Grundprobleme Sozialer Arbeit - Lernzettel PDF

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This document is a set of lecture notes on social work, focusing on the concept of 'help' from a sociological perspective. It examines various forms of help and how they are influenced by societal expectations and structures, using examples like charity and social safety nets.

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GRUNDPROBLEME SOZIALER ARBEIT Prof. Dr. Mark Schrödter , WiSe 2023/24 BLOCK 1: SOZIALE ARBEIT ZWISCHEN HILFE UND KONTROLLE THEMA 1: HILFE - Soziale Arbeit als Form organisierter Hilfe in der Moderne Zentrales Thema: Formen des Helfens & wie...

GRUNDPROBLEME SOZIALER ARBEIT Prof. Dr. Mark Schrödter , WiSe 2023/24 BLOCK 1: SOZIALE ARBEIT ZWISCHEN HILFE UND KONTROLLE THEMA 1: HILFE - Soziale Arbeit als Form organisierter Hilfe in der Moderne Zentrales Thema: Formen des Helfens & wie sie mit unterschiedlichen Abgabepflichten und Dankbarkeitserwartungen von der Gesellschaftsstruktur abhängen. Problemaufriss: Tafeln: Sind die Tafeln nette Gesten für die Armen? „Verschenken besser als Wegschmeißen!“ Wird von den Betroffenen oft als entwürdigend und stigmatisierend erlebt. Warum? : Am bivalenz Betteln: Warum empfinden viele Leute Ambivalenz, Bettelnden etwas zu geben? ltigkeit; Zwiespä nd; Man spürt den entwürdigenden Moment gszusta Spannun er Zweifel an der Aufrichtigkeit der Motive des Bettelnden nheit [d Zerrisse Unterstellung von Faulheit, Maßlosigkeit, Unwirtschaftlichkeit sozialstaatlicher und Gefühle Hilfen ungen] Bestreb Wir empfinden Betteln als nervig, als Belästigung! Sollen wir Bettelverbot einführen, wie in San Francisco? Was sind das für Leute, die etwas haben wollen, ohne etwas dafür zu tun? Gestört, unreif? Problem der allgemeinen Definition von „Hilfe“ Definition nach Niklas Luhmann: Hilfe ist ein Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse eines anderen Menschen Gleichzeitig mahnt er: Dies ist keine umfassende Definition -> Ist nicht möglich! Was Hilfe ist, „ist im Abstrakten nicht sicher auszumachen, sondern hängt davon ab, wie die Beteiligten die Situation definieren und welche Erwartungen sie in Bezug auf die Handlungen, auf ihre Motive und auch auf die Erwartungen der anderen Seite hegen.“ Hilfe wird „durch Strukturen wechselseitigen Erwartens definiert und gesteuert.“ - Luhmann Was bedeutet Das? Was definiert wechselseitige Erwartungen? Was bedeutet Hilfe im konkreten Kontext? -> Beispielvideo: „Ich helfe meiner Frau nicht im Haushalt“ Je nach (in der Familie eingespielten, in Form von Geschlechterrollen gesellschaftlich präformierten) Erwartungsstrukturen erscheint die Tätigkeit des Ehemannes im Haushalt als »Hilfe« oder als gemeinsam verantwortete Aufgabenerledigung. An diesem Beispiel wird deutlich, wie gesellschaftliche Strukturen das präformieren, was wir erwarten und was uns als Hilfe erscheint. 1 Differenzierung der Gesellschaft in Systeme Nach Luhmann lassen sich drei Formen der Differenzierung von gesellschaftlichen Systemen unterscheiden Diese Formen sind Idealtypisch konstruiert. Was bedeutet das?: Idealtypus: Soziologe Max Weber geprägt „Er ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die »eigentliche« Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird“ Beispiel: Jemanden durch ein Bild beschreiben, was eine Rose ist: Welches Bild ist „realitätsgetreuer“, welches „genauer“ Beide Abbildungen sind für unterschiedliche Zwecke geeignet. Die abstrahierte Zeichnung zeigt wie sich die Rose von anderen Exemplaren abstrahiert, indem es die Merkmale der Rose betont, die uns für einen bestimmten Zweck als wichtig erscheinen Foto vom Einzelobjekt Abstrahierte Zeichnung -> Zweckgebundener Idealtypus einer Rose Genau so macht es die Soziologie auch, wenn es versucht ein idealtypisches Abbild einer Gesellschaft zu zeichnen, um zu zeigen wie sich bestimmte Gesellschaftsstrukturen von anderen unterscheiden. Drei Formen der Differenzierung von gesellschaftlichen Systemen nach Luhmann: 1. Segmentär Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme Eine Gesellschaft besteht aus Individuen, welche in der Regel teil von Familien sind. Wenn diese Familien eine zentrale Bedeutung für sämtliche Aktivitäten des sozialen Lebens einnehmen, so nennt man es eine segmental differenzierte Gesellschaft Familien bilden vergleichsweise autarke (auf niemanden angewiesen; unabhängig) Einheiten = Geschäfte, Feiern, Erwerbstätigkeiten.. laufen über Familie und verwandte Strukturen. Häufig sind mehrere Familien dann auch in Siedlung oder Dörfern und diese wiederum in Stämme und Stammesverbände eingebettet. Individuen ( mit unterschiedlichen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Arbeit, Religion etc.) werden zusammengehalten durch die Verwandtschaft. Position von Individuen in der sozialen Ordnung ist fest zugeschrieben, nicht durch Leistung zu verändern Systeme von geringer Komplexität: Arbeitsteilung auf Basis von Geschlechts- und Altersrollen; kaum Ausdifferenzierung politischer Herrschaft Aufteilung der Gesellschaft in gleiche Segmente (Familien, Dörfer, Clans): Jedes Segment ist dabei sehr gleich aufgebaut. Wenn ein Segment zunehmend mächtiger und bedeutsamer wird (z.B. eine Familie), so kann es passieren, dass die Gesellschaft sich transformiert -> Adelsfamilien, setzen sich von den anderen ab 2. Stratifikatorische Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme Gesellschaftliche Funktionen differenzieren sich heraus = Rollen (unabhängig von Verwandtschaft) institutionalisieren sich Rollensysteme für Religion und pol. Herrschaft wirtschaftliche Arbeitsteilung, starke Schichtendifferenzierung Gesellschaft wird durch ein einheitliches Wertesystem, eine kosmisch-religiöse Moralität zusammengehalten, dass Handlungen motiviert. 3. Funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme Wird nicht mehr durch ein einheitliches Wertesystem zusammengehalten. Sämtliche gesellschaftlich relevante Funktionen werden als ein eigenes Funktionssystem ausdifferenziert Gesellschaftliche Funktionssysteme: Religion, Politik, Wissenschaft, Kunst, Recht, Erziehung, etc. mit je eigenen Perspektiven auf das Individuum und die Welt. Die Individuen sind nicht mehr exklusiv einem Teilsystem zugehörig, sondern bewegen sich situativ zwischen den Systemen Moral kann Gesellschaft nicht mehr zusammenhalten Wie kann nur „Hilfe“ in diesen drei Gesellschaftsformen aussehen?: Die Gabe der segmental differenzierten Gesellschaft Formen wechselseitiger Hilfe spielen hier eine zentrale Rolle -> Hilfeform = Gaben/ -tausch persönliche wechselReziprozitätsformen Hilfe ist Grundlage der Gesellschaft, stabilisiert Gesellschaft Hilfs- und Dankbarkeitspflichten nebeneinander, ohne Vertrag. Beispiele, wie der Gabentausch vollzogen werden kann: Rituelle Gabentauschsystem Kula: Zeremonieller Gabentausch von Muschelkettem zwischen Stämmen einer Inselgruppe vor der Ostküste Neuguineas Gabentausch: Potlatch: Ureinwohnerstämme Nordwestamerikas Große rituelle Schenkungen zwischen Stämmen -> Bedürfnisse werden befriedigt durch die komplexe Verflechtung von Hilfs- und Dankbarkeitspflichten = nicht vertraglich Beispiele in unserer Gesellschaft: Kirchweihen, Hochzeiten, Erstkommunionen und Beerdigungen. Diese haben jedoch keReziprozitätsformenenwert mehr und sind nicht si wichtig wie sie es in einer segmental differenzierten Gesellschaft sind. Dennoch haben manche Reziprozitätsformen (Formen der Wechselseitigkeit) noch immer eine bindende Wirkung, sodass Gemeinschaften dadurch auch zusammenhalten Reziprozitätsformen: direkte Reziprozität = gleiches wird unmittelbar mit Gleichem vergelten -> „Wie du mir, so ich dir“ generalisierte Reziprozität = Gegenleistung lässt sich nicht direkt einer vorgängigen Leistung zuordnen. -> Generalisierung über Zeitdimension: z.B. Eltern pflegen ihre Kinder, bis es im alter andersrum ist. Oder man gibt Getränke aus und hat dann die Erwartungen, dass beim nächsten mal ein anderer ausgibt. -> Generalisierung über Sozialdimension: z.B. Eltern helfen ihren Kindern, damit diese dann den Enkeln helfen, oder teilen des Familieneinkommens, steuerbasierte Solidarleistungen = entpersönlichte Solidarität Hilfe (für Notleidende) im System der Gabe „In diesem System gibt es "keine zufälligen oder spontanen Gaben wie etwa Almosen oder Spenden" und jeder, der in Not gerät, wird von seinem Clan, seiner Familie unterstützt.“ Es wird nicht nach Ursache (z.B. mangelnde Fähigkeiten, Talente, Anstrengung) oder dem moralischen Verschulden der Hilfsbedürftigkeit gefragt Kehrseite davon: Stigmatisierung Hilfe als statuskonstituierendes (-bildendes) Prinzip (Bsp. Reiche geben einem eine Runde nach der andern aus, mit dem Wissen, dass man es niemals zurückgeben kann = beschämend) Unfähigkeit der Erwiderung ist stigmatisierend: Erste gäbe stellt einen Angriff auf die Autonomie des Beschenkten dar. Gabe muss irgendann erwidert werden, sonst nicht reziprozitätsfähig. Gebengabe hebt die Macht der ersten Gabe auf. Nachteil Gabe: Unbestimmtheit der Dankespflicht. „Man läßt sich in der Not einen Mantel schenken und sieht sich später, Großkönig geworden, der Forderung auf die Statthalterschaft über eine ganze Insel gegenüber“ (Luhmann 1973: 172) 4 Das Almosen in der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft Hilfe hat einen völlig anderen Stellenwert Hilfe ist nicht gesellschaftsfundierend -> Dinge werden mit Geld und Macht geklärt Es gibt Reiche und Arme -> Nur den Armen muss geholfen werden Dafür gibt es die Institution der Almosen In Almosen kommt Ausbeutung und Wöhltätigkeit zusammen »Der Herrschende nimmt, ohne zu geben und er gibt etwas, ohne zu nehmen. [...] Das Almosen gibt dem Armen lediglich etwas von dem zurück, was ihm zuvor genommen wurde.