Klientenzentrierte Gesprächsführung für Heilpädagogen PDF

Summary

Dieses Dokument beschreibt das klientenzentrierte Konzept in der Gesprächsführung, basierend auf den Arbeiten von Carl Rogers. Es erläutert die historische Entwicklung, die theoretischen Grundlagen sowie die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der Methode. Die zentralen Konzepte wie Kongruenz, bedingungslose Wertschätzung und empathisches Verstehen werden detailliert erklärt.

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Kapitel 1 Das klientenzentrierte Konzept Lernziele Aussagen identifizieren können, die eine wesentliche These von Rogers’ Persönlichkeitstheorie beinhalten. Angeben können, wie nach Rogers Angst- und Verteidigungshaltungen geändert werden können. 1.1 Geschichtlicher Überblick 1.1.1 C. R. R...

Kapitel 1 Das klientenzentrierte Konzept Lernziele Aussagen identifizieren können, die eine wesentliche These von Rogers’ Persönlichkeitstheorie beinhalten. Angeben können, wie nach Rogers Angst- und Verteidigungshaltungen geändert werden können. 1.1 Geschichtlicher Überblick 1.1.1 C. R. Rogers: Fragestellung und Forschung Das klientenzentrierte Konzept geht auf den amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers (1902–1987) zurück, der diesen Ansatz ab 1942 in den USA entwickelte. Rogers beschäftigte sich philosophisch eingehend mit dem Existentialismus, speziell mit den Schriften des dänischen Philosophen Sö- ren Kierkegaard. Wichtig wurde für ihn ebenso der jüdische Religionsphilo- soph Martin Buber mit seinen Schriften zur Bedeutung der Begegnung, der Beziehung vom „Ich und Du“ (Buber 1923/1995). Im Feld der Psychothera- pie war in den USA Otto Rank einer der Ersten, der, von der Psychoanalyse herkommend, den Beziehungsaspekt in der psychotherapeutischen Arbeit hervorhob und Rogers dahingehend beeinflusste. Rogers berichtet von einem für ihn wichtigen Schlüsselerlebnis: Er arbei- tete als Psychologe in einem Institut, das verhaltensauffällige Kinder behan- delte. Er war in diesem Rahmen für die begleitende Beratung der Eltern zu- ständig. Eines Tages hatte er ein Gespräch mit einer intelligenten Mutter ei- nes sehr verhaltensauffälligen Kindes. Der Grund für die Schwierigkeiten des Jungen lag nach Auffassung Rogers darin, dass die Mutter ihren Sohn schon sehr früh abgelehnt hatte. In mehreren Gesprächen versuchte Rogers der Mutter dies einsichtig zu machen. Ohne Erfolg, die Gespräche blieben trotz all seiner Bemühungen an der Oberfläche. Schließlich resignierte Ro- gers: 19 „Ich erklärte ihr, dass es so aussähe, als hätten wir beide alles versucht, doch letztlich versagt, und dass wir genauso gut unsere Treffen aufgeben könnten. Sie stimmte zu und so beendeten wir das Gespräch; wir schüttel- ten uns die Hände und sie ging zur Sprechzimmertür. Dort drehte sie sich um und fragte: „Nehmen Sie auch Erwachsene zur Beratung an?“ Als ich zustimmte, sagte sie: „Also, ich brauche Hilfe.“ Sie kehrte zu dem Stuhl zurück, den sie eben verlassen hatte und begann, eruptiv die Verzweiflung über ihre Ehe, das gestörte Verhältnis zum Ehemann, das Gefühl des Ver- sagens und der Verwirrung mitzuteilen – alles ganz anders, als die ‚sterile Fallgeschichte‛, die sie früher vorgebracht hatte. Die wirkliche Therapie setz- te in diesem Moment ein und führte schließlich zum Erfolg“ (1961, S. 27). Für Rogers war dies eine wichtige Erfahrung, die ihm deutlich machte, dass die Klientin die ganze Zeit weiß „wo der Schuh drückt, welche Richtung