung steht eine Abschlussprü- fung, deren Bestehen durch ein Zertifikat bescheinigt wird, das die durch die » Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Ge- Ausbildung erworbene Befähigung nachweist. sinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder Fortbildung – Der Begriff der Fortbildung bezieht sich (in Deutschland) laut ist offenbar nur dann guter Handwerker, Kaufmann, Soldat Berufsbildungsgesetz auf den Erwerb von Qualifikationen, die über die in einer und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht Ausbildung erworbenen Fähigkeiten hinausgehen, um dadurch eine Anpas- auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem sung an veränderte Arbeitsbedingungen zu erreichen. Fortbildung kann aber Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm auch dem beruflichen Aufstieg dienen. der Schulunterricht, was hierfür erforderlich ist, so erwirbt er Weiterbildung – Weiterbildung zielt auf eine Vertiefung, Erweiterung oder Er- die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher so leicht und neuerung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten bei Menschen, die bereits behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von eine erste oder zweite Bildungsphase abgeschlossen haben und in der Regel einem zum anderen überzugehen (Humboldt 1809, S. 218). erwerbstätig sind. Die Bezeichnungen Erwachsenenbildung, Weiterbildung und Andragogik werden oft synonym, gelegentlich auch additiv verwendet. Allgemein wird die Erwachsenen- und Weiterbildung nach verschiedenen Kri- Humboldt wurde in seinem Standpunkt von Pestalozzi beeinflusst, terien geordnet und zwischen einer allgemeinen, beruflichen und politischen der Bildung als sittliche Bildung, d. h. als Herausbildung von Gesin- Weiterbildung differenziert (vgl. Arnold 2011a). nung und Haltung begreift. Wie bei Rousseau wird Bildung nicht als abhängig von der Menge des Gelernten betrachtet, sondern von Im Gegensatz dazu ist es sehr viel schwerer zu definieren, was der inneren Bereitschaft, sich neuen Erfahrungen gegenüber auf- Bildung eigentlich ist. In der älteren Literatur (z. B. Dolch 1965) geschlossen zu zeigen. Ähnliche Ideen finden sich dann auch bei findet sich die Behauptung, Bildung sei ein genuiner Begriff der Herder. Aus alledem resultierte der „klassische“ Bildungsbegriff deutschen Sprache, der in anderen Sprachen keine Entsprechung des Neuhumanismus, der in der vielseitigen Bildung der Individu- habe. Aus semantischer Sicht ist dies nicht zu akzeptieren, da die alität die vornehmste Aufgabe des Menschen sah. Tatsache, dass in einer anderen Sprache kein bestimmtes Wort Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde der neuhumanisti- existiert, um etwas zu bezeichnen (. Abb. 1.3), ja nicht so inter- sche Ansatz immer mehr zu einer konservativen Ideologie einer pretiert werden darf, dass Menschen, die diese Sprache sprechen, formalen Bildung umgeformt, welche die Betonung auf grund- nicht über das jeweilige Phänomen nachdenken würden. Was als legende und generalisierbare Erkenntnismethoden legte, die an Bildung in der deutschen Sprache bezeichnet wird, heißt im Eng- wenigen als besonders relevant betrachteten Fächern erworben lischen educated mind oder self-education (Bruford 1975) und im werden konnten. In der pädagogischen Theorie und Praxis führte Französischen homme de culture (Reichenbach 2007). dies u. a. zu einer einseitigen Überbetonung der altsprachlichen Fächer (Latein, Altgriechisch), denen der höchste formale Bil- Sich mit dem Bildungsbegriff zu befassen, ist dennoch schwierig dungsgehalt zugesprochen wurde. und heikel, da es kaum einen anderen Begriff der pädagogischen An diesem Verständnis einer formalen Bildung übte keiner Fachsprache gibt, der auch nur annähernd so viele Bedeutungen so scharfe Kritik wie Nietzsche: und Konnotationen aufweist. Festzustehen scheint lediglich, dass die Bildung im Dienst der Selbstverwirklichung und des Selbst- » Wir haben ja unsere Kultur, heißt es dann, denn wir haben verständnisses des Menschen steht. Als problematisch erweist ja unsere „Klassiker“, das Fundament ist nicht nur da, nein sich vor allem auch das Verhältnis von Erziehung und Bildung auch der Bau steht schon auf ihm gegründet – wir selbst sind zueinander. Wo schlägt die Erziehung in Bildung um, wo liegt dieser Bau. Dabei greift der Philister an die eigene Stirn […], die Grenze und welche Merkmale gebieten es, Erziehung und ihnen das so nachdenkliche Wort „Klassiker“ anzuhängen und 18 Kapitel 1 Allgemeine Pädagogik: Grundlagen der Erziehungswissenschaft sich von Zeit zu Zeit einmal an ihren Werken zu „erbauen“, Wenige Jahre zuvor hatte Bollenbeck (1996) das Festhalten an 1 das heißt, sich jenen matten und egoistischen Regungen zu dem Begriff der Bildung als „altzopfig“ und „nostalgisch“ be- überlassen, die unsere Konzertsäle und Theaterräume jedem zeichnet. Selbst wenn man den Bildungsbegriff gegen seine Ver- 2 Bezahlenden versprechen; auch wohl Bildsäulen stiften und wendungsgeschichte aufpoliere, könne er nicht gerettet werden mit ihrem Namen Feste und Vereine bezeichnen – das alles (S. 312). Die „idealistisch imprägnierten Bedeutungen“ von Bil- sind nur klingende Abzahlungen, durch die die Bildungs- dung würden letztlich nur noch in der Philosophie und der Päd- 3 philister sich mit ihnen auseinandersetzt, um im übrigen sie agogik aufbewahrt und „neuen Deutungen unterzogen“, was aber nicht mehr zu kennen, und um vor allen nicht nachfolgen und nichts daran ändere, dass die Begriffe Bildung und Kultur „aka- 4 weiter suchen zu müssen. Denn: es darf nicht mehr gesucht demische Pflegefälle“ geworden seien (S. 307) und im Grunde werden; das ist die Philisterlosung (Nietzsche 1873/1999), nur noch in den versprengten Resten des Bildungsbürgertums, 5 S. 144 f.). den Ewiggestrigen, überlebten. In keinem Falle aber sollte man, wie Bollenbeck (1996) kritisch anmerkt, die Verwendung des Dem Gedanken der formalen Bildung und der Betonung nicht Begriffs der Bildung im Deutschen als eine Bestätigung für den 6 inhaltlich bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten wurde die Tiefgang des deutschen Denkens über Bildung und Erziehung materiale Bildung als Entwicklung und Konsolidierung kanoni- betrachten und implizit anderen diesen Tiefgang absprechen. 