« (Sahle 1987: 13). Hinter dieser Aussage steht die These von der ursprünglichen Akkumulation (Marx) Konstitutionslogisch nicht zeitlich. Beispiel: Gesellschaft ohne Grundbesitz: Wasser aus Quelle, Pinkeln, Früchte essen, Schlafplatz.. In der heutigen Gesellschaft muss man dafür bezahlen. Alles gehört irgendwem. Man muss Arbeiten um sich diese grundlegenden Dinge wie einen Toilettenbesuch leisten zu können. Man muss sich in Abhängigkeit begeben von Jemanden, der einem Arbeit gibt und einen ausbeuten kann. Reiche und Arme sind in Almose., in Form einer Gegenseitigkeit, einer Reziprozität aufeinander bezogen. Die Pflicht des einen ist implizit das Recht des anderen. Dabei wird jedoch keine versöhnende Kraft entfaltet wie bei der Gabe in segmentären Gesellschaften „Arme sind gottgewollt Arm und Reiche sind gottgewollt reich“ Bemerkenswert an der Institution der Almosen ist es, was es mit dem Status der beiden Macht. Für den Reichen ist das Almosen Standespflicht -> Es sichert Status und Statussymbol Für den Armen ist das Betteln und die Annahme der Almosen ein Recht -> Es schmälert nicht seinen Status, da er gewissermaßen am Ende der gesellschaftlichen Statushieraarchie steht Aufgrund der Schichtendifferenzierung → keine Umkehrbarkeit des persönlichen Hilfebedarfs → keine Motivation zur direkten Reziprozität: selten, dass man hilft, weil man selbst einmal hilfebedürftig werden könnte → Marginalisierung des Helfens »freiwilliges« Helfen (religiös) als Tugend gesellschaftsstabilisierende Funktion: Hilfe stabilisiert und symbolisiert Schicht- und Statusunterschiede Nachteil Almosen: Verhindert Kapitalbildung; Mildtätigkeit als Zumutung: Geld macht sichtbar, dass es immer noch Reichere, noch Hilfsbedürftigere gibt Hilfe in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft Reziprozität wird in einem noch stärkeren Maße unwichtig Weder wechselseitige Hilfe auf Basis Reversibilität der Lebenslagen, noch Komplementarität zwischen Almosengeber und Bettler, sondern Verfestigung von Armut im Kapitalismus bei Wegfall der Institution des Almosens. Entscheidend wird hier ein Bedeutungswandel von Armut. Mit dem Wegfall der religiösen Vorstellung Menschen seien gottgewollt arm oder reich, wird nun rational unterschieden in: - verschuldeten / unverschuldeten Armen - würdige / unwürdige Armen Armut ist nun vermeidbar und überwindbar (nicht gottgewollt) Hilfe wird gebunden an den Willen des Armen, sich aus der Armut heraus begeben zu wollen nichtprogrammiertes Helfen schwindet, Hilfe als erwartbare und programmierte Leistung die von spezialisierten Organisationen erbracht werden. Formen von Programmierung von Entscheidungen in Organisationen: Konditionalprogrammierung: Wenn-Dann Zusammenhang -> Wenn eine bestimmte Notlage vorliegt, dann gibt es einen bestimmten Geldbetrag als Hilfe (Hart IV, Bafög, Familienhilfe etc.) Wenn ein Defizit in der Erziehung vorliegt, nur dann kann eine solche Hilfe gewährt werden Zweckprogramierung: Zwecke sind festgelegt, Mittel vergleichsweise frei wählbar, z.B.: Auftrag an ein Jugendzentrum, die Jugendkriminalität um 10% zu senken = Zweck Sozialpädagogen/innen müssen die MITTEl finden, diesen Zweck zu erfüllen Nachteil organisierter, programmierter Hilfe: „Durch Programmierung der sozialen Hilfe gerät nichtprogrammiertes Helfen in die Hinterhand“ (Luhmann 1973: 180). programmloses Helfen als Störfall: Sachbearbeiter kann nicht mehr wohltätig sein! Tafekn sind entwürdigend, wir können dem Schnorrer auf der Straße ohne ambivalente Gefühle keine Almosen mehr geben Zusammenfassung: Aktuelles Beispiel, dafür, wie unterschiedlich die Logiken des Helfens sind und inwiefern se immer nur verständlich sind, vor dem Hintergrund einer entsprechenden sozialen Struktur: Bushido und Arafat Abou-Chaker Konflikt: Als Abu-Chaker Clan wird eine Gruppe (männlicher) Angehöriger des palästinensisch stämmigen Familienverbandes Abou-Chaker bezeichnet Bushido (gebürtiger Name: Anis Mohamed Youssef Ferchichi); Mutter einheimische; Vater Tunesier, verließ die Familie, als Bushido drei Jahre alt war. Stichworte: „Sektenführer“ vs. Clan-Oberhaupt; „Abdrücken“ an Clan vs. Polizeischutz Konflikt zwischen Arafat und Bushido nur verständlich vor dem Hintergrund der in Anspruch genommenen Clan-Logik und der subkulturellen („street“-Logik) Frontstellung gegen die Logik funktional differenzierter Gesellschaft mit der Geltung von Recht und Vertrag Fazit Darum sind moralische Appelle, doch bitte den Schwachen zu helfen (Nächstenliebe, Solidarität), wie das schon in der Dorfgemeinschaft der Fall gewesen sei, vermutlich sinnlos. Eine solche individuelle Hilfemoral, die nicht in der Sozialstruktur verankert ist, ist flüchtig und hat es ohnehin nie gegeben. Von vereinzelten Ereignissen abgesehen war die regelmäßige Hilfe der Bedürftigen immer ganz anders motiviert als über eine »Nächstenliebe« oder einen »Altruismus«. Über die stammesförmige Gemeinschaft (Gabe), Dienst an Gott (Almosen) oder Recht (organisierte Hilfe) Darum nutzt sich ein Idealismus (etwa: Altruismus, Helfersyndrom) in der Praxis so schnell ab: man wird hineingesogen in die Eigenlogik der funktional differenzierten Gesellschaft Gegen die strukturelle Stigmatisierung der Bedürftigen hilft auch nicht die persönliche Nettigkeit der Sozialarbeiter*in Es kommt in erster Linie darauf an, Gesellschaft/soziale Strukturen zu verändern, die Menschen ein würdiges Leben ohne Stigmatisierung ermöglicht! Das ist auch eine Aufgabe von Sozialer Arbeit, wie es ja auch in der Global Definition hervorgehoben wird. THEMA 2: KONTROLLE - Psychotherapeutisierende Disziplinierung der Armen als Funktion Sozialer Arbeit Zentrales Thema: Soziale Arbeit mithilfe des Konzepts der sozialen Kontrolle betrachten: Inwiefern kann Soziale Arbeit als soziale Kontrolle verstanden werden und inwiefern bestehen in der Gesellschaft Mechanismen der sozialen Kontrolle Inwiefern hängt es von der theoretischen Perspektive ab ist, ob etwas als soziale Kontrolle erscheint. Lehrbuchdefinition: Soziale Kontrolle „Soziale Kontrolle [...] ist ein Mechanismus der Integration von Gesellschaften und dient der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung« (Endruweit/Trommsdorff/Burzan 2014: 245). ein Mechanismus »mit deren Hilfe eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zu Verhaltensweisen zu bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet werden« (Fuchs-Heinritz et al. 1994: 368). als Reaktion auf abweichendes Verhalten, die sie »verhindern oder einschränken sollen. Die soziale Kontrolle setzt [damit also] Individuen voraus, die aufgrund ihrer Sozialisation und Lebensumstände nicht in hinreichendem Maße die soziolkulturellen Werte und Normen verinnerlicht haben und auch nicht aus Einsicht in die Notwendigkeit der Einhaltung sozialer Regeln normgerecht handeln (Konformität). Die soziale Kontrolle dient letztlich der sozialen Integration, d.h. der Lösung bzw. Unterdrückung von sozialen Konflikten und Verhaltensgegensätzlichkeiten« (Hillmann 1994: 444). Element der gesellschaftlichen Integration im Sinne des sozialen Zusammenhalts taucht in Global Definition of Social Work auf: »Soziale Arbeit fördert als Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt und die Ermächtigung und Befreiung von Menschen« (IFSW/AvenirSocial 2014). Soziale Kontrolle als wichtiger Aspekt des Auftrags von Soziale Arbeit bzw. Soziale Arbeit und soziale Hilfe als sozialen Kontrolle: »Hilfe ist soziale Kontrolle, nur eben eine besondere und veränderbare Variante« (Dollinger 2019: 13). Problemaufriss Soziale Arbeit hat es mit abweichendem Verhalten zu tun, das sie gewissen gesellschaftlich gültigen Normen anzupassen sucht, etwa: Arbeitslosigkeit, Sucht, Schulabsentismus, Prostitution, Obdachlosigkeit, Kindeswohlgefährdung, etc. Ausgangsintuition (Ausgangsthese): Menschen mit abweichenden Verhaltensweisen brauchen Hilfe, da diese Verhaltensweisen sie selbst schädigen und dies ist zugleich Kontrolle, die durch Herstellung von Konformität die öffentliche Ordnung und den sozialen Frieden sichert. -> Damit ermächtigt Soziale Arbeit sie und befreit sie von ihrem Leiden? -> Einheit von sozialem Zusammenhalt, Ermächtigung und Befreiung: Was gut ist für den Einzelnen, ist auch gut für die Gesellschaft – und umgekehrt. -> so simpel ist das leider nicht! Das Problem beginnt bei den Normen selbst: An welche Normen sollen wir die Adressaten eigentlich anpassen? -> Pluralität der Gesellschaft= Lässt viele Normen gleichermaßen gelten, normativer Minimalkonsens viele Werte und Normen sind ja in den Gesetzen aufgehoben. Allerdings: nicht immer gibt das Gesetz alles vor. Oft hinkt es ja hinter einem veränderten Normenbewußtsein der Bevölkerung deutlich hinterher: z.B. Züchtigungsverbot erst im Jahre 2000. Hätten wir gutheißen und empfehlen sollen zu züchtigen? Nein, wohl kaum. Es gibt also häufig auch gesellschaftlich gültige Normen, die wir als Sozialpädagoginnen nicht teilen würden. Z.B. Geschlechternormen Wenn wir gesellschaftlich oder rechtlich gültigen Normen mit guten Gründen für falsch halten: sollen wir dann die Adressaten der Sozialen Arbeit trotzdem daran anpassen? Wir verstehen uns als Sozialpädagogen/innen nicht als bloße Ausführungsorgane gesellschaftlicher Normen. Wir wollen keine Leben aufdrücken, sondern sie ermächtigen. wie dazu verhalten, wenn die gesellschaftlichen Mechanismen der sozialen Kontrolle selbst das Leiden erzeugen. Z.B. Ausschluss durch Kontrollmechanismen in Schule und Arbeit. Fremdbestimmung -> Gesellschaft als Qualifikationsspiel? Wie kann soziale Arbeit hier die Abweichler von der Norm wieder an die Normen, dieser Gesellschaft anpassen? -> Es geht doch mehr darum, die Gesellschaft selbst zu verändern, sodass sie Menschen gar nicht mehr ausschließt. -> Gesellschaftliche Veränderung Um Gesellschaft verändern zu können, müssen Sozialarbeiter/innen Gesellschaft verstehen. -> Wie funktioniert die gesellschaftliche Unterdrückung und die gesellschaftlichen Machtmechanismen? -> Welchen Beitrag leisten sie selber? Sozialarbeiter/innen müssen in der Lage sein Gesellschaft und Soziale Arbeit selbst zu kritisieren! Soziale Arbeit und die soziale Frage Soziale Arbeit entstand mit »soziale Frage«: die sozialen Verelendungsprozesse zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich als Folgeerscheinung der Transformation von der Agrar- zur Industriegesellschaft einstellten. Ein wesentlicher Faktor war das rapide Bevölkerungswachstum -> in wachsenden Städten entstand eine verarmte Bevölkerung Arbeits-, Wohnung-, Gesundheits- und Erziehungsprobleme = benötigte soziale Kontrolle In dieser Zeit schrieb Karl Marx zusammen mit Friedrich Engels das Kommunistische Manifest -> Ein Dokument, das die Arbeiterklasse zum Kampf gegen die herrschende industrielle Klasse mobilisieren sollte. Marxistische Kritik der Gesellschaft Marx‘ Gesellschaftsanalyse teilt die Bevölkerung in zwei Gruppen/Klassen: - die Bourgeoisie = das wohlhabende Bürgertum, das nun zur herrschenden sozialen Klasse wird - das Proletariat = Lohnarbeiter, welche ihre Arbeitskraft anbieten Zu welcher Klasse jemand zugeordnet werden kann, bestimmt er je nach gesellschaftlicher Stellung im Produktionsprozess: - die Bourgeoisie = Eigentum, Produktionsmittel, Grundbesitz, Rohstoffe, Maschinen = Kapitalisten - das Proletariat = keine Produktionsmittel, muss zum Lebensunterhalt Arbeiten = Arbeiter Arbeiter waren nach Marx doppelt „frei“: (1) frei von feudalistischen Zwängen. -> Über sie konnte kein Feudalher mehr verfügen (aber auch nicht mehr für sie sorgte) (2) „frei“ vom Eigentum an Produktionsmitteln. -> keinen Boden um für Lebensmittel zu sorgen -> Die Arbeitskraft der Arbeiter wird zur Ware, die der Kapitalist einkauft. In dieser Abhängigkeit ist der Arbeiter anfällig für Ausbeutung: da der Kapitalist allein über die Produktionsbedingungen bestimmt, kann er dem Arbeiter weniger auszahlen, als er an Warenwert produziert. Dieses Ausbeutungsverhältnis kann laut Marx nur durch eine Revolution überwunden werden, die die Gesellschaftsstruktur radikal transformiert. Marxistische Theorie der Sozialen Arbeit - Nach Hollstein ( 1. ) Soziale Arbeit als Reproduktionsagentur Zusammenhang von Produktion und Reproduktion: Arbeitskraft muss reproduziert werden in Freizeit und Familie. „Sozialarbeit hat sich um die Erhaltung des Arbeitskraftpotentials der bestehenden Gesellschaft zu kümmern. Wie die Konsum- (Nahrung, Kleidung u. a.) und die Kulturindustrie (Unterhaltung, Ablenkung u. a.) sorgt die Sozialarbeit für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft. -> Körperliche Erholung Sozialarbeit kümmert sich im besonderen um jene Lohnarbeiter, die aufgrund des sozio- psychischen Drucks der alltäglich auf sie ausgeübt wird, als Arbeitskräfte psychisch und physisch untauglich zu werden drohen. -> Psychische Erholung Die Sozialarbeit pflegt eine industrielle Reservearmee, die in ökonomischen Hoch-Zeiten eingesetzt werden kann.