Lehrbrief Sozialpsychologie Soziale Gruppenprozesse PDF

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PFH Private Hochschule Göttingen

Prof. Dr. Hans-Werner Bierhoff Prof. Dr. Dieter Frey

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social psychology group processes leadership social science

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This document is a learning brief on social psychology, focusing on social group processes. It covers leadership theories, social norms, roles, status, group performance, innovation, intergroup relations, and critical rationalism. It is intended for an undergraduate-level course.

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Lehrbrief Sozialpsychologie Soziale Gruppenprozesse B10155 Lehrbrief Sozialpsychologie Soziale Gruppenprozesse B10155 Autoren: Prof. Dr. Hans-Werner Bierhoff Prof. Dr. Dieter Frey unter Mitarbeit von Gina Dirmeier, Sylvana Drewes, Detlef Fetchenhauer, Peter Fischer, Eva Jonas, Rudolf Kerschreiter, G...

Lehrbrief Sozialpsychologie Soziale Gruppenprozesse B10155 Lehrbrief Sozialpsychologie Soziale Gruppenprozesse B10155 Autoren: Prof. Dr. Hans-Werner Bierhoff Prof. Dr. Dieter Frey unter Mitarbeit von Gina Dirmeier, Sylvana Drewes, Detlef Fetchenhauer, Peter Fischer, Eva Jonas, Rudolf Kerschreiter, Günter W. Maier, Lisa Katharin Schmalzried, Thomas Schultze, Stefan Schulz-Hardt, Birgit Schyns, Sebastian Stegmann, Bernhard Streicher, Eva Traut-Mattausch, Johannes Ullrich und Rolf van Dick Modulverantwortung: Prof. Dr. Olivia Spiegler Herausgeber: PFH Private Hochschule Göttingen Weender Landstraße 3-7 37073 Göttingen Tel.: +49 (0)551 54700-0 Verlag: © 2022 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Göttingen Bern Wien Oxford Boston Paris Amsterdam Prag Florenz Kopenhagen Stockholm Helsinki São Paulo Merkelstraße 3, 37085 Göttingen Impressum: www.pfh.de/Impressum Datenschutz: www.pfh.de/datenschutz Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Coverbild: https://stock.adobe.com Sonderausgabe: Der Lehrbrief basiert auf Kapitel 7 bis 12 des Buches „Sozialpsychologie Individuum und soziale Welt“ von Hans-Werner Bierhoff und Dieter Frey (2011). ISBN 978-3-8017-2154-1 2. Auflage, Göttingen 2022 | PFH.FLB.841.2311 5 Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis 8 Tabellenverzeichnis 8 Einleitung 9 Einordnung des Lehrbriefes im Rahmen des Fernstudiums 9 Aufbau und Konzeption dieses Lehrbriefes 10 Lernziele dieses Lehrbriefes 10 Kapitel 1 Führung 11 1.1 Klassische Führungstheorien 14 1.1.1 Eigenschaftstheoretische oder personalistische Ansätze 14 1.1.2 Verhaltenstheoretische Ansätze 15 1.1.3 Kontingenztheoretische Ansätze 16 1.2 Interaktionale Führungstheorien 17 1.2.1 Transaktionale, transformationale und charismatische Führung 17 1.2.2 Leader-Member Exchange (LMX) 20 1.3 Mitarbeiterzentrierte Führungstheorien 21 1.3.1 Implizite Führungstheorien 22 1.3.2 Soziale Identitätstheorie der Führung 23 Reflexionsaufgaben 27 Kapitel 2 Die Gesellschaft in uns: Wie soziale Normen, soziale Rollen und sozialer Status unser Verhalten beeinflussen 29 2.1 Soziale Normen 30 2.1.1 Injunktive versus deskriptive Normen 31 2.1.2 Warum befolgen Menschen soziale Normen? 33 2.1.3 Herkunft und Veränderung sozialer Normen 36 2.2 Rollen 37 2.2.1 Verschiedene Konzeptionen sozialer Rollen 38 2.2.2 Rollenkonflikte 40 2.2.3 Rollen als Be- und Entlastung 41 2.3 Status 42 2.3.1 Status, Macht und sozialer Einfluss 42 2.3.2 Konsequenzen des sozialen Status 43 Reflexionsaufgaben 44 6 Kapitel 3 Leistung in Gruppen 45 3.1 Manifeste und potenzielle Gruppenleistung 47 3.2 Bedeutung des Aufgabentyps für die Bestimmung des Gruppenpotenzials 48 3.2.1 Additive Aufgaben 48 3.2.2 Disjunktive Aufgaben 49 3.2.3 Konjunktive Aufgaben 50 3.2.4 Diskretionäre Aufgaben 50 3.3 Prozessverluste und Prozessgewinne in Gruppen 50 3.3.1 Motivationsverluste und Motivationsgewinne 51 3.3.2 Individuelle Fertigkeitsverluste und Fertigkeitsgewinne 52 3.3.3 Koordinationsverluste und Koordinationsgewinne 53 3.4 Förderung der Gruppenleistung 55 3.4.1 Gruppenzusammensetzung 57 3.4.2 Gruppensynchronisierung 59 3.4.3 Gruppenlernen 60 Reflexionsaufgaben 64 Kapitel 4 Innovation 65 4.1 Was ist Innovation und innovatives Verhalten? 66 4.2 Der Innovationsprozess 69 4.3 Einflussfaktoren innovativen Verhaltens 71 4.3.1 Personenebene 72 4.3.2 Gruppenebene 73 4.3.3 Organisationsebene 76 Reflexionsaufgaben 80 Kapitel 5 Intergruppenbeziehungen 81 5.1 Situationale Faktoren 83 5.1.1 Theorie des Realistischen Gruppenkonflikts 83 5.1.2 Relative Deprivation 84 5.1.3 Theorie der Sozialen Identität 84 5.1.4 Theorie des Intergruppenkontakts 87 5.2 Dispositionelle Faktoren 88 5.2.1 Geringe formale Bildung 89 7 5.2.2 Autoritarismus 89 5.2.3 Soziale Dominanzorientierung 90 5.3 Wechselwirkungen in der Praxis 90 5.3.1 Autoritarismus, Soziale Dominanzorientierung und Bedrohung 90 5.3.2 5.3.3 Heterogenität am Arbeitsplatz und individuelle Diversitätsüberzeugungen 92 Identifikation, Intergruppenkontakt und Zusammenarbeit zwischen Teams 94 Reflexionsaufgaben 97 Kapitel 6 Wissenschaftstheorie und Psycho­logie: Einführung in den Kritischen Rationalismus von Karl Popper 99 6.1 Einleitung 100 6.2 Die Position des Kritischen Rationalismus 101 6.2.1 Ersetzung des Prinzips der Verifikation durch das Prinzip der Falsifikation 102 Die empirische Basis der Wissenschaften im Konzept des Kritischen Rationalismus 104 Informationsgehalt als Kriterium für die Güte von Theorien 105 6.2.4 Funktionen von Theorien 106 6.2.5 Modifikationen der „strengen“ Falsifikations­theorie 109 6.2.6 Folgen der Nicht-Existenz deterministischer Gesetzesaussagen in den Sozialwissenschaften 110 6.2.7 Ein anspruchsvolles Wissenschaftsbild 111 6.3 Ausblick 113 Reflexionsaufgaben 114 Ausblick 115 6.2.2 6.2.3 Anhang 115 Literatur 116 Glossar 126 Lösungshinweise zu den Reflexionsaufgaben 137 Ergänzende Übungsaufgaben 142 Lösungshinweise zu den ergänzenden Übungsaufgaben 142 8 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Unterschiedliche Führungsmodelle 13 Abbildung 2: Mitarbeiter-Bewertungen von Führungskraft-MitarbeiterBeziehungen 21 Wahrgenommene Führungseffektivität in Abhängigkeit der Salienz der Gruppe und der Prototypikalität der Führungskraft 25 Prozentualer Anteil der Versuchspersonen, die das Flugblatt auf den Boden warfen 32 Das 9-Punkte-Problem stellt eine Aufgabe mit HeurekaEffekt dar. 49 Formel zur Divergenz zwischen tatsächlicher Gruppenleis­tung und Gruppenpotenzial von Hackman und Morris 51 Abbildung 7: Der Ringelmann-Effekt 53 Abbildung 8: Grundsätzliche Ansatzpunkte für das Management der Gruppenleistung 56 Abbildung 9: Innovationsphasen 70 Abbildung 10: Förderliche Faktoren innovativen Verhaltens 78 Abbildung 11: Beispielmatrize aus den Minimalgruppen-Experimenten 86 Abbildung 12: Wechselwirkung zwischen Autoritarismus und Bedrohung 91 Abbildung 13: Wechselwirkung zwischen der Heterogenität der Projektgruppe und Diversitätsüberzeugungen für die Vorhersage von Identifikation mit dem Team 94 Interaktion zwischen Teamidentifikation und Identifikation mit dem Krankenhaus für die Vorhersage von Konflikten zwischen Teams 95 Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 14: Abbildung 15: Das Hempel-Oppenheim-Schema 107 Abbildung 16: Beispiel für die logische Ableitung des Explanandums aus dem Explanans aus dem Bereich der Theorie der kognizierten Kontrolle 107 Abbildung 17: Das naive Wissenschaftsschema 112 Abbildung 18: Das Wissenschaftsschema des Kritischen Rationalismus 112 Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Entwicklungsabschnitte der Führungsforschung anhand ausgewählter zentraler Führungstheorien 13 Vier Arten nicht unterteilbarer Aufgaben und Implikationen für die Ermittlung des Gruppenpotenzials 48 Übersicht über Prozessverluste und Prozessgewinne bei der Gruppenleistung 55 Informationen der drei Entscheider, die für (+) bzw. gegen (–) die Kandidaten A, B, C und D sprechen 58 9 Einleitung Die Sozialpsychologie beschäftigt sich mit dem Einfluss sozialer Aspekte auf das Individuum und die Umwelt. Darüber hinaus befasst sie sich mit sozialer Interaktion und wirft einen Blick auf soziale Gruppenprozesse. Der vierte Lehrbrief konzentriert sich auf soziale Gruppenprozesse. Neben sozialen Gruppenprozessen im Allgemeinen werden Phänomene wie Gruppenleistung, Innovation und Intergruppenbeziehungen ausführlich analysiert. Darüber hinaus wird die Frage geklärt, welchen Einfluss soziale Normen auf unser Verhalten haben und wie soziale Rollen und der soziale Status uns prägen. Auch auf das Thema Führung wird aus sozialpsychologischer Sicht eingegangen. Ziel dieses Fernlehrbriefes ist es, soziale Gruppenprozesse zu beleuchten und verschieden Aspekte wie soziale Normen und Intergruppenbeziehungen zu behandeln. Einordnung des Lehrbriefes im Rahmen des Fernstudiums Die Sozialpsychologie ermöglicht ein differenziertes Verständnis von Alltagsvorgängen. Dabei geht es um Fragen wie: Inwieweit beeinflusst die soziale Umwelt die einzelne Person bei ihrer Personenwahrnehmung und ihrer Motivation? Wie beeinflussen einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen ihre soziale Umwelt? Unter welchen Bedingungen sind Minoritäten erfolgreich? Was sind typische Merkmale der Majorität? Die Sozialpsychologie wird im Rahmen dieses Moduls in folgende Bereiche untergliedert: Selbst, Persönlichkeit und soziale Motive Soziale Kognition, soziale Einstellungen und Methoden der Sozialpsychologie Soziale Interaktion Soziale Gruppenprozesse Der vierte Fernlehrbrief setzt sich mit dem Bereich der „Soziale Gruppenprozesse“ auseinander. Neben verschiedenen Führungstheorien wird ein Blick auf soziale Normen, soziale Rollen und dem sozialen Status geworfen. Es wird die Frage geklärt, wie Leistung in Gruppen erreicht werden kann und welche Bedeutung der Aufgabentyp für die Bestimmung des Gruppenpotenzials spielt. Über Gruppenleistung hinaus wird der Fokus auch auf innovatives Verhalten und den Innovationsprozess gelegt. Die situationalen und dispositionellen Faktoren von Intergruppenbeziehungen 10 stellen einen weiteren wichtigen Schwerpunkt dar. Alle Kapitel enthalten Abbildungen und Zusammenfassungen zur besseren Visualisierung der sozialpsychologischen Begriffe und Zusammenhänge. Wichtige Ergebnisse werden in farbigen Kästchen hervorgehoben. Aufbau und Konzeption dieses Lehrbriefes Das erste Kapitel des Lehrbriefes befasst sich den verschiedenen Theorien zu Führung. Hier wird sowohl auf klassische als auch auf interaktionale und mitarbeiterzentrierte Führungstheorien eingegangen. Der Einfluss sozialer Normen, sozialer Rollen und des soziale Status auf unser Verhalten wird im zweiten Kapitel aufgegriffen. Im dritten Kapitel wird ein Blick auf manifeste und potenzielle Gruppenleistung geworfen. Neben der Bedeutung des Aufgabentyps für die Bestimmung des Gruppenpotenzials spielt hierbei die Förderung der Gruppenleistung eine wichtige Rolle. Auf innovatives Verhalten wird im vierten Kapitel eingegangen. Hier werden unter anderem die verschiedenen Einflussfaktoren auf innovatives Verhalten behandelt. Im fünften Kapitel stehen Intergruppenbeziehungen im Vordergrund. Neben situationalen Faktoren werden auch dispositionelle beleuchtet. Abschließend wird das Thema „Wissenschaftstheorie und Psychologie“ näher betrachtet. Hierbei wird in den Kritischen Rationalismus von Karl Popper eingeführt. Lernziele dieses Lehrbriefes Klassische Führungstheorien Interaktionale Führungstheorien Mitarbeiterzentrierte Führungstheorien Soziale Normen Rollen und Rollenkonflikte Status, Macht und sozialer Einfluss Manifeste und potentielle Gruppenleistung Förderung der Gruppenleistung Einflussfaktoren innovativen Verhaltens Situationale Faktoren von Intergruppenbeziehungen Dispositionelle Faktoren von Intergruppenbeziehungen Die Position des Kritischen Rationalismus Kapitel 1 Führung Rudolf Kerschreiter, Birgit Schyns und Dieter Frey Inhaltsübersicht 1.1 Klassische Führungstheorien 14 1.1.1 Eigenschaftstheoretische oder personalistische Ansätze 14 1.1.2 Verhaltenstheoretische Ansätze 15 1.1.3 Kontingenztheoretische Ansätze 16 1.2 Interaktionale Führungstheorien 17 1.2.1 Transaktionale, transformationale und charismatische Führung 17 1.2.2 Leader-Member Exchange (LMX) 20 1.3 Mitarbeiterzentrierte Führungstheorien 21 1.3.1 Implizite Führungstheorien 22 1.3.2 Soziale Identitätstheorie der Führung 23 Reflexionsaufgaben 27 12 Kapitel 