7 schen Wissens gegenübergestellt. Die Konzeption der materialen Was von manchen als tiefschürfendes Denken betrachtet wird, Bildung hängt eng mit einem bildungstheoretischen Objektivis- ist für andere nur kluges Geschwätz – oder nach Nietzsche „Bil- mus4 zusammen, der sich auf die Übernahme der tradierten In- dungsphilistertum“. 8 halte von Wissenschaften und gegebener Kulturgüter bezieht, die Anlässlich einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung, die oft als „klassisch“ bezeichnet werden. sich mit dem Wandel des Bildungsbegriffs befasste, schrieb von 9 Beide Standpunkte, formale und materiale Bildung, standen Hentig (2007) der Bildung drei Bestimmungen zu: sich lange unversöhnlich gegenüber und prägten die bildungsthe- 10 oretische Diskussion bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei » [Bildung] ist erstens das, was „der sich bildende Mensch“ aus wurde der Bildungsbegriff nach und nach mit einem dermaßen sich zu machen sucht, ein Vorgang mehr als ein Besitz. Die- hoch aufgeladenen Bedeutungsgehalt ausgestattet, dass er sich sem Streben folgt er auch unabhängig von der Gesellschaft. 11 laut Oelkers (2001) zu einer kaum mehr überschaubaren meta- Das ist die persönliche Bildung, die freilich stark von der Kultur phorischen Breite ausformte. bestimmt wird, in der einer aufgewachsen ist, die aber auch 12 Dementsprechend gelangte Dolch (1965) in seiner Gesamt- ohne sie Geltung hat. sicht der damaligen Literatur zu dem niederschmetternden Er- Bildung ist zweitens das, was dem Menschen ermöglicht, in gebnis, dass eine weitgehende Einmütigkeit „so vieler derzeitiger 13 Vertreter der wissenschaftlichen Pädagogik und zwar der ver- seiner geschichtlichen Lage zurechtzukommen: das Wissen und die Fertigkeiten, die Einstellungen und Verhaltenswei- schiedensten ‚Richtungen‘ und weltanschaulichen Grundeinstel- sen, die ihm helfen, sich in der Welt zu orientieren und in der 14 lung in ihrer Reserve gegenüber dem Bildungsbegriff “ (S. 37) be- arbeitsteiligen Gesellschaft sowohl zu überleben wie nützlich stehe, so dass es nur noch möglich sei, eine Art Rettungsversuch zu sein. Das ist die praktische Bildung. („Technai“ hätten die 15 für den brauchbaren Sinn des Bildungsbegriffs zu unternehmen. Griechen dazu gesagt.) Dabei bezog sich Dolch auf die Kritik prominenter Vertreter der Bildung ist drittens das, was der Gemeinschaft erlaubt, geisteswissenschaftlichen Pädagogik wie Litt, Lochner, Bollnow gesittet und friedlich, in Freiheit und mit einem Anspruch auf 16 und Nohl, wobei letztgenannter nach Dolch sogar so weit ging, Glück zu bestehen. Sie richtet den Blick des Einzelnen auf das Teilbestandteile einer Bildungspädagogik als „alte Semmeln“ zu Gemeinwohl, auf die Existenz, die Kenntnis und die Einhal- 17 bezeichnen. Die damals gegen den Bildungsbegriff vorgetragenen tung von Rechten und Pflichten, auf die Verteidigung der Einwände waren so stark, dass der Begriff der Bildung aus dem Freiheit und die Achtung für Ordnungen und Anstand. Sie ist Schriftgut der Pädagogik eigentlich hätte verschwinden müssen, 18 was jedoch nicht der Fall war. für die dikaiosyne, die richtige Balance, in der Gesellschaft zu- ständig. Sie hält zur Prüfung der Ziele, der Mittel und beider Etwas weniger als fünfzig Jahre nach Dolch forderte der So- Verhältnis zueinander an. Sie befähigt zur Entscheidung an- 19 ziologe Luhmann (2002), den Bildungsbegriff abzuschaffen, da gesichts von Macht und begrenzten Ressourcen in begrenzter dieser viel zu vage sei, um den funktionalen Sinnzusammenhang Zeit. Das ist die politische Bildung; um ihretwillen muss es 20 des Erziehungssystems adäquat zu erfassen: die öffentliche Pflichtschule geben; den anderen Aufgaben könnte anders genügt werden (von Hentig 2007, S. 15). 21 » Um auf das ganze Erziehungssystem anwendbar zu sein, musste der Begriff der Bildung daher von allen Inhalten Anna: „Das ist doch jetzt mal ein brauchbarer Ansatz, oder?“ entleert werden. Er wird seitdem nur noch floskelhaft und vor 22 allem politisch gebraucht (Luhmann 2002, S. 191). Jakob: „Ja, find ich auch nicht schlecht. Aber man kann ja auch Bildung einfach als das Zusammenspiel von formaler und kate- gorialer Bildung beschreiben, oder?