“ (Hollstein 1973) In dem Maße, in dem der Arbeiter in der Produktion tätig ist und seine Arbeitskraft verausgabt, muss er sich erholen, das heißt seine Arbeitskraft reproduzieren. Soziale Arbeit kommt hier für jene in Frage, bei denen die eigenständige Reproduktion scheitert. -> Soziale Arbeit ist Reproduktionsagentur im Dienste des Kapitalismus ( 2. ) Soziale Arbeit als Sozialisationsagentur Soziale Arbeit sorgt dafür, dass Kinder zu fleißigen angepassten Arbeitern werden, oder zu Hausfrauen die zu Hause ihrem Partner unterwürfige Reproduktionsarbeit leisten. »Sozialarbeit reproduziert die gültigen Normen und Werte der bestehenden Gesellschaft und vermittelt sie den Klienten in sozial-therapeutischer Absicht (Preisung von Leistung, Pflicht, Gehorsam, Treue, Familie u. a. vor allem in Erziehungs-, Ehe- und Familienberatung). Sozialarbeit psychologisiert und subjektiviert die anstehenden Probleme (Einzelfallhilfe). Dadurch, daß sie dem Klienten die Schuld an Mißständen anlastet, die gesellschaftlich bedingt sind, überfordert sie ihn sozio-psychisch bewußt um ihn besser der bestehenden Gesellschaft (Leistungsdruck) anzupassen. Sozialarbeit fördert gesellschaftliches Wohlverhalten (›mechanistische‹ Anpassung), statt für gesellschaftliches Wohlbefinden zu sorgen.« (Hollstein 1973) ( 3. ) Soziale Arbeit als Kompensationsagentur „Sozialarbeit gleicht individuell die Mängel, Widersprüche und Ungerechtigkeiten des sozialen Systems aus, die dieses aufgrund seiner Klassenstruktur kollektiv schafft. Sozialarbeit zeigt sich als das schlechte Gewissen einer schlechten Gesellschaft.“ ( 4. ) Soziale Arbeit als Oppressionsagentur (Unterdrückungsagentur) Soziale Arbeit passt auf, dass keiner aus der Reihe tanzt. Sie kontrolliert die Arbeitenden und die arbeitslose Bevölkerung auf Abweichung hin, die die kapitalistische Produktion bedrohen könnte. »Sozialarbeit schützt die Gesellschaft vor den möglichen Auswirkungen abweichenden Verhaltens, indem sie dieses administriert und fragmentiert. Sozialarbeit läßt ›soziale Fälle‹ aktenkundig werden und hält sie dadurch unter Kontrolle (wie Polizei und Justiz) Sozialarbeit diszipliniert nur die Abweichung der materiell Unterprivilegierten. Sozialarbeit verschleiert die systembedingten Ungerechtigkeiten durch materiellen und ideellen Trost (Pflästerchen-Therapie). -> sie verhindert den Klassenkampf / Revolution Sozialarbeit fördert in ihrem Wertsystem (z. B. Subjektivistische Konfrontation Sozialarbeiter-Klient, individualistische Lösungsmuster für alle Fälle) die Ignorierung der systembedingten Missstände. Sie vergreift sich am individuell ›Schuldigen‹, nie am System. Sozialarbeit verhindert dergestalt die Solidarisierung der Klienten und – über die Solidarität – den Weg zur kollektiven Aufklärung und Aktion, um die anstehenden Ungerechtigkeiten zu beseitigen.« ( 5. ) Soziale Arbeit als Disziplinierungsagentur »Die Sozialarbeit kaserniert dezidiert abweichendes Verhalten in Heimen, Arbeitshäusern u. a. und schafft unter denen, die sich konform verhalten, einerseits die Angst vor Abweichung (Strafeffekt) und andererseits das Solidaritätsgefühl, besser zu sein als die Bestraften (Kontrasteffekt). Die Abweichung der Abweichler (out-group) verstärkt die Normen der bestehenden Gesellschaft in der Mehrheit (in-group). Die Sozialarbeit pflegt durch ihre Aktivität das Feindbild, das sich die in- group von der out-group macht.« Ulrike Meinhoff (1971) hebt mit Heimpampagne die gewaltförmigen, einschließenden Formen von Heimerziehung hervor: »Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem den proletarischen Jugendlichen eingebläut wird, dass es keinen Zweck hat, sich zu wehren, keinen Zweck, etwas anderes zu wollen, als lebenslänglich am Fließband zu stehen, an untergeordneter Stelle zu arbeiten, Befehlsempfänger zu sein und zu bleiben, das Maul zu halten« (Meinhof 1971: 6). »Fürsorgeerziehung ändert an den Verhältnissen nichts, aufgrund derer ein Jugendlicher aus der Bahn gekommen ist. Nicht, dass die Lehrstelle mies war, interessiert das Jugendamt, sondern dass der Jugendliche sie verlassen hat. Nicht, dass die Wohnung zu eng war und die Geschwisterzahl zu groß, um Schularbeiten machen zu können, sondern dass der Jugendliche die Schule geschwänzt hat. Nicht, dass er mit seinem Taschengeld nicht auskommen konnte, sondern dass er geklaut hat. Nicht dass das Mädchen keine Klamotten hatte, wie es die Werbung befiehlt, sondern dass es auf den Strich gegangen ist.« (Meinhof 1971: 5) -> Soziale Arbeit kontrolliert also die Abweichung und erfüllt so die Funktion ungerechte Gesellschaftsstrukturen aufrecht zu erhalten, so die marxistsische Analyse Helge Peters spricht von Sozialarbeitern als „sanften Kontrolleuren“: »Ausschließen durch Bestrafen und Einweisen in geschlossene Anstalten bleibt im Rahmen wohlfahrtsstaatlich organisierter Kontrolle legitim für alle, die bei ›sanfter Kontrolle‹ versagen.« Marxistische Perspektiven, die soziale Arbeit als Instanz der sozialen Kontrolle im Dienste der Anpassung an eine ungerechte von kapitalistischer Ausbeutung geprägten Gesellschaft betrachtet, finden wir gegenwärtig kaum noch. Die wenigsten Theoretiker der sozialen Arbeit sind bekennenden Marxisten. Woran liegt das? Hat sich die Gesellschaft verändert? Kann man mit der marxistischen Theorie heute noch Gesellschaft verstehen? Obwohl Marx heute nicht mehr als Deuter der Welt gilt, scheinen die Reichen, Kapitalisten, Menschen mit Produktionsmitteln usw. die Welt durchaus noch im Sinne des Klassenkampfes zu sehen. Weltwirtschaftskrise 2007-2009: Die „herrschende Klasse“ ist aus dieser Krise auf kosten der weiteren Verelendung der Bevölkerung ungebrochen hervorgegangen. -> Um die müss sich die soziale Arbeit dann kümmern. Vielleicht brauchen wir marxistische Analysen mehr denn je… Aber warum gibt es dann kaum noch eine marxistische Kritik der Kontrollfunktion der sozialen Arbeit? Eine mögliche Erklärung wäre in der Wirkunsmacht der Ideologie zu suchen. Die marxistische Theorie hat schon immer darauf verwiesen, dass ungerechte Gesellschaftsformationen darauf angewiesen sind, dass sie ihre Ungerechtigkeit verschleiern. Diese Funktion nimmt die Ideologie ein Marxistische Kritik ist daher immer auch Ideologiekritik. Ideologiekritik Zwei Ideologiebegriffe: Weiter Ideologiebegriff: Enger Ideologiebegriff: ist wertneutral ist wertend bezeichnet Wissenssysteme wie bezeichnet etwas Negatives: Ideologie als Religionen (die geistigen Gebilde von Wissenssystem, das der Verschleierung von Rechts- und Wirtschaftssystemen) Herrschaft dient. oder politische und philosophische Ideologien als »Formen des falschen Gedankengebäude, die als Kultur das Bewusstseins [..], die fragwürdige Normen- und Wertesystem von Machtverhältnisse abstützen und soziale Gesellschaften ausmachen. Emanzipationsprozesse blockieren.. Sie stellen für das Leiden an einer beschädigten Lebenspraxis Rechtfertigungen oder Trost spendende Ersatzwelten zur Verfügung« (Vinnai 2007: 99). In diesem Sinne kann sogar die der Reproduktion dienenden Unterhaltungsindustrie auf ihre ideologische Funktion hin untersucht werden: Fußball und Netflix als »Zufluchtsstätten von Unmittelbarkeit und Leben« (Adorno 1963: 341) in einer düsteren, fremdgesteuerten, weil der Macht des kleinen Arbeiters entzogener Welt der Produktion. Wer sich durch die Kulturindustrie nicht sidieren lässt und nicht fleißig am nächsten Tag bei der Arbeit erscheint, bekommt es mit der sozialen Arbeit zu tun. Indem soziale Arbeit ihre eigene Funktion der sozialen Kontrolle im Dienste des Kapitals verschweigt, verschleiert sie ideologisch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und stabilisiert sie damit zugleich. Soziale Arbeit ist Ideologieproduktion im Dienste des Kapitals. Die marxistische Theoriebildung mag den Anschein erwecken, als gäbe es eine riesige Verschwörung, eine Verschwörung von Kapitalisten die Instrumente wie die Kulturindustrie oder die soziale Arbeit einsetzen, um ihre Macht in der Welt durchzusetzen. Marxistische Theorie als Verschwörungstheorie? Fokus auf wirtschaftliche Interessen ist einseitig und kann in simplifizierender Verschwörungstheorie abrutschen Sozialpsychologisch: wenn Marxisten mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sie würden verschwörungstheoretisch argumentieren, da sie ja zu behaupten scheinen, die reichen Kapitalisten der Welt würden sich zusammenschließen und die Welt steuern, dann reagieren die meisten Marxisten damit, dass sie diese Kritik selbst wieder für ideologisch halten. Damit immunisieren sich Marxisten gegen Kritik. Aktuell in der Gesellschaft aufgrund des Corona-Virus mehr Verschwörungstheorien als sonst. Verschwörungstheorien vs. Analysen, die aufdecken, wie wirtschaftliche Interessengruppen politische Entscheidungen beeinflussen und durch welche Mechanismen dies verschleiert wird In der Geschichte gibt es viele Beispiele für echte Verschwörungen, also Zusammenwirken von Akteuren die sich im geheimen zusammenschließen um gemeinsame Interessen durchzusetzen -> Nicht typisch für Funktionsmechanismen von Gesellschaft -> Unfair, marxistischen Analysen zu unterstellen, sie hätten ein solches Missverständnis von Gesellschaft marxistischer Gesellschaftskritik geht es um Aufdeckung funktionaler Zusammenhänge, also darum zu zeigen, inwiefern etwas eine Funktion für etwas anderes erfüllt: Soziale Arbeit erfülle die Funktion der Sicherung der Reproduktion der Arbeitskraft als Ware, sie erfüllt die Funktion, die Ausbeutung im Kapitalismus zu verschleiern und zur Unterdrückung des Menschen beizutragen. Den Analysen geht es immer um den Zusammenhang zwischen sozialer Arbeit und Wirtschaft. Vielleicht ein Grund, dass marx. Theorien außer Mode geraten sind. Sie neigen dazu überall wirtschaftliches Interesse zu sehen und soziale Arbeit nur in der Funktion für die Wirtschaft zu betrachten. -> Eindimensional nicht alle Phänomene der modernen Gesellschaft lassen sich als durch wirtschaftliche Interessen geprägt begreifen. Daher ist in der sozialen Arbeit ein zweiter Modus von Gesellschaftskritik einflussreich geworden: -> Die Diskursanalyse Diskursanalyse Ideologiekritik basiert auf Modell von Unterdrücker (Kapitalisten) vs. Unterdrücktem (Arbeiter). Ihr Ziel ist Aufdeckung der Verschleierung von Herrschaft Die Diskursanalyse nach Michelle Foucault fragt dagegen danach, ob das, was wir gegenwärtig beobachten, auch anders sein könnte. Sie fragt: »Was wäre der Unterschied, wenn wir das Problem eher im Rahmen dieses Modells als im Rahmen jenes Modells betrachten?