1 Schlüsselbegriffe Führung als Gruppenprozess Klassische Führungstheorien: Eigenschaften der Führungskraft, Führungsverhalten und Führungssituation Interaktionale Führungstheorien: transaktionale, transformationale und charismatische Führung sowie Leader-Member Exchange Mitarbeiterorientierte Führungstheorien: implizite Führungstheorien und soziale Identitätstheorie der Führung Führung ist ziel­ bezogene Einfluss­ nahme auf andere Führung einer Gruppe © Kelly Young – Fotolia.com Führungseffekte in studentischen Gruppen Führung lässt sich vereinfacht als „zielbezogene Einflussnahme auf andere“ beschreiben. Grundsätzlich kann Einfluss auf andere sowohl durch Menschen erfolgen als auch durch Strukturen (z. B. Führung durch Anreizsysteme oder Vorschriften; v. Rosenstiel, Molt & Rüttinger, 1988). Im Folgenden gehen wir auf Führung durch Menschen ein, d. h. eine Person versucht auf andere Personen zielgerichtet Einfluss auszuüben, damit diese motiviert oder befähigt werden, einen Beitrag zum Erreichen eines kollektiven Ziels einer Gruppe oder Organisation zu leisten (vgl. Chhokar, Brodbeck & House, 2007; Yukl, 2009). Definitionen von Führung umfassen dementsprechend typischerweise drei Elemente: Gruppe, Einfluss und Ziel (Bryman, 1992). Die allermeisten sozialen Gruppen sind durch eine Führungsstruktur gekennzeichnet, die entweder strukturell vorgegeben ist oder sich von selbst in einem Prozess herausbildet. Umgekehrt haben Führende große Einflussmöglichkeiten auf diese sozialen Gruppen. Effektive Führungskräfte zu erkennen und auszuwählen hat deshalb eine große Bedeutung für das Überleben oder den Untergang von Gruppen, Organisationen und ganzen Gesellschaften. Entsprechend ist es nicht überraschend, dass sich bedeutende Denker und Philosophen mit dem Thema Führung beschäftigt haben (z. B. Plato oder Machiavelli) und die Führungsforschung eine lange Tradition in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften im Allgemeinen und in der Psychologie im Besonderen hat. Auch studentische Gruppen können Führungsstrukturen aufweisen und auch in solchen Gruppen konnten Führungseffekte nachgewiesen werden. Beispielsweise ergab eine Studie mit studentischen Lerngruppen, dass die Art und Weise, wie Führung entsteht und ausgeübt wird, die Nutzung der Ressourcen der Gruppenmitglieder direkt beeinflusst (Erez, LePine & Elms, 2002): Ziel der studentischen Lerngruppen war ein möglichst freier Austausch von Meinungen und Informationen für aufgabenbezogene Führung Gruppenleistungen. Dabei zeigte sich, dass in studentischen Gruppen ein höheres Maß an Partizipation und Kooperation sowie höhere Leistungen erzielt wurden, wenn die Führung unter den Mitgliedern der Gruppe rotiert wurde als wenn die Führung von einem sich herausbildenden Anführer (typischerweise dem dominantesten Gruppenmitglied) übernommen wurde. Im Kern versuchen nahezu alle Führungstheorien zu erklären, wodurch Führungserfolg zustande kommt. Führungserfolg kann dabei definiert werden anhand ökonomischer (z. B. Produktivität der geführten Gruppe) oder sozialer (z. B. Mitarbeiterzufriedenheit) Kriterien. Verschiedene theoretische Ansätze in der Führungsforschung fokussieren bei der Erklärung von Führungserfolg auf unterschiedliche Teile des Führungsprozesses: Insbesondere klassische Führungstheorien stellen die Führungskraft in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen (z. B. ihre Eigenschaften, ihr Verhalten). Interaktionale Führungstheorien hingegen beziehen die Mitarbeiter in die Konzeptualisierung des Führungsprozesses ein, d. h. die Mitarbeiter sind ein Teil dessen, was Führung ausmacht (vgl. Abb. 1). Aktuelle Entwicklungen in der Führungsforschung betonen dabei u. a. die soziale Konstruktion von Führung und sozialer Identität im Gruppenkontext. Top down: Klassische Führungstheorien Eye to eye: Interaktionale Führungstheorien Bottom up: Soziale Konstruktion Führungskraft Mitarbeiter Abbildung 1: Führungskraft Führungskraft Mitarbeiter Mitarbeiter Unterschiedliche Führungsmodelle Im Folgenden wird – orientiert an zentralen Entwicklungen in der Führungsforschung – ein knapper Überblick über einige wichtige Ansätze in der Führungsforschung gegeben (vgl. Tab. 1). Aus Platzgründen kann nur eine Auswahl präsentiert werden. Ein umfassender Überblick findet sich beispielsweise bei Yukl (2009). Tabelle 1: Entwicklungsabschnitte der Führungsforschung anhand ausgewählter zentraler Führungstheorien Übergeordnete Klassifikation Klassische Führungs­theorien (zentriert auf die Führungskraft) Ansatzpunkt Kernthema Zeitraum größter Bedeutung Eigenschaft Führungsfähigkeit als angeborene Fähigkeit Bis in die -späten 1940er Jahre Führungsstil Führungseffektivität hängt davon ab, wie sich die Führungskraft verhält Späte 1940er bis späte 1960er Jahre Führungstheo­ rien versuchen Führungs­erfolg zu erklären 13 14 Kapitel 1 Tabelle 1 (Fortsetzung): Entwicklungsabschnitte der Führungsforschung anhand ausgewählter zentraler Führungstheorien Übergeordnete Klassifikation Zeitraum größter Bedeutung Ansatzpunkt Kernthema Klassische Führungs­theorien (zentriert auf die Führungskraft) - Fortsetzung - Kontingenz Die Effektivität eines bestimmten Führungsstils ist abhängig von der jeweiligen Führungssituation Späte 1960er bis frühe 1980er Jahre Interaktionale Führungstheorien Transaktionale, transformationale und charismatische Führung Transformation der Werte der Geführten in Richtung gruppenzentrierter Werte Seit Ende der 1970er Jahre Leader-­Member Exchange Interaktion zwischen Führungskraft und Geführten Seit Mitte der 1970er Jahre Implizite Führungs­ theorien Einfluss von Alltagstheorien darüber, wie Führungskräfte sind und wie sie sich verhalten auf Führungseffektivität Seit Mitte der 1970er Jahre Soziale Identität Führungskraft als Teil der Gruppe; Führung durch Identitäts­konstruktion Seit Ende der 1990er Jahre Mitarbeiterzentrierte Führungs­ theorien 1.1 Klassische Führungstheorien Klassische Führungstheorien erklären Führungs­erfolg mittels Merkmalen der Führungskraft und der Interaktion dieser Merkmale mit verschiedenen Aspekten der Situation. 1.1.1 Personalistische Führungsansätze fokussieren auf die Eigenschaften einer Führungskraft Eigenschaftstheoretische oder personalistische Ansätze Eigenschaftstheorien der Führung gab es bereits im Altertum. Charakteristisch für diese Theorien ist der Fokus auf die Eigenschaften einer Führungskraft (z. B. physische Merkmale wie Größe oder Persönlichkeitsmerkmale wie Dominanz). Die implizite Idee dabei war, dass man zur Führungskraft geboren wird. Anders ausgedrückt ging man davon aus, dass die Fähigkeit, andere erfolgreich zu führen, auf bestimmten, relativ stabilen, zeit- und situationsunabhängigen Eigenschaften basiert – und nicht etwa erst durch Training erlernt wird. Ein bekanntes Beispiel für diese Führungstheorien ist Max Webers (1921/22) Ansatz zu Charisma. Weber beschreibt Charisma darin als eine Art „Geschenk Gottes“ und damit als eine nicht erlernbare Eigenschaft. Führung 15 Allerdings ergab die Suche nach dem Eigenschaftsprofil von erfolgreichen Führungspersönlichkeiten kein konsistentes Bild. Zudem bedingt die Ermittlung von Eigenschaften anhand bereits erfolgreicher Führungskräfte, dass ein solcher Ansatz Führungserfolg lediglich post-hoc erklären kann. Unklar bleibt, inwieweit Führungskräfte diese Eigenschaften bereits vor dem Innehaben einer Führungsposition aufwiesen. Schließlich fanden Überblicksarbeiten zu den Eigenschaftsansätzen nur geringe Zusammenhänge dieser Eigenschaften mit dem Führungserfolg, die obendrein stark streuten (vgl. Mann, 1959; Stogdill, 1948). Insgesamt führte das dazu, dass die letztendliche Bedeutung von stabilen Eigenschaften für den Führungserfolg insgesamt infrage gestellt wurde und der Führungsstil (also erlernbares Verhalten) stärker in den Fokus des Interesses rückte. Später relativierten Reanalysen der frühen Überblicksarbeiten (Lord, de Vader & Alliger, 1986) sowie neue Überblicksreferate (Judge, Bono, Ilies & Gerhardt, 2002; Judge, Colbert & Ilies, 2004; Yukl, 2009) diese kritischen Einschätzungen zu einem gewissen Grad. Neuere Metaanalysen zu den Eigenschaftsansätzen Judge und Kollegen haben zwei vielbeachtete Metaanalysen durchgeführt, in denen sie unter anderem die Zusammenhänge von Führungseffektivität und Intelligenz sowie von Führungseffektivität und den Big-5-Persönlichkeitsfaktoren untersucht haben. Dabei fanden die Autoren eine mittlere positive Korrelation zwischen der Intelligenz der Führungskraft und ihrer objektiven Führungseffektivität (Judge et al., 2004). Dies zeigt, dass die gemessene Intelligenz von Führungspersonen einen zwar nicht besonders hohen, jedoch stabilen Zusammenhang mit ihrer Führungseffektivität aufweist. Auch die berichteten mittleren Korrelationen zwischen Führungseffektivität und den Persönlichkeitsmerkmalen emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit waren positiv und lagen wiederum im kleinen bis mittleren Bereich der Effektgröße (Judge et al., 2002). 1.1.2 Verhaltenstheoretische Ansätze Die Enttäuschung über die unzureichende Erklärungskraft der Eigenschaftsansätze für den Führungserfolg verschob den Fokus zahlreicher Führungsforscher zu Beginn der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts von dem Schwerpunkt, wie Führungskräfte sind (Eigenschaften), zu dem, was Führungskräfte tun (beobachtbares Führungsverhalten). Aufbauend auf frühen Arbeiten von Kurt Lewin und seinen Schülern (vgl. Lewin, Lippitt & White, 1939) erlangte das Konzept des Führungsstils besondere Bedeutung bei der Systematisierung des Führungsverhaltens. Beispielsweise unterschied eine einflussreiche Gruppe von Führungsforschern, die sogenannte „Ohio-Gruppe“ (z. B. Stogdill, 1974) mithilfe von Fragebögen zur Beschreibung des Führungsverhaltens zwei voneinander unabhängige Dimensionen, d. h. eine Führungskraft kann hohe Ausprägungen auf beiden Dimensionen besitzen: Neuere Metaanaly­ sen zeigen durchaus stabile Zusam­ menhänge von Eigenschaften der Führungskraft und Führungserfolg 16 Kapitel 1 Mitarbeiterorientie­ rung und Aufgaben­ orientierung 1. Mitarbeiterorientierung (consideration) ist gekennzeichnet durch freundliches und unterstützendes Verhalten den Mitarbeitern gegenüber sowie Interesse am Wohlbefinden der Mitarbeiter, und 2. Aufgabenorientierung (initiating structure) ist gekennzeichnet durch eine Ausrichtung des Verhaltens an Zielerreichung und Aufgabenerledigung. Obwohl die Führungsstile Mitarbeiterorientierung und Aufgaben­ orientierung die Führungsforschung lange dominiert haben, wurde ihnen in Überblicksarbeiten ein bedeutsamer Zusammenhang zum Führungserfolg abgesprochen (z. B. Yukl & van Fleet, 1992). Im Ge­gensatz dazu zeigt eine neuere Metaanalyse (Judge, Piccolo & Ilies, 2004), dass durchaus moderate Beziehungen zwischen Mitarbeiterorientierung sowie Aufgabenorientierung und verschiedenen Kriterien des Führungserfolgs (z. B. Arbeitszufriedenheit, Zufriedenheit mit der Führungskraft und Motivation der Geführten sowie Effektivität der Führungskraft) bestehen. 