“ 23 4 Der Objektivismus ist eine erkenntnistheoretische Position, die im Gegen- satz zum Subjektivismus die Bildung von Begriffen an die Eigenschaften von Objekten und nicht an die Eigenschaften des begriffsbildenden Sub- Anna: „Auch kein schlechter Ansatz. Letztlich stecken beide As- jekts knüpft. pekte ja auch bei von Hentig drin …“ 1.2 Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft 19 1 materiale Bildung formale Bildung – bildungstheoretischer – funktionale Bildung Objektivismus („Kräfte“) – Theorie des „Klassischen“ – methodische Bildung (Denkmethoden) Wissen Können kategoriale Bildung objektive, materiale subjektive, formale Aspekte Aspekte nichtadditive Synthese.. Abb. 1.5 Das Verhältnis von kategorialer Bildung zur formalen und materialen Bildung Ein Meilenstein in dem erziehungswissenschaftlichen Versuch, zz Bildungsreformen Bildung zu definieren, ist das Konzept der kategorialen Bildung Die Geschichte des Bildungsbegriffs deutet darauf hin, dass die von Klafki (1959), mit dem es gelang, eine Brücke zwischen Diskussion über Bildung häufig auch einen starken politischen der formalen und materialen Bildung zu schlagen. Klafki macht Akzent hatte und den Nährboden für Reformen des Bildungssys- sich dabei den Sinn des Begriffs der Kategorie zu Nutze, wonach tems bot. Tatsächlich ist die Notwendigkeit von Bildungsrefor- Objekte aufgrund gemeinsamer Merkmale in eine bestimmte men das Mantra der Bildungspolitik und nicht aus ihr wegzuden- Klasse eingeordnet werden, so dass die Kategorienbildung eine ken, wie ein Blick in die Vergangenheit und auf die Gegenwart Grundform des Erkennens und Verstehens konstituiert („etwas zeigt (. Abb. 1.6). gehört zu einer bestimmten Kategorie“) und zugleich den In- Im zwölften Kapitel seiner Großen Didaktik aus dem Jahre halt der zu einer Kategorie gehörenden Objekte repräsentiert. 1657 versprach Comenius unter der Überschrift „Die Schulen Das entspricht dem Konzept der Familienähnlichkeit Wittgen- können reformiert werden“, steins. » die Schulen so einzurichten, daß I. die gesamte Jugend – mit Kategoriale Bildung Ausnahme höchstens derer, denen Gott den Verstand versagt Kategoriale Bildung im Sinne Klafkis meint die Fähigkeit, hat – dort gebildet wird; und zwar II. in allem, was den Men- sich einen Inhaltsbereich oder Sachverhalt gedanklich zu schen weise, gut und heilig machen kann; und III. so, daß die- erschließen und zugleich sich durch erlernte Methoden ser Bildungsvorgang (formatura) vor dem Erwachsenenleben, eigenständig Sachverhalte und Kompetenzen anzueignen. gleichsam als Vorbereitung für das Leben, abgeschlossen ist (zit. nach Reble 1971, S. 123). Stark vereinfacht kann man die materiale Bildung als Aufbau von Wissen, die formale Bildung als Konsolidierung von Können und die kategoriale Bildung als Zusammenschluss von Wissen und Können begreifen (. Abb. 1.5). >> Im Unterschied zur Erziehung, die als gezielte Einfluss- nahme auf die Sozialisation und Personalisation von außen nach innen wirken will, bezieht sich Bildung auf den in der Person ablaufenden Prozess des Sichheraus- bildens eines Selbst- und Wertbewusstseins, das auf die Außenwelt gerichtet ist und zeitlich überdauernd das Handeln der Person in unterschiedlichen Lebensberei- chen beeinflusst. Bildung ist somit von innen nach außen gerichtet... Abb. 1.6 © Martin Breuer 20 Kapitel 1 Allgemeine Pädagogik: Grundlagen der Erziehungswissenschaft Es ließen sich noch viele andere Beispiele aus der Geschichte greifenden Schlüsselqualifikationen. Für den pädagogischen 1 der Pädagogik für die behauptete Notwendigkeit von Bildungs- Bereich empfahl Weinert, mit einer Definition von Kompetenz reformen anführen. Der Hinweis auf das diesbezügliche Wirken aus der Expertiseforschung zu arbeiten, da sich der dort entwi- 2 Humboldts zu Beginn des 19. Jahrhunderts mag genügen. ckelte Kompetenzbegriff sehr gut auf den schulischen Bereich Tief greifende Reformen und Veränderungen des deutschen übertragen ließe, aber zusätzlich zu den kognitiven Leistungen Bildungssystems wurden durch das Schlagwort „Bildungsnot- auch motivationale und handlungsbezogene Merkmale einbe- 3 stand“ ausgelöst, das die Diskussion in der Bundesrepublik ziehen sollte. Im Unterschied dazu betonen Klieme und Hartig Deutschland in den 1960er Jahren prägte. Die Schularten wurden (2007) im Zusammenhang mit dem Konzept der Bildungs- 4 neu strukturiert, neue Lehr- und Bildungspläne ausgearbeitet standards, dass die formulierten Kompetenzerwartungen zwar und neue Lehrmethoden eingeführt. Einer der einflussreichen kompatibel mit Bildungszielen seien, aber notwendigerweise 5 „Bildungstheoretiker“ war damals Robinsohn (1969), der für eine eine Reduktion bedeuteten – nämlich zugunsten der Aneignung grundlegende Revision der Curricula warb und für die Auswahl funktional verwendbaren Wissens, was im Grunde der Idee der und verbindliche Festschreibung von Bildungsinhalten in Cur- kategorialen Bildung entspricht. Folgt man dieser Argumenta- 6 ricula drei Kriterien nannte: tion, rückt der Begriff der Bildung in ein Spannungsverhältnis 1. die Bedeutung eines Gegenstandes im Gefüge der Wissen- zum Kompetenzbegriff: Die Bildung dient der Kompetenzent- 7 schaft, wicklung und ist nur mehr Mittel zum Zweck (Dehnbostel und 2. die Leistung eines Gegenstandes für das Weltverstehen, d. h. Gillen 2005). für die Orientierung innerhalb einer Kultur und für die In- Übereinstimmend wird in der Literatur festgestellt, dass 8 terpretation ihrer Phänomene, und Kompetenzen hypothetische Konstrukte sind (vgl. zum Kons- 3. die Funktion eines Gegenstandes in spezifischen Verwen- truktbegriff die Ausführungen in ▶ Abschn. 