einzuschlagen, welche Probleme entscheidend, welche Erfahrungen tief be- graben gewesen sind. Langsam merkte ich, dass, wenn ich es nicht nötig hät- te, meine Cleverness und Gelehrsamkeit zu demonstrieren, ich besser daran täte, mich auf den Klienten zu verlassen, was die Richtung des Prozessab- laufs anging“ (1961, S. 28). In den folgenden Jahren und Jahrzehnten beschäftigte Rogers sich inten- sivst mit der Frage: Welche Bedingungen sind es, die dazu führen, dass eine Person von sich aus über ihr Erleben spricht, sich dabei besser verstehen lernt und schließlich zu Einstellungs- und Verhaltensänderung gelangt? In einem ersten großen Forschungsprojekt, dem viele weitere folgen sollten, nahm Rogers die Gespräche von hunderten von Therapeuten und Klienten auf und analysierte sie anonymisiert nach dieser Fragestellung. Rogers schreibt zu dieser Zeit: „Etwas später verhalf mir eine Sozialarbeiterin, die eine Ausbildung im Rankschen Therapieansatz hatte, zu der Erkenntnis, dass der wirksamste Zugang zum Klienten darin bestand, auf die Gefühle, die Gemütsbewe- gungen zu lauschen, deren Grundmuster durch die Worte des Klienten erkannt werden konnten. Ich glaube, sie war diejenige, die darauf hin- wies, dass die beste Reaktion die war, diese Gefühle dem Klienten wider- zuspiegeln – ,widerspiegeln‘ wurde mit der Zeit ein Wort, das mich dazu brachte, den Kopf einzuziehen. Aber zu jener Zeit brachte es meine Ar- beit als Therapeut voran, und ich war dankbar dafür. Dann erfolgte mein Übergang zu einer vollen Universitätsstelle, wo ich mit der Hilfe von Studenten schließlich an die Apparaturen herankommen konnte, um unsere Interviews auf Tonband aufzunehmen. Nicht genug hervorheben kann ich die Aufregung unserer ersten Erfahrungen, als wir uns um die Apparatur drängten, die es uns ermöglichte, uns selbst zuzu- hören; wir spielten eine problematische Stelle, an der das Interview offen- 20 sichtlich falsch lief, oder die Szenen, in denen der Klient offensichtlich weiterkam, immer wieder ab (ich betrachte dies immer noch als den bes- ten Weg, wie man lernen kann, sich als Therapeut zu verbessern). Im Lau- fe vieler Stunden erkannten wir allmählich, dass das Horchen auf die Ge- fühle und das ‚Widerspiegeln‘ dieser Gefühle ein ungemein komplexer Prozess war. Wir entdeckten, dass wir exakt feststellen konnten, welche Therapeutenäußerung bewirkte, dass ein ergiebiger Strom von bedeutsa- men Ausdrucksgehalten oberflächlich und unergiebig wurde. Ebenso konnten wir die Bemerkung ausmachen, die die träge und zusammen- hanglose Rede eines Klienten in eine konzentrierte Selbstexploration um- schlagen ließ.“ Dieses wissenschaftliche Herangehen an das zwischenmenschliche Gesche- hen trug Rogers in einer Zeit, in der die Psychoanalyse noch absolut domi- nierte und Psychotherapie nur hinter „verschlossenen Türen“ stattfand, viel Kritik und Empörung ein. Davon unbeeindruckt versuchte er, „die Ord- nung zu entdecken, die in unseren Erfahrungen bei der Arbeit mit Menschen besteht“ (1959/deutsch 1991, S. 12). Rogers leitete so eine umfassende empiri- sche Fundierung der klientenzentrierten Vorgehensweise ein, im Laufe derer die wesentlichen Variablen der therapeutischen oder beratenden Beziehung abstrahiert und operationalisiert wurden. Die klientenzentrierte Beziehung wurde durch Tonbandaufnahmen transparenter und durch die Konstrukti- on spezifischer Skalen lernbar und überprüfbar gemacht. Mit seinen Forschungsarbeiten fand Rogers heraus, dass diese