1.1.3 Kontingenztheoretische Ansätze Zur Erklärung des Führungserfolgs erweiterten die Kontingenztheorien den bisherigen Fokus auf Eigenschaften der Führungskraft bzw. Führungsverhalten um verschiedene Aspekte der Situation (z. B. Merkmale der Arbeitsaufgabe, der Mitarbeiter, des Organisationskontexts). Im Zentrum dieser Ansätze steht die Frage, in welchen Situationen welcher Führungsstil besonders erfolgreich ist. Wegbereiter dieser Ansätze war das mittlerweile inhaltlich überholte Kontingenzmodell von Fiedler (1967). Das Kontingenzmodell der Führung von Fiedler Fiedlers Kontingenzmodell der Führung Das Kontingenzmodell von Fiedler (1967; Fiedler & Mai-Dalton, 1995) berücksichtigt als erstes Führungsmodell auch Merkmale der Situation. Das Modell unterscheidet acht unterschiedliche Grade der Situationskontrolle durch die Führungskraft auf der Grundlage von hohen bzw. geringen Ausprägungen von drei Situationsmerkmalen (in absteigender Wichtigkeit: Qualität der Führungskraft-Geführten-Beziehung, Positionsmacht, Aufgabenstruktur). Auf Seiten der Führungskräfte unterscheidet das Modell nach dem Führungsstil mitarbeiterorientierte und aufgabenorientierte Führungskräfte. Fiedler postulierte, dass bestimmte Kombinationen von Führungsstil und Situationskontrolle für den Führungserfolg besonders günstig sind. Vereinfacht sind mitarbeiterorientierte Führungskräfte eher in mittelgünstigen Situationen (z. B. gute Beziehung zu den Geführten, eher unstrukturierte Aufgaben und geringe Positionsmacht) erfolgreich, während aufgabenorientierte Führungskräfte in sehr ungünstigen (z. B. schlechte Beziehung zu den Geführten, geringe Aufgabenstrukturierung und schwache Positionsmacht) oder sehr günstigen Situationen (z. B. gute Beziehung zu den Geführten, struktu- Führung rierte Aufgaben und hohe Positionsmacht) erfolgreich sind (vgl. Peters, Hartke & Pohlmann, 1985; Schriesheim, Tepper & Tetrault, 1994). Das Kontingenzmodell von Fiedler und seine Messung des Führungsstils auf der Basis der Einstellung der Führungskraft zu dem am wenigsten geschätzten Mitarbeiter (sog. least preferred coworker, LPC) wurden vielfach kritisiert. Im Hinblick auf die Messung des Führungsstils wird z. B. kritisiert, dass der LPC-Wert einer Führungskraft über die Zeit hinweg nicht stabil ist und das Modell keine Erklärung dafür bietet, weshalb der LPC-Wert mit dem Führungserfolg zusammenhängen sollte. Zudem macht das Modell nur Aussagen über Führungskräfte mit besonders hohen oder besonders niedrigen LPC-Werten. Bei den Situationsmerkmalen wiederum erscheint deren Auswahl und Gewichtung willkürlich. Der zentrale Verdienst Fiedlers besteht aber darin, dass er der Führungsforschung eine neue Richtung aufzeigte und die Entwicklung zahlreicher weiterer Kontingenztheorien stimulierte. Ein anderes Beispiel für eine Kontingenztheorie ist das normative Entscheidungsmodell von Vroom und Yetton (1973; Jago, 1995). Dieses besteht im Kern aus einem situationalen „Entscheidungsbaum“ (mit Fragen wie z. B.: Teilen die Mitarbeiter die Organisa­tionsziele? Ist eine Akzeptanz der Entscheidung durch die Mitarbeiter für eine effektive Ausführung wichtig?). Es zielt darauf ab, die Qualität der Entscheidungen der Führungskraft und deren Akzeptanz bei den Geführten durch den richtigen Grad an Mitbestimmungsmöglichkeiten (z. B. alleinige Entscheidung durch die Führungskraft, Entscheidung durch die Führungskraft nach Konsultation mit den Mitarbeitern, Gruppenentscheidung) zu optimieren. Studien zeigten, dass Entscheidungen der Führungskraft dann erfolgreicher waren, wenn die eingesetzten Entscheidungsstrategien mit dem Entscheidungsmodell im Einklang standen (61 % Erfolgswahrscheinlichkeit) im Vergleich zu solchen Entscheidungsstrategien, die den Vorgaben des Modell widersprachen (37 % Erfolgswahrscheinlichkeit; zum Überblick Jago, 1995). 1.2 Interaktionale Führungstheorien Interaktionale Führungstheorien fokussieren auf den Interaktionsprozess zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. 1.2.1 Transaktionale, transformationale und charismatische Führung Die neueren Ansätze charismatischer und transformationaler Führung basieren auf der gleichen Grundlage: Der Vorstellung, dass es exzeptionell gute Führungskräfte gibt, die sich durch besondere Eigenschaften und/ oder besondere Verhaltensweisen auszeichnen. Transformationale und 17 18 Kapitel 1 charismatische Führungstheorien überlappen sich daher stark (Kirkpatrick & Locke, 1996; van Knippenberg & Hogg, 2003). Im Folgenden gehen wir zunächst auf die transformationale Führungstheorie nach Bass (1985) ein, bevor wir uns einigen Ansätzen zu charismatischer Führung zuwenden. Full-Range Leadership Model: transformationale, transaktionale und Laissez-faireFührung Bass (1985) führte das Full-Range Leadership Model ein, das im Wesentlichen drei Führungsstile beschreibt: Tranformationale, transaktionale und Laissez-faire-Führung, wobei letztere im Sinne einer Nicht-Wahrnehmung der Führungsrolle zu verstehen ist. Die Unterscheidung zwischen transformationaler und transaktionaler Führung geht auf Burns (1978) zurück. Bei transaktionaler Führung wird durch Austauschprozesse geführt: Die Geführten wissen, welche für sie wichtigen Belohnungen/Vorteile sie im Austausch dafür erhalten, dass sie ein von der Führungskraft erwünschtes Verhalten zeigen (z. B. Geld für geleistete Arbeit). Gleichzeitig bezieht Bass sich in seiner Konzeptualisierung transformationaler Führung auf Webers (1921/22) Charisma-Gedanken. In gewisser Weise ist transformationale Führung die Verhaltensseite von Charisma. Transformationale Führung soll die Werte der Mitarbeiter „transformieren“, so dass sie mit den Werten der Gruppe bzw. der Organisation übereinstimmen. Die vier „I“ be­ schreiben die Verhaltensweisen transformationaler Führungskräfte Das erreichen transformationale Führungskräfte über die sogenannten vier „I“ (vgl. Felfe, 2006): Idealised Influence (Einfluss durch Vorbildlichkeit und Glaubwürdigkeit), Inspirational Motivation (Motivation durch begeisternde Visionen), Intellectual Stimulation (Anregung und Förderung von kreativem und unabhängigem Denken) und Individualised Consideration (individuelle Unterstützung und Förderung). Interessant bei letzterem Punkt ist, dass hier weibliche Führungskräfte bessere Werte aufweisen als männliche (Eagly, Johannesen-Schmidt & van Engen, 2003). Ein Grund hierfür könnte sein, dass transformationale Führung weniger im Gegensatz zu stereotypisch weiblichen Eigenschaften (wie z. B. Fürsorglichkeit) steht als andere Führungsstile, und dass Frauen diesen Stil daher leichter übernehmen (z. B. Eagly & Johannesen-Schmidt, 2001). Verschiedene Metaanalysen haben gezeigt, dass transaktionale und transformationale Führung mit Erfolgsfaktoren wie Leistung zusammenhängen (Judge & Piccolo, 2004; Lowe, Kroek & Sivasubramaniam, 1996). Zudem konnte gezeigt werden, dass transformationale Führung über transaktionale Führung hinaus Leistung erklärt (Bass & Avolio, 1993). Deshalb wird empfohlen, sowohl transaktional als auch transformational zu führen. Charisma als Attribution der Geführten Conger und Kanungo (1987) betrachten Charisma als eine Attribution der Geführten auf der Basis von beobachtetem Verhalten der Führungskraft. Der Führungskraft werden durch die Geführten Eigenschaften zugeschrieben, die Charisma ausmachen. Conger und Kanungo (1994) unterscheiden drei Stadien des Charismas: die Erfassung der Umwelt Führung 19 (environmental assessment stage), die Formulierung einer Vision (vision formulation stage) und die Umsetzung dieser Vision (implementation stage). Charismatisches Verhalten zeigt sich (1) durch Sensibilität gegenüber der Umwelt und den Bedürfnissen der Mitarbeiter, (2) durch das Entwickeln und Aussprechen einer strategischen Vision sowie (3) durch persönliche Risikonahme und unkonventionelles Verhalten bei der Umsetzung (z. B. Conger, Kanungo & Menon, 2000). House und Kollegen (z. B. Shamir, House & Arthur, 1993) betonen die Effekte von Charisma auf die Geführten und betrachten damit Charisma als Prozess. Nach Klein und House (1995) ist Charisma eine Interaktion zwischen dem Verhalten einer Führungskraft, den Eigenschaften der Geführten und von Eigenschaften der Umwelt. Charisma als Prozess Interessant an diesen Ansätzen zu charismatischer Führung ist die im Vergleich zur transformationalen Führung sensu Bass stärkere Betonung der Rolle der Geführten, einmal im Sinne der Wahrnehmung und einmal im Sinne der Effekte von charismatischer Führung. Das bedeutet, dass, obwohl Führungsverhalten ein Fokus dieser Theorien ist, der wichtige Beitrag all dieser Modelle darin besteht, dass transformationale/charismatische Führung definiert wird durch die Effekte, die sie auf die Mitarbeiter hat, nämlich die Veränderung ihrer Wertesysteme. Transformationale/ charismatische Füh­ rung ist definiert durch ihre Effekte auf die Mitarbeiter Besonders bei charismatischen Ansätzen, die auf Weber (1921/22) zurückgehen, sollte beachtet werden, dass sie in einer Tradition stehen, die deutlich macht, dass ohne Geführte kein Charisma vorhanden sein kann. Das heißt, nur die Wahrnehmung von Charisma durch die Geführten macht eine Führungskraft charismatisch. Ein Strang der Forschung zu Charisma beschäftigt sich dann auch mit der Frage, ob bestimmte Merkmale der Geführten dazu beitragen, dass sie bei ihren Führungskräften mehr Charisma wahrnehmen. Wahrnehmung von Charisma Klein und House (1995) haben drei konkurrierende Hypothesen zu Eigenschaften von Mitarbeitern charismatischer Führungskräfte aufgestellt: a) Kompensation: Mitarbeiter charismatischer Führungskräfte erfüllen ihr Bedürfnis nach Vervollständigung dadurch, dass sie einer starken, also charismatischen Führungskraft folgen. b) Kompatibilität: Mitarbeiter charismatischer Führungskräfte sind stark wie charismatische Führungskräfte selbst, so dass sie den Ansprüchen einer charismatischen Führungskraft entsprechen können. c) Unabhängigkeit: Mitarbeiter charismatischer Führungskräfte unterscheiden sich nicht von Mitarbeitern anderer Führungskräfte. In der Literatur finden sich hauptsächlich Hinweise darauf, dass die zweite Hypothese zutrifft. Felfe und Schyns berichten in verschiedenen Untersuchungen (z. B. Felfe & Schyns, 2010), dass vor allem solche Mitarbeiter Charisma als Wahrnehmungs­ phänomen 20 Kapitel 1 Charisma wahrnehmen, die Eigenschaften besitzen, wie sie sich auch typischerweise bei charismatischen/transformationalen Führungskräften finden (z. B. hohe Extraversion) und sich selbst in diesen Eigenschaften ähnlich einschätzen wie ihre Führungskräfte. 1.2.2 Leader-Member Exchange Leader-Member Exchange (LMX) Leader-Member Exchange bezeichnet einen Ansatz, nach dem Führung aus einer Austauschbeziehung zwischen Führungskraft und jedem einzelnen ihrer Mitarbeiter besteht (z. B. Graen & Uhl-Bien, 1995). Im Gegensatz zu klassischen Führungstheorien ist Führung hier nicht als ein Prozess zwischen einer Person und einer Gruppe von Mitarbeitern zu verstehen, sondern als dyadischer Prozess zwischen der Führungskraft und jedem einzelnen Mitarbeiter. Damit besteht eine Gruppe aus so vielen LMX-Beziehungen, wie es Führungskraft-Mitarbeiter-Dyaden in dieser Gruppe gibt (Dansereau, Graen & Haga, 1975). Diese Dyaden unterscheiden sich in der Qualität der Beziehungen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Die Mitarbeiter können demnach in Extremgruppen eingeteilt werden, die man als Ingroup (hohe Beziehungsqualität) und Outgroup (niedrige Beziehungsqualität) bezeichnet (Graen & Uhl-Bien, 1995). Dieser Ansatz ist rein beschreibend. Empirische Untersuchungen zeigen, dass sich die Beziehungsqualität zwischen der Führungskraft und den Mitarbeitern in den ersten Wochen der Zusammenarbeit entwickelt und dann relativ stabil bleibt (Liden, Wayne & Stilwell, 1993). Da gute LMXBeziehungen positiv mit der Einstellung und dem Verhalten der Mitarbeiter zusammenhängen (z. B. Commitment und Leistung, Gerstner & Day, 1997), wird empfohlen, mit allen Mitarbeitern eine gute Beziehungsqualität aufzubauen (Graen & Uhl-Bien, 1995). Übereinstimmung in einer Gruppe über die (gute) Qualität der Bezie­ hung zur Führungs­ kraft hat positive Auswirkungen Neuere Untersuchungen zu LMX betrachten die verschiedenen Führungskraft-Mitarbeiter-Dyaden in einer Gruppe nicht mehr unabhängig voneinander, sondern beschäftigen sich mit der Frage, inwieweit Konsens, bezogen auf gute LMX-Beziehungen innerhalb einer Gruppe (also eine geringe Variabilität), sich positiv auf Einstellungen und Verhalten auswirken (z. B. Cogliser, Schriesheim, Scandura & Gardner, 2009). Variabilität in den LMX-Beziehungen (vgl. Abb. 2) einer Gruppe ist zwar einerseits mit dem Ansatz vereinbar, andererseits wird aber angenommen, dass das Vorliegen unterschiedlich guter oder schlechter Beziehungen sich negativ auf (unter anderem) Commitment und Gruppenleistung auswirkt (Henderson, Liden, Glibkowski & Chaudhry, 2009). Interessant ist auch die Frage, inwieweit die Führungskraft und die Mitarbeiter in der Bewertung ihrer Beziehung zueinander übereinstimmen. Theoretisch sollte die Übereinstimmung hoch sein, da beide Parteien Führung dieselbe Beziehung beschreiben. Tatsächlich ist sie jedoch relativ gering (Gerstner & Day, 1995; Sin, Nahrgang & Mor­geson, 2009). Das wirft die Frage auf, welche Perspektive auf LMX nun die „richtige“ ist. Problematisch ist häufig die Erfassung von LMX aus der Perspektive der Führungskraft, da die Führungskraft explizit zwischen den Mitarbeitern unterscheiden müsste, was sozialer Erwünschtheit widerspricht (Gerstner & Day, 1997). LMX-Bewertungen durch die Führungskraft haben zudem eine schlechtere Messgenauigkeit (Gerstner & Day, 1997). 