1.3), also wissen- 9 dungssituationen des privaten und öffentlichen Lebens. schaftliche Konstruktionen, die sich auf etwas beziehen, was sich der unmittelbaren Beobachtung verschließt (vgl. Klieme 10 Abgesehen davon, dass die Bemühungen Robinsohns insge- und Hartig 2007, Schott und Ghanbari 2012). Dementsprechend samt als gescheitert betrachtet werden können (Benner 2002), lautet die Schlüsselfrage, welches die psychischen Prozesse und kann mit ihnen der Bogen zur gegenwärtigen Diskussion um Strukturen sind, die letztlich die Grundlage von Kompetenzen 11 Bildungsinhalte, Bildungsdefizite, Bildungsstandards und die bilden. Nach Weinert bilden verschiedenartige Dispositionen Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des Bildungswe- bzw. die auf sie bezogenen Konstrukte (z. B. Wissen, Motiva- 12 sens gespannt werden. Im Unterschied zu Robinsohn, der von tion, Volition) die Ausgangsgrundlage für die Entwicklung von Qualifikationen als Bildungsziel gesprochen hatte, die Menschen Kompetenzen, die ebenfalls hypothetische Konstruktionen sind. auf die Anforderungen im Alltag vorbereiten, steht derzeit der Konstrukte mit Hilfe anderer Konstrukte zu erklären, kann 13 Begriff Kompetenz im Mittelpunkt der Bildungsdiskussion. leicht in Spekulation ausarten, so dass sich unmittelbar die He- rausforderung stellt, für Dispositionen und Kompetenzen, die 14 zz Bildung als Kompetenzentwicklung als latent (im Sinne von verborgen) zu begreifen sind, auf der Die Verwendung des Kompetenzbegriffs im erziehungswissen- Ebene des beobachtbaren Verhaltens und Handelns manifeste 15 schaftlichen Kontext ist nicht neu, sondern reicht Jahrzehnte Variablen zu finden, die als zuverlässige und gültige Indikato- zurück. Unter anderem verwendete Roth (1971b) den Begriff ren der Kompetenzen betrachtet werden können. Diesbezüglich in seiner Pädagogischen Anthropologie, indem er Mündigkeit wird übereinstimmend argumentiert (z. B. Klieme und Leutner 16 als Kompetenz für verantwortliche Handlungsfähigkeit als 2006, Schott und Ghanbari 2012), dass die Bestimmung und das zentrale Ziel von Erziehung definierte. Dabei unterschied Analyse von Kompetenzen üblicherweise aufgrund der Bewäl- 17 er zwischen Selbstkompetenz, Sachkompetenz und Sozialkom- tigung spezifischer Aufgaben bzw. Aufgabenmengen erfolgt, für petenz. Unter der Annahme, dass das Konstrukt Kompetenz deren Lösung eine spezifische Kompetenz hypothetisch ange- mehrdimensional ist, gelangte Weinert (2001) zu einer Defi- nommen wird. Kann jemand algebraische Gleichungen mit zwei 18 nition, die bis heute vorzugsweise verwendet wird. Demnach Unbekannten lösen oder den Wendepunkt einer Parabel berech- umfasst Kompetenz nen, schreibt man der Person eine mathematische Kompetenz 19 zu; kann jemand eine wohlschmeckende Mousse au Chocolat » die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren herstellen, verfügt die Person über Kochkompetenz; kann eine 20 kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Prob- Person fließend von der deutschen in die französische Sprache leme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, wechseln, spricht man ihr eine Fremdsprachenkompetenz zu; volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um kann ein Kind Cellosonaten von Brahms fehlerfrei spielen, ver- 21 die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und fügt es über eine hohe musikalische Kompetenz; und kann ein verantwortungsvoll nutzen zu können (Weinert 2001, S. 27 f.). Schüler die naturwissenschaftlichen Aufgaben des PISA-Tests 22 lösen, verfügt er neben einer naturwissenschaftlichen Kompe- In einem früheren Beitrag hatte Weinert (1999) darauf hinge- tenz auch über eine Testkompetenz. Worin eine Kompetenz be- wiesen, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Kompetenzbegriffe steht, wird letztlich durch die Angabe der spezifischen Merkmale 23 existiert – angefangen bei angeborenen Persönlichkeitsmerk- (inhalts- und verhaltensbezogen) von Aufgaben bestimmt, die malen (z. B. Begabung, Intelligenz) bis hin zu umfangreichem eine Person auszuführen imstande ist. Der beobachtbaren Per- Weltwissen, von fachspezifischen Fertigkeiten bis zu fachüber- formanz, also der Leistung zur Lösung bestimmter Aufgaben, 1.2 Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft 21 1 Dispositionen (kognitiv, motivational, sozial-emotional, behavioral Kompetenz- ebene „Wissen“ „Können“ (was und wie) Aufgaben manifeste Variable (inhalts- und (z.B. für Lernen, Behalten, verhaltensspezifisch) Aufmerksamkeit usw.) Performanz- ebene empirische interpretierbare Beobachtungs-, Mess- Indikatoren Daten und Testverfahren.. Abb. 1.7 Komponenten des Konstrukts der Kompetenz wird eine entsprechende Kompetenz, also Fähigkeit, unterstellt, zen spielen Motivation und Volition, also die Bereitschaft und der die ihrerseits wiederum auf grundlegendere Dispositionen zu- Wille zum Handeln, eine entscheidende Rolle. rückgeführt wird. Zur Bestimmung einer Kompetenz gehört laut Schott und Die Verwendung des Begriffs der Performanz im Unterschied Ghanbari (2012) aber nicht nur die Spezifikation der Aufga- zur Kompetenz geht auf Chomsky (1972) zurück, der mit Per- ben, die aufgrund einer Kompetenz gelöst werden können, formanz die Sprachverwendung und mit Kompetenz die der sondern auch die Angabe des Kompetenzgrades, d. h. wie gut Sprachverwendung zugrunde liegenden Fähigkeiten bezeichnete. die Aufgaben gelöst werden. Dabei weisen die Autoren auf den Dementsprechend wird im heutigen Sprachgebrauch Perfor- Unterschied zwischen Kompetenzgrad und Kompetenzniveau manz als begriffliches Komplement zu Kompetenz gebraucht und hin: Letzteres beschreibt, „welche konkreten situativen Anfor- meint die Ausführung und den Vollzug einer Handlung bzw. eine derungen Personen bei welcher Ausprägung einer Kompetenz Leistung. Dementsprechend bezeichnet Performanz den Vollzug bewältigen können“ (Klieme und Leutner 2006, S. 6), während einer Leistung und Kompetenz die Befähigung dazu. der Kompetenzgrad angibt, wie gut die Menge der Aufgaben Schematisch ist dies in. Abb. 1.7 dargestellt, wobei der gelöst wird, die als Operationalisierung einer Kompetenz be- Übersichtlichkeit wegen die Kompetenz durch Können und trachtet werden. Während die Meinungen hinsichtlich Kom- Wissen repräsentiert wird. Können und Wissen verknüpfen sich petenzniveau und Kompetenzgrad auseinandergehen, besteht