« (Owen 2003). Begriff „Diskurs“ im Alltagsverständnis: »Debatte« foucaultianischer Diskursbegriff: Gesamt der Art und Weise, wie eine Sache gesellschaftlich thematisiert, wahrgenommen und erlebt, und als solche hervorgebracht wird. Der Diskurs ist Möglichkeitsbedingung des Denkens, Handelns und Fühlens. Es gibt kein Jeseits eines Diskurses, weil wir uns nur im Rahmen eines Diskurs über eine bestimmte Sache verständigen können. Mithilfe des Diskursbegriffes können wir dann fragen, wie es möglich ist, dass ein soziales Phänomen auf eine bestimmte Art und Weise entsteht und nicht etwas anderes an seiner Stelle entstanden ist (vgl. Foucault 1969: 42). Es geht Foucault um Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur« und dabei vor allem um Mechanismen sozialer Kontrolle, die »die den Menschen zum Subjekt machen« (Foucault 1982a: 240). Soziale Kontrolle versteht Foucault also nicht als eine Unterdrückung des Inneren, des Subjekts, sondern es geht ihm um die verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur, also alle Dinge und Prozesse in der Kultur, die die Menschen überhaupt erst zum Subjekt machen. Was die foucaultsche Perspektive der Diskursanalyse von der marxistischen Perspektive der Ideologiekritik unterscheidet, ist, dass die Diskursanalyse nicht wertet. Sie stellt erst einmal nur Zusammenhänge und Muster dar, sie ist deskriptiv Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen deskriptiven und präskriptiven Aussagen in der Geselschaftskritik. Deskriptive und Präskriptive Aussagen in der Gesellschaftskritik Bsp.: „Es gibt Kinder, die im Rahmen der Erziehung geschlagen werden und es gibt Eltern, die das moralisch für richtig halten“ (Behauptung über die Existenz von Handlungen und Einstellungen) „Es ist in dieser Gesellschaft moralisch verpönt, Kinder zu schlagen“ (Behauptung über öffentliche Geltung einer Norm) Ethische („normative“) Aussagen: „In dieser Gesellschaft halten sich alle a) Erwachsenen an das moralische Gebot und Verpflichtunauch:Klugheitsregelnnmit denen rechtliche Gesetz, Kinder nicht zu wir behaupten, gewisse Handlungen seien schlagen“ (Behauptung über faktische Geltung moralisch geboten, verboten oder erlaubt, einer Norm) z.B.: Es ist (moralisch) verboten/erlaubt/ geboten, Kinder zu schlagen. b) Werturteile: Aussagen, mit denen wir behaupten, gewisse Ziele, Motive, Folgen von Handlungen seien gut oder schlecht, z.B.: „Es ist (moralisch) gut/schlecht, Kinder zu schlagen.“ Technische Aussagen: Direktiven: (auch:Klugheitsregeln): C) subjektive Werturteile Aussagen, mit denen wir eine Zweck- Geschmacksurteile: Aussagen, mit denen Mittel-Relation behaupten, z.B.: „Es ist wir sagen, was wir bevorzugen, z.B.;: Ich (technisch) zweckmäßig, Kinder nicht zu mag es nicht, wenn Kinder geschlagen schlagen, da sie andernfalls den Respekt werden. vor dem Erzieher verlieren.“ Nicht Gegenstand der Wissenschaft Manche würden jetzt sagen auch ethische Aussagen haben in einer sozialwissenschaftlichen Analyse auch nichts zu suchen -> Eigentlich nur Ausdruck unserer Emotionen Werturteilsfreiheitspostulat nach Max Weber: lässt ausschließlich Tatsachenaussagen und Technische Aussagen zu Wissenschaft sind also nur die deskriptiven Aussagen (A) die Technischen aussagen (B) Übertragen auf die Frage der Gesellschaftskritik: Foucaultsche Diskursanalysen bewegen sich im Rahmen des Weberianischen Werturteilspostulats: Sie wollen keine normativen bzw. ethischen Aussagen treffen, sondern erst einmal nur Machtmechanismen beschreiben. Aber auch wenn Foucault mit seinen deskriptiven theoretischen Analysen Menschen nichts vorschreiben will, so möchte er doch Gesellschaft kritisch betrachten: »Ich suche nicht zu behaupten, alles sei schlecht, sondern, alles sei gefährlich – was nicht genau dasselbe ist wie schlecht. Wenn alles gefährlich ist, dann haben wir eben stets etwas zu tun. Folglich führt meine Position nicht zur Apathie, sondern im Gegenteil zu einem pessimistischen Hyper-Aktivismus« (Foucault 1982b). Etwas als »gefährlich« auszuweisen, steht der technischen Direktive näher als der ethisch- normativen Aussage. Masken und Macht weiteres Thema der gegenwärtigen Lage: umstrittene Alltagsmasken (Coronamasken) Diskursanalyse würde Frage: wie kamen plötzlich Masken aufkamen und wurden durch Mechanismen der sozialen Kontrolle durchgesetzt werden. Eine Diskursanalyse müsste danach fragen, wie es überhaupt möglich wurde, dass Alltagsmasken aufgekommen sind und nicht etwas anderes. Es wären ja auch andere Mechanismen der sozialen Kontrolle zur des Virus möglich gewesen. Immunologe Anthony Fauci: »I want to protect myself and protect others, and also because I want to make it be a symbol for people to see that that's the kind of thing you should be doing«. Alternative Möglichkeiten: Unklar, warum nicht FFP2-Masken nicht genutzt werden. Vorzug foucaultscher Diskursanalyse: nach Mechanismen sozialer Kontrolle fragen können, ohne im Streit um die Masken inhaltlich Stellung beziehen oder nach irgendwelchen dahinterliegenden wirtschaftlichen oder politischen Interessen von konkreten Akteuren forschen müssen. Strategie der Sozialen Kontrolle legt Fokus auf Fremdschutz. [Vier verschiedene Modi der sozialen Kontrolle unterschieden, mit denen in der europäischen Geschichte auf die großen Seuchen reagiert wurde: Die Formen des Umgangs mit Seuchen in der Geschichte stehen für Foucault idealtypisch dafür, wie insgesamt in der Gesellschaft Macht und soziale Kontrolle ausgeübt wird: Lepra = ausschließend, spaltend; Pest = Quarantäne; Pocken = Impfung, statistisch beobachtend, Risikomanagement. Agamben steht eher der diskursanalytischenodus der sozialen Kontrolle. Gefährlichen Ausweitung der staatlichen Macht, die über die Proklamation des Ausnahmezustandes regiert (Agamben 2004). Agamben steht eher der diskursanalytischen als der ideologiekritischen Form der Gesellschaftskritik nahe, auch wenn sich bei ihm starke Momente der ethischen Kritik finden (Agamben 2020a, Maskenpflicht könnte als Teil eines umfassenden Ensembles von risikoberechnenden und risikoverwaltenden Strategien sozialer Kontrolle ausgewiesen werden vor dem Hintergrund eines proklamierten Ausnahmezustandes, der zentrale Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft gefährdet. Für die Soziale Arbeit stellt sich zukünftig die Frage, was adiskurstheoretischer Gesellschaftsdiagnose folgt: Vielleicht geht es zukünftig nicht mehr um die Ermächtigung des Einzelnen, sondern darum, dass der Einzelne die anderen nicht mit seinem Abweichlertumtum infiziert. Resümé: Formen sozialwissenschaftlicher Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse zwei Formen der Kritik von Gesellschaft und der Kritik des Stellenwertes von Sozialer Arbeit in Machtverhältnissen der Gesellschaft: Ideologiekritik in marxistischer Tradition und die Diskursanalyse in foucautianischen Tradition. Wir können zum einen Mechanismen der sozialen Kontrolle daraufhin analysieren, inwiefern sie der kapitalistischen Produktion durch die Reproduktion der Arbeitskraft dienen und inwiefern sie herrschaftsstabilisierend sind, weil sie Herrschaftsverhältnisse verschleiern. Oder wir können Mechanismen sozialer Kontrolle daraufhin befragen, inwiefern sie Ausdruck eines größeren gesellschaftlichen, vielleicht sogar epochalen Kontrollzusammenhangs sind und inwiefern diese uns zu der Art Subjekten machen, die wir sind. In einem weiteren Schritt wäre dann vielleicht in ethischer Hinsicht zu fragen, welche Art von Subjekten wir eigentlich sein wollen und welchen Beitrag Soziale Arbeit darin einnehmen kann. Dieser Frage wenden wir uns in der kommenden Sitzung zu. Nachtrag (aus Video für Thema 3) Alles soziale Kontrolle? Wenn »Hilfe« und »Kontrolle« das gleiche meinen, ist dann die Unterscheidung nicht sinnlos? So etwa Dollinger (2019). Andere Theoretiker*innen, halten an der Unterscheidung fest und halten Hilfe und Kontrolle für zwei unterschiedliche Aufgaben, zu deren Erfüllung wir gesellschaftlich mandatiert sind (doppeltes Mandat der Sozialen Arbeit). Zwei gegenüberliegende Pole, grundlegende Spannung, die wir situativ auszubalancieren haben (vgl. einführend: Thieme 2017). Eine Möglichkeit, die Frage der Identität von oder des Spannungsverhältnisses zwischen Hilfe und Kontrolle zu verstehen, liegt darin, direkt normativ danach zu fragen, was sozialpädagogisches Handeln »gut« oder »schlecht« macht. Mit der Thematisierung der Macht und Unterdrückung war die Frage nach der »Ermächtigung und Befreiung von Menschen« (IFSW/AvenirSocial 2014) zu stellen. ermächtigende von repressiver, unterdrückender sozialer Kontrolle unterscheiden. Annäherung: einen Menschen ermächtigen heißt, dazu beizutragen, dass er nicht – oder nicht mehr in dem Maße – einer fremden Macht unterworfen ist. Ein ermächtigter Mensch ist nicht abhängig von anderen und er kann in Bezug auf sich selbst und in Bezug auf seine Umwelt in gewissem Maße etwas bewirken. Er kann in gewissem Maße das bewirken, was er bewirken will. Autonomie der Person. BLOCK 2: STÄRKUNG UND BEFREIUNG VON MENSCHEN THEMA 3: AUTONOMIE - Autonomie der Person und das gute Leben Problemaufriss Eigener, starker, von der Umwelt unabhängiger Wille? Als Person wollen wir handlungsmächtig sein, eigenständig sein. Wir wollen frei sein von äußeren und inneren Zwängen. Es gilt als lobenswert: Jugendlicher, der sich der Macht des Gruppendrucks der Gleichaltrigen widersetzt, die ihn verleiten wollen, Drogen zu nehmen oder gemeinsam Mitschüler zu mobben. Jugendliche, die sich unabhängig macht von der Macht der Kulturindustrie, die uns diktiert, wie wir uns zu kleiden haben, wie wir auszusehen haben und wieviel Gewicht wir auf die Waage zu bringen haben. Jugendlicher, der sich von der Macht der Meinung seines Fußballvereins, seines Freundeskreises und seiner Familie unabhängig macht und öffentlich zu seiner Homosexualität steht. Jugendliche, die sich von der Macht der Meinung ihres Milieus emanzipiert, das ihr sagt, sie solle eine solide Handwerkerin, erfolgreiche Unternehmerin oder