21 Führungskraft und Mitarbeiter stim­ men häufig nicht in der Einschätzung ihrer Beziehungs­ qualität überein Führungskraft LMXBewertung Mitarbeiter 1 gut schlecht Mitarbeiter 2 mittel Mitarbeiter 3 Anmerkungen: Die Bewertungen von LMX-Beziehungen durch die einzelnen Mitarbeiter unterscheiden sich typischerweise innerhalb einer Gruppe, wodurch Durchschnittswerte nur bedingt aussagekräftig sind. In diesem Beispiel ergeben die Bewertungen im Durchschnitt eine mittlere Beziehungsqualität, was die tatsächliche Beziehungsqualität der einzelnen Führungskraft-Mitarbeiter-Dyaden aber nur unzureichend wiedergibt. Abbildung 2: Mitarbeiter-Bewertungen von Führungskraft-Mitarbeiter-Beziehungen Schyns und Day (2010) empfehlen, dass Organisationen und Führungskräfte nach LMX-Excellence stre­ben sollten, das heißt, nach einer guten Beziehungsqualität bei gleichzeitig hoher Übereinstimmung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft und hohem Konsens der Mitarbeiter bezogen auf ihre Beziehungen zur Führungskraft. Insgesamt verbindet LMX und transformationale Führung (Graen, 2003), dass beide Führungsansätze die Beziehung zu den Mit­arbeitern in den Fokus stellen. Allerdings ist der LMX-Ansatz noch stärker mitarbeiterzentriert, da hier Führungskraft und Mitarbeiter zu gleichen Teilen zu der Beziehung beitragen. 1.3 Mitarbeiterzentrierte Führungstheorien Über die bisher besprochenen Führungstheorien hinaus haben sich in den letzten Jahren einige weitere Führungsansätze und -theorien in der Führungsforschung etabliert, die stärker die Mitarbeiter in den Mittel­ punkt rücken. Da eine umfassende Übersicht über diese Ansätze hier zu weit führen würde (vgl. hierzu Avolio, Walumbwa & Weber, 2009), greifen wir im Folgenden exemplarisch einige Ansätze heraus, die aus Mitarbeiterzent­ rierte Führungsthe­ orien betonen die Wichtigkeit von Ka­ tegorisierungspro­ zessen und sozialer Identität 22 Kapitel 1 sozialpsychologischer Perspektive deshalb besonders interessant sind, weil sie die soziale Konstruktion von Führung in einer Gruppe und deren Auswirkungen herausarbeiten. 1.3.1 Implizite Führungs­ theorien beschrei­ ben Alltagstheorien über Eigenschaften und Verhaltenswei­ sen von Führungs­ kräften Implizite Führungstheorien Implizite Führungstheorien beschreiben Alltagstheorien über die Eigenschaften und Verhaltensweisen von Führungskräften (z. B. Schyns & Schilling, in Druck). Implizite Führungstheorien entwickeln sich bereits in der Kindheit (Ayman-Nolley & Ayman, 2005) und bleiben auch bei Veränderungen in Organisationen relativ stabil (Epitropaki & Martin, 2004). Die impliziten Führungstheorien werden abgerufen, wenn die Situation es erfordert, d. h. beispielsweise dann, wenn man eine Führungskraft trifft (Kenney, Schwartz-Kenney & Blascovich, 1996). Eingeführt wurde das Konzept der impliziten Führungstheorien von Eden und Leviatan (1975) auf der Basis des Konzepts der im­pliziten Persönlichkeitstheorien von Schneider (1973). In ihrer Stu­die gaben die Autoren den Teilnehmern eine Beschreibung einer Fabrik vor und baten sie, die Führungskraft dieser Fabrik auf einem der üblichen Führungsfragebogen zu beschreiben. Hierbei fanden sie, dass die Antworten der Untersuchungsteilnehmer faktoranalytisch dieselbe Struktur aufwiesen, die man auch bei der Beschreibung tatsächlicher Führungskräfte findet. Lord und Kollegen (Lord, Foti & de Vader, 1984) entwickelten ein Modell, das eine Kategorisierung von impliziten Führungstheorien beschreibt: Auf der obersten Ebene werden Führungskräfte von Nicht-Führungskräften unterschieden, auf der nächsten Ebene Führungskräfte in verschiedenen Bereichen (z. B. Politik, Wirtschaft) und so weiter, bis hin zu immer spezifischeren Theorien über Führungskräfte. Die meisten Untersuchungen beschränken sich auf die Erhebung von Merkmalen von Führungskräften (versus Nicht-Führungskräften), ohne sich dabei auf spezifische Bereiche zu beziehen. Einige Untersuchungen haben implizite Führungstheorien qualitativ erhoben. Typische Merkmale, die dabei gefunden werden, sind Charisma, Engagement oder Intelligenz (Offermann, Kennedy & Wirtz, 1994). Eine Untersuchung in China fand hingegen völlig andere Merk­male (Ling, Chia & Fang, 2000), was auf kulturelle Unterschiede in den impliziten Theorien hindeutet. Allerdings fand die Global Leadership and Organizational Behavior Effectiveness-Studie (GLOBE; z. B. House, Javidan, Hanges & Dorfman, 2002), die sich speziell mit der Frage der Kulturunterschiede beschäftigt hat (vgl. für Europa Brodbeck et al., 2000), auch kulturell geteilte implizite Theorien. So ist z. B. Charisma eine Eigenschaft, die in vielen Kulturen als prägend für Führungskräfte angesehen wird. Nichtsdestotrotz sind bestimmte Merkmale in manchen Kulturen wichtiger als in Führung 23 anderen Kulturen, z. B. Leistungsorientierung in Deutschland (Brodbeck, Frese & Javidan, 2002). Quantitative Untersuchungen zu impliziten Führungstheorien zeigten, dass die Wahrnehmung tatsächlicher Führungskräfte von impliziten Führungstheorien beeinflusst wird (Schyns, Felfe & Blank, 2007). Dies ist besonders dann bedeutsam, wenn Führungskräfte von verschiedenen Seiten Feedback bekommen (also z. B. sog. 360 Grad-Feedback), da dieses durch die impliziten Führungstheorien von Mitarbeitern, aber auch durch die impliziten Führungstheorien von höheren Führungskräften oder Kollegen gefärbt und damit verzerrt sein kann. Romance of Leadership Romance of Leadership bezeichnet die Tendenz, Führungskräften übermäßige Verantwortung für den Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens zuzuschreiben. Das Konzept wurde von Meindl, Ehrlich und Dukerich (1985) eingeführt. Sie zeigten anhand einer Serie von Studien, dass diese Tendenz besonders dann zutage tritt, wenn der Erfolg eines Unternehmens besonders hoch oder niedrig ist. Romance of Leadership ist einerseits eine implizite Theorie über Organisationen, andererseits eine implizite Führungstheorie (Schyns & Meindl, 2005). Sie ist eine implizite Organisationstheo­rie, weil sie etwas darüber aussagt, wie Organisationen vermeintlich funktionieren (nämlich ausschließlich über den Einfluss von Führungskräften). Romance of Leadership ist aber auch eine im­plizite Führungstheorie, weil sie etwas darüber aussagt, wie viel Macht Führungskräften im Allgemeinen zugeschrieben wird. Untersuchungen zeigen, dass Personen, die eine starke Tendenz haben, Führung zu romantisieren, ihre eigenen Führungskräfte als charismatischer wahrnehmen (Schyns et al., 2007). Diese Ergebnisse stimmen mit Meindls (1990) früher Einschätzung überein, dass Charisma „Hyper-Romantisierung“ ist und unterstreichen gleichzeitig den Attributionscharakter von Charisma und damit die Rolle der Geführten bei der sozialen Konstruktion von Charisma. Zwei neuere Untersuchungen von Felfe und Kollegen (Felfe & Petersen, 2007; Hermann & Felfe, 2009) zeigen, dass Romance of Leadership dazu führt, dass Entscheidungen über die Bewilligung von Projekten überproportional durch Informationen über Führungskräfte beeinflusst sein können. Dies unterstreicht die Relevanz von Romance of Leadership im Kontext von Organisationen. 1.3.2 Soziale Identitätstheorie der Führung Die soziale Identitätstheorie der Führung (Social Identity Theory of Leadership, Hogg, 2001; Hogg & van Knippenberg, 2003; van Knippenberg & Hogg, 2003) betont die Bedeutung der Mitgliedschaft von Führungskraft und Geführten in der gleichen Gruppe und damit die soziale Identität (Ta- Romance of Lea­ dership: Tendenz, Verantwortung für Unternehmenser­ folg oder -misserfolg allein auf die Führungskraft zu attribuieren 24 Kapitel 1 Die soziale Identitätstheorie der Führung betont die Wichtigkeit der Verkörperung des Gruppen­prototyps durch die Führungs­ kraft jfel & Turner, 1986; vgl. Kapitel 5). Die Theorie der sozialen Identität geht im Kern davon aus, dass die Zugehörigkeit zu Gruppen mit ihren jeweils spezifischen Werten, Verhaltensweisen und Zielen für die Gruppenmitglieder einen elementaren Beitrag zur Definition der eigenen Identität leistet. Grundlage für die Reaktionen der Geführten auf Einflussbestrebungen durch die Führungskraft ist nach den Annahmen der sozialen Identitätstheorie der Führung die geteilte Gruppenmitgliedschaft von Führungskraft und Geführten. Die­jenigen Geführten, die sich stärker mit dem jeweiligen Kollektiv (also z. B. der Gruppe, der Organisation oder einer Nation) identifizieren, sind gegenüber dem Einfluss von Führungskräften offener, die als prototypisch für die Gruppe wahrgenommen werden und damit gewissermaßen die soziale Identität der Gruppe verkörpern. Als prototypisch für eine Gruppe wiederum werden Führungskräfte wahrgenommen, die das repräsentieren, was die Gruppenmitglieder gemeinsam haben und was die Gruppe von anderen Gruppen unterscheidet (z. B. bestimmte Werte, Verhaltensweisen, Ziele). Mit anderen Worten postuliert die soziale Identitätstheorie der Führung, dass in dem Ausmaß, in dem sich die Geführten mit der Gruppe identifizieren, ein spezifischer Gruppenprototyp und nicht etwa ein abstrakter Führungskraftprototyp (vgl. Lord & Maher, 1991) den Bezugsrahmen für die Wirkung von Führung bildet (Hogg, 2001). Ergebnisse von empirischen Studien bestätigen, dass Führungsprozesse, die auf sozialer Identität beruhen, eher dann vorkommen, wenn die Gruppe an sich als Gruppe deutlich (salient) ist, weil dies die Identifikation der Mitglieder mit der Gruppe fördert. In niedrig salienten Gruppen mit geringerer Identifikation der Gruppenmitglieder mit der Gruppe gründet Führung entsprechend auf anderen Prozessen (z. B. Be­lohung und Bestrafung, vgl. Hains, Hogg & Duck, 1997; vgl. Abb. 3). Obwohl die soziale Identitätstheorie der Führung unter den Führungstheorien zu den neueren Theorien gehört, findet sich für diesen Ansatz bereits substanzielle empirische Unterstützung aus Labor- und Felduntersuchungen (Hogg, 2001; Hogg & van Knippenberg, 2003; van Knippenberg & Hogg, 2003). Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren eine Reihe weiterer interessanter Ansätze entwickelt, die die ethische Komponente von Führung betonen, z. B. ethische Führung (Brown & Treviño, 2006; Peus, Kerschreiter, Frey & Traut-Mattausch, 2010) und authentische Führung (Walumbwa, Avolio, Gardner, Wernsing & Peterson, 2008). Insgesamt lässt sich festhalten, dass derzeit noch keine allgemeine Theorie der Führung vorliegt, die die weitgehend getrennten bisherigen Ansätze zum Thema Führung integriert. Das von Frey und Mitarbeitern (z. B. Frey, 1998; Frey, Kerschreiter & Mojzisch, 2001) entwickelte „Prinzipienmodell der Führung“ versucht in diesem Sinne auf der Grundlage sozialpsychologischer Theorien und Führung 25 Führungseffektivität ethischer Grundwerte einen allgemeinen Orientierungsrahmen zu geben. Die dort postulierten Prinzipien (z. B. Sinn- und Visionsvermittlung, Transparenz, Partizipation, positive Wertschätzung, Fairness) sind sowohl als Bringschuld der Führungskraft als auch als Holschuld der Mitarbeiter konzipiert. Wie alle neueren Führungstheorien betont das Prinzipienmodell der Führung damit den wechselseitigen sozialen Einflussprozess zwischen Führungskraft und Mitarbeitern. 