Verände- rungsprozesse in Kraft gesetzt werden können, wenn es gelingt, eine definierte Beziehung herzustellen. Mit dieser sehr radikalen Ansicht, dass die Art der Beziehungsgestaltung der entscheidende Wirkfaktor für Veränderungen ist und nicht die angewandten Methoden, stand Rogers bzw. der Klienten- zentrierte Ansatz sehr allein da, bis die neuere Psychotherapieforschung über 50 Jahre später genau dies bestätigte (Orlinsky et al. 2004, S. 323). Für die Art der Beziehungsgestaltung formulierte Rogers sechs Bedin- gungen, die erfüllt sein müssen, wenn eine konstruktive Persönlichkeitsver- änderung erfolgen soll (Rogers 1959/1991): 1. Zwei Personen befinden sich in Kontakt. Dies bedeutet, dass sich Veränderung innerhalb einer Beziehung abspielt. 2. Die eine Person, der Klient, ist im Zustand der Inkongruenz, ist verletzlich oder voller Angst. Inkongruenz bedeutet, dass die Person aktuelle Erfahrungen nicht in ihr Selbstbild integrieren kann, sie werden gänzlich abgewehrt oder verzerrt wahrgenommen. Dies wird in Kapitel 1.1.3 noch näher erläutert. 3. Die zweite Person, der Berater/Therapeut, ist in der Beziehung kongruent. Der Berater/Therapeut tritt dem Klienten als Person gegenüber. Als Per- 21 son, die offen ist für ihr eigenes Erleben und die sich nicht hinter einer Rolle „versteckt“ (Echtheit / Kongruenz). 4. Der Berater empfindet dem Klienten gegenüber bedingungslose positive Be- achtung. Der Berater achtet den Klienten als Person. Er bemüht sich, sein Gegen- über so anzunehmen, wie dieser ist, ohne sein Verhalten/Aussehen etc. an seinen eigenen Bewertungsbedingungen zu messen. Damit muss der Berater die Handlungen der jeweiligen Person nicht gutheißen, dies än- dert aber nichts an der Haltung, die der Berater der Person gegenüber einnimmt (Unbedingte Wertschätzung). 5. Der Berater erfährt im empathischen Verstehen den inneren Bezugsrahmen des Klienten. Der Berater nimmt die Welt aus der Sicht des Gegenübers wahr, ver- sucht die subjektive Wirklichkeit der Person zu verstehen, sich in diese einzufühlen (Empathisches Verstehen). 6. Der Klient nimmt zumindest in geringem Ausmaße die Bedingungen Nr. 4 und Nr. 5 wahr, nämlich die bedingungslose positive Beachtung des Bera- ters und das empathische Verstehen des Beraters. Der Klient nimmt zumindest in Ansätzen die bedingungslose Beachtung bzw. unbedingte Wertschätzung und das empathische Verstehen war. Dies ist zum Beispiel nicht der Fall, wenn der Betreffende unter Drogen steht oder in einem psychotischen Zustand ist. Gelingt es, in dem Kontakt eine Beziehung herzustellen, die auf Seiten der beratenden Person durch „Kongruenz (Authentizität)“, „Unbedingte Wert- schätzung“ und „Empathischen Verstehen“ gekennzeichnet ist und wird dieses Beziehungsangebot vom Klienten zumindest in Ansätzen wahrge- nommen, so führt dies auf Seiten des Klienten zur Selbstexploration. Damit ist gemeint, dass der Klient sich seinen emotionalen Einstellungen, Bewer- tungen, Wünschen und Zielen zuwendet, sich schrittweise über diese klarer wird oder sich um Klärung bemüht. Er entwickelt aus sich heraus eine an- dere Sichtweise der Dinge, ganz ähnlich, wie sich beim Betrachten einer so genannten Kippfigur auf einmal das Bild völlig ändern kann - ohne dass et- was hinzugefügt oder weggenommen wurde. 