Paradigmen der Psychologie PDF
Document Details
Uploaded by LeanConnemara4437
Universität Wien
Tags
Summary
This document discusses different paradigms in psychology, focusing on the behavioral approach and its emergence in the 1920s. It also touches on the concept of paradigmatic phases in scientific disciplines as described by Kuhn, but acknowledges that psychology's development might differ compared to natural sciences. The book 'Die Krise der Psychologie' by Karl Bühler is quoted to support this.
Full Transcript
67 4 Paradigmen der Psychologie...
67 4 Paradigmen der Psychologie Lassen Sie uns diese bisher sehr allgemeinen Überlegungen zu Paradigmen nun auf die Psychologie fokussieren: Die paradigmatische Vielfalt unserer Disziplin wurde in den 1920er-Jahren etwa zeitgleich mit dem Auftauchen eines neuen Paradigmas, das sich so radikal von allem Bisherigen unterschieden hat, was bis dahin unter Psycholo- gie verstanden worden war, – dem Behaviorismus – besonders deutlich verspürt. Als Beleg dafür kann die Tatsache dienen, dass 1927 nahezu zeitgleich – und in Unkennt- nis voneinander – zwei Bücher erschienen, geschrieben von zwei der produktivsten Psychologen der damaligen Zeit: Karl Bühler aus Wien und Lev Vygotskij aus Mos- wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Oktober 18, 2024 um 13:25:21 (UTC) heruntergeladen. kau. Die Parallele zwischen den beiden kann augenfälliger nicht sein: Bühler nennt sein Buch Die Krise der Psychologie, Vygotskij seines Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung. Ich zitiere aus der Einleitung von Bühlers Buch: „Soviele Psychologien nebeneinander wie heute, soviele Ansätze auf eigene Faust sind wohl Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. noch nie gleichzeitig beisammen gewesen. Man wird mitunter an die Geschichte vom Turm- 4 Paradigmen der Psychologie, 9783825261641, 2023 bau zu Babel erinnert. […] Denn so ist es in der Gegenwart: ein rasch erworbener und noch unbewältigter Reichtum neuer Gedanken, neuer Ansätze und Forschungsmöglichkeiten hat den krisenartigen Zustand der Psychologie heraufbeschworen. Es ist, wenn nicht alles täuscht, keine Zerfalls-, sondern eine Aufbaukrise, ein embarras de richesse, wie er das Ausholen zu einem umfassenden Gemeinschaftswerk begleiten kann. Gelingt es, eine Konkordanz herzu- stellen, dann dürfen wir Großes von der Zukunft erwarten.“ (Bühler, 1927, S. 1) Im Lichte von Kuhns Überlegungen zur Entwicklung wissenschaftlicher Disziplinen lässt sich Bühlers Verständnis der Situation als das einer präparadigmatischen Phase deuten;21 denn es ist eine Phase, in der unterschiedliche Ansätze und Vorschläge in Bezug darauf vorliegen, an welchen Wissenschaften die Psychologie sich orientieren 21 Kuhn hat seine Beschreibung an Naturwissenschaften (Chemie, Physik, Astronomie) entwickelt; Geistes- und Sozialwissenschaften hat er nicht gut gekannt. Meist scheint er davon auszugehen, dass diese das Stadium der Normalwissenschaft noch nicht erreicht haben, wiewohl er hier vor- sichtig formuliert: „This century appears to be characterized by the emergence of a first consensus in parts of a few of the social sciences“ (Kuhn, 1962, S. 347, Hervorhebungen T. S.). Seine Phasen- lehre lässt sich jedenfalls nur mit gewissen Abstrichen auf Letztere (und damit auch auf die Psy- chologie) anwenden. Etwa gibt es in der Psychologie, anders als in der Physik, keine Anomalien, an denen das Fach derart den Atem anhält. Selbst wenn man die Psychologie als rein experimentelle Wissenschaft betreibt, trifft man nicht auf Anomalien mit vergleichbarer Sprengkraft. Es sind gera- de die plausiblen Relativierungsmöglichkeiten (die sich z. B. aus der nicht völligen Ausschaltbarkeit von ‚Störvariablen‘ bzw. einer im Vergleich mit den ‚harten‘ Naturwissenschaften eingeschränkten Wiederholbarkeit im Humanexperiment ergeben; vgl. die sog. Replikationskrise der Psychologie), die in der Psychologie verhindern, dass der Ausgang eines Experimentes jemals so ernst genom- men wird wie in den Naturwissenschaften – Relativierungen, die das Paradigma stets abschirmen und damit von vornherein verhindern, es je so anzuspannen, dass es an einem sog. experimentum crucis zerbrechen könnte. Wenn Kuhn Anomalien für den Paradigmenwechsel als derart zentral 68 Paradigmen der Psychologie soll – anders gesagt: welche Art von Wissenschaft die Psychologie ist – und auf wel- che Methoden sie daher zugreifen soll. Die wesentlichste paradigmatische Differenz, wie sie zu Bühlers Zeit bestanden hat und unter veränderten terminologischen Vorzeichen bis heute besteht, ist die zwischen einer geisteswissenschaftlich orientierten auf der einen und einer natur- wissenschaftlich orientierten Psychologie auf der anderen Seite. Schon der Gründer- vater der Psychologie, Wilhelm Wundt, sprach von einer „Zwischenstellung, welche die Psychologie durch ihre Methodik zwischen den Natur- und Geisteswissenschaf- ten einnimmt“. Diese Zwischenstellung lag für ihn „wesentlich darin begründet, daß die psychischen Vorgänge nicht bloß untereinander [denn wäre das so, lägen sie im wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Oktober 18, 2024 um 13:25:21 (UTC) heruntergeladen. ‚Zuständigkeitsbereich‘ der Geisteswissenschaften; Anmerkung T. S.], sondern daß sie immer zugleich mit physischen Vorgängen zusammenhängen […]“ (Wundt, 1921, S. 90) – und für Letztere seien eben die Naturwissenschaften, insbesondere die Physiologie zuständig. Wundt wird heute gerne als Gründungsfigur der experimentellen und also natur- Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. wissenschaftlichen Psychologie gefeiert. Sein eigener Weg führte ihn allerdings ganz 4 Paradigmen der Psychologie, 9783825261641, 2023 von dem Labor weg, das er 1879 in Leipzig gegründet hatte, und damit auch von der Naturwissenschaft. Am Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn arbeitete er nahezu ausschließlich an einer letztendlich zehn Bände umfassenden Völkerpsychologie, die einen rein geisteswissenschaftlichen Charakter hat und die manche Autoren als Vor- läuferin dessen verstehen, was heute als Kulturpsychologie bezeichnet wird.22 Die Grenzlage oder Zwischenstellung der Psychologie dokumentiert sich auch da- ran, dass ihre institutionelle Zugehörigkeit innerhalb der Universitäten unterschied- lich sein kann: Psychologische Institute finden sich an natur-, aber auch an geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten. In Wien gehörte das Institut für Psycholo- gie nach seiner Gründung 1922/23 zunächst zur philosophischen, von 1975 bis 2004 zur sog. grund- und integrativwissenschaftlichen Fakultät, die mehrheitlich nicht naturwissenschaftlich ausgerichtet war; 2004 wurde das Institut für Psychologie in Wien dann zu einer eigenständigen Fakultät – was ein Upgrade in der institutionellen Hierarchie, aber gleichzeitig auch eine zunehmende Isolation von den human- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen bedeutet hat. erachtet, stützt er seine Argumentation zur Wissenschaftsentwicklung also auf ein Phänomen, das für die Physik typisch ist und sich in anderen Wissenschaften so nicht auffinden lässt. 22 Im Gesamten gesehen ist das Fach Psychologie ihm in dieser Bewegung nicht gefolgt; Wundts ‚anderes‘, d. h. geisteswissenschaftlich-kulturpsychologisches Erbe ist – wie Jüttemann (2006) be- dauert – in der Entwicklung des Faches kaum aufgegriffen worden (vgl. Kapitel 5 über Kulturpsy- chologie, S. 96 ff.). Paradigmen der Psychologie 69 Wilhelm Dilthey (1833–1911) hat 1894 die unterschiedlichen Erkenntnishaltungen der Natur- und Geisteswissenschaften in einem klassisch gewordenen Satz formu- liert, von dem im zweiten Kapitel schon ausführlich die Rede war: „Die Natur erklä- ren wir, das Seelenleben verstehen wir.“ Das Seelenleben23 wird von Dilthey also der geisteswissenschaftlichen Seite zuge- ordnet, es soll verstanden, nicht erklärt werden. In der Dilthey’schen Tradition be- deutet ‚verstehen‘ den Versuch, den Sinn eines Phänomens zu erfassen, d. h. das Phä- nomen, um das es geht, in einen Sinnzusammenhang zu stellen. Es wird also davon ausgegangen, dass die menschliche Welt und das Handeln in dieser Welt grundsätzlich sinnstrukturiert ist: Menschen tun oder unterlassen etwas, weil es für sie Sinn ergibt wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Oktober 18, 2024 um 13:25:21 (UTC) heruntergeladen. (was nicht bedeutet, dass sie diesen Sinn direkt angeben können). Verstehen ist der Versuch, Schritt für Schritt Zugang zu den sinnstrukturierten Lebensverhältnissen von anderen Menschen zu gewinnen – woran sie sich orientieren, was sie umtreibt, was sie über sich selbst wissen (und was sie nicht davon wissen, auch wenn sie trotz- dem daran orientiert sind). In den Geisteswissenschaften und auch in der geisteswis- Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. senschaftlichen Psychologie geht es darum, die Sinnstrukturen zu rekonstruieren, die 4 Paradigmen der Psychologie, 9783825261641, 2023 die menschlichen Lebensverhältnisse durchziehen und orientieren, und diese Sinn- strukturen lassen sich mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erfassen. Dilthey hat eine ganz bestimmte Vorstellung von ‚verstehen‘, er sagt: „Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du“ (Dilthey, 1910/1992, S. 191). Das klingt nach 19. Jahrhundert, aber lässt sich in etwa folgendermaßen paraphrasieren: Ich verste- he etwas, wenn ich es auf der Basis bzw. auf der Folie meiner eigenen sinnhaft ver- fassten Welt nachvollziehen kann, in mir einen Bezug dazu herstellen kann, mich einfühlen kann. Zum Beispiel kann ich die Unruhe, die sich bei Ihnen beim Lesen dieser Ausführungen einstellen mag, verstehen, weil ich mich auf der Basis meiner eigenen Erfahrungen in den Umstand einfühlen kann, dass es mit 18 oder 20 Jahren manchmal attraktiver und auch wesentlicher ist, sich sozial zu vernetzen, als trockene wissenschaftstheoretische Überlegungen nachzuvollziehen. Verstehen ist daher jedenfalls ein Akt, der in der Position desjenigen, der verste- hen will, – in der Position des Interpreten – seinen Anhaltspunkt finden muss. Man nennt das in der Wissenschaftstheorie eine First-Person-Perspektive, d. h. eine Per- spektive, die den Verstehenden nicht ausblenden kann, weil er der unüberspringbare Bezugspunkt ist. 23 Der Begriff ‚Seele‘ ist uns heute aus der Sphäre des Religiösen geläufig, in der akademischen Psy- chologie verwendet man ihn aber nicht mehr. Man spricht von ‚Psyche‘, vom ‚Mentalen‘, von ‚mind‘ oder ‚Kognitionen‘, aber sehr wahrscheinlich wird Ihnen im Psychologiestudium niemand etwas von der ‚Seele‘ erzählen. Falls Sie diese suchen, suchen Sie hier vergeblich. Der Seelenbegriff und die ihn begleitenden Konnotationen haben sich aus der akademischen Psychologie vollkommen verabschiedet (vgl. Kapitel 1, S. 10). 70 Paradigmen der Psychologie Verstehen ist daher ein grundsätzlich relationaler Begriff: Man versteht etwas als etwas (z. B. was man selbst kennt) bzw. versteht es im Zusammenhang mit oder im Unterschied zu etwas. Der Sinn, den etwas für mich als Interpreten hat, fällt allerdings nicht notwen- digerweise mit dem Sinn der Person zusammen, die z. B. ein Bild gemalt, ein Haus errichtet, einen Text geschrieben, eine Handlung gesetzt, ein Gefühl verspürt hat.24 Und selbst wenn es Ihnen – in einer Ausstellung moderner Kunst kann das durchaus passieren – aufs Erste nicht gelingen sollte, einem Kunstwerk einen Sinn zu geben, dann ist eben dieses Nichtfindenkönnen, diese Abwesenheit von Sinn – und eventuell der Ärger oder die Langeweile, der mit dieser Unmöglichkeit eines sinnhaften Ver- wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Oktober 18, 2024 um 13:25:21 (UTC) heruntergeladen. stehens einhergeht – immer noch ein Befund in einer sinnhaft verfassten Welt – eben eine Leerstelle des Sinns. Etwas als un-sinnig zu qualifizieren, setzt den Sinn ja schon voraus, ist selbst also immer schon ein auf Sinn bezogener Akt. Wenn wir uns nicht in eine Ausstellung moderner Kunst imaginieren, sondern in eine Ausstellung klassischer Malerei, dann lässt sich besser nachvollziehen, dass in Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. einem Werk sich auch immer etwas dokumentiert, was der, der es hervorbringt, gar 4 Paradigmen der Psychologie, 9783825261641, 2023 nicht bewusst hineinlegen hat können: Es dokumentiert sich nämlich auch die Stim- mung und das technische Können einer Epoche, von dem diejenigen, die in dieser Zeit leben und arbeiten, so durchdrungen sind, dass es ihnen gar nicht bewusst ist und sie das gar nicht auf den Begriff bringen könnten. Es wird erst nachfolgenden Generationen deutlich – und zwar aus dem Kontrast zu der Stimmung und dem Kön- nen, in dem diese Generationen selbst stehen. Wenn Sie keinen Zugang zur Malerei haben, dann vergegenwärtigen Sie sich Kinofilme oder Fernsehserien, die ein paar Jahrzehnte alt sind; auch in diesem zeitlichen Abstand können Sie darin schon etwas sehen, was denen, die diese Filme produziert haben, nicht in der Weise sichtbar sein konnte – die Zeitstimmung. Insofern ist auch das Verstehen eines Kunstwerkes oder eines Filmes niemals abgeschlossen, weil es von jeder Epoche neu verstanden wird, neu deswegen, weil sich das kulturelle Sinngewebe und damit die Ausgangsperspek- tive der Interpret*innen ständig umbaut. 24 Diese wichtige Differenzierung (d. h. dass der Sinn der interpretierenden Person nicht mit dem Sinn und schon gar nicht mit den bewussten Absichten der Person zusammenfallen muss, deren Handlung, Erleben oder Erzeugnis interpretiert wird) wird in der Psychologie besonders schlecht verstanden; Psycholog*innen haben die Tendenz, mit ihren Interpretationen schnell auf die ‚ei- gentlichen Absichten‘ – d. h. auf die Intentionen der Akteur*innen – abzuzielen (‚X wollte dies aus- drücken‘ … ‚Y wollte mit seiner Handlung Folgendes erreichen‘) und dabei sowohl ihren eigenen Bezugspunkt als Interpret*innen außen vor zu lassen wie auch den Umstand, dass den befragten Akteur*innen selbst nicht alles zugänglich ist, woran sich ihr Handeln orientiert – insbesondere gilt das für den sozialen Sinn ihres Handelns. Dass das Ergebnis interpretativer Arbeit sich nicht notwendigerweise mit dem Sinn deckt, den Akteur*innen mit ihrer Handlung verbinden und auf eine direkte Befragung hin angeben, führt häufig zu Missverständnissen bei der Aneignung und beim Einsatz komplexerer qualitativer Methoden in der Psychologie. Paradigmen der Psychologie 71 Weil Sinn, wie oben angeführt, ein relationaler Begriff ist, schlüsselt sich der Sinn z. B. eines Bildes oder Textes mit jeder neuen Bezugnahme neu auf; seine Eröffnung ist daher nie prinzipiell abgeschlossen, sondern setzt sich mit jeder neuen sinnhaften Bezugnahme fort (während ‚richtig‘ und ‚falsch‘ Endpunkte einer Auseinanderset- zung darstellen). Ist das eine gute Nachricht? Ja, für diejenigen, die unterwegs bleiben wollen in Bezug auf ihr Verstehen – und auch forschungspragmatisch ist es eine gute Nachricht, weil die Welt sozusagen niemals zu Ende beforscht sein kann. Forschungslogisch hat das bedeutsame Konsequenzen, v. a. diejenige, dass ver- schiedene Interpret*innen zu unterschiedlichen Interpretationen kommen können: Wenn ich Ihnen jetzt die Mona Lisa zur Interpretation vorlegen oder das Gedicht wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Oktober 18, 2024 um 13:25:21 (UTC) heruntergeladen. The hill we climb vorlesen würde, das Amanda Gorman bei Joe Bidens Inauguration 2021 vorgetragen hat, dann würde jeder und jede von Ihnen dieses Bild oder diesen Text ein wenig anders interpretieren, so wie jeder und jede von Ihnen auch diese Abhandlung ein wenig unterschiedlich, nämlich vor dem Hintergrund der je eige- nen Bewusstseinsfolie interpretiert, d. h. in Abhängigkeit von dem Sinngewebe, das Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. sich in Ihnen aufgrund Ihrer je spezifischen Erfahrungsaufschichtung gebildet hat – 4 Paradigmen der Psychologie, 9783825261641, 2023 durch Ihre schulische Laufbahn, Ihren kulturellen Hintergrund, Ihre familiäre Kon- stellation, die Vorerfahrungen, die Sie im Bildungssystem bisher gemacht haben, bis hin dazu, ob Sie mit meiner bildhaften Sprache etwas anfangen können oder welchen Wahrheitswert Sie implizit mit dem österreichischen Sprachsound verbinden usw. usf. Oder wenn Sie schon viel von der Geschichte der Psychologie wissen, dann wird dieses Wissen Ihr Verstehen dieses Textes anders und vielleicht komplexer anleiten als das Verstehen von jemandem, der über diese Kenntnisse nicht verfügt.25 Weil jede interpretierende Person eigene Aufladungen und eigenes Vorwissen in den Interpretationsprozess mitbringt, ist es zum einen wichtig, dieses Vorver- ständnis zu reflektieren. Zum andern ist es wichtig, Transparenz herzustellen, wie, d. h. aufgrund welcher Arbeitsschritte, man zu seiner Interpretation gekommen ist, und diese Arbeitsschritte der Interpretation anderen vorlegen zu können, damit diese Interpretation nachvollziehbar ist und man auch sagen kann, bis wohin man sie nachvollziehen kann und wo nicht mehr. Das unterscheidet die Interpretation von der Intuition, bei der man nicht sagen kann, wie man zu einer Einsicht gelangt ist. 25 Um zu dem vorigen Beispiel zurückzukehren: Wenn Sie spezifische Kenntnisse in Bezug auf Male- rei haben, z. B. viel über Stilgeschichte oder Farbmaterialien der italienischen Renaissance wissen, dann wird das Ihr Verstehen der Mona Lisa in einer Weise anleiten, die einem in diesen Belangen laienhaften Betrachter nicht verfügbar ist. 72 Paradigmen der Psychologie Die Renaissance der geisteswissenschaftlichen Psychologie als Kulturpsychologie26 korrespondiert damit, dass Sie auch als Bezeichnung für diesen – den nichtnatur- wissenschaftlichen – Forschungsstil kaum mehr den Begriff ‚hermeneutisch‘ finden, der in den klassischen Geisteswissenschaften für das Auslegen und Deuten von Bil- dern und Texten gebraucht wird. Man spricht heute stattdessen von Interpretations- verfahren oder qualitativen Methoden. Aber auch das Ziel dieser Verfahren besteht darin, zu verstehen, d. h. die Sinnzusammenhänge festzustellen, in denen menschli- ches Erleben und Handeln steht und entsteht, bzw. herauszufinden, an welchen (im- pliziten) Sinnstrukturen es sich orientiert. Kulturpsychologie ist auch insofern ein treffender Begriff, als jedes Handeln seinen Sinn in dem kulturellen Kontext erhält, in wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Oktober 18, 2024 um 13:25:21 (UTC) heruntergeladen. dem es sich vollzieht. Man muss diesen Kontext kennen, um es zu verstehen, d. h. so- wohl die Werte, Sitten, religiösen Überzeugungen, nach und in denen die Menschen leben – ihr ‚symbolisches Betriebssystem‘ –, wie auch ihre von materiellen, medialen und sozioökonomischen Verhältnissen geprägten Praxisformen. Erklären – Diltheys Gegenbegriff zum ‚Verstehen‘ – bedeutet im Gegensatz dazu Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. das Feststellen von kausalen oder gesetzmäßigen Zusammenhängen aus einer als neu- 4 Paradigmen der Psychologie, 9783825261641, 2023 tral gedachten Beobachterposition, der sogenannten Third-Person-Perspektive. Um die Geschwindigkeit zu berechnen, mit der sich Schall ausbreitet, macht es keinen relevanten Unterschied, aus welcher kulturellen Perspektive heraus das geschieht – sobald sich die Beteiligten auf die dabei zu verwendenden Maße geeinigt haben. Die- se Art von Realität muss man nicht interpretieren, man kann sie letztlich nur zur Kenntnis nehmen. Ähnliches gilt für jene Art von Wissen, die unabhängig von empirischer Unter- suchung ist.27 Um zu verstehen, dass die Winkelsumme eines Dreiecks 180 Grad be- trägt, muss man sich nur vergegenwärtigen, dass man zu einer Seite des Dreiecks eine Parallele durch den gegenüberliegenden Eckpunkt ziehen und feststellen kann, dass alle Winkel des Dreiecks an der Parallelen wieder auftreten und sich dort genau zu ei- nem Halbkreis ergänzen. Wenn ich den Kreis als etwas definiert habe, das im Ganzen 360 Grad umfasst, dann ergibt sich, dass die Dreieckswinkel zusammengenommen genau die Hälfte, 180 Grad, ausmachen, und zwar immer, bei jedem Dreieck. Diese Einsicht hat nun immerhin schon 2500 Jahre gehalten, das heißt, sie ist historisch und kulturübergreifend recht stabil, solang man sich darauf beschränkt, in einer Ebe- ne – im Zweidimensionalen – zu agieren. In einer nichteuklidischen Geometrie, das 26 Von geisteswissenschaftlicher Psychologie ist tatsächlich kaum mehr die Rede. Die Alternative zum naturwissenschaftlichen Hauptstrom des Faches firmiert heute unter dem ‚umbrella term‘ Kultur- psychologie (vgl. Kapitel 5). 27 Die Unterscheidung von ‚synthetischem‘, d. h. empirischem Wissen und ‚analytischem‘ Wissen, das unabhängig von jeder empirischen Untersuchung – a priori – als wahr feststeht, geht auf Kant zurück. Der Winkelsummensatz ist ein Beispiel für ein solch analytisches Wissen. Paradigmen der Psychologie 73 heißt, wenn ein Dreieck auf eine Kugeloberfläche projiziert wird, gilt der Satz nicht mehr. Während das geisteswissenschaftliche Erkenntnisziel darin liegt, Phänomene in ihrer Ganzheit und in ihrem je einmaligen Sinnkontext zu verstehen, läuft der na- turwissenschaftliche Ansatz darauf hinaus, Phänomene in ihre Bestandteile zu zer- gliedern, um sie dann aus den Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen die- sen Bestandteilen zu erklären. Die Naturwissenschaften arbeiten – um einen Begriff zu bemühen, den Wilhelm Windelband (1912) eingeführt hat – nomothetisch, sie wollen nomoi (Gesetze) aufstellen, die naturwissenschaftliche Psychologie fragt z. B. nach gesetzmäßigen Beziehungen zwischen bestimmten Stimulusbedingungen und wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Oktober 18, 2024 um 13:25:21 (UTC) heruntergeladen. bestimmten Reaktionen. Diese Reaktionen werden von außen her betrachtet, d. h. vom Standpunkt einer nur beobachtenden, also außerhalb des beobachteten Gesche- hens stehenden Person, dem Forscher oder der Forscherin. Geisteswissenschaften hingegen arbeiten – um auch Windelbands Gegenbegriff aufzugreifen – idiografisch, sie beschreiben zunächst das idios (das Eigene) eines be- Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. stimmten Falles – was nicht heißt, dass sie beim Einzelfall stehen bleiben, mit einer 4 Paradigmen der Psychologie, 9783825261641, 2023 Sinndeutung des Einzigartigen genug haben; vielmehr sollen aus dem Einzelfall und aus dem Vergleich von Einzelfällen auch z. B. zeit-, milieu- oder geschlechtstypische Befunde gewonnen werden, deren Bedeutung über den Einzelfall hinausgeht, dies allerdings nie mit dem Anspruch, immer und überall gültig zu sein. Ein solcher Anspruch lässt sich deswegen nicht erheben, weil sich das menschliche ‚Sinngewe- be‘ ständig umbaut. Insofern ist Verstehen ein unabschließbarer Vorgang. Auch in 100 Jahren wird man noch versuchen, die Mona Lisa zu verstehen, und man wird sie sehr wahrscheinlich ein bisschen anders verstehen als heute. Diese Differenz zwischen einer natur- und einer geistes- bzw. kulturwissen- schaftlichen Arbeitshaltung lässt sich vereinfacht folgendermaßen ausdrücken:28 Na- turwissenschaft versucht, ein Phänomen zu erklären, indem sie dieses zuerst in Ein- zelteile zerlegt – eine Strategie, die seit der Antike als Atomismus bekannt ist – und dann die Erklärung für das Phänomen daraus bezieht, was sich bei einer Variation bestimmter Einzelteile verändert, während die Geistes- bzw. Kulturwissenschaft Phä- nomene verstehen will, indem sie diese kontextualisiert, d. h. nachvollzieht, in welche 28 Wenn Sie die Differenz zwischen einer geistes- und einer naturwissenschaftlichen Forschungs- haltung noch einfacher und metaphorischer haben wollen, dann könnten Sie es mit einem Satz versuchen, den ich in einem Science-Fiction-Buch für Kinder (Bautze, 1972) gefunden habe, ein Satz, mit dem dort die beiden Grundstrategien von intelligentem Leben im Universum bezeich- net werden: „Es gibt die, die quellen, und die, die schnappen.“ Die geisteswissenschaftliche He- rangehensweise wäre das Quellen, d. h. das untersuchte Material wird mit immer mehr Kontext angereichert, es quillt dabei sozusagen immer mehr auf, ich verstehe umso mehr davon, je mehr Perspektiven und Vergleichshorizonte ich daran anlege, während die Metapher des Schnappens die naturwissenschaftlich-zergliedernde, sezierende Arbeitshaltung verbildlicht. 74 Paradigmen der Psychologie Sinnzusammenhänge sie eingebettet sind. Das ist die Grunddifferenz. Sobald Sie im Labor sind, sind Sie auf der Seite des Zerlegens, denn im Labor wird das Phänomen aus seinen lebensweltlichen Kontexten herausgelöst und so in einzelne Variablen zer- legt, dass Sie diese systematisch variieren und die Auswirkungen dieser Variationen beobachten können. Wie oft, wenn man eine Dichotomie einführt – wie hier die von Erklären versus Verstehen –, muss man aufpassen, dass man ihr nicht in die Falle geht, weil man damit das Kind sozusagen mit dem Bade ausschüttet. Wenn wir auf der Seite der Kulturpsychologie von ‚verstehen‘ sprechen, präkludiert das nämlich nicht, dass die Kulturpsychologie auch etwas erklären kann und will. Aber eben nur auf Basis eines wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Oktober 18, 2024 um 13:25:21 (UTC) heruntergeladen. Verstehens. Verstehen und Erklären schließen einander also nicht aus, wie das die Gegenüberstellung bei Dilthey auf den ersten Blick suggerieren mag. Verstehen und Erklären gehen in der qualitativ-kulturpsychologischen Forschung durchaus zusam- men, wobei allerdings das Sinnverstehen jeweils die Voraussetzung für die Mög- lichkeit ist, etwas zu erklären, wie das schon Max Weber (1913) deutlich gemacht Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. hat. Das heißt, wenn man sinnverstehend rekonstruieren kann, woran – an welchen 4 Paradigmen der Psychologie, 9783825261641, 2023 Sinnstrukturen – sich z. B. Flüchtlinge orientieren, kann man auch den Erfolg oder Misserfolg von auf diese Menschen zielenden Interventionen besser erklären.