4,20 4,00 4,03 4,14 prototypisch nicht prototypisch 3,80 3,80 3,53 3,60 3,40 3,20 niedrig hoch Salienz der Gruppe Anmerkungen: In hoch salienten Gruppen hat die Prototypikalität der Führungskraft deutliche Auswirkungen auf die wahrgenommene Führungseffektivität, in niedrig salienten Gruppen spielt dies keine Rolle (der Unterschied in dieser Gruppe ist statistisch nicht bedeutsam). Dies ist ein Hinweis darauf, dass in hoch salienten Gruppen Mechanismen der sozialen Identität greifen (Hains et al., 1997). Abbildung 3: Wahrgenommene Führungseffektivität in Abhängigkeit der Salienz der Gruppe und der Prototypikalität der Führungskraft Obwohl offensichtlich ist, dass eine rein positive Darstellung von Führung, wie wir sie in den bisher besprochenen Ansätzen finden, zu kurz greift, werden negative Aspekte in vielen Abhandlungen zu Führung bisher systematisch ausgeblendet. Negative Führungsansätze Einige neuere Forschungsansätze hinterfragen, inwieweit die weitestgehend positive Sicht auf Führung, die sich in den meisten Führungstheorien findet, zu kurz greift. Die Erfahrung in Organisationen lehrt, dass Führungskräfte oftmals einen negativen Führungsstil zeigen und damit ihre Mitarbeiter starken Belastungen aussetzen. Ein Ansatz, der sich mit dieser Problematik beschäftigt, ist Einarsens „destructive leadership“. Einarsen, Skogstad und Schanke Aasland (2007) unterscheiden zwischen negativem Führungsverhalten, das gegen Mitarbeiter gerichtet ist, aber Organisationsziele im Auge behält (tyrannic leadership), negativem Führungsverhalten, das gegen die Organisationsziele gerichtet ist, aber Mitarbeiterbedürfnisse im Auge behält (supportive-disloyal Negative Führungs­ ansätze hinterfragen die rein positive Darstellung von Führung 26 Kapitel 1 leadership) und negativem Führungsverhalten, das sich gegen die Organisation und gegen die Mitarbeiter richtet (derailed leadership). Nur Führungskräfte, die häufig destruktive Führungsverhaltensweisen zeigen, sind in diese Kategorien einzuordnen, da Einarsen und Kollegen davon ausgehen, dass (beinahe) jede Führungskraft irgendwann einmal destruktives Verhalten zeigt. Ein ähnliches Konzept ist „abusive supervision“, definiert als Wahrnehmung der Geführten über das Ausmaß, in dem Führungskräfte regelmäßig feindseliges verbales und nonverbales Verhalten zeigen, ohne aber die Geführten dabei körperlich zu attackieren (Tepper, 2000). Die Gemeinsamkeit der beiden Ansätze liegt in den negativen Auswirkungen der erfassten Verhaltensweisen auf die Mitarbeiter. So finden sich z. B. negative Zusammenhänge zu Arbeitszufriedenheit und positive Zusammenhänge zu Angst und Depression (Einarsen et al., 2007). Zusammenfassung Aus sozialpsychologischer Perspektive ist Führung in erster Linie ein Gruppenprozess. Dementsprechend versuchen neuere Ansätze in der Führungsforschung nicht mehr, Führungseffektivität auf ein einzelnes Merkmal (z. B. ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal oder einen bestimmten Führungsstil) zurückzuführen. Vielmehr stehen mittlerweile die wechselseitigen Interaktionsprozesse von Personen-, Verhaltens- und Situationsvariablen im Mittelpunkt. Es kommt also nicht nur darauf an, wie Führungskräfte sind oder was sie tun, sondern auch darauf, wie dies von den Geführten wahrgenommen wird und welchen Erwartungen und Einschränkungen die Führungskraft beispielsweise durch die sozialen Normen der Gruppe unterliegt. Neuere sozialpsychologische Ansätze zum Thema Führung gehen entsprechend davon aus, dass der Einfluss, der von Führungskräften auf Geführte ausgeübt wird, nicht so sehr auf Belohnungs- oder Bestrafungsmacht basiert, sondern vielmehr auf Identifikationsprozessen beruht: Effektive Führungskräfte formen und transformieren die Identität der geführten Gruppe, erscheinen dadurch prototypisch für die Gruppe und bringen die Geführten dazu, sich mit der Gruppe und der gemeinsamen Vision zu identifizieren und die Gruppennormen zu internalisieren. Im Kern muss es effektiven Führungskräften gelingen, dass die Geführten die Gruppeninteressen vor ihre jeweiligen individuellen Interessen stellen. Um dies zu erreichen, müssen Führungskräfte überzeugend sein, also z. B. visionär und charismatisch. Die Geführten wiederum müssen überzeugt sein, dass die Führungskräfte im Interesse der Gruppe und nicht etwa im Eigeninteresse handeln, was diese beispielsweise dadurch signalisieren können, dass sie zum Wohl der Gruppe persönliche Opfer bringen. Führung Chhokar, J., Brodbeck, F. C. & House, R. (2007). Culture and leadership across the world: The GLOBE Book of in-depth studies of 25 societies. Mahwah, NJ: LEA Publishers. Hogg, M. A. (2007). Social psychology of leadership. In A. W. Krug­lanski & E. T. Higgins (Eds.), Social psychology: Handbook of Basic Principles (2nd ed., pp. 716–733). New York, NJ: Guilford. van Knippenberg, D. (2010). Leadership: A person-in-situation perspective. In K. Deaux & M. Snyder (Eds.), Oxford handbook of personality and social psychology. New York, NJ: Oxford University Press. Yukl, G. (2009). Leadership in organizations (7th ed.). Upper Saddle River, NJ: Prentice-Hall. Reflexionsaufgaben 1. Welche klassischen Führungstheorien lassen sich unterscheiden? 2. Welche Führungsstile umfasst das „Full-Range Lea­dership Model“ von Bass? 3. Was sind implizite Führungstheorien und welche Rolle spielen sie bei der Wahrnehmung von Führung? 4. Welcher Kerngedanke liegt der sozialen Identitätstheorie der Führung zugrunde? Lösungshinweise finden Sie auf Seite 137. Weiterführende Literatur 27 Kapitel 2 Die Gesellschaft in uns: Wie soziale Normen, soziale Rollen und sozialer Status unser Verhalten beeinflussen Detlef Fetchenhauer Inhaltsübersicht 2.1 Soziale Normen 30 2.1.1 Injunktive versus deskriptive Normen 31 2.1.2 Warum befolgen Menschen soziale Normen? 33 2.1.3 Herkunft und Veränderung sozialer Normen 36 2.2 Rollen 37 2.2.1 Verschiedene Konzeptionen sozialer Rollen 38 2.2.2 Rollenkonflikte 40 2.2.3 Rollen als Be- und Entlastung 41 2.3 Status 42 2.3.1 Status, Macht und sozialer Einfluss 42 2.3.2 Konsequenzen des sozialen Status 43 Reflexionsaufgaben 44 30 Kapitel 2 Schlüsselbegriffe Einfluss sozialer Normen auf unser Verhalten Arten von Normen Soziale Rollen als „Ärgernis“ oder „Hilfestellung“ im sozialen Miteinander Determinanten und Auswirkungen des sozialen Status Was sind die wichtigsten Determinanten menschlichen Verhaltens? Verschiedene Theorien und Forschungstraditionen innerhalb der Psychologie und anderer Verhaltenswissenschaften geben darauf sehr unterschiedliche Antworten. Während z. B. Wert-Erwartungstheorien davon ausgehen, dass menschliches Verhalten der rationale Versuch ist, den zu erwartenden Nutzen einer Handlung zu maximieren (von Neumann & Morgenstern, 2004, urspr. 1944), betonen in den letzten Jahren viele Sozialpsychologen den Einfluss unbewusster Motive und Einstellungen auf unser Verhalten (Bargh & Chartrand, 1999). Obwohl sich beide Paradigmen sehr unterscheiden, stimmen sie doch in einem überein: Sie behandeln beide den Einfluss sozialer Faktoren auf das menschliche Verhalten eher randständig. Fischer und Wiswede (2009) beklagen vor diesem Hintergrund, dass die moderne Sozialpsychologie immer „asozialer“ werde. Im Gegensatz dazu soll es in diesem Kapitel darum gehen, wie Menschen in ihrem Denken, Fühlen und Verhalten von ihrer gesellschaftlichen Umwelt beeinflusst werden. 2.1 Soziale Normen Nach Turner (1991) können soziale Normen definiert werden als Re­geln des Denkens, Fühlens und Handelns, an denen sich ein Akteur in einer bestimmten Situation orientieren sollte. Sie beziehen sich dabei auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche: Welche Kleidung ist in einer bestimmten Situation – z. B. bei einer Hochzeit oder beim Besuch einer wissenschaftlichen Konferenz – angemessen? Welche Speisen sind erlaubt und welche nicht (z. B. dürfen Moslems kein Schweinefleisch essen)? Welche Sexualpraktiken sind „normal“ und welche sind unmoralisch (z. B. Sex mit Minderjährigen)? Ist es legitim, dem Finanzamt einen Teil seiner Einkünfte zu verschweigen oder ist dies unmoralisch (unabhängig von der rechtlichen Bewertung dieses Verhaltens)? Anhand dieser Beispiele lassen sich bereits einige wesentliche Merkmale sozialer Normen verdeutlichen (vgl. Kasten). Merkmale sozialer Normen Soziale Normen beinhalten immer auch eine moralische Komponente, d. h. der Verstoß gegen eine bestimmte soziale Norm wird von den Sendern dieser Norm als unethisch betrachtet. Verschiedene Normsender können sich in der Bewertung eines bestimmten Verhaltens sehr unterscheiden. So mag der eine Steuerhinterziehung Normen, Rollen und Status als Kavaliersdelikt betrachten, ein anderer hingegen mag darin eine schwere moralische Verfehlung sehen. Soziale Normen beziehen sich nicht nur auf ein bestimmtes Verhalten, sondern auch auf das Denken und Fühlen einer Person. Ein Beispiel: Paula verlangt von Paul nicht nur, dass dieser sie nicht betrügt, sondern auch, dass dieser noch nicht einmal daran denkt, dies zu tun bzw. dies auch gar nicht will (Dahrendorf, 2006, urspr. 1965). Soziale Normen haben immer eine objektive und eine subjektive Komponente. Die objektive Komponente bezieht sich darauf, welche normativen Erwartungen von einem Normsender an eine andere Person – d. h. an den Normempfänger – gerichtet werden. Die subjektive Komponente bezieht sich darauf, welche normativen Erwartungen von einem Normempfänger in einer bestimmten Situation wahrgenommen werden. In manchen Fällen fällt es uns schwer, einer sozialen Norm zu folgen, weil wir unsicher sind, worin diese genau besteht. Solche Unsicherheiten stellen sich vor allem dann ein, wenn wir ein bestimmtes Verhalten zum ersten Mal zeigen sollen (z. B. wenn wir zum ersten Mal einen Hummer essen müssen oder wenn wir zum ersten Mal vor einem Traualtar stehen). Soziale Normen unterscheiden sich im Grad ihrer Allgemeinheit. Während einige soziale Normen abstrakt sind und einen breiten Gültigkeitsbereich haben (z. B. allgemeine Höflichkeitsnormen), gelten andere Normen nur für sehr spezifische Situationen (z. B. Bekleidungsvorschriften für Hochzeiten). 2.1.1 31 Soziale Normen – beinhalten immer auch eine morali­ sche Komponente – beziehen sich auf das Verhalten und das Denken sowie Fühlen – haben immer eine objektive und eine subjektive Kom­ ponente – unterscheiden sich im Grad ihrer Allgemeinheit Verschiedene Norm­ sender unterscheiden sich in ihren norma­ tiven Erwartungen Injunktive versus deskriptive Normen Cialdini, Reno und Kallgren (1990) unterscheiden zwischen injunktiven und deskriptiven Normen. Injunktive Normen beziehen sich auf die von einem Akteur wahrgenommenen normativen Erwartungen seiner Umwelt. Erwartet meine Freundin, dass ich im Restaurant für sie bezahle? Was sind die Erwartungen meiner Kollegen und meines Vorgesetzten hinsichtlich der Zeit, wann ich morgens ins Büro komme, und hinsichtlich der Zeit, wann ich dieses abends wieder verlasse? Deskriptive Normen hingegen beziehen sich auf das von einem Ak­teur wahrgenommene tatsächliche Verhalten anderer. Ist es üblich, für seine Freundin im Restaurant zu bezahlen? Wann kommen meine Kollegen morgens zur Arbeit und wann verlassen sie abends ihr Büro? In einer Reihe von Studien untersuchten Reno, Cialdini und Kallgren (1993) die Wirksamkeit injunktiver und deskriptiver Normen. In einer Studie fanden Bürger (die nicht wussten, dass sie an einem Experiment teilnahmen) ein Flugblatt hinter der Windschutzscheibe ihres Autos. Die abhängige Variable bestand darin, ob sie dieses Flugblatt auf den Boden werfen würden oder nicht. Die unwissenden Versuchsteilnehmer befanden sich dabei in unterschiedlichen Versuchsbedingungen. In der ersten Bedingung warf ein Mitarbeiter des Versuchsleiters vor ihren Augen die leere Tüte eines Fast Food- Injunktive Normen beziehen sich auf die normativen Erwar­ tungen der Umwelt Deskriptive Normen beziehen sich auf das tatsächliche Verhal­ ten anderer Kapitel 2 Unternehmens auf den Boden und signalisierte dadurch die deskriptive Norm, dass man auf diesem Parkplatz seinen Müll auf den Boden wirft. In der zweiten Versuchsbedingung hob ein Mitarbeiter des Versuchsleiters vor den Augen der Versuchsperson die leere Tüte eines Fast FoodUnternehmens vom Boden auf und warf sie in einen Papierkorb. Durch dieses Verhalten wurde die injunktive Norm signalisiert, dass das achtlose Wegwerfen von Müll unmoralisch sei. In einer dritten Bedingung (der Kontrollbedingung) ging ein Mitarbeiter des Versuchsleiters lediglich an der Versuchsperson vorbei, ohne Müll zu verursachen oder zu beseitigen. Unabhängig von diesen drei unterschiedlichen Versuchsbedingungen war der Parkplatz entweder mit Müll übersäht oder aber völlig sauber und aufgeräumt. Diese zweite Variable kann ebenfalls als eine Operationalisierung deskriptiver Normen aufgefasst werden. Abbildung 4 zeigt den Anteil der Versuchspersonen in den unterschiedlichen Versuchsbedingungen, die das Flugblatt auf den Boden warfen. Wie man sieht, hatten in dieser Studie injunktive Normen einen hohen Einfluss auf das Verhalten der Versuchspersonen und zwar unabhängig davon, ob der Parkplatz insgesamt sauber war oder nicht. Der Einfluss deskriptiver Normen hingegen war schwächer und nur dann signifikant, wenn sowohl durch das Verhalten des Mitarbeiters des Versuchsleiters als auch durch den Müll auf dem Parkplatz signalisiert wurde, dass es in dieser Situation üblich ist, seinen Müll auf den Boden zu werfen. Anteil der verschmutzenden Testpersonen 32 40 saubere Umgebung 35 verschmutzte Umgebung 30 25 20 15 10 5 0 keine (andere Person geht vorbei) deskriptiv (Person wirft Tüte weg) injunktiv (Person hebt Tüte auf) Art der in der Situation salient gemachten Norm Abbildung 4: Prozentualer Anteil der Versuchspersonen, die das Flugblatt auf den Boden warfen, abhängig davon, welche Norm in der Situation salient gemacht worden war und ob die Umgebung sauber oder verschmutzt war (nach Reno, Cialdini & Kallgren, 1993) Normen, Rollen und Status Aus den Ergebnissen der Studie von Reno, Cialdini und Kallgren (1993) sollte jedoch nicht gefolgert werden, dass deskriptive Normen ganz allgemein weniger wichtig sind als injunktive Normen. So weist Cialdini (2005) darauf hin, dass deskriptive Normen das Verhalten von Menschen in einer sehr subtilen Weise beeinflussen. Goldstein, Cialdini und Griskevicius (2008) variierten in einem Feldexperiment den Text eines Hinweisschildes, mit dem Hotelgäste dazu animiert werden sollten, ihre Handtücher nicht täglich waschen zu lassen, son­dern mehrfach zu benutzen. Hierbei verwandten sie vier verschiedene Texte: (1) „Helfen Sie, die Umwelt zu schützen!