aufstrebende Juristin oder Ärztin werden und die sich entscheidet, ein soziales Jahr in Südamerika zu machen, dort Straßenkinder zu helfen, um dann Soziale Arbeit zu studieren. Jugendlicher, der sich erst der »Fridays for Future«-Bewegung anschließt, während alle seine Freunde, an ihre Karriere denken, Praktika machen und ein Studium beginnen, und der dann nach Goa auswandert, dort eine kleine Bar für Touristen eröffnet, aber die meiste Zeit der Meditation und inneren Einkehr widmet. -> Eigener Willen, der stark genug ist, sich gegen Einflüsse von außen zu wehren. Fähigkeit der Selbstreflexion. Beeinflusster Wille? Skepsis gegenüber Personen gegenüber, deren Wille stark von ihrer unmittelbaren Umgebung beeinflusst erscheint. Jugendlicher, der in einer sozial geschlossenen, religiösen Gemeinschaft aufgewachsen ist und dann genau das will, was seine Eltern wollen. Jugendliche, die von ihren Eltern schon früh zur Klavierspielerin ausgebildet wird. Wir sind skeptisch, wenn sie sagt, sie habe Spaß daran und will gar nichts anderes tun, obwohl sie gar nichts anderes kennengelernt hat, nie Fußball gespielt oder Playstation ausprobiert hat. -> Lebensweise gilt nicht als verwerflich, aber als beeinflusst. Pathologischer Wille? Als problematisch gilt, wenn Menschen sich ein Leben wünschen, dass uns als pathologisch, neurotisch und krank erscheint. Z.B.: wenn etwa Kinder in einem Haushalt aufwachsen, in dem so viele Dinge gesammelt werden, dass Außenstehende sie als zwanghafte »Messis« bezeichnen. Wir finden das problematisch auch dann, wenn es in der Wohnung noch hygienisch zugeht, die Kinder absolut zufrieden und glücklich wirken und es völlig in Ordnung finden, ihre Freunde nicht mehr nach Hause einzuladen, weil die Freunde die Wohnung komisch finden. Eigener, starker, schlechter Wille? Als noch problematischer finden wir es, wenn Menschen ein Leben wünschen, das aus offensichtlich schlechten oder trostlosen Tätigkeiten besteht. Z.B.: wenn ein Jugendlicher sich mit anderen Jugendlichen prügelt, schwächere Jugendliche bedroht und einschüchtert, Drogen nimmt, sich prostituiert oder andere in die Prostitution treibt, also sich selbst und andere schädigt, und dann behauptet, dass er das gern tue und es ihm egal sei, ob er in den Knast komme oder an einer Überdosis sterbe. Jugendliche, die sagt, keine Lust mehr auf Schule und auch kein Interesse an einer Ausbildung zu haben und deren Ziel es ist, zukünftige nur noch World of Warcraft zu spielen, Bier zu trinken und so wie ihre Eltern von Harz IV zu leben und die von sich behauptet, sie sei glücklich. Einführung Begriff „Autonomie“ Autonomie bezeichnet Voraussetzung und Ziel von (Sozial-)Pädagogik und Sozialer Arbeit (Schrödter 2011). Notwendigkeit der Subjektwerdung, Personenwerdung und Zielgröße praktischen Handelns insofern Erziehung, Bildung und Lebensbewältigung in der Sozialen Arbeit aus der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Subjektwerdung, Personenwerdung, Menschwerdung begründet werden und Autonomie dafür eine zentrale Rolle spielt. wesentliche Eigenschaft des Menschen, autonom zu sein. Einem Tier sprechen wir das nicht zu, denn es ist instinktgebunden, während der Mensch in seinem Willen frei ist. Autonomie vom altgriechischen autonomía, was – – zusammengesetzt aus autós = ›selbst‹ und nómos = ›Gesetz‹ = »sich selbst Gesetze gebend«. Vorstellung, dass wir unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu führen imstande sind. Entsprechend verstehen wir unter einem autonomen Subjekt eine Person, die sich Meinungen bilden, Wünsche ausbilden, Handlungspläne entwerfen und ihre Handlungen selbst initiieren und verantworten kann. Wünsche sind also nur dann autonom wenn sie aus dem eigenen willen enstanden sind und uns nicht aufhezwungen wurden. Begriff der Autonomie ursprünglich nicht auf Person (hier: erstmals Immanuel Kant), sondern auf den Staat bezogen (griechischen Stadtstaaten) Autonomie = Handlungsmächtigkeit Autonomie und „an Regeln halten“ Der Begriff der Autonomie ist auch in der Demokratietheorie von entscheidender Bedeutung, denn dort geht es ja darum, wie eine Gemeinschaft von Bürger/innen wie eine Kollektivität von Personen sich gemeinsam ein Gesetz gibt und sich daran in ihren kollektiven Entscheidungen binden. Wie kann man das Problem der Autonomie auf Ebene der einzelnen Person auf analoge Weise so modellieren, wie das Problem der Autonomie des demokratischen Staates? demokratische Mehrheitsprinzip bei gleichzeitigem Minderheitenschutz, z.B.: Wenn sich die Bürger*innen etwa darauf geeinigt haben, in einer Pandemie die Strategie des »Containment«, also der Eindämmung zu verfolgen und nicht die Strategie der »Protection«, also des gezielten Schutzes für vulnerable Gruppen bei gleichzeitiger weitestgehender Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens für die nicht-vulnerablen Gruppen (vgl. https://gbdeclaration.org/die- great-barrington-declaration/), dann haben sich alle daran zu halten. Das ist das unstrittige Mehrheitsprinzip. nach Horkheimer kann aber die Befolgung selbst der vernünftigsten Regeln den Einzelnen nicht davor entbinden, sich als Bürger*in zu diesen Regeln in kritisch erwägender Absicht zu verhalten. Es geht hier also um das Verhältnis des Einzelnen zum Staat. Exkurs Jugendbericht 16. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2020a) (Infos dazu: www.dji.de/16_kjb). Ein Redaktionsteam der Jugendpresse Deutschland e.V. hat leicht verständliche Broschüre erstellt. Unter der Kapitelüberschrift »Politische Bildung – was ist das?« schreiben sie: »›Politik ist die Gesamtheit der Aktivitäten und Strukturen, die auf die Herstellung, Durchsetzung und Infragestellung allgemein verbindlicher und öffentlich relevanter Regelungen in und zwischen Gruppierungen abzielt.‹ (16. KJB, S. 106) Klingt kompliziert. Einfacher könnte man sagen: Politik bedeutet, dass wir Menschen gemeinsame Regeln dafür finden, wie wir miteinander leben wollen. An diese Regeln müssen sich dann alle halten« (BMFSFJ 2020b: 8, Herv. M.S.). Bemerkenswert ist, dass das Moment der Kritik, die »Infragestellung«, von der noch in der Definition der Kommission prominent die Rede war, komplett getilgt ist. Von »Infragestellung allgemein verbindlicher und öffentlich relevanter Regelungen« ist nicht mehr die Rede. Es geht nur noch darum, dass wir uns an die Regeln halten sollen. Im Abschnitt zur Bundeswehr wird dagegen hervorgehoben: „Das bedeutet, dass Soldat*innen ihrem Gewissen verpflichtet sind. Das kann im Einzelfall sogar bedeuten, dass sie sich Befehlen widersetzen müssen.« (BMFSFJ 2020b: 64, Herv. M.S.). Horkheimer geht es um den Zusammenhang zwischen Anweisungen, die durch eine d e m o k r a t i s c h l e g i t i m i e r te A u to r i t ä t g e g e b e n we r d e n , e i n e r s e i t s u n d d e r Entscheidungsautonomie des Bürgers, der diese Anweisungen zu befolgen hat und um das Problem allgemeine Problem der Willensbildung in einer aufgeklärten Öffentlichkeit. Und es gibt Hinweise darauf, dass es gegenwärtig an einer solchen aufgeklärten Öffentlichkeit – dem Herz der modernen Demokratie – mangelt. In einer Umfrage vom Mai dieses Jahres stimmten 33% von 200 Virologen der Aussage zu: »Ich sehe die freie Meinungsäußerung in der Wissenschaft aktuell bedroht, da bestimmte Meinungen nicht opportun sind" (Schindler et al. 2020). 10% der Befragten wurden von ihrem Arbeitgeber angehalten, nicht öffentlich zur Corona-Pandemie Stellung zu beziehen. Entsprechend bezeichnet die Kommission des 16. Jugendberichts die Corona-Pandemie und die Strategien zu ihrer Bewältigung als »Stresstest für die offene demokratische Gesellschaft« (BMFSFJ 2020a: 88). Sie befürchtet, dass »Der öffentliche kritische Diskurs über die politischen Strategien zur Verminderung von Infektionsketten [..] zwischen den extremen Polen autoritär-unterwürfig kritikloser Akzeptanz einerseits und verschwörungstheoretisch konnotierter Ablehnung des demokratischen Systems andererseits aufgelöst zu werden« (ebd. 89) droht. Es geht hier in diesen Beispielen also immer wieder um die Grundprobleme des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger und um das Problem widerstreitender Meinungen und wie diese zu einem gemeinsamen Willen und vernünftigen kollektivem Handeln überführt werden können. Modell des souveränen Staates Problem demokratischer Gesellschaften: wie unterschiedliche Einzelinteressen und Einzelmeinungen von Privatpersonen in eine gemeinsam verantwortete, kollektive Entscheidung zum Handeln überführen? Gesellschaften sind in der Regel nicht bloße Ansammlungen von Individuen, sondern sie geben sich meist irgendeine Form von Institution, die der organisierten Vermittlung der Einzelinteressen dient. Dies ist der Staat. Dabei ist strittig, was genau unter »Staat« verstanden werden soll Kollektive Entscheidung Traditionelles, aus den antiken Stadtstaaten stammenden Verständnis: Staat als eine politische Gemeinschaft aller Bürger. Bürger sollen von ihren Einzelinteressen als Privatpersonen abstrahieren und sich als Bürger im politischen Diskurs austauschen. Es wird durch das Volk regiert (republikanisches Modell). Liberales Modell: Staat als Marktplatz auf dem Politiker*innen um die Stimmen der Wähler*innen mit ihren Programmen werben. Es wird nicht durch das Volk regiert, sondern es wir für das Volk regiert (zu dieser Unterscheidung: Ottmann 2006: 318). Unter welchen Bedingungen ist also ein Staat nicht mehr souverän oder autonom? Machtloser Staat: trägt nicht zur Willens- bzw. Kompromissbildung im Spiel zwischen den Einzelinteressen bei. Er lässt einfach zu, was sich zufällig durchsetzt. fremdbestimmter Staat: betreibt Willensbildung. Letztlich wird ihm aber ein Wille aufgezwungen. Modell der personalen Autonomie Autonome Person analog zum souveränen Staat Triebhafte Nicht-Person 25 Fremdbestimmte Person, widerwilliges Handeln Fremdbestimmte Person unter Zwang Selbstbestimmte Person, trotz Zwang 26 Resümee Im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit geht es oftmals weniger um Autonomie, sondern häufig bloß um so etwas wie »Selbstständigkeit«. »Selbständigkeit« und »Verselbständigung« sind also gar nicht so wichtig, wie das im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit manchmal gehandelt wird. Entscheidender ist die Autonomie der Willensbildung – für Sie selbst als Person und für die Adressaten, mit denen Sie es später zu tun haben, aber auch für die demokratische Gesellschaft als Ganze. Nachtrag (aus Video für Thema 4): Personale Autonomie und Moralität: Frankfurts Autonomiebegriff schreibt vor, wie unsere Wünsche geordnet sein sollen, damit wir als „Person“ gelten können. Aber er schreibt nicht vor, was wir uns wünschen sollen. Er ist wertneutral hinsichtlich des Inhalts unserer Wünsche. Wir können als autonom gelten, auch wenn wir