1.1.2 Zu den Begriffen „nicht-direktiv“ – „klientenzentriert“ – „personzentriert“ Rogers Arbeiten lassen sich insgesamt in drei Phasen aufteilen: Als Erstes die nicht-direktive Phase, in der er sich dagegen ausspricht, dem Klienten Ratschläge, Ermahnungen, Erklärungen und Interpretationen 22 zu geben. Rogers stellt nicht das Problem und wie es zu lösen ist in den Mit- telpunkt seiner Aufmerksamkeit, sondern den Klienten als einmaliges Indi- viduum, das prinzipiell die Fähigkeit in sich hat, im Rahmen eines speziellen Beziehungsangebotes zu einem besseren Verständnis seiner selbst zu kom- men und daraus folgend Einstellungs- und Verhaltensänderungen vorzu- nehmen. Diese Phase ist in dem 1942 erschienenen Buch „Counseling and Psychotherapy“, deutsch „ Die nicht-direktive Beratung“ dokumentiert. In den darauf folgenden Jahren ging es Rogers darum, die von ihm auf- gestellten Hypothesen zu den grundlegenden Bedingungen, die erfolgreiche Einstellungs- und Verhaltensänderungen ermöglichen, bei Klienten empi- risch zu untersuchen, die gefundenen Variablen zu operationalisieren und Wirkung und Anwendungsbereiche des neuen Verfahrens darzustellen. Da er bereits erfahren hatte, dass das Wort „nicht-direktiv“ das Missverständnis nahe legt, dies bedeute ‚nicht aktiv‘ zu sein, nannte er seinen Ansatz „client- centered“, deutsch „klientenzentriert“. Dieser Ausdruck charakterisierte das Neue: auf den Klienten und sein Potential zentriert sein. Während dieser klientenzentrierten Phase erschien auch Rogers zusammenfassende theoreti- sche Darstellung seines Ansatzes (Theorie der Psychotherapie, der Persön- lichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen, 1959/deutsch 1991). In den 1970er Jahren ging es Rogers dann mehr und mehr darum, nicht nur Klienten, seien es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene durch ein struk- turiertes Beziehungsangebot zu unterstützen, sondern seinen Ansatz auf Men- schen in den verschiedensten Lebensbereichen auszuweiten, um das ihnen innewohnende Wachstumspotential zum Ausdruck bringen zu können. Kennzeichnend für diese letzte personzentrierte Phase ist das 1977 erschienene Buch „On personal power – Inner strength and its revolutionary impact“ , das im deutschen (1982) mit „Die Kraft des Guten“ übersetzt wurde und „A way of being“, deutsch „Der neue Mensch“ (2012). Mit dem Begriff „person- centered“ sollte darüber hinaus zum Ausdruck gebracht werden, dass die Per- son als Mensch im Mittelpunkt steht und nicht in ihrer Funktion als Klientin. Im Folgenden wird immer dann der Begriff „klientenzentriert“ durch „per- sonzentriert“ ersetzt, wenn es nicht speziell um Klienten geht, sondern über- geordnet um Personen, z. B. der personzentrierte Ansatz in der Erziehung. Rogers Ansatz versteht sich als phänomenologische Position. Dieser Aus- druck aus der Philosophie bedeutet, dass vorurteilsfrei von den Dingen (Phänomenen) an sich ausgegangen wird. Im vorliegenden Kontext heißt das, dass die Äußerungen des Klienten in Bezug auf seine subjektive Wahr- heit hin angenommen und akzeptiert werden. 23 Weiterführende Literatur Mehr über die Entwicklung des klientenzentrierten Konzepts finden Sie in den Büchern von Rogers: „Die nicht-direktive Beratung“ (1985), „Therapeut und Klient“ (2010) und „Der neue Mensch“ (2012). 