zur Handlungsfähigkeit in lebensweltlichen Situationen. Das Übereinstimmung in der Annahme, dass Kompetenzen rela- Wissen kann deklarativ (Wissen was) oder prozedural (Wissen tiv überdauernd sind und dementsprechend das Merkmal der wie) sein, das Können beruht auf kognitiven, metakognitiven Nachhaltigkeit aufweisen. und sozial-kommunikativen Fähigkeiten und spezifischen Fer- Obwohl es durchaus plausibel ist, Kompetenzen auf der tigkeiten. Grundlage von Aufgaben und der diesbezüglichen Performanz Das in der Abbildung wiedergegebene Kompetenzmodell zu erschließen, beschwört dies doch die Gefahr herauf, so viele geht grundlegend davon aus, dass Kompetenzen auf latenten Kompetenzen unterscheiden zu müssen, wie es unterschiedliche Dispositionen begründet sind, die aufgrund von Leistungen bei Aufgabenmengen mit spezifischen Inhalts- und Verhaltensan- der Bewältigung spezifischer Aufgaben(mengen) erschlossen forderungen gibt. Die PISA-Studien beispielsweise messen in werden müssen. Allgemein ist davon auszugehen, dass kognitive ihren Tests die mathematische Kompetenz, Lesekompetenz und Dispositionen sich eher und leichter erschließen lassen als die in naturwissenschaftliche Kompetenz. Darüber hinaus beziehen der Definition von Weinert ebenfalls genannten motivationalen, z. B. Jude et al. (2008) auch die soziale und selbstregulatorische volitionalen und sozialen Dispositionen. Aber sowohl beim lern- Kompetenz, die interkulturelle und die berufliche Kompetenz abhängigen Erwerb als auch bei der Anwendung von Kompeten- in ihre Überlegungen ein. Des Weiteren werden in der Literatur 22 Kapitel 1 Allgemeine Pädagogik: Grundlagen der Erziehungswissenschaft vollwertigen Mitgliedern der sozialen und kulturellen Gemeinschaft werden, 1 der sie angehören (Sozialisation/Enkulturation). Grundlage der Erziehung ist der Fach- pädagogische Bezug zwischen Erzieher und zu Erziehendem. Erziehung ist von kompetenz außen nach innen gerichtet. 2 Bildung – Der Begriff der Bildung bezieht sich auf die in Personen ablaufen- den Prozesse des Sichherausbildens eines Selbst- und Wertbewusstseins, das 3 zeitlich überdauernd zu eigen- und sozialverantwortlichem Handeln in unter- schiedlichen Lebenssituationen mit spezifischen Anforderungen qualifiziert. Selbst- Handlungs- Methoden- Bildung beinhaltet den Aufbau von Handlungskompetenz, die Selbstkompetenz, 4 kompetenz kompetenz kompetenz Fachkompetenz, Methodenkompetenz und Sozialkompetenz umfasst, auf eine gesellschaftlich gewünschte Qualität ausgerichtet ist und als pädagogisch er- 5 strebenswert beurteilt wird. Bildung ist von innen nach außen gerichtet. 1.2.1.3 Prozesscharakter von Erziehung 6 Sozial- kompetenz und Bildung Wenn von Erziehung und Bildung die Rede ist, wird gewöhn- 7 lich der Prozesscharakter hervorgehoben, ohne dass ausreichend geklärt wird, was unter einem Prozess der Erziehung und/oder.. Abb. 1.8 Die vier Dimensionen der Handlungskompetenz Bildung verstanden wird. Wer aber über einen Prozess spricht, 8 ohne dessen Merkmale zu nennen, will entweder nichts sagen noch andere Kompetenzen genannt (z. B. kommunikative Kom- oder kennt sie nicht! Daher skizzieren wir nachfolgend zunächst 9 petenz, Medienkompetenz, Lernkompetenz usw.), was insgesamt die allgemeine Charakteristik von Prozessen, bevor wir auf die die Gefahr heraufbeschwört, dass der früher verbreitete Quali- Prozesscharakteristik von Erziehung und Bildung eingehen. 10 fikationsjargon nun von einem Kompetenzjargon abgelöst wird (Dewe 2010). Um nicht im Begriffsdschungel verloren zu gehen, zz Allgemeine Merkmalscharakteristik von Prozessen liegt es nahe, ein Kompetenzmodell zu verwenden, das von einer Konsultiert man das Duden-Bedeutungswörterbuch, findet man 11 allgemeinen Handlungskompetenz ausgeht, auf die Bildung abzielt diese Definition: und verschiedenartige Ausformungen beinhaltet, nämlich perso- 12 nale Kompetenz im Sinne von Selbstkompetenz, Fachkompetenz, » Ein Prozess ist ein über eine gewisse Zeit sich erstreckender Methodenkompetenz und Sozialkompetenz (. Abb. 1.8). Vorgang, bei dem etwas entsteht oder abläuft. Ein Prozess Der Begriff der Selbstkompetenz geht auf Roth (1971b) zu- 13 rück und meint die durch Lernprozesse vermittelte Fähigkeit kann daher auch als Verlauf oder Entwicklung bezeichnet werden. und Zuständigkeit, eigenverantwortlich und moralisch han- 14 deln zu können. Fachkompetenz bezieht sich auf Fähigkeiten, Im englischsprachigen Merriam-Webster lautet die Definition: bestimmte Sachgebiete bzw. Aufgaben zu meistern, und ent- 15 spricht dem Konzept der materialen Bildung. Demgegenüber » Ein Prozess ist eine Serie von Handlungen oder Operatio- ist die Methodenkompetenz mit der Idee der formalen Bildung nen, die zu einem Ziel führen. Ausgelöst wird die Serie der verknüpfbar und zielt darauf, Probleme analysieren, bewerten Handlungen von einem Ereignis oder einer Person (Übers. des 16 und lösen zu können. Die Sozialkompetenz beinhaltet die Be- Autors). fähigung, kommunikativ und kooperativ zu handeln. Das Ideal 17 einer kompetenzorientierten Bildung besteht in der Herausbil- Das wesentliche Merkmal einer Handlung ist, dass sie auf eine dung eines ausgewogenen Verhältnisses der unterschiedlichen Zustandsveränderung eines Objektes oder Systems zielt. In der Kompetenzen zueinander. Dazu beizutragen, ist Aufgabe und Physik bezeichnet ein Zustand alle Informationen zur Beschrei- 18 Ziel von Erziehung, denn Kompetenzen sind nicht angeboren, bung der veränderlichen Eigenschaften eines Systems. Aussagen sondern werden während der gesamten Lebenszeit eines Men- über den Zustand des Systems heißen Zustandsgrößen, die aber 19 schen erworben (d. h. gelernt) und sind dementsprechend von nichts darüber sagen, wie das System in einen bestimmten Zu- außen (z. B. durch Erziehung) beeinflussbar. Da Kompetenzen in stand gelangt ist. Zustandsgrößen sind demnach wegunabhän- 20 Situationen mit spezifischen Anforderungen erworben werden, gig. Die Veränderung zwischen zwei Zuständen wird durch Pro- sind sie in hohem Maße kontextspezifisch und werden bevorzugt zessgrößen charakterisiert. Sie beschreiben den Vorgang, der zu in einander ähnlichen Situationen angewandt. Zustandstransformationen führt, und sind somit wegabhängig. 