uns etwas Schlechtes wünschen. Ist dann dieser Autonomiebegriff für die Soziale Arbeit überhaupt brauchbar? Theoriestrategisch bzw. begriffsstrategisch zwei Möglichkeiten: Entweder Autonomiebegriff an das Gute und Vernünftige binden (wie Immanuel Kant): Dann kann man nur autonom sein, wenn man ungeteilt und von ganzem Herzen das Gute will. Oder Autonomiebegriff wertneutral benutzen (wie Harry Frankfurt), dann brauchen wir aber mindestens noch einen weiteren Begriff, mit dem wir dann unterscheiden können, ob jemand autonom das Gute will oder ob jemand autonom das Schlechte will. Für Kant ist personale Autonomie immer zugleich moralische Autonomie. Autonomie im Sinne der Selbstgesetzgebung heißt hier, dass ich dafür Sorge, dass ich das will, was dem universalen, moralischen Gesetz entspricht. Das universale, moralische Gesetz ist bei Kant im kategorischen Imperativ formuliert, also in der Formel: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Vielleicht ist Frankfurts Autonomiebegriff gerade deshalb in den vergangenen 50 Jahren so erfolgreich, weil er moralisch sparsamer ist (Ohne anmaßende, moralischen „Besserwisser“- Keule). Dezentrierung von Moral in der pluralen, funktional differenzierten Gesellschaft Vielleicht kann eine Soziale Arbeit, die sich – mit Frankfurt – an einen neutralen Begriff von Autonomie orientiert, der modernen Gesellschaft viel besser gerecht werden als eine Soziale Arbeit, die – mit Kant – mit einem moralisch aufgeladenen Begriff von Autonomie operiert? (Werte-)plurale Gesellschaft: In der gegenwärtigen Gesellschaft existieren viele verschiedene moralische Maßstäbe des guten Handelns und guten Lebens und kein einzelner Lebensentwurf kann noch für sich beanspruchen, der einzig gültige zu sein. Gesellschaftliche Zusammenhalt wird nicht mehr durch Werte und Moral gestiftet, sondern durch die Funktionsweise der Funktionssysteme (moralischer Minimalkonsens statt Konsens in großen moralischen Fragen) z.B. moderne Unterscheidung von formalem Recht und moralischer Gerechtigkeit, rechtlicher Legalität und moralischer Legitimität. Diese Unterscheidung kannte man ja so nicht in segmentären Gesellschaften. Wir können im Einzelfall abwägen „ob dem schlechten, dem schädlichen oder ungerechten Gesetze um der Rechtssicherheit willen dennoch Geltung zuzusprechen, oder um seiner Ungerechtigkeit oder Gemeinschädlichkeit willen die Geltung zu versagen sei“ (Radbruch 1945) 28 THEMA 4: GERECHTIGKEIT - Gerechtigkeit und das gute Leben Gerechtigkeit als suum cuique suum cuique: „Jedem das seine“ (Rechtsgrundlage aus der Antike) Gerechtigkeit = Prinzip, nach dem jedem das zukomme, was ihm gebührt. Aufgrund dieses Formalismus kann der Gerechtigkeitsbegriff jeder beliebigen Gesellschaftsordnung zur Rechtfertigung dienen, wobei „das Zukommende“ in jeder Ordnung verschieden ist (vgl. Kelsen 1953, S. 23). Formel: „Gleiches gleich behandeln und Ungleiches ungleich“ Wenn es nur drei Kisten zu verteilen gibt, können ausschließlich bei einer ungleichen Verteilung der Kisten alle Personen gleich gut sehen. Nur wenn die kleine Person zwei, die mittlere Person eine und die große Person gar keine Kiste bekommt, ist der Gerechtigkeit genüge getan. Wir haben dann Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt. Vereinfachung: Angenommen, es geht um 9 Menschen, darunter 4 große Menschen und 5 kleine Menschen: Gerechtigkeit bedeutet: Alle Kleinen bekommen das Gleiche – eine Kiste. Und alle Großen bekommen das Gleiche – keine Kiste, (Gleiches gleich). Kehrseitig bedeutet das: Die Großen und Kleinen werden ungleich behandelt, denn nur die Kleinen bekommen einen Hocker, die Großen nicht (Ungleiches ungleich). Und im Ergebnis bedeutet dies: Alle können gleich gut sehen. Es liegt Ergebnisgleichheit vor. Menschen unterscheiden sich nach unzählig vielen anderen Merkmalen (Einkommen, Aussehen, Körpergröße, Intelligenz, Behinderungsstatuts, Beruf, etc.), die je nach Situation moralisch relevant werden können. Nehmen wir wieder an, es gibt 9 Menschen, davon 4 groß und 5 klein und 4 sind blond und 5 sind rothaarig: Ungerechtigkeit: Gerechtigkeit Ungerechtigkeit läge nun vor, wenn wir die Gerechtigkeit dagegen verlangt, dass jede Person Kisten nach Haarfarbe verteilen. Dann das erhält, was ihr nach einem relevanten würden 2 große Rothaarige einen Hocker nor m a ti ve n Ma ßsta b z u ste ht. We nn wi r bekommen und noch besser sehen können, normativ fordern, dass jede Person in der Lage während 2 kleine Blonde keinen Hocker sein soll, das Baseballspiel gut zu verfolgen, dann bekämen und nichts sehen könnten. ist die Körpergröße, nicht die Haarfarbe die für die Gerechtigkeit relevante Kategorie. Chancengleichheit (fair play) Das Bild-Beispiel unterstellt, es komme auf Ergebnisgleichheit an (dass alle Personen gleich gut sehen können). Ergebnisgleichheit muss aber nicht immer in jeder Hinsicht in allen Situationen das vernünftigste Ziel sein. Kaum jemand würde fordern, dass alle Menschen die gleichen Schulnoten haben sollen oder den gleichen Beruf ausüben sollen. Statt Ergebnisgleichheit streben wir in vielen gesellschaftlichen Bereichen Chancengleichheit an. Allgemein geht es bei dem Prinzip der Chancengleichheit darum, den Individuen zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben die Verantwortung dafür zuzurechnen, was sie im Leben erreicht haben – was auch immer das ist (Dworkin 1981; Roemer 2006). Es macht einen Unterschied, unter welchen Bedingungen Menschen etwas erreichen und nach unserem modernen moralischen Empfinden sollen zumindest bis zu einem gewissen Grad die Chancen ausgeglichen werden, mit denen Menschen in ihr Leben starten. Es geht um Wettbewerb um knappe Güter, z.B.: Schulabschlüsse, Hochschulabschlüsse, gesellschaftliche Statuspositionen wie begehrte Berufe. Es ist gesellschaftlich so vorgesehen, dass diese Güter knapp sind. Insbesondere sozialer Status wird dem Selbstverständnis moderner Gesellschaften nach nicht mehr durch Geburt verteilt: König kann man nur werden qua Geburt. Bundeskanzlerin kann jeder werden durch Wahl. Wir verstehen uns als meritokratische Gesellschaften (lat. meritum = „das Verdienst“). Bestenauslese als legitimer Zweck von Chancengleichheit Chancengleichheit im Wettbewerb um knappe Güter wie im Sport. Individuelle Leistung soll. Wer sich angestrengt hat (also besonders hart trainiert hat und vielleicht auch noch ein gewisses Talent besitzt), soll gewinnen und wer sich weniger angestrengt hat und weniger Talent besitzt, soll verlieren. Es geht um fair play. Prinzip der Chancengleichheit hat einen legitimen Zweck in der Bestenauslese (z.B.: Ärztin, Therapeutin, Sozialpädagoge sollen Job aufgrund von Leistungsfähigkeit bekommen) Paradoxie der Chancengleichheit und: Chancengleichheit als ideologische Legitimation von Ungleichheit Wenn Erreichung von knappen Zielen oder Gütern von Leistung und Talenten der Individuen abhängen soll, nicht jedoch von den Ressourcen, die den Individuen zufällig etwa aus dem Elternhaus zur Verfügung stehen, dann fordern wir Chancengleichheit unter den Teilnehmern. Wir wollen Sieger und Verlierer haben: Gleichstellung der Chancen hat das Ziel, ungleiche Ergebnisse zu rechtfertigen. Die Forderung nach Chancengleichheit hat die Ungleichheit zum Zweck. („Paradoxie der Chancengleichheit“, vgl. Heid 1988). Das Prinzip der Chancengleichheit „rechtfertigt den Sieger (sie haben ihre Chance genutzt) und es versöhnt die Verlierer (sie hatten die gleiche Chance)“ (Heid 1988: 7). Hierarchische Schichtung in der modernen Gesellschaft In der Soziologie gibt es einige Modelle, die zeigen, d a s s a u c h u n s e r e m o d e r n e , fu n k t i o n a l differenzierte Gesellschaft noch immer durch verschiedene Statuspositionen gekennzeichnet ist. D a s „ D a h r e n d o r fs c h e H a u s “ n a c h R a l f Dahrendorf (1965), empirisch überprüft vom Soziologen Heiner Geißler (2014) Unterschiedliche Kapitalausstattungen Es verfügen die Haushalte der oberen Schichten meist über ein Mehr an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital (Bourdieu 1992). Ökonomisches Kapital: sämtliche Ressourcen, über die eine Person verfügt, die unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar sind, also insbesondere Einkommen, Vermögen und Eigentumsrechte. Kulturelles Kapital: die kultur- und bildungsbezogenen Fähigkeiten sowie die Objektivationen von Kultur und Bildung, über die eine Person verfügt. Solche Objektivationen können vorliegen „in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben“ (ebd., S. 185) Soziales Kapital: Damit „ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen [gemeint], die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (ebd., S. 191). Mit der Ausstattung an ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen sind wichtige Bedingungen verbunden, die wir zur Verwirklichung der Fähigkeiten, die uns als Mensch ausmachen, brauchen. Es geht hier um Chancen der Verwirklichung unserer Potentiale. Gesellschaftliche Illusion der Chancengleichheit Übliche Rede von Chancengleichheit kann als gesellschaftliche Illusion, als herrschaftsstabilisierende Ideologie bezeichnet werden: Es geht faktisch um ein Rennen um die Statuspositionen im Dahrendorfschen Haus – bei ungleichen Ausgangspositionen. Mit dem Prinzip der Chancengleichheit versuchen wir das auszugleichen. Formale Merkmale von Chancengleichheit Immer dann, wenn wir das Prinzip der Chancengleichheit anwenden wollen, geht es um die Bestimmung des Zeitpunktes, an dem der „eigentliche“ Wettbewerb beginnt. Vor Beginn des Wettbewerbs gilt es, die Chancen anzugleichen, damit den Individuen nach Beginn des Wettbewerbs die Verantwortung dafür zugerechnet werden kann, was sie aus den Chancen gemacht haben (vgl. Roemer 1998: 2). Wie diese drei Aspekte bestimmt werden, ist stets strittig. Es ist strittig 1. wie der Zeitpunkt zu bestimmen ist, d.h. wann der Beginn des Wettbewerbs anzusetzen ist (etwa: ab Schulbeginn oder nach Schulabschluss, etc.), 2. [Auszugleichende Merkmale] in welcher Hinsicht die Individuen vor Beginn des Wettbewerbs anzugleichen sind, also ob etwa Unterschiede in Talenten wie der Sprachfähigkeit oder Lese-/Rechtschreibschwächen ausgeglichen werden sollen, ob eine unterschiedliche Ausstattung mit ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen ausgeglichen werden soll, usw. 3. [Verantwortungszurechnung für Scheitern] in welchem Maße die Individuen für ihre lebenspraktischen Entscheidungen die Verantwortung zu tragen haben, d.h. in welchem Maße es Absicherungen geben soll, die die Individuen vor unzumutbaren Risiken nach Beginn des Wettbewerbs unterstützen sollen, also wie das Maß der „Unzumutbarkeit“ von zufälligen Lebensrisiken zu bestimmen ist. Unterscheidung zwischen moralisch beliebigen Umständen und selbstverantworteten Handlungen. Umstände sind moralisch