“; (2) „Helfen Sie, Res­sourcen für zukünftige Generationen zu schonen!“; (3) „Werden Sie unser Partner im Umweltschutz!“; (4) „Machen Sie es so wie an­dere Hotelgäste und schützen Sie die Umwelt!“. Die Ergebnisse dieses Feldexperiments zeigten sehr deutlich, dass vor allem in der vierten Versuchsbedingung, in der Informationen über deskriptive Normen gegeben wurden, die Bereitschaft der Hotelgäste stieg, ihre Handtücher mehrfach zu benutzen. 2.1.2 Warum befolgen Menschen soziale Normen? Warum hält ein Autofahrer nachts an einer roten Ampel, auch wenn weit und breit weder ein anderer Verkehrsteilnehmer noch ein Polizist zu sehen sind? Warum geben Menschen Einkünfte aus Nebentätigkeiten bei ihrem Finanzamt an, auch wenn es sehr unwahrscheinlich erscheint, dass das Finanzamt einen Steuerbetrug entdecken würde und im Falle einer Aufdeckung nur mit einer geringen Geldstrafe zu rechnen wäre? Warum kaufen sich Menschen für eine Beerdigung einen schwarzen Anzug, obwohl sie diesen ansonsten kaum gebrauchen können (und der Verstorbene ohnehin nichts davon hat)? Bei der Beantwortung solcher Fragen ist zwischen Situationen zu unterscheiden, in denen es im materiellen Eigeninteresse einer Person liegt, bestimmten sozialen Normen zu folgen, und solchen, in denen dies im Widerspruch zu ihrem eigenen Interesse liegt. So ist es z. B. im eigenen Interesse eines Autofahrers, sich (zumindest in Deutschland) an die Regel des Rechtsverkehrs zu halten. Im Falle solcher Koordinationsnormen ist die Befolgung einer Norm nicht weiter erklärungsbedürftig. Sehr häufig aber halten sich Menschen auch dann an soziale Normen, wenn dies für sie mit Kosten und Unannehmlichkeiten verbunden ist. Zur Erklärung dieses Verhaltens werden in der Regel zwei unterschiedliche Erklärungsansätze angeboten: 1. Die Nichtbefolgung sozialer Normen wird von Dritten negativ sanktioniert. 2. Soziale Normen werden im Laufe der Sozialisation internalisiert. 33 34 Kapitel 2 Potenzielle Sank­ tionen Dritter bei normwidrigem Ver­ halten führen zur Normeinhaltung Die erste Erklärung geht davon aus, dass sich Menschen oftmals des­halb an soziale Normen halten, weil sie von anderen bestraft werden, wenn sie dies nicht tun. Im Bereich gesetzlicher Normen gibt es spezialisierte Sanktionsinstanzen (wie die Polizei oder das Rechtssystem), die darauf achten, dass sich die Bürger an bestehende Gesetze halten. Oftmals wichtiger als legale Normen sind für das soziale Miteinander jedoch soziale Normen, deren Einhaltung nicht durch das Justizsystem, sondern durch anderweitige soziale Sanktionen erzwungen wird. Hierbei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Durchsetzung so­zialer Normen durch die Sanktionierung von Normabweichlern oftmals mit Kosten verbunden ist. Beobachtet z. B. jemand, wie in einer Fußgängerzone ein Ausländer von Skinheads provoziert wird und stellt sich auf die Seite des Ausländers, begibt er sich damit in die Gefahr, selbst von den Skinheads attackiert zu werden. Eine ganze Reihe von spieltheoretischen Experimenten hat gezeigt, dass Menschen bereit sind, sich unfair verhaltende andere Versuchspersonen zu bestrafen, auch wenn dies mit eigenen monetären Kosten verbunden ist und ein solches Verhalten nicht im finanziellen Eigeninteresse des Bestrafenden liegt (z. B. Yamagishi, 1986). Von Fehr und Fischbacher (2003) ist hierfür der Terminus „altruistische Bestrafung“ eingeführt worden. Warum sind Menschen bereit, die Kosten für die Bestrafung anderer auf sich zu nehmen? Verschiedene Studien wiesen nach, dass ein solches Verhalten oftmals durch moralische Emotionen wie Verärgerung oder Empörung motiviert ist und die Bestrafung einer Person, die gegen bestehende Normen verstößt, zu positiven Emotionen auf Seiten des Bestrafenden führt (de Quervain et al., 2004). Dies erklärt allerdings nicht, warum Menschen solche Emotionen erleben. Denn aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive hätte es adaptiver sein sol­len, die Bestrafung von Trittbrettfahrern anderen zu überlassen. Auf diese Fragestellung soll hier allerdings nicht näher eingegangen werden. Eine Sanktion von Normabweichungen besteht im Aus­ schluss aus einer sozialen Gruppe Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Bestrafung von Normabweichlern oftmals relativ „preiswert“ ist, wenn die Bestrafungskosten unter einer Anzahl an Personen aufgeteilt werden und wenn die Sanktion aus der sozialen Meidung einer Person besteht. So wird z. B. ein bestimmter Mitarbeiter auf dem nächsten Betriebsausflug gemieden oder nicht mehr zu privaten Geburtstagsfeiern eingeladen, weil er gegen die Norm verstoßen hat, keine Überstunden zu machen. Eine Vielzahl an Studien zeigt, dass der Ausschluss aus einer sozialen Gruppe für Menschen eine massive psychische Belastung darstellt (Williams, 2007), so dass es Sinn macht, einen solchen Ausschluss dadurch zu vermeiden, dass man sich an die Normen seiner Bezugsgruppe hält (z. B. indem man als Jugendlicher die „richtigen“ Turnschuhe trägt oder die „richtige“ Jeansmarke). Normen, Rollen und Status Neben der Furcht vor den Sanktionen anderer halten sich Menschen aber auch deshalb an soziale Normen, weil sie diese im Laufe ihrer Sozialisation internalisiert haben. Menschen reagieren mit Gefühlen von Schuld und Scham, wenn sie sich nicht an bestimmte Normen hal­ten, deren Befolgung sie selbst für moralisch geboten halten. Schon Freud hat in seinem Instanzenmodell der Psyche darauf hingewiesen, dass Menschen in ihrem Verhalten maßgeblich durch ihr „Über-Ich“ geprägt sind. 35 Die Internalisie­ rung von sozialen Normen führt zu freiwilliger Normeinhaltung Menschen befolgen soziale Normen oftmals auch dann, wenn sie rein kognitiv den Sinn einer solchen Norm infrage stellen. So erzählte mir einmal eine ältere Dame, dass ihr als kleines Kind unter Androhung von Hölle und Fegefeuer verboten worden sei, beim Schwimmen ins Meer zu urinieren. Heute, Jahrzehnte später, wisse sie, dass ein solches Verhalten zu keinerlei Schaden für die Umwelt oder andere Schwimmer im Meer führe, dennoch aber schäme sie sich bei dem Gedanken, ins Meer zu urinieren und sei körperlich nicht dazu in der Lage (wenn Sie, liebe Leserin und lieber Leser, dieses Beispiel unappetitlich finden, mag dies daran liegen, dass Sie als Kind ähnlich erzogen wurden). Solche Schamund Schuldgefühle wider besseren Wissens sind ein häufiges Problem im Erleben der Sexualität von Menschen (vor allem Frauen), die in einem Klima erzogen wurden, in dem das Genießen der eigenen Sexualität als „schmutzig“ und „unmoralisch“ dargestellt wurde (Daniluk, 1998). In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass Religion häufig die Funktion übernimmt, die Einhaltung sozialer Normen (kostengünstig) zu kontrollieren. So kennen z. B. die drei monotheistischen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islams die Vorstellung eines allwissenden Gottes, der jede Nichtbefolgung sozialer (religiöser) Normen beobachtet und entweder sofort oder nach dem Tode bestraft. Eine Studie von Baldwin, Carrell und Lopez (1990) wies in diesem Zusammenhang nach, dass sich das Selbstwertgefühl von Katholiken verminderte, wenn sie ein Bild des Papstes gesehen hatten, auf dem dieser unfreundlich guckte. Hierbei hatten Versuchspersonen das Bild des Papstes nur für wenige Millisekunden gesehen, so dass sie sich gar nicht bewusst an dieses Bild erinnern konnten. Crowding Out-Effekte intrinsischer Motivation Die intrinsische Motivation einer Person, sich an eine bestimmte soziale Norm zu halten, kann sich verringern, wenn diese Person zugleich externe Sanktionen zu befürchten hat. Gneezy und Rustichini (2000) untersuchten das Verhalten von Eltern in einer israelischen Kindertagesstätte. Die Mitarbeiter dieser Tagesstätte litten darunter, dass viele Eltern ihre Kinder zu spät abholten, wodurch sich die Arbeitszeit der Mitarbeiter verlängerte. Um die Befolgung der sozialen Norm, sein Kind pünktlich abzuholen, zu erhöhen, wurde deshalb eine Strafgebühr Religion übernimmt häufig die Funktion, die Normeinhaltung zu kontrollieren Crowding OutEffekt: intrinsische Motivation wird durch den Einfluss von Sanktionen verringert 36 Kapitel 2 eingeführt, die Eltern für das zu späte Abholen zu zahlen hatten. Diese Strafgebühr führte jedoch nicht dazu, dass die Eltern pünktlicher kamen. Im Gegenteil – sie kamen später, weil sie die Strafe nicht als normatives Signal verstanden, sondern als Gebühr interpretierten, die viele von ihnen zu zahlen bereit waren, wenn sie dadurch noch ein wenig länger im Büro bleiben konnten. Ein ähnlicher Effekt lässt sich bei der Anwesenheitskontrolle von Studierenden beobachten. Wenn ein Dozent die Regel einführt, dass Studierende nur zweimal pro Semester fehlen dürfen, erleben Studierende diese Regel als Anreiz, an den letzten beiden Sitzungen nicht mehr teilzunehmen, falls sie bis dahin noch nie gefehlt haben. Die – hoffentlich – vorhandene intrinsische Motivation, sich an eine bestehende soziale Norm zu halten, kann somit durch ex­terne Anreize und Bestrafungen systematisch unterminiert werden. 2.1.3 Soziale Normen – entstehen durch ein häufig ausge­ führtes Verhalten – regeln das Zusammenleben in einer Gesellschaft – werden von den Herrschenden ge­ formt und erhalten Herkunft und Veränderung sozialer Normen Eine wichtige Frage ist, wie Normen eigentlich entstehen und warum sie sich verändern. Diese Frage ist nur schwer zu beantworten (Elster, 2007) und der diesbezügliche Erkenntnisstand der Sozialwissenschaften (einschließlich der Sozialpsychologie) ist sehr unbefriedigend. Zur Erklärung der Herkunft sozialer Normen können folgende Erklärungsansätze unterschieden werden (Opp, 1983; Horne, 2007): Soziale Normen entstehen dann, wenn ein bestimmtes Verhalten häufig ausgeführt wird. Juristen sprechen hierbei von der „normativen Kraft des Faktischen“. Bei dieser Erklärung bleibt allerdings unklar, warum ein Verhalten so häufig gezeigt wird, dass es irgendwann von einer statistischen zu einer sozialen Norm wird. Zudem gibt es viele Verhaltensweisen, die sehr weit verbreitet sind, dennoch aber nicht zur sozialen Norm werden, sondern im Gegenteil sozial verurteilt werden, wie z. B. Neid und Missgunst. Soziale Normen dienen dem (friedlichen) Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft. Diese Erklärung krankt allerdings daran, dass sie dem sogenannten „funktionalistischen Fehlschluss“ erliegt – das infrage stehende Phänomen wird aus seiner sozialen Funktion heraus erklärt, ohne dass angegeben wird, welcher Mechanismus die einzelnen Akteure dazu bringt, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Soziale Normen dienen den Interessen der Herrschenden und wer­ den auch von diesen definiert. Ein Beispiel: In vielen afrikanischen Ländern gilt es als soziale Norm, dass sich junge Frauen die Klitoris beschneiden lassen, wobei diese Norm nicht im Interesse der betroffenen Frauen liegt, sondern im Interesse der diese dominierenden Männer. In einer verallgemeinerten Form ließe sich gemäß diesem Erklärungsansatz argumentieren, dass Menschen oder Kollektive von Menschen dann soziale Normen einführen, wenn sie sich durch die Normen, Rollen und Status 37 Nichteinhaltung dieser Normen negativ betroffen fühlen und wenn sie die Macht haben, solche Normen auch durchzusetzen. So verweist z. B. Horne (2007) darauf, dass die soziale Ächtung von Fahren unter Einfluss von Alkohol erst dann erfolgte, als aus verschiedenen Studien deutlich wurde, wie sehr die Unfallwahrscheinlichkeit nach dem Genuss von Alkohol