21 Letztendlich liegt das Ziel der Kompetenzentwicklung in Nehmen wir als Beispiel ein Girokonto, das durch die Zustands- der Regulierung des selbstständigen und selbstverantwortlichen größe Kontostand beschrieben werden kann. Diese Zustands- 22 Handelns – von Roth (1971b) als Mündigkeit bezeichnet. größe sagt nichts darüber, wie der Zustand des Kontos erzielt wurde. Ein Kontostand von 1000 € kann durch monatliches Spa- Erziehung – Der Begriff der Erziehung bezieht sich auf äußere Maßnahmen, die ren von je 50 € erreicht worden sein oder aber durch Einzahlung 23 zielgerichtet Prozesse auslösen sollen, durch die Personen (zu Erziehende) unter von 5000 € und nachfolgende Abbuchungen. Die Überweisung Anleitung anderer Personen (Erzieher) ihre intellektuellen, emotionalen, geisti- gen, sozialen und physischen Fähigkeiten entwickeln (Personalisation) und zu ist eine Prozessgröße, die einen Kontostand erzielt. Dieses Bei- 1.2 Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft 23 1 spiel kann übertragen werden auf den Prozess der Wissensver- mal ist es einfacher zu bestimmen, was nicht Gegenstand änderung: Ein Wissensbereich wird als Menge Q von Aufgaben eines Prozesses ist. formalisiert. Die Aufgabenteilmenge K von Q, die eine Person Die Beteiligten sind Individuen oder Organisationen, die aktiv lösen kann, kennzeichnet deren Wissenszustand. Eine Wissens- in einen Prozess involviert sind oder deren Interessen und struktur beschreibt die geordnete Menge K der möglichen Wis- Verhalten möglicherweise durch den Prozess oder die Pro- senszustände (= Zustandsgrößen). Durch Hinzufügung neuer zessergebnisse positiv oder negativ beeinflusst werden. Sie Informationen wird ein Wissenszustand transformiert, dement- können auch selbst Einfluss auf den Prozess, dessen Inhalte sprechend ist das Hinzufügen (bzw. der Erwerb) neuer Informa- und Ergebnisse nehmen. tionen die Prozessgröße. Die Randbedingungen eines Prozesses sind faktische Gege- Ausgelöst durch ein Ereignis bewirkt ein Prozess in der benheiten, die den Prozess maßgeblich beeinflussen und Gesamtheit zusammenhängender Operationen Zustandsän- ihrerseits nicht geändert werden können. Dies können Ge- derungen von Systemen und bringt Ergebnisse (Produkte oder setze, Normen, Regelungen, Verträge oder prozessspezifische Dienstleistungen) hervor. Kein Prozess lässt sich eindimensional Richtlinien sein. darstellen, denn er besteht immer aus einer Serie von Operatio- Prozesse unterscheiden sich voneinander durch die unter- nen und Zustandstransformationen, die sich durch spezifische schiedliche Nachhaltigkeit, d. h. durch die zeitliche Dauer der Wechselwirkungen untereinander auszeichnen. Dementspre- Prozessauswirkungen. chend ist jeder Prozess gekennzeichnet durch die ihm eigenen Ein Prozess kann mit Risiken behaftet sein, die den Prozess­ Merkmale, aber er kann auch Merkmale mit anderen Prozessen ablauf stören, ihn verlängern oder sogar zum Abbruch des teilen. Folgende Prozessmerkmale können unterschieden wer- Prozessverlaufs zwingen. Zugleich kann ein Prozess auch den: unbeabsichtigte Auswirkungen haben, die z. B. das Anstoßen anderer Prozesse betreffen. Ein Prozess entsteht nicht aus dem Nichts. Er muss durch ein Ereignis (oder eine handelnde Person) angestoßen werden. Dementsprechend ist das auslösende Ereignis zu spezifizieren. Nach dieser etwas abstrakten Darstellung der generellen Merk- Ebenso muss der Endzustand des Prozesses eindeutig und malscharakteristik von Prozessen wollen wir untersuchen, wel- klar spezifiziert sein. ches die charakteristischen Merkmale von Erziehungs- und Bil- Prozesse können nach der Art ihres Verlaufs charakterisiert - dungsprozessen sind. werden. Ein Prozess kann selbstständig und unabhängig autonom zz Merkmalscharakteristik von Erziehungs- ablaufen (z. B. eine chemische Reaktion), oder der Verlauf - und Bildungsprozessen kann gelenkt sein (z. B. durch eine Person). Auslöser. Der Auslöser eines Erziehungsprozesses ist eine Person, Ein Prozess kann umkehrbar (reversibel) oder unumkehr- da Erziehung alle bewussten und gezielten Handlungen eines bar (irreversibel) sein. Irreversibel ist ein Prozess, wenn er Individuums in Bezug auf ein anderes Individuum umfasst, die auf keine Weise vollständig rückgängig gemacht werden dieses zu einer selbstständigen Lebensführung befähigen sollen. kann. Folglich ist ein Prozess dann reversibel, wenn man Demgegenüber ist der Auslöser eines Bildungsprozesses die sozi- ein System dadurch in den Anfangszustand zurückver- al-kulturelle Umwelt (zu der auch Personen wie Erzieher gehö- setzen kann, dass man alle Zustandstransformationen in - ren). Der „beste Lehrer“ ist oft die natürliche Umgebung, in der umgekehrter Reihenfolge durchläuft. Personen aufwachsen und deren Bedingungen sie sich stellen Bezüglich des Zustandsraums kann zwischen kontinu- müssen. Das belegen ethnografische Studien, die das Lernen ierlichen und diskreten Prozessen unterschieden werden. in natürlichen Umgebungen untersucht haben. In einer häufig Misst X(t) beispielsweise