beliebig, wenn der Person nicht die Verantwortung für die Handlung zugerechnet werden kann. Unterscheidung zwischen „Verantwortung“ und „Rechenschaft“ (responsibility vs. accountability vgl. Roemer 1998: 17ff.). -> Verantwortung = moralische Zurechnung eine Handlung an eine Person -> Rechenschaft = Inwiefern eine Person für eine Handlung geradestehen muss Normen von Verantwortlichkeit und Rechenschaft sind Gegenstand diskursiver Kämpfe, die in Politik und Alltag ausgetragen werden. (Beispiel Unternehmerin, Junkie) Verteilungsgerechtigkeit (fair share) In dem Maße, in dem wir dann Menschen gesellschaftliche Leistungen zusprechen, einfach damit sie ein würdiges Leben führen können, bewegen wir uns weg vom Maßstab der Chancengleichheit. Denn Chancengleichheit ist ja immer auf die Ausgestaltung gleicher Startbedingungen in einem Wettbewerb bezogen. Der Fokus auf Chancengleichheit kann dann aber schnell dazu führen, Menschen nur noch insofern helfen und fördern zu wollen, als dies zur Angleichung ihre Wettbewerbsposition beiträgt. Gerade Soziale Arbeit beansprucht nicht, lediglich eine Instanz zu sein, die Menschen hilft, sich im Wettbewerb um gesellschaftliche Statuspositionen gut aufzustellen. Soziale Arbeit beansprucht, Menschen auch unabhängig von gesellschaftlichen Statuszuweisungen der Leistungsgesellschaft zu ermächtigen, wie es in der global definition of social work heißt. Befähigungsansatz, Capability Approach Befähigungsansatz, der sogenannte capability approach (von Ökonom: Amartya Sen und Philosophin: Martha Nussbaum entwickelt) stellt die Verwirklichungschancen des Menschen in den Vordergrund und konzipiert Chancengleichheit als Gleichheit zentraler, für wertvoll erachteter Chancen der Verwirklichung von Wohlergehen. Es geht darum Verwirklichungschancen zu verteilen. In diesem Ansatz hat Chancengleichheit einen ganz anderen Zweck als bloß die Vorbereitung auf einen Kampf um Statuspositionen. Chancengleichheit hat hier nicht den äußeren Zweck, die Zuweisung von Statuspositionen zu rechtfertigen. Vielmehr ist Chancengleichheit hier Selbstzweck. Es geht der Sozialen Arbeit weniger um fair play, als um fair share: nicht um die Organisation eines fairen Wettbewerbs um Ressourcen, sondern um die Verteilung eines gerechten Anteils an gesellschaftlicher Ressourcen, die wiederum die Chance für die Verwirklichung eines guten Lebens sind. Soziale Gerechtigkeit als eine von drei Grundformen der Gerechtigkeit Drei Unterformen von Gerechtigkeit (Pieper 1953; zum folgenden siehe einführend auch: Otto/ Schrödter 2009): Die Grundformen der Gerechtigkeit ergeben sich daraus, ob sie die Beziehung zwischen einzelnen Personen oder die Beziehung zwischen der Einzelnen und der Gemeinschaft bezogen sind. In der legalen Gerechtigkeit steht der Gemeinschaft etwas zu, was der Einzelne ihr schuldet, in der zuteilenden Gerechtigkeit steht dem Einzelnen etwas zu, was die Gemeinschaft ihm schuldet und in der Tauschgerechtigkeit steht einem Einzelnen etwas zu, was ein anderer ihm schuldet. Tauschgerechtigkeit: Gläubiger steht zu, dass er das Äquivalent für die Leistung erhält, die er dem Schuldner erbracht hat (direkte Reziprozität). Legale Gerechtigkeit: Es steht der Gemeinschaft etwas zu, was der Einzelne ihr schuldet. Z.B.: Pflicht des Staatsbürgers, sich dem Gesetz zu unterwerfen (vgl. Utz 1987, S. 304). Steuern bezahlen (insbesondere für Reiche!). Verteilungsgerechtigkeit: der zustehende Anteil des Einzelnen an dem, was der Gemeinschaft gehört. Die Feststellung des „Zustehenden“ Tauschgerechtigkeit vollzieht sich die Gerechtigkeit im Modus der Bezahlung, Verteilungsgerechtigkeit im Modus der Zuteilung. Während Tauschgerechtigkeit nach dem Verhältnis der Sachen zueinander fragt (arithmetische Verhältnisgleichheit), bemisst sich Verteilungsgerechtigkeit nicht bloß an den Sachwerten, sondern bezieht auch die persönlichen Verhältnisse und die Eigenschaften der Person mit ein (geometrische Verhältnisgleichheit): „Es gehört zu der Natur der Sache, dass der 'Zuteilende' auf die Person des Empfängers blickt, während der 'Bezahlende' einzig den Sachwert zu bedenken pflegt“ (Pieper 1953, S. 112). Soziale Arbeit und soziale Gerechtigkeit Mit sozialer Gerechtigkeit ist meist die Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf soziale Fragen gemeint. Sie nimmt nicht nur den Einzelnen, sondern zugleich auch das Gemeinwohl in den Blick nimmt (vgl. Utz 1987, S. 312f.). Soziale Arbeit kann als eine Instanz gefasst werden, die dem Einzelnen soziale Gerechtigkeit widerfahren lässt, indem sie wichtige ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen verteilt, die die Menschen befähigen, ein menschenwürdiges Leben zu führen, in dem er seine Potentiale – seine Vermögen – verwirklichen kann. THEMA 5: WOHLERGEHEN - Gerechtigkeit und das gute Leben Rückblick und Problemaufriss Capability Approach als ein Gegenentwurf zu einer Konzeption von Chancengleichheit, die Startchancen in gesellschaftlichen Wettbewerb um Statuspositionen ausgleicht. Capability Approach: Vermittlung individueller Fähigkeiten und Verteilung äußerer Ressourcen zur Aneignung von Vermögen, Wohlergehen zu verwirklichen, das für unser Menschsein wesentlich ist. Wohlergehen. Alternative oder verwandte Ausdrücke: Glück, Glückseligkeit, Glücklichsein, Lebensqualität, das gute Leben oder das gelingende Leben, happiness, wellbeing, quality of life und the good life. capability approach zeigt: Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des guten Lebens gehören zusammen Definition von Sozialer Arbeit der International Federation of Social Workers „Soziale Arbeit wirkt auf Sozialstrukturen und befähigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens angehen und Wohlergehen erreichen können.“ (IFSW 2014). Große Fragen der Philosophie- und Menschheitsgeschichte. Es geht darum, wichtige Unterscheidungen zum Problemkomplex des Wohlergehens bzw. des guten Lebens verfügbar zu haben. Ziel dieser Sitzung: Grundzüge der drei Hauptansätze einer Theorie des guten Lebens kennen sowie die zentralen Erklärungsprobleme, die sich für diese Ansätze stellen. 36 Hauptansätze einer Theorie des guten Lebens: Lusttheorie, Wunschtheorie und Gütertheorie Lusttheorie, Hedonismus (Wohlfühlglück) Ich habe ein gutes Leben in dem Maße, in dem ich Dinge tue oder erfahre, die Spaß machen und Leiden vermeide. -> Lustgewinnung und Unlustvermeidung. Es gilt die Maxime: Liebe, dasjenige Leben, das dir am meisten Lust verspricht. Meine Lustbillanz ist positiv. Bsp: Mein Studium und mein Nebenjob nerven. Aber ich habe interessante Hobbies und hab Spaß mit Freunden, mit denen ich mich oft treffe und das gleicht das aus. In der Summe bin glücklich und habe ein gutes Leben. Wunschtheorie, Präferentialismus (Erfüllungsglück) Ich habe ein gutes Leben in dem Maße, in dem ich Dinge tue oder erfahre, die meinen Präferenzen (Wünsche, Pläne) entsprechen. Es gilt die Maxime: Lebe das Leben, bei denen möglichst viele deiner Wünsche oder Ziele in Erfüllung gehen. Wünsche: bewusste Vorstellung eines befriedigten Zustandes oder eines begehrten Objektes Ziele: Wünsche, die man mit gezielten Bemühungen auch tatsächlich zu erreichen versucht Bsp: Ich engagiere mich für eine gute Sache, (Bsp: Greenpeace), weil mir das wichtig ist. Das ist zwar anstrengend und macht oft keinen Spaß, aber das sind meine Ziele. Nur wenn ich diese Ziele erfülle, habe ich ein gutes Leben. Ich arbeite hart, weil ich später einmal einen Lamborghini fahren möchte. Erst, wenn ich mir diesen Traum erfüllt habe und den Lamborghini habe, bin ich glücklich. Gütertheorie, Eudaimonismus (Werteglück) Ich habe ein gutes Leben in dem Maße, in dem ich Dinge tue oder erfahre, die mit guten Gründen als wertvoll gelten können. Gütern: Gut der Freiheit, der Gesundheit, des Wohlstandes – sind die materiellen und immateriellen Dinge, von denen sich mit guten Gütern behaupten lässt, dass Menschen sie brauchen, weil sie ein gutes Leben ausmachen oder ein solches ermöglichen Bsp: Ich spiele klassische Musik auf dem Cello. Ich höre auch gern Schlagermusik, aber ich versuche das zu minimieren, da das künstlerisch wenig anspruchsvolle Musik ist. Vielleicht gelingt es mir, anspruchsvolle Schlagermusik zu komponieren und ein Genre zu schaffen. Ich pflege meine Großeltern. Das macht mir nicht immer Spaß und ich würde auch viel lieber etwas studieren und Karriere machen. Aber das ist wertvoll, sich um seine Familie zu kümmern. Daher mache ich das. Ich habe ein gutes Leben. 37 Subjektiv - Objektiv SUBJEKTIV OBJEKTIV Lusttheorie / Hedonismus Wunschtheorie Gütertheorie Lust, Freude Wunsch, Ziel Intrinsisch wertvolles Gut Perspektive der 1. Person (ich) Perspektive der 1. Person (ich) Perspektive der 3. Person (er,sie) Hedonistische Theorien und Wunscherfüllungstheorien sind eher subjektiv angelegt und konzipieren das gute Leben aus der Perspektive der betreffenden Person, da es um die subjektiven Bewertungen – die Bewertungen des Subjekts – geht, bezüglich dessen, was dessen Lust befriedigt bzw. was es sich wünscht. Es handelt sich um Theorien, die „das Gutsein eines Lebens von den Einstellungen dessen, der es führt, abhängig machen“ (Steinfath 2011: 300). Dagegen sind Gütertheorien objektiv in dem Sinne, als weniger oder gar nicht auf die Bewertungen oder Einstellungen des fraglichen Subjekts ankommt, was ein Gut ist, sondern darauf, ob es intersubjektiv gültige Gründe gibt, eine Tätigkeit als wertvoll zu betrachten – ob es also Gründe gibt, die nicht nur das betreffende Subjekt, sondern alle vernünftig denkenden Subjekte – oder zumindest eine gewisse Gemeinschaft vernünftiger Subjekte – überzeugend finden. In einem ganz anderen Sinne können aber alle drei Theorien als „objektiv“ – oder genauer: als Theorien mit einem intersubjektiven Gültigkeitsanspruch betrachtet werden: ->Alle drei Theorien geben die Bedingungen an, unter denen eine Person als glücklich anzusehen ist bzw. ihr Leben als gelungen zu gelten hat, nämlich wenn sie Lust maximiert, ihre Wünsche erfüllt oder bestimmte Güter besitzt. Es gibt in der Philosophie keine Theorie des guten Lebens, die behaupten würde, jede beliebige Lebensform könne als ein gutes Leben gelten, solange eine Person dies von ihrem eigenen Leben behauptet. Das wäre ein Plädoyer für völlige Beliebigkeit. Relevanz für die Soziale Arbeit In der Sozialen Arbeit müssen wir oft Menschen Empfehlungen machen, wie sie ihr Leben zu führen haben oder sie aufklären, was falsch in ihrem Leben läuft. Es scheint, dass wir den subjektivistischen Ansätzen der Lust- und Wunschtheorie zufolge zuvörderst die Klient*innen der Sozialen Arbeit selbst fragen müssen, was ihnen Freude bereitet oder was sie sich wünschen. Denn daraus ergibt sich diesen Theorien zufolge das, was wertvoll ist. In subjektivistischen Ansätzen hat etwas einen Wert, insofern