steigt. Noch schwieriger als die Erklärung der Herkunft sozialer Normen erweist sich die Erklärung ihrer Veränderung. In den letzten Jahrzehnten haben sich in vielen westlichen Ländern soziale Normen hinsichtlich Sexualität, Ehe und Partnerschaft deutlich verändert. Während z. B. vor 50 Jahren das unverheiratete Zusammenleben eines männlichen und einer weiblichen Studierenden massiv gegen soziale Normen verstieß (und sich z. B. ein Vermieter der „Kuppelei“ schuldig machte, wenn er dies duldete), wird ein solches Verhalten heute kaum noch negativ sanktioniert. Woran liegt es also, dass sich diese Norm verändert hat? Auf der Mikroebene sind Veränderungen sozialer Normen immer da­durch gekennzeichnet, dass zunächst einige wenige und dann immer mehr Akteure sich nicht (mehr) an eine bestimmte Norm halten bzw. einer veränderten Norm folgen. Aus der Sicht von Rational-Choice-Theorien ließe sich argumentieren, dass Menschen dann einer sozia­len Norm nicht mehr folgen, wenn die Kosten von Normkonformität über ihrem Nutzen liegen. Ein solcher Ansatz kann aber nur schwer erklären, warum Menschen oftmals auch dann an sozialen Normen festhalten, wenn dies für sie mit erheblichen Kosten verbunden ist. 2.2 Rational-Choice-­ Theorie Rollen Eng mit dem Konzept sozialer Normen verbunden ist der Begriff der sozialen Rolle. Unter sozialen Rollen versteht man die Gesamtheit der normativen Erwartungen, die an den Inhaber einer bestimmten sozia­len Position gerichtet werden. So erwartet man z. B. von einer Mutter Engagement und Einsatz für ihre Kinder, Warmherzigkeit, aber auch Durchsetzungsfähigkeit bei der Erziehung und oft das Zurückstellen eigener beruflicher Ambitionen. Von einem katholischen Geistlichen erwartet man eine keusche (d. h. asexuelle) Lebensführung und die Bereitschaft, den eigenen Glauben in die Gemeinde zu tragen (ein katholischer Geistlicher sollte nicht an der Existenz Gottes zweifeln und schon gar nicht öffentlich darüber predigen). Diese Beispiele machen deutlich, dass die Gültigkeit bestimmter sozialer Normen oftmals an bestimmte Adressaten, d. h. an die Inhaber bestimmter sozialer Rollen und Positionen, geknüpft ist. So verlangt die katholische Kirche nicht von allen gläubigen Katholiken (völ­lige) sexuelle Enthaltsam- Normative Erwar­ tungen, die an eine bestimmte soziale Position geknüpft sind, stellen den Rahmen sozialer Rollen dar 38 Kapitel 2 keit, sondern nur von ihren Priestern und Bischöfen. Ein anderes Beispiel gibt Ariely (2008): Es ist sehr üblich und entspricht der sozialen Rolle des Gastes, wenn man im Restaurant für sein Essen bezahlt und sich für einen hervorragenden Service durch ein hohes Trinkgeld erkenntlich zeigt. Es entspricht jedoch nicht der Rolle eines Gastes, wenn man sich bei einer privaten Einladung für die hohe Qualität des Essens bedankt, indem man seiner Schwiegermutter einen 20-Euro-Schein zukommen lässt. Ganz allgemein lassen sich Beziehungen zwischen Interaktionspartnern danach unterscheiden, inwiefern diese durch Marktgesetzlichkeiten determiniert sind, d. h. inwiefern Ressourcen wie Zuneigung oder Hilfe monetär entlohnt werden (Fiske, 1992). 2.2.1 Unterschiede zwischen Struktur­ funktionalismus und Symbolischem Interaktionismus Verschiedene Konzeptionen sozialer Rollen In der soziologischen Rollentheorie werden zumeist zwei unterschiedliche Konzeptionen sozialer Rollen unterschieden: In der Tradition des Strukturfunktionalismus (Parsons, 1991) werden Rollen als gesellschaftliche Vorgaben betrachtet, denen sich der Inhaber einer sozialen Rolle weitgehend sklavisch zu unterwerfen hat. In dieser Konzeption bestehen Gesellschaften bzw. soziale Organisationen vor allem aus einem System sozialer Positionen, die weitgehend unabhängig von den konkreten Personen existieren, welche diesen Positionen zugeordnet sind. Der Symbolische Interaktionismus (Mead, 1934) betont hingegen den dynamischen Charakter sozialer Rollen. Danach werden Rollen jeweils individuell ausgehandelt und der Inhaber einer sozialen Rolle hat hohe Freiheitsgrade, seine Rolle individuell zu definieren. Die Gültigkeit beider Paradigmen hängt in hohem Maße von der konkreten Rolle ab, die eine bestimmte Person innehat. So kann z. B. ein Universitätsprofessor relativ frei entscheiden, in welchen Bereichen er forscht, wie viele Doktoranden er betreut und ob er zu den Studierenden ein vertrautes oder ein eher distanziertes Verhältnis pflegt. Dagegen hat ein Gefreiter bei der Bundeswehr sehr viel weniger Möglichkeiten zur Gestaltung seiner eigenen Rolle und muss sich stattdessen weitgehend den Befehlen seiner Vorgesetzten unterordnen. Grundsätzlich lässt sich allerdings festhalten, dass so gut wie jede Rolle sowohl Rollenzwänge als auch Freiräume zur individuellen Ausgestaltung der Rolle beinhaltet. So ist auch ein Universitätsprofessor Zwängen unterworfen (z. B. hinsichtlich der Anzahl seiner Lehrveranstaltungen oder der Orientierung an bestehenden Prüfungsordnungen) und auch ein Bundeswehrsoldat hat begrenzte Freiheiten bei der Definition seiner Rolle. Kognitive Schemata sind automatisierte Denkmuster Aus sozialpsychologischer Perspektive werden soziale Rollen oftmals als kognitive Schemata definiert. Soziale Rollen sind hierbei als besondere Formen sozialer Stereotype zu verstehen, die dem Inhaber einer Rolle Normen, Rollen und Status bestimmte Eigenschaften zuschreiben, wobei diese sich nicht nur auf die normativen Inhalte, sondern ganz allgemein auf typische Eigenschaften des Inhabers einer bestimmten Rolle beziehen. So gehört es etwa zum Stereotyp eines Balletttänzers, dass dieser ho­mosexuell ist, ohne dass dies von ihm normativ erwartet würde (vgl. auch Kapitel 11 in Bierhoff & Frey 2011). Eine Sonderform kognitiver Schemata sind sogenannte Skripte (vgl. auch Kapitel 8 in Bierhoff & Frey, 2011). Skripte beziehen sich auf die typischen Handlungsfolgen von Menschen in bestimmten Interaktionssituationen. So beinhaltet z. B. das Restaurantskript bestimmte Handlungen, die in wechselseitiger Abfolge vom Gast und vom Kellner auszuführen sind. Dieses Beispiel verweist auch auf die kulturelle Gebundenheit vieler Skripte und sozialer Rollen ganz allgemein. So beginnt ein Restaurantbesuch in Deutschland damit, dass sich ein Gast selbst einen freien Tisch sucht, während man in den USA am Eingang des Restaurants darauf wartet, dass man als Gast einen bestimmten Tisch zugewiesen bekommt. Solche interkulturellen Unterschiede können zu erheblichen Kommunikationsstörungen führen, vor allem dann, wenn sich die beteiligten Akteure der Kulturgebundenheit ihres Verhaltens nicht bewusst sind. So hatte z. B. ein niederländischer Kollege einmal ein befreundetes amerikanisches Ehepaar zum Essen zu sich nach Hause eingeladen. Der Abend war sehr gelungen, aber ab einer bestimmten Uhrzeit hätte es der Gastgeber gerne gesehen, wenn die Gäste den Abend beendet hätten und nach Hause gegangen wären. Wie sich einige Stunden und mehrere Tassen Kaffee später herausstellte, wären auch die Gäste gerne gegangen, warteten aber darauf, dass die Gastgeber den Abend beendeten. Übrigens: Das amerikanische Paar verbrachte einige Mo­nate in den Niederlanden, um sich aus kulturvergleichender Perspektive mit Unterschieden zwischen Amerikanern und Niederländern zu beschäftigen, war also für Unterschiede zwischen beiden Kulturen hochgradig sensibilisiert – und brauchte dennoch Stunden, um sich der Kulturgebundenheit ihrer eigenen Rollenerwartungen hinsichtlich des Verhaltens von Gästen und Gastgebern bewusst zu werden. Das Stanford-Gefangenenexperiment Welche dramatischen Konsequenzen soziale Rollen auf das Verhalten von Menschen haben können, zeigt das berühmte Gefängnisexperiment von Zimbardo (2007). In diesem Experiment wurden männliche Versuchspersonen der hochangesehenen Stanford University darum gebeten, für die Dauer von 14 Tagen an einem so­zialpsychologischen Versuch teilzunehmen, in dem sie zufällig die Rolle der Wärter bzw. der Insassen eines Gefängnisses einnahmen. Hierbei wurden die Rollenerwartungen sowohl an die Wär­ter als auch an die Gefangenen nur sehr vage formuliert. Im Wesentlichen wurden die Teilnehmer aufgefordert, sich so zu verhalten, wie sie es ihrer Rolle für angemessen hielten. Das StanfordGefangenen­ experiment 39 40 Kapitel 2 Schon nach kurzer Zeit wurden die unterschiedlichen Rollen von den Versuchsteilnehmern in einem für die Forscher verblüffenden Ausmaß internalisiert. So verhielten sich die Wärter zunehmend bösartiger und sadistischer, während die Gefangenen die Anweisungen der Wärter nach anfänglichem Protest nahezu ohne Wider­stand akzeptierten. Aufgrund der zunehmenden Eskalation sowohl der psychischen als auch der physischen Aggressionen der Wärter musste das Experiment nach sechs Tagen abgebrochen werden. 2.2.2 Inter-Rollenkonflik­ te entstehen, wenn eine Person gleich­ zeitig versucht zwei sich widersprechen­ de Rollen zu erfüllen Intra-Rollenkonflik­ te zeigen sich, wenn innerhalb einer Rolle widersprüchliche Erwartungen an eine Person gestellt werden Bei Rollen-SelbstKonflikten wider­ sprechen sich die Selbstwahrnehmung und die erlebten Rollenerwartungen Rollenkonflikte Die Übernahme bzw. das Ausüben sozialer Rollen wird von ihrem Träger oftmals als konfliktträchtig und belastend erlebt. Hierbei lassen sich folgende Rollenkonflikte unterscheiden: Inter-Rollenkonflikte, bei denen die Anforderungen verschiedener sozialer Rollen im Widerstreit zueinander stehen. Solche Konflikte entstehen immer dann, wenn die Sender verschiedener Rollen Er­wartungen an eine Person signalisieren, die nicht oder nur schwierig gleichzeitig erfüllt werden können. Dies geschieht z. B. dann, wenn der Chef erwartet, dass ein wichtiges Projekt zur Not auch am Wochenende zu Ende gebracht wird, die Ehefrau oder der Ehemann hingegen erwarten, dass sich ihr Partner am Wochenende um sie kümmert. Intra-Rollenkonflikte, bei denen eine Person innerhalb einer bestimmten sozialen Rolle mit konfligierenden Erwartungen konfrontiert wird. Hierbei wird oftmals noch zwischen Inter-Sender- und Intra-Senderkonflikten unterschieden. Ein Inter-Senderkonflikt liegt z. B. vor, wenn ein Vater von seiner Frau dazu angehalten wird, die gemeinsamen Kinder nicht zu verwöhnen, während die Kinder erwarten, von ihrem Vater nicht zu streng behandelt zu werden. Ein Intra-Senderkonflikt liegt dagegen z. B. vor, wenn ein Mann von seiner Partnerin sowohl Keuschheit als auch sexuelle Erfahrung erwartet. Rolle-Selbst-Konflikte, bei denen eine Person in einer Rolle agieren muss, die sie als unverträglich mit ihrer eigenen Persönlichkeit bzw. ihren eigenen Werten wahrnimmt. Jemand fühlt sich z. B. von seiner Rolle als Vorgesetzter belastet, weil er es als unangenehm empfindet, anderen Menschen Anweisungen zu geben. Geschlechterrollen Geschlechterrollen Als besonders konfliktträchtig werden oftmals Geschlechterrollen empfunden, vor allem dann, wenn Männer und Frauen das Gefühl haben, dass solche geschlechtsbezogenen Rollenerwartungen ihre Handlungsfreiheit einengen. Empirische Studien zeigen, dass Frauen nach wie vor durch typisch weibliche Eigenschaften wie Fürsorglichkeit, Gemeinschaftssinn und Kommunikativität (communal), Männer hingegen als zielstrebig, tatkräftig und selbstbewusst (agentic) beschrieben werden (Bosak, Sczesny & Eagly, 2007; Eagly & Sczesny, im Druck; Gage, Mumma & Fritz, 2004). Diese Geschlechterste- Normen, Rollen und Status 41 reotype haben sowohl eine deskriptive als auch eine präskriptive Dimension. Man erwartet von einer Frau, dass sie fürsorglich ist, und meint damit sowohl, dass sie fürsorglich ist, aber auch, dass sie fürsorglich sein soll. Darüber hinaus gibt es nach wie vor große Unterschiede in der gesellschaftlichen Position von Männern und Frauen. So sind Füh­rungspositionen in der Wirtschaft, aber auch in der öffentlichen Ver­waltung nach wie vor ganz überwiegend von Männern besetzt (IAB, 2006) und Männer erzielen – bei gleicher formaler Qualifikation – ein höheres Einkommen als Frauen (Hinz & Gartner, 2005). Hinsichtlich der Erklärung solcher Unterschiede lassen sich im Wesentlichen sozialisationstheoretische und evolutionspsychologische Ansätze unterscheiden. Aus sozialisationstheoretischer Perspektive sind Geschlechterrollen und damit einhergehende Geschlechtsunterschiede im Ver­halten das Resultat einer unterschiedlichen Erziehung von Männern und Frauen (Eagly, 1999). Plastisch formuliert bedeutet dies: Jungen werden durch die Gesellschaft zu Männern gemacht und Mädchen zu Frauen. Gäbe es hingegen keine unterschiedlichen gesellschaftlichen Erwartungen an Männer und Frauen, dann ließen sich zwischen diesen auch keinerlei Unterschiede feststellen. Nach Eagly und Sczesny (in Druck) kommen Frauen vor allem des­halb nicht in Führungsrollen, weil die Rolle eines typischen Managers eine hohe Übereinstimmung mit der männlichen, nicht aber mit der weiblichen Geschlechterrolle aufweist („Think manager, think male“). Sozialisations­ theoretisch werden Unterschiede zwi­ schen den Ge­ schlechtern durch Umwelteinflüsse und Sozialisation erklärt Evolutionspsychologen argumentieren hingegen, dass zumindest einige Geschlechtsunterschiede genetisch prädisponiert sind, weil Frauen und Männer in ihrer Evolutionsgeschichte ihren reproduktiven Erfolg (d. h. die Anzahl ihrer Nachkommen) durch unterschiedliche Strategien und Eigenschaften maximieren konnten (Bischof-Köhler, 2006; Buss, 1995). So mussten sich Frauen lange und intensiv um die Aufzucht ihrer Kinder kümmern, während Män­ner sich gegen andere Männer durchsetzen mussten, um Zugang zu zeugungsfähigen jungen Frauen zu erhalten. Dies erkläre das höhere Maß an Fürsorglichkeit und Verträglichkeit bei Frauen bzw. an Aggressivität und Assertivität bei Männern. Evolutions­ psychologisch wer­ den Geschlechter­ unterschiede durch genetische Einflüsse erklärt Wood und Eagly (2002) haben eine mögliche Integration beider Theorien vorgeschlagen, in der gewisse genetische Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestimmte – oftmals eher schwache – Geschlechtsunterschiede im Denken, Fühlen und Handeln prädisponieren, diese Unterschiede aber durch gesellschaftliche Kontextbedingungen verstärkt und perpetuiert werden. 