die Intelligenz, so handelt es sich zitierten Studie fanden Carraher et al. (1985) heraus, dass bra- um einen kontinuierlichen Prozess; steht X(t) ∈ {1, …, 6) silianische Straßenverkäufer, die wenig oder gar keinen Mathe- für die Augenzahl beim Würfeln, so ist dies ein diskreter - matikunterricht hatten, sehr kompetent waren, die Preise von Prozess, der auch Kette genannt wird. Waren und Lotterielosen zu berechnen, die von der Anzahl der Prozesse können deterministisch oder stochastisch verlau- Permutationen von vier oder mehr Zahlen abhängen. fen. Bei einem deterministischen Prozess ist jeder Zustand kausal von vorherigen abhängig und wird von diesen Die Kompetenz von jungen Straßenverkäufern, ohne Kenntnisse von Schulma- bestimmt. Bei einem stochastischen Prozess oder Zufalls- thematik zu korrekten Lösungen mathematischer Probleme zu gelangen, wird prozess folgt ein Zustand aus anderen Zuständen nur mit dadurch erklärt (z. B. Lave 1988), dass menschliches Denken in hohem Maße einer gewissen Wahrscheinlichkeit. kontextgebunden und an einer bestmöglichen Nutzung der Informationsres- Ein Prozess wird durch die Art der Aktivitäten charakterisiert, sourcen in der gegebenen Situation orientiert ist. Seit den Untersuchungen von Wagenschein (1977) und der Forschung zu mentalen Modellen (Seel 1991, z. B. biologisch, genetisch, psychisch, verhaltensbegründet. 2003) ist bekannt, dass der sozial-kulturelle Kontext und die situativen Bedin- Der Gegenstand des Prozesses beschreibt seinen Inhalt und gungen das Lernen und Denken von Personen auch in anderen Bereichen wie dient der Abgrenzung gegenüber anderen Prozessen. Manch- Physik oder Ökonomie prägen (Crawford 2009) und einen wesentlichen Beitrag zu dem leisten, was man als „Alltagsbildung“ bezeichnen kann. Diese steht laut 24 Kapitel 1 Allgemeine Pädagogik: Grundlagen der Erziehungswissenschaft Rauschenbach (2007) „im Schatten der formalen Bildung“, ist aber als wichtige, Während Extremierungsziele in der Betriebswirtschaftslehre vorherrschend 1 wenn nicht gar entscheidende Form der Bildung zu begreifen. Aber auch All- sind, finden sie im pädagogischen Kontext so gut wie keine Anwendung. Hier tagsbildung wird wesentlich durch die soziale und kulturelle Umwelt geformt, sind Satisfizierungsziele und insbesondere Meliorisierungsziele dominierend. wie am Beispiel des Beitrags, den Museen zur Allgemeinbildung leisten, gezeigt 2 werden kann (Horn 2005). Erziehungs- und Bildungsprozesse zeichnen sich üblicherweise Endzustand. Erziehungs- und Bildungsprozesse unterscheiden durch mehrfache Zielsetzungen aus, die nicht immer alle optimal 3 sich nicht nur darin, wie sie ausgelöst werden, sondern auch in erreicht werden können. Der Zielerreichungsgrad einiger Ziele der Qualität des angestrebten Endzustandes. Der Endzustand wird besser, der anderer dagegen schlechter sein. Eine Optimie- 4 von Erziehung ist die mündige Person, der Endzustand von rung von Erziehungs- und Bildungsprozessen bei mehrfacher Bildung ist Handlungskompetenz (ausdifferenzierbar in Fach-, Zielsetzung erfordert eine Kompromisslösung. Ist keine ein- 5 Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz). deutig beste Lösung definiert, wird eine Menge von Lösungen bestimmt, bei der eine Verbesserung eines Zielerreichungsgra- Art des Verlaufs. Erziehungsprozesse sind, wenn man die funkti- des nur durch Verschlechterung eines anderen erreicht werden 6 onale Erziehung außer Betracht lässt, qua Definition mehr oder kann. Wenn man sich bei einer Verbesserung in einem Ziel in weniger stark gelenkt und angeleitet, Bildungsprozesse können den anderen Zielen nur noch verschlechtern kann, spricht man 7 demgegenüber auch völlig autonom und ohne direkte Lenkung von einer Pareto-optimalen Lösung. Dabei muss kein absoluter ablaufen. Erziehung ohne Lenkung ist Interaktion und Kommu- Zielerreichungswert festgelegt werden, sondern es reicht aus, nikation. Auch die antiautoritäre Erziehung kommt nicht, wie ihr Ziel­optionen zu vergleichen, um die bessere Option auszuwäh- 8 unterstellt wird, ohne jede Lenkung des zu Erziehenden aus, sie len. In den Bereichen von Erziehung und Bildung genügt meis- wendet sich nur gegen den Zwang in der Erziehung und will die tens eine relative Angabe der Verbesserung (Option a ist besser 9 Entwicklungsautonomie des Kindes fördern. als b). Erziehungs- und Bildungsprozesse sind stochastisch, d. h., Dazu kommt, dass Erziehungs- und Bildungsprozesse der Übergang von einem Zustand zum nächsten erfolgt stets nur 10 unumkehrbar sind, was nicht heißen soll, dass sie nicht auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, die durch pädagogische rückläufig sein, d. h. „Verluste“ des bereits Erreichten mit sich Einflussnahme erhöht werden kann. Zur Beschreibung von Er- bringen können. Aber es ist grundsätzlich nicht möglich, die ziehungs- und Bildungsprozessen gehört die Bestimmung der 11 Prozessschritte umzukehren und punktgenau zum Ausgang zu- Übergangswahrscheinlichkeiten von einem Zustand zum ande- rückzukommen. Erziehung und Bildung sind als kontinuierliche ren. Dazu können Markov-Ketten-Modelle genutzt werden (dazu 12 dynamische Verbesserungsprozesse zu begreifen, da sie ihre Ziele später in ▶ Abschn. 1.2.2.2 mehr!). Erziehungs- und Bildungspro- nur mit stetigen Verbesserungen in kleinen Schritten erreichen. zesse sind als zeitabhängige Prozesse dynamisch, d. h., bezüglich Das heißt, Erziehungs- und Bildungsprozesse erstrecken sich der Zeit sind sie homogen, da ihr Verlauf zwar vom Anfangszu- 13 über längere Zeiträume, manche sogar über die gesamte Le- stand, aber nicht vom Anfangszeitpunkt abhängt. bensspanne. 