es Spaß macht oder gewünscht wird (valuable because desired), in objektivistischen Ansätzen sollten wir uns etwas wünschen oder an etwas Spaß haben, weil es wertvoll ist (desired because valuable) (James Griffin zit. nach: Horn 2017: 205). Kritik an Lusttheorien: Lässt sich ein „gutes Leben“ auf ein „angenehmes Leben“ reduzieren? – das Nozicksche Gedankenexperiment der Erfahrungsmaschine Perfekte Erfahrungsmaschine: -> simuliert jede gewünschte Erfahrung -> programmierbar anhand eigener vergangener Erfahrungen oder eines Erfahrungskatalogs. (einen großartigen Roman schreiben, Freundschaften schließen, Weltreise, etc.) -> Alles fühlt sich »echt« an: es ist nicht erfahrbar, dass man angeschlossen ist. -> Wir können uns auch gemeinsam mit anderen anschließen lassen, niemand muss für andere da sein. Sollten wir uns für den Rest Ihres Lebens anschließen lassen? Sollten wir uns für einen gewissen Zeitraum anschließen lassen und dann die Maschine regelmäßig neu programmieren? Mögliche Argumentation: Wenn »das An der Wenn »das angenehme angenehme Leben« Erfahrungsmaschine Leben« unser Ziel ist, unser oberstes Ziel angeschlossen zu sollten wir uns ist sollten wir das sein, ist angenehmer. anschließen lassen. tun, was am angenehmsten ist. Einwand: Es gibt Gründe gegen den Anschluss (Intuition) Wir wollen nicht Wir wollen Die Erfahrungsmaschine Es gibt mehr, was uns bloß Dinge erleben, jemand sein. (Ein begrenzt uns auf eine wichtig ist im Leben sondern wollen Hirn im Tank zu menschengemachte, als Lusterleben, das Dinge tun (Wir sein ist ziemlich produzierte Realität. Angenehme, wollen die idiotisch) (Auch wenn sie simuliert Glücksgefühle, etc. Erlebnisse von werden kann, so gibt es Das gute Leben ist Dingen, die wir keinen echten Kontakt nicht bloß das getan haben, nicht zu einer ›tieferen angenehme Leben. bloß die Erlebnisse) Realität‹) Kritik an Wunschtheorien: Adaptive Präferenzbildung Empirisches Problem mit subjektivem Wohlergehen als Gerechtigkeitsmetrik: Präferenzen formieren sich häufig unter problematischen, in sich fragwürdigen sozialen Bedingungen (»happy slave«-, »happy housewife«-problem, auch: »heteronome Präferenzen«, »Problem niedriger Ambitionen«, »Anpassung an erlebtes Elend«, »Saure Trauben-Phänomen«) Beispiel für eine Theorie des „intrinsisch wertvollen Gutes“: Aristotelische Tugendethik nach MacIntyre Neben Capability Approach ist Tugendethik von Alasdair MacIntyre einen weiteren einflussreichen aristotelischen Ansatz zur Konzipierung dessen, was ein gutes Leben ausmacht. MacIntyre beansprucht, bewerten zu können, was wertvolle Tätigkeiten sind und vor allem, inwiefern welchen Tätigkeiten welche Art von Wert zukommt. Entsprechend der Alltagsintuition: „Das, was Du da tust, ist es doch nicht wert, als dass man sich damit beschäftigt“. Philosophisches Parade-Beispiel für intuitiv sinnlose, wertlose Tätigkeit: Grashalme-Zählen in nicht meditativer Absicht. Was aber sind wertvolle Tätigkeiten nach MacIntyre? Aristotelische Unterscheidung zwischen Handeln (nach dem Griechischen prâxis) und Herstellen (poïesis). Poiesis: ->Aktivitäten, die wir für deren Wirkung schätzen (Häuser bauen, Autos reparieren, Verwaltung und Führung eines Unternehmens) Praxis: ->Aktivitäten, die wir um ihrer selbst willen schätzen (z.B.: Wissenschaft, Kunst, Politik, Spiele, Sport, Freundschaft, Familie). Unterscheidung zwischen internalen und externalen Gütern: Praxis: strebt nach der Realisierung internaler Güter Herstellen: strebt nach externalen Gütern Internale Güter: Externale Güter: -> sind die Güter, die durch Wissenschaft, -> sind rivalisierende Güter wie Ressourcen, Kunst, Politik, Spiel, Freundschaft und Geld, Macht, Status und Prestige. Je Familie verwirklicht werden, es handelt mehr ich von externalen Gütern habe, sich um Gemeingüter. desto weniger haben andere davon. Ich kann nur einen hohen Status haben, wenn andere einen niedrigen Status haben. Die internalen Gemeingüter der Praxis sind unerschöpflich. Selbst wenn ich mich im Wettkampf oder im Wettstreit mit anderen Praktikern befinde, so profitieren doch alle meine „Kolleg*innen“ von meiner Verwirklichung des Gemeinguts. Je authentischer der Schauspieler seine Rolle realisiert oder je mehr die Fußballspielerin über sich hinauswächst und neue Techniken und vor allem neue Standards guten Fußballs entwickelt, desto mehr gewinnt die Schauspielkunst oder der Fußballsport als solcher. Die Praxis wird gemeinsam dadurch weiterentwickelt, obwohl es selbst dann, wenn es im Wettbewerb oder Wettkampf vollzogen wird. 48 Praxis ist nach MacIntyre (1981: 251) eine sozial etablierte, kooperative, selbstzweckliche Tätigkeit des Strebens nach Wertverwirklichung bei gleichzeitigem Ringen nach Maßstäben der Vollkommenheit dieser Wertverwirklichung. Für die Wertverwirklichung ist der Vollzug der Tätigkeit konstitutiv, d.h. ausschließlich mit dieser Tätigkeit können diese Werte verwirklicht werden und bereits der Vollzug dieser Tätigkeit – nicht erst deren Resultat – verwirklicht diese Werte. Der Weg ist das Ziel! Daher ist selbst das scheiternde Streben schon Wertverwirklichung. Die Künstlerin oder der Fußballer, die oder der an gemeinschaftlich verbürgten Maßstäben von Praxis scheitert, verwirklicht gerade darin den Wert der Kunst oder des Sports, weil noch die Verfehlung ihren Maßstab in einer vielleicht neuen Variante exemplifiziert und verfeinert. interne Güter = intrinsische Güter der Praxis Herstellende Tätigkeiten dagegen sind keine Wertverwirklichung. Deswegen sind sie aber nicht weniger wichtig in unserem Leben. Häuser, Transportmittel und Wirtschaftsunternehmen zu erschaffen und in Betrieb zu halten ist ja nützlich. Aber herstellende Tätigkeiten haben keinen Wert an sich. Sie haben keinen intrinsischen Wert. Die Tätigkeiten sind austauschbar. Wir würden auf die Ausführung bestimmter Tätigkeiten verzichten, wenn es andere, eben effektivere Möglichkeiten gäbe, an Ressourcen, Geld, Macht, Status und Prestige heranzukommen. keinen Wert an sich, sondern Nutzen für andere; haben keinen intrinsischen Wert, haben nur ihren Nutzen für etwas Herstellung zielt auf Effektivität, nicht – wie Handeln – auf Exzellenz (MacIntyre 1988: 32). Wir versuchen ständig, diese Tätigkeiten effektiver zu machen, um mit weniger Aufwand bessere Häuser, zuverlässigere Autos und ertragreichere Unternehmen herzustellen. Praxen dagegen haben einen intrinsischen Wert. Wir schätzen ihre Güter nicht nur äußerer Zwecke willen, sondern auch und vor allem um ihrer selbst willen. Der Vollzug von Praxis ermöglicht die Ausbildung und Verfeinerung bestimmter personaler Vermögen, die wir als Vervollkommnung des Menschseins schätzen – das ist das was den Menschen auszeichnet. Wir nennen diese Vermögen „Tugenden“ (MacIntyre 1994: 289, 284) – zu erwähnen sind hier insbesondere die Kardinaltugenden der Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung (Pieper 1964; MacIntyre 2016). 41 Aus Gütertheorien folgt nicht, dass jemand eine bestimmte, als wertvoll ausgezeichnete Tätigkeit in sein Leben integrieren soll. Es folgt aber, dass es der Wunsch eines jeden Menschen sein sollte, daran Gefallen zu haben, irgendwelche intrinsisch wertvollen Tätigkeiten in seinem Leben in den Vordergrund zu rücken und dass es das Ziel einer gerechten Gesellschaft sein sollte, Menschen darin zu befähigen und durch Verteilung von Ressourcen zu ermächtigen, dass sie ein Leben führen können, in dem wertvolle Tätigkeiten eine große Rolle spielen. Denn nur dann verdient dieser Auffassung zufolge ihr Leben das Prädikat, ein gutes Leben zu sein. Resümee Für ein gutes Leben brauchen wir alle drei Aspekte: authentische Freuden, autonome Wünsche und wertvolle Güter. In der Sozialen Arbeit benötigen wir eine Vorstellung von den subjektiven und objektiven Aspekten des guten Lebens: Um ein gutes Leben handelt es sich erst dann „wenn subjektive Anziehung mit objektiver Attraktivität zusammentrifft.“ Mit anderen Worten: wir brauchen vielleicht hin und wieder (lustvolles) Empfindungsglück im Augenblick. Manchmal, aber nicht immer mag sich dieses Empfindungsglück auch in den Lebensprojekten (Betzler 2012) einstellen, die wir verfolgen. Von diesen Lebensprojekten erwarten wir vor allem Erfüllungsglück. Wir wollen im Großen und Ganzen erfüllt sein von den Dingen, die wir tun und die uns widerfahren – und zwar von Dingen, die es wert sind, davon erfüllt zu sein. Es benötigt für das gute Leben alle drei Aspekte, die authentischen Freuden, autonome Wünsche und wertvolle Güter. Innerhalb der Sozialen Arbeit benötigen wir eine Vorstellung von den subjektiven und objektiven Aspekten des guten Lebens. 42 BLOCK 3: DEMORKRATISCHE PARTIZIPATION UND PROFESSIONELLE STELLVERTRETUNG THEMA 6: LEBENSWELTORIENTIERUNG - Partizipation und Dialog Einleitung Um „ewige“ Grundprobleme der Sozialen Arbeit zu durchdenken, benötigen wir viele wissenschaftliche Disziplinen häufig gibt es Theoriemoden mit führenden Theoretiker:innen. Früher hat man Marx und Adorno – dann Habermas, Foucault, Butler und Bourdieu gelesen, heute liest man etwa Bruno Latour, Alain Badiou, Hartmut Rosa und Martha Nussbaum – um nur einige zu nennen. Aber: Grundprobleme der Sozialen Arbeit bleiben gleich. Wir versuchen lediglich, sie vor dem Hintergrund neuer gesellschaftlicher Bedingungen immer wieder neu zu verstehen. In dieser Sitzung steht das Paradigma der Lebensweltorientierung im Vordergrund. Gilt als einflussreichste theoretische Strömung im deutschsprachigen Fachdiskurs der Sozialen Arbeit. Es gibt es auch die Auffassung, dass es sich dabei gar nicht um eine Theorie handele, sondern bloß um einen „Ansatz“, der in der Praxis Handlungsorientierung zu geben vermag. Dabei zehrt der Ansatz stark von Philosophie der Lebenswelt und der Soziologie des Alltags etwa von Alfred Schütz und Henri Lefebvre. Worauf antwortet Ansatz der Lebensweltorientierung? Für welches Grundproblem ist er eine Lösung? Meines Erachtens: Antwort auf das Problem des Paternalismus. Paternalismus ist nicht „Bevormundung“ Das Wort „Paternalismus“ zunehmend auch in der deutschen Alltagssprache gebräuchlich, insbesondere in der Corona-Krise (Münch 2021) und hier besonders in der Impflicht-Diskussion, die zeigt: ein und dieselbe Maßnahme kann unterschiedlich begründet werden, hier: entweder paternalistisch – also gegen den Willen und zugleich zum Wohl der Betroffenen – oder auch nicht-paternalistisch – also zugunsten anderer Zwecke (vgl. Boehme-Neßler 2022). Problemaufriss: das Paternalismusproblem in der Sozialen Arbeit Paternalismus bezeichnet: „die Einmischung eines Staates oder einer Einzelperson in die Belange einer anderen Person gegen deren Willen, die mit der Behauptung verteidigt oder begründet wird, dass die Person durch den Eingriff bessergestellt oder vor

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