2.2.3 Rollen als Be- und Entlastung Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass die Wirkung sozialer Rollen auf unser Leben sehr ambivalent ist. Auf der einen Seite engen sie uns ein und erscheinen uns wie ein Korsett. Sie zwingen uns, Dinge zu tun, die wir oft eigentlich nicht tun wollen. Sie geben nicht nur vor, wie wir uns in bestimmten Situationen zu verhalten, sondern auch, wie wir in diesen Situationen zu denken und zu fühlen haben (Dahrendorf, 2006). 42 Kapitel 2 Eine solche Sichtweise auf soziale Rollen wäre jedoch zu einseitig. Denn auf der anderen Seite helfen uns soziale Rollen dabei, unseren Alltag zu strukturieren und zu gestalten. Sie bewirken, dass das Verhalten unserer Mitmenschen vorhersehbar ist und sie verringern den Koordinationsbedarf bei der Ausgestaltung des sozialen Miteinanders. Menschen bevorzugen zumeist Situationen, in denen sie zwischen verschiedenen Alternativen frei wählen können. In den letzten Jahren ist allerdings darauf hingewiesen worden, dass zu viele Alternativen auch paralysierend wirken können, weil es enorme Ressourcen erfordert, sich zwischen verschiedenen Alternativen rational zu entscheiden (Schwartz, 2005). Insofern können Rollen auch eine geradezu befreiende Wirkung haben. 2.3 Sozialer Status hat viele Komponenten: Neben Einkommen und Beruf sind auch (gruppenspezifi­ sche) Fähigkeiten und Attraktivität von Bedeutung Status Der soziale Status einer Person bezeichnet den Grad der Wertschätzung, der dieser Person von anderen entgegengebracht wird. Dieser Grad an Wertschätzung ist abhängig von den unterschiedlichsten Va­riablen. In soziologischen Studien wird Status oftmals über eine Kom­bination aus Einkommen, Bildung und Berufsprestige operationalisiert (Miller & Salkind, 2002). Darüber hinaus ist das Ansehen einer Person in ihrem sozialen Umfeld jedoch auch von den Fähigkeiten und Kompetenzen auf Dimensionen abhängig, die nur in einer ganz bestimmten Gruppe von Bedeutung sind. So ist z. B. in einer Gruppe von Skateboardfahrern die Fähigkeit zum Crossfoot-Casper bedeutend für den Status in der Gruppe, während diese Fähigkeit in einer Gruppe von Psychologieprofessoren nur eine randständige Bedeutung hat. Neben diesen sehr spezifischen Dimensionen ist das Ansehen einer Person auch von ihrer Attraktivität und ihrer Körpergröße abhängig. Attraktive, große Menschen genießen ein höheres Ansehen, sind beruflich erfolgreicher und erzielen höhere Einkommen als weniger attraktive, kleine Menschen (Hosoda, Stone-Romero & Coats, 2003; Judge & Cable, 2004). 2.3.1 Ein hoher sozialer Status erhöht Macht und Einfluss einer Person Status, Macht und sozialer Einfluss Eine Vielzahl von Studien belegt, dass ein hoher formeller oder infor­ meller Status den Einfluss und die Macht einer Person deutlich erhöht. So zeigten unter anderem Ball, Eckel, Grossman und Zame (2001), dass Menschen in Verhandlungsspielen umso mehr zu Zugeständnissen bereit waren, je höher der soziale Status ihres Verhandlungspartners war, obwohl der Status den Versuchspersonen von den Versuchsleitern nach eher zufälligen Merkmalen zugewiesen wurde. Auch die berühmten Studien von Milgram (1974) zeigen, dass Menschen bereit sind, den Anweisungen einer anderen Person Folge zu leisten, wenn diese An- Normen, Rollen und Status weisungen mit dem Status eines Experten legitimiert werden. In diesem berühmten Experiment waren viele Versuchspersonen be­reit, anderen auch tödliche Stromstöße zu versetzen, wenn dies vom Versuchsleiter damit begründet wurde, das wissenschaftliche Experiment, an dem die Versuchspersonen teilnahmen, mache ein solches Vorgehen notwendig (vgl. Kapitel 2 in Bierhoff & Frey, 2011). 43 Das berühmte Mil­ gram-Experiment dokumentiert den starken Einfluss sozialer Rollen Auch unter Wissenschaftlern beeinflusst der soziale Status eines Forschers seinen Erfolg. Die beiden amerikanischen Psychologen Ceci und Peters (1982) reichten unter einem gänzlich unbekannten Namen insgesamt zwölf Manuskripte bei führenden psychologischen Zeitschriften zur Veröffentlichung ein, wobei sie angaben, von einer unbekannten amerikanischen Forschungseinrichtung zu stammen. Sämtliche Manuskripte waren allerdings bereits vorher publiziert worden – in der Regel von namhaften Autoren hoch angesehener amerikanischer Universitäten – und zwar genau in den Journals, in denen Ceci und Peters ihre Dubletten eingereicht hatten. In drei Fällen fiel der Schwindel auf, in den übrigen neun Fällen wurden die Manuskripte bis auf eine Ausnahme wegen ihrer vermeintlich niedrigen wissenschaftlichen Qualität abgelehnt. 2.3.2 Konsequenzen des sozialen Status Wenn sozialer Status den Einfluss und die Macht einer Person beeinflusst, ist es nicht überraschend, dass Menschen daran interessiert sind, einen hohen Status zu erreichen. Dies macht auch aus evolutionspsychologischer Perspektive Sinn, weil Männer mit einem hohen sozialen Status über mehr Sexualpartner verfügen und mehr Kinder zeugen als Männer mit einem niedrigen sozialen Status. Demzufolge ist es auch nicht überraschend, dass sozialer Status – operationalisiert über das Einkommen – positiv mit Lebenszufriedenheit assoziiert ist. Man hört immer wieder, Geld mache nicht glücklich. Em­pirisch ist es aber eben doch so (Lucas & Schimmack, 2009)! Sozialer Status steigert jedoch nicht nur die Lebenszufriedenheit, er er­höht auch die Lebenserwartung. Der britische Epidemiologe Michael Marmot (2004) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Status-Syndrom“ und zeigt in einer Vielzahl von Studien, dass reiche und gebildete Menschen deutlich älter werden als arme und ungebildete Menschen. Hoher sozialer Status führt zu mehr sexuellem Erfolg, mehr Zufriedenheit und einer höheren Lebenserwartung 44 Kapitel 2 Zusammenfassung In diesem Kapitel ging es um die Frage, inwiefern menschliches Denken, Fühlen und Verhalten durch unsere soziale Umwelt determiniert ist. Wie wir gesehen haben, ist dies in hohem Maße der Fall. Wir tun vieles, weil bestimmte soziale Normen uns dies nahe legen. Diese Normen sind oftmals an bestimmte soziale Rollen gekoppelt – so wird es z. B. einem kleinen Kind nachgesehen, wenn es in einem Restaurant nicht mit Messer und Gabel isst, seinen Eltern hingegen nicht. Ferner wird unser Verhalten auch von unserem eigenen sozialen Status und dem unserer Interaktionspartner beeinflusst. Insofern wirkt unsere soziale Umwelt oft wie eine Bürde und ein Gefängnis für uns. Wie Jean Paul Sartre einmal formulierte: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Und oft genug trifft dies wohl auch zu. Andererseits hat aber auch Wilhelm von Humboldt Recht, der einmal sagte: „Im Grunde sind es doch Verbindungen mit Menschen, welche dem Leben seinen Wert geben.“ Dieses Kapitel hat gezeigt, dass diese „Verbindungen mit Menschen“ immer auch dadurch bestimmt sind, in welchen sozialen Rollen wir handeln und welchen sozialen Status wir und unsere Interaktionspartner innehaben. Weiterführende Literatur Cialdini, R. B. & Goldstein, N. J. (2004). Social influence: Compliance and conformity. Annual Review of Psychology, 55, 591–621. Dahrendorf, R. (2006). Homo Sociologicus: Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Wiesbaden: VS Verlag für Sozial­ wissenschaften. Injunktive: habdlung suf sich bezogen Desjunktive: handlung aus der umwelt ablesen Sanktionen, Zwingt zum einhalten von normen und setzt dise vor Vom herrrchenden Erlernt durch sizialisuereung … Reflexionsaufgaben 1. Worin unterscheiden sich injunktive und deskriptive Normen? Nennen Sie jeweils ein Beispiel. 2. Welche Erklärungsansätze für das Einhalten von Normen ha­ben Sie kennengelernt? 3. Welche Funktion wird Religion im Zusammenhang mit dem Befolgen von Normen zugeschrieben? 4. Nennen Sie die drei Erklärungsansätze für die Herkunft von Normen. Welche finden Sie persönlich am plausibelsten? Lösungshinweise finden Sie auf Seite 137. Kapitel 3 Leistung in Gruppen Sylvana Drewes, Thomas Schultze und Stefan Schulz-Hardt Inhaltsübersicht 3.1 Manifeste und potenzielle Gruppenleistung 47 3.2 Bedeutung des Aufgabentyps für die Bestimmung des Gruppenpotenzials 48 3.2.1 Additive Aufgaben 48 3.2.2 Disjunktive Aufgaben 49 3.2.3 Konjunktive Aufgaben 50 3.2.4 Diskretionäre Aufgaben 50 3.3 Prozessverluste und Prozessgewinne in Gruppen 50 3.3.1 Motivationsverluste und Motivationsgewinne 51 3.3.2 Individuelle Fertigkeitsverluste und Fertigkeitsgewinne 52 3.3.3 Koordinationsverluste und Koordinationsgewinne 53 3.4 Förderung der Gruppenleistung 55 3.4.1 Gruppenzusammensetzung 57 3.4.2 Gruppensynchronisierung 59 3.4.3 Gruppenlernen 60 Reflexionsaufgaben 64 46 Kapitel 3 Schlüsselbegriffe Manifeste und potenzielle Gruppenleistung Bedeutung des Aufgabentyps für die Bestimmung des Gruppenpotenzials Prozessverluste und Prozessgewinne in Gruppen Förderung der Gruppenleistung Die Zusammenarbeit in Gruppen ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft. Häufig bilden wir informelle Gruppen, z. B. Lerngruppen zur Prüfungsvorbereitung. Im Arbeitskontext finden sich formelle Fertigungsteams in der industriellen Produktion, Personalauswahlgremien entscheiden über die Einstellung neuer Mitarbeiter und Vorstände beschließen kollektiv die strategische Ausrichtung von Wirtschaftsunternehmen. Für kulturelle Leistungen wie Theater- und Orchesteraufführungen und für die Ausübung vieler Sportarten sind Gruppen unverzichtbar. Die Frage, wovon die Leistung dieser Gruppen abhängt, ist deshalb eine Frage von unmittelbarer praktischer Relevanz. Individuelle Voraussetzungen und Gruppen­ koordination beeinflussen die Ruderleistung © finnegan – Fotolia.com Die Gruppenleis­ tung besteht aus einem individual­ spezifischen und einem gruppenspe­ zifischen Anteil Die Gruppenleistung basiert sowohl auf einer gruppenspezifischen als auch auf einer individualspezi­fischen Komponente. Was ist damit gemeint? Stellen Sie sich vor, dass zwei Rudermannschaften in je einem Vierer(-boot) gegeneinander ein Rennen fahren. Wenn nun in dem einen Boot lauter Muskelprotze sitzen, die Rudern als Herausforderung erleben (also zum Rudern motiviert sind), während das andere Boot mit Hänflingen besetzt ist, die eine chronische Ruderaversion aufweisen, dann wird es niemanden überraschen, dass das erste Boot schneller ist als das zweite. Das hat dann nichts mit Gruppenprozessen zu tun, sondern ist vollständig auf die individualspezifische Komponente, nämlich die allgemeinen Fähigkeiten und Fertigkeiten und die allgemeine aufgabenbezogene Leistungsmotivation zurückzuführen. Die sozialpsychologische Gruppenforschung interessiert sich hingegen für den gruppenspe

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