1.1.3 Menschenbild und Persönlichkeitstheorie Rogers gehört mit seinem Persönlichkeitskonzept zu den Begründern der so genannten Humanistischen Psychologie. Diese, neben der Psychoanalyse und dem Behaviorismus als „Dritte Kraft“ bezeichnete Richtung, betont das jedem Menschen innewohnende Bedürfnis nach konstruktiver Veränderung und Selbstverwirklichung. Ausgehend von einer phänomenologischen Ori- entierung sieht sie den Menschen in seiner Einzigartigkeit und betont seine Fähigkeit, zu wählen und sich zu entscheiden. Diese Orientierung an den Ressourcen des Individuums – Grawe/Grawe-Gerber (1999) bezeichnen dies als „primäres Wirkprinzip der Psychotherapie“ – teilt das klienten- zentrierte Konzept mit anderen Verfahren der humanistischen Psychologie wie z.B. der Gestalttherapie, der Hypnotherapie und der themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn. Rogers Persönlichkeitskonzept bezieht sich ausdrücklich nicht nur auf die Psychotherapie, sondern es ist eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen (Rogers 1959/1991). Zentrale Begriffe in Rogers Persönlichkeitstheorie sind die Aktualisierungstendenz und die Inkongruenz, die im Folgenden näher er- läutert werden. Aktualisierungstendenz Die Aktualisierungstendenz ist die grundsätzliche Fähigkeit des Organismus, sich selbst zu erhalten und sich weiterzuentwickeln. Rogers bezeichnet sie als „die dem Organismus innewohnende Tendenz zur Entwicklung all sei- ner Möglichkeiten; und zwar so, dass sie der Erhaltung oder Förderung des Organismus dienen“ (Rogers 1991, S. 21). Mit Organismus ist dabei die psychische und physische Ganzheit/ Einheit des Menschen gemeint. Diese Aktualisierungstendenz ist das grundlegende Axiom des klienten- zentrierten bzw. personzentrierten Ansatzes. Die klientenzentrierte Vorge- hensweise ist demzufolge darauf ausgerichtet, diese jedem Menschen inne- wohnende Kraft zu unterstützen. Dabei geht es um weit mehr als um das Vorhanden-Sein von Selbstheilungskräften oder die Darstellung von einem Motivationskonzept. Mit der Aktualisierungstendenz beschreibt Rogers 24 vielmehr ein Entwicklungsprinzip: eine richtungsgebende Kraft im Men- schen, sein in ihm liegendes Potential zu entwickeln. Es geht um Wachstum, um die „Suche nach freudvoller Spannung, Tendenz zur Kreativität, Ten- denz, mühsam Gehen zu lernen, wo doch Krabbeln müheloser zur selben Bedürfnisbefriedigung führen würde“ (Rogers 1991, S. 22). Die Aktualisierungstendenz bewertet Erfahrungen danach, ob sie für den Organismus als Ganzem erhaltend oder fördernd sind oder ob sie die Erhal- tung oder Förderung hemmen. Dieser organismische Bewertungsprozess findet auf den verschiedensten Ebenen statt, z.B. wenn das Baby hungrig ist, schreit es (= Hungergefühl als ungute organismische Erfahrung), wenn es gefüttert wurde, ist es zufrieden (Sättigung als positive organismische Erfahrung). So werden positive und negative Erfahrungen ins Bewusstsein aufgenommen. Dies geschieht in der vorsprachlichen Zeit durch Körperempfindungen und später zusätzlich durch Sprache: „ich fühle mich gut; ich bin traurig“. Für die- ses Wahrnehmen einer Erfahrung – nebst der damit zusammenhängenden Bewertung– gebraucht Rogers die Ausdrücke „Gewahrwerdung“ oder „Sym- bolisierung“. Es ist das, was im Focusing (Wiltschko 2002, Wiltschko/Gendlin 2007, Gendlin 1998) ein „felt shift“, eine „gefühlte Bedeutung“ genannt wird. Diesen Symbolisierungsprozess können Sie erkennen, wenn Sie zum Bei- spiel einen Satz oder eine Beschreibung hören, die genau auf Sie zutrifft. Es ist dieses Gefühl von „Das ist es!“, welches immer auch von einer körperlich spürbaren Erleichterung begleitet ist (vgl. Biermann-Ratjen 2002, Wiltschko 1995, Wiltschko 2011). Abb. 1: Zusammenhang zwischen Aktualisierungstendenz und Selbstaktualisierungstendenz (Weinberger/Papastefanou 2008). 