14 Unter Verbesserung kann dabei sowohl eine stetige Erhöhung Art der Aktivitäten. Hinsichtlich der Art der Aktivitäten, die der Qualität (z. B. des Kompetenzgrads) als auch die Berichtigung Erziehungs- und Bildungsprozesse charakterisieren, kann fest- 15 von Fehlern durch Korrektur verstanden werden. Gelegentlich gestellt werden, dass diese auf Kommunikation und Interaktion wird Erziehung und Bildung in der Zielsetzung auch mit Per- begründet sind und einen Informationsaustausch zwischen den fektibilität verknüpft, was nicht mit Perfektion gleichzusetzen beteiligten Personen voraussetzen. Erfolgreiche Erziehung ist 16 ist, sondern eine Vervollkommnungsfähigkeit bezeichnet, um grundsätzlich als Gelingen sozialer Interaktion zu begreifen. Da- Leistungen zu einem krönenden Abschluss zu bringen (vgl. für ist wiederum Kommunikation notwendig, die erfolgreich ist, 17 Schulz 2003). Hinsichtlich der Zielsetzungen von Erziehung und wenn sie die beabsichtigte Wirkung erzielt. Ein einfaches Beispiel Bildung kann danach unterschieden werden, ob sie eine Extre- ist die Frage eines Kindes, die von der Mutter beantwortet wird. mierung, Satisfizierung oder Meliorisierung der Zielerreichung Das Kommunikationsziel ist erreicht, wenn das Kind die Antwort 18 zugrunde legen. versteht und damit seine Erwartung erfüllt wird. Da Erziehung grundsätzlich Kommunikation voraussetzt, 19 Extremierungsziele – Extremierungsziele setzen den Zielinhalt so hoch an, dass keine Alternative bekannt ist, die denselben Zielinhalt in noch höherem gelten für sie auch die Axiome, die Watzlawick formuliert hat Ausmaß erfüllen würde. Sollte Bildung tatsächlich auf Vervollkommnung zielen, (Watzlawick et al. 2011). Das erste Axiom lautet: „Man kann 20 wäre dies ein Extremierungsziel. nicht nicht kommunizieren!“ Sobald zwei Personen einander wahrnehmen, kommunizieren sie miteinander, weil dann jedes Satisfizierungsziele – Demgegenüber ist das Ziel, nur eine von vornherein Verhalten kommunikativen Charakter hat. Da Verhalten kein 21 bestimmte feste Größe zu erreichen, ein Fixierungs- bzw. Satisfizierungsziel. Es ist dann erreicht, wenn eine bestimmte Mindest- oder Höchstgrenze über- bzw. Gegenteil hat und man sich nicht nicht verhalten kann, ist es auch unterschritten wird. Die Festsetzung von Kompetenzniveaus bei Bildungsstan- nicht möglich, nicht zu kommunizieren. Das zweite Axiom be- 22 dards entspricht einem Satisfizierungsziel. Grundlage ist die Vorstellung eines sagt, dass jede Kommunikation einen Inhalts- und einen Bezie- wünschenswerten Niveaus der Erfüllung des Zielinhaltes. hungsaspekt hat, wobei der Beziehungsaspekt den Inhaltsaspekt bestimmt. Der Beziehungsaspekt besteht beim Erziehen im päda- 23 Meliorisierungsziele – Meliorisierungsziele setzen einen bereits realisierten gogischen Bezug und determiniert, wie der jeweilige Inhalt einer Status quo eines Prozesses voraus (z. B. einen Wissensstand x) und begnügen sich damit, von diesem Bezugspunkt ausgehend die weitere Richtung des Pro- Kommunikation vom Empfänger interpretiert wird. Das dritte zesses anzugeben, der zum Endzustand führt. Axiom Watzlawicks lautet: Da Beziehungen zwischen Kommu- 1.2 Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft 25 1 nikationspartnern auf Gleichheit oder Ungleichheit beruhen, oder das Leben in anderen Weltregionen auswirken (vgl. Lang­ sind zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe entweder thaler 2013). Kurz gefasst wird Gestaltungskompetenz als Ziel symmetrisch oder komplementär. Kommunikation im Rahmen der Bildung reklamiert. von Erziehung ist überwiegend komplementär, da sich die unter- schiedlichen Verhaltensweisen von Erzieher und zu Erziehendem Risiken. „Zu Risiken und Nebenwirkungen siehe Packungsbei- bei erfolgreicher Interaktion ergänzen. Die Beziehungsgrundlage lage oder fragen Sie Ihren …“ kann man auf Erziehungs- und besteht bei der Erziehung in der Unterschiedlichkeit der Interak- Bildungsprozesse nicht anwenden, da die Risiken, die zweifels- tionspartner, die sich durch eine Unterordnung des einen unter ohne bestehen, nicht exakt benannt werden können. Der So- den anderen auszeichnet. ziologe Luhmann (2004) hat das dahingehend zum Ausdruck gebracht, dass absichtsvolles Erziehen eher Glückssache als eine Gegenstand und Grund. Das erzieherische Handeln, das sich Selbstverständlichkeit ist. Erziehung gilt manchem als Balanceakt auf das Veränderbare von Dispositionen bezieht, ist Gegen- zwischen Risiko und Protektion (Burow 2003). Allgemein wird stand und Grund von Erziehungs- und Bildungsprozessen. Da darüber, dass in der Erziehung etwas misslingen kann und der es manchmal einfacher ist zu bestimmen, was nicht Gegenstand Erzieher nicht zu dem gesetzten Ziel gelangt, nicht gerne gespro- eines Prozesses ist, kann in Bezug auf Erziehung gesagt werden, chen. Das hat Bollnow (1958) bereits vor Jahrzehnten festgestellt dass diese nicht der Manipulation von Individuen dient, sondern und das gilt nach wie vor. Pädagogik ist die Kunst, mit Risiken der Überzeugung (Winkler 2006). Erziehung dient dem Zweck umzugehen, vermeidbar sind sie nicht. Ein misslungener Ver- der Mündigkeit und setzt somit Handeln und Reflexion darü- such, durch Erziehung etwas zu bewirken, ist noch lange kein ber voraus. Gegenstand und Grund von Bildung ist der Erwerb Scheitern. Dasselbe gilt für den Bereich der Bildung, für den die von Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen, die für ein zu- Risiken besser bekannt sind. Sie liegen in den Auswirkungen friedenstellendes Leben in einer sozioökonomisch bestimmten sozioökonom

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