25 Mit zunehmender Entwicklung des Selbst, als einer psychischen Struktur, entwickelt sich als Teil der Aktualisierungstendenz eine Tendenz zur Selbstak- tualisierung. Diese Tendenz sorgt für die Erhaltung des sich bildenden Selbst- konzeptes: Erfahrungen werden nun danach bewertet, ob sie für den Orga- nismus als Ganzen förderlich sind und ob sie für das Selbstkonzept förderlich sind. So findet neben dem geschilderten organismischen Bewertungsprozess auch immer eine Bewertung durch die menschlichen Beziehungen statt, in die das Kind „eingebettet“ ist. Die Abbildung 1 soll dies verdeutlichen. Die zwischenmenschliche Beziehung ist für die Entwicklung des Selbst- konzepts grundlegend. Nach Rogers hängt die gesunde psychische Entwick- lung des Kindes davon ab, dass es in seinem Erleben bestimmte förderliche Entwicklungsbedingungen vorfindet. Dies sind die bereits erwähnten Merkmale „Empathisches Verstehen“, „Unbedingte Wertschätzung“ und „Kongruenz“ der Bezugsperson. Dabei ist die unbedingte Wertschätzung von besonderer Bedeutung, da die Entstehung des Selbst mit dem zentralen Bedürfnis nach unbedingter Wertschätzung verbunden ist. Dieses Bedürfnis führt dazu, dass sich das heranwachsende Individuum mehr nach dem rich- tet, was von seinen Bezugspersonen als „richtig“ und „gut“ bewertet wird, als nach seinem organismischen Bewertungsprozess. So entstehen unendlich viele Prägungen, geformt durch die „bewertende Brille“ des Erwachsenen, statt durch die eigene organismische Bewertungstendenz. Diese Erfahrun- gen werden in dem sich bildenden Konzept vom Selbst integriert. Beispiel: Ein Kind hat sich wehgetan und ist nahe daran zu weinen (orga- nismische Bewertung durch die Aktualisierungstendenz). Da das Kind aber gleichzeitig spürt, dass der daneben stehende Vater dies missbilligen würde, schluckt das Kind die auftretenden Tränen herunter und macht ein fröhli- ches Gesicht, was ausdrücken soll: das hat mir gar nichts ausgemacht (Be- wertung des Erlebens durch die Selbstaktualisierungstendenz). Durch wie- derholende Erfahrungen dieser Art entwickelt sich das Selbstbild heraus: mir machen Schmerzen nichts aus. Der Erhaltung des Selbstkonzeptes wird Vorrang eingeräumt vor der Entfaltung des Organismus. Die Selbstaktuali- sierung, die das Selbstkonzept – ich bin keine Heulsuse – erhält, bewirkt, dass die Erfahrung des Schmerzes verleugnet wird: „Es hat gar nicht wehge- tan“, oder verzerrt symbolisiert wird: „Es macht mir gar nichts aus.“ Die Bindungsforschung (Grossmann/Grossmann 1994; Spangler/Zim- mermann 2011) hat eindrücklich gezeigt, wie perfekt bereits Kinder von ei- nem Jahr ihre Gefühle unterdrücken können. Die eigenen Bedürfnisse wer- den so mit der Zeit immer weniger wahrgenommen, stattdessen identifiziert sich das Kind mehr und mehr mit den Wünschen und Bedürfnissen der Be- zugspersonen. Rogers schreibt dazu: „ Dies ist aus unserer Sicht die grund- 26 legende Entfremdung im Menschen. Er ist nicht er selbst; er ist seinen na- türlichen organismischen Bewertungen der Erfahrungen untreu. Nur um sich die positive Beachtung der anderen zu erhalten, verfälscht er einige wertvolle Erfahrungen und nimmt sie lediglich auf der Ebene der Bewer- tungen anderer wahr. Jedoch ist dies keine bewusste Entscheidung, sondern eine natürliche, ja tragische Entwicklung während der Kindheit. Der Weg der Entwicklung Richtung psychischer Reife, der Weg der Therapie, besteht in der Aufhebung dieser Entfremdung des menschlichen Handelns, der Auf- lösung der Bewertungsbedingungen, der Erreichung eines Selbst, welches in Übereinstimmung mit der Erfahrung ist, die Wiederherstellung eines ein- heitlichen organismischen Bewertungsprozesses als dem Regulator des Ver- haltens“ (1991, S. 52). Im Idealfall fallen Aktualisierungstendenz und Selbstaktualisierungsten- denz zusammen, d.h., der Mensch kann das, was gut für seinen Organismus ist, auch in sein Selbstkonzept integrieren. Das ist dann die „fully function- ing person“, damit ist eine Person gemeint, die alle Erfahrungen – positive wie negative – vollständig wahr- und annehmen kann. z.B.: „Ich mache Feh- ler“, „Ich könnte vor Wut jemanden umbringen“, „Ich habe Angst“, „Ich bin sozial sehr geschickt“, „Ich bin manchmal feige“ etc. Sind nun alle Bewertungen schlecht? Jaede (2002) macht darauf aufmerk- sam, dass die Bewertungen der Bezugspersonen nicht notwendigerweise zu einer pathologischen Entwicklung führen müssen. Im Gegenteil, diese Bewer- tungsprozesse stellen notwendige Entwicklungsbedingungen dar, die das Kind für seine Orientierung – etwa im Rahmen der moralischen Entwicklung – be- nötigt. „Wertebedingungen“, wie Jaede es formuliert, werden „dann kritisch, wenn der eigene Bezugsrahmen des Kindes grundsätzlich in Frage gestellt wird und eigene Erfahrungen und Wahrnehmungen des Kindes als Bewer- tungsgrundlage auf Dauer ausgeklammert werden“ (ebenda, S. 139). Mrochen (2002) beschäftigt sich mit dem Spannungsfeld zwischen er- zieherischen Bewertungsprozessen im Dienste der Entwicklung von Selbst- bewusstsein und Leistungswillen und dem im personzentrierten Ansatz formulierten Grundbedürfnis des Menschen nach Akzeptanz, nach nicht an Bedingungen gebundener Annahme. Er stellt die negativen Auswirkungen elterlicher Bewertungsprozesse auf das Selbstwertgefühl des Kindes dar und zeigt den mühevollen Prozess, den es zu durchlaufen gilt, bis sich „Inseln der Selbstbewertung“ aufzubauen beginnen. Inkongruenz Macht eine Person Erfahrungen, die nicht mit dem Selbstbild übereinstim- men, so entsteht ein Zustand von Inkongruenz. Inkongruenz ist die Unver- 27 einbarkeit der zwei Tendenzen: dem organismischen Erleben einerseits und dem Selbstkonzept andererseits. Oder anders ausgedrückt: Inkongruenz ent- steht aus der Diskrepanz zwischen der Aktualisierungstendenz (Erleben wird mit dem gesamten Organismus gespürt und bewertet) und der Selbstaktuali- sierungstendenz (Erleben wird mit den Augen der bedeutsamsten Bezugsper- sonen bewertet). Aus dieser Unvereinbarkeit resultieren Spannungen, die die Person löst, indem es die Erfahrungen entweder verzerrt , d.h., verfälscht, wahrnimmt oder ganz verleugnet, wie bereits beschrieben wurde. Beispiel: Ein Kind, das immer nur gute Noten schreibt, erhält in der Schule eine schlechte Probe zurück. Da es diese schlechte Leistung nicht in sein Selbstkonzept integrieren kann, wird sie verzerrt wahrgenommen, z.B., indem das Kind subjektiv der Überzeugung ist, der Lehrer habe „falsche Aufgaben“ gestellt oder die Banknachbarn wären so laut gewesen. Auch positive Erfah- rungen unterliegen der Verleugnung oder Verzerrung. Hat das Kind z.B. das Selbstbild, es sei dumm oder es könne nicht malen, werden positive Leistun- gen entweder schlichtweg ignoriert oder als Zufall oder Glück abgetan. Beispiel: Ein Familienvater, in dem die Überzeugung tief verankert ist, dass er niemals eine sexuelle Beziehung außerhalb der Ehe aufnehmen würde, hat dies auf einer Geschäftsreise doch getan. Die Folge ist, dass der Mann seinen Seitensprung zuerst ganz aus seinem Bewusstsein verdrängt und dann – mit der Tat konfrontiert – so sieht, dass er ja eigentlich von seinen Kollegen ganz bewusst unter Alkohol gesetzt und in diese beschämende Si- tuation reingezwungen worden sei. Sodass er ja eigentlich nichts dafür kön- ne. Er würde so was ja nie aus freiem Willen tun. Der Prozess der Veränderung Um Ängste, Spannungen und Verteidigungshaltungen ändern zu können, muss wieder eine Übereinstimmung zwischen dem Selbstkonzept und den organismischen Erfahrungen hergestellt werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass das Selbstkonzept flexibler wird, so dass die Person wesentlich mehr Erfahrungen in ihr Selbstkonzept einbauen, d.h. für sich akzeptieren kann. Dazu ist eine Beziehung notwendig, in der die jeweilige Person weit- gehend akzeptiert wird, so dass sie keine Angst- und Verteidigungshal- tungen aufbauen muss. Eine Beziehung, in der sie sich langsam entdecken kann, so wie sie ist. In der auch negative Gefühle, die vorher mit dem Selbstkonzept nicht vereinbar waren, zugelassen werden können. So können dann die Grenzen des Selbstkonzepts Schritt für Schritt erweitert werden, 28 bis das Selbstkonzept schließlich so flexibel ist, dass es alle auftretenden Er- fahrungen – auch die bisher verdrängten oder verzerrten – einbauen kann. Kennzeichnend für ein neurotisches rigides Selbstkonzept ist, dass eine deutliche Diskrepanz zwischen dem besteht, wie eine Person sich selbst sieht (reales Selbstkonzept) und dem, wie sie gerne sein möchte (ideales Selbst- konzept). Bei einem flexiblen Selbstkonzept sind das reale und das ideale Selbstkonzept dagegen aneinander angenähert: Das Individuum kann sich weitgehend so akzeptieren, wie es ist. Rogers (1997, S. 143) schreibt: „Die neue Selbstgestalt ist eine fließende, veränderliche Struktur, wobei das eige- ne Erleben immer mehr zur Grundlage der Selbstbewertung wird.“ Im Einzelnen ist der Prozess der Veränderung – von einer sehr rigiden, Probleme und eigene Gefühle nicht wahrnehmenden Persönlichkeit bis hin zur Person, die alle Erfahrungen in ihr Selbstkonzept integrieren kann – von Rogers in Form einer siebenstufigen Prozessskala beschrieben worden (vgl. Rogers 1997, S. 33 f.) Im Folgenden eine grafische Übersicht über die personzentrierten Grundprinzipien Vertrauen Vertrau en in die di e angeborene angeborene Aktualisierun Aktualisierungstendenz gstendenz Grundlegendes Angeborenes Streben jeder Person, Erhaltung und Entfaltung Entwicklungsprinzip ein Selbst zu entwickeln, des Selbst „Selbstaktualisierung“ „die zu werden, die sie ist“ Prinzip der Persönlichkeitsentwicklung ist nicht Jede Person ist potenziell Selbstorganisation „erzeugbar“, sondern geschieht – Experte für sich in Beziehungserfahrungen – selbstbestimmt Kongruenzz – Echthei Kongruen Echtheitt des/der Beraters/in Beraters/in – Begegnung und Kontakt Kontakt Man spricht von Kongruenz, wenn die Erfahrungen, die Eine kongruente Person kann bedingungsfreie eine Person macht, vereinbar sind mit dem Selbstkon- Selbstbeachtung erleben, auch wenn Angst vor neu- zept dieser Person. Eine kongruente Person wird in der en Erfahrungen spürbar wird (sie kann z.B. bei Versa- Regel als autonom, unabhängig, selbstbestimmt, ei- genserlebnissen den Schmerz spüren und sich selbst genverantwortlich, souverän und sozial verantwortlich auch wieder beruhigen und braucht nicht mehr die wahrgenommen. Sie zeigt keine Maske, da sie weiß, Bewertungsbedingung: „Ich bin unfähig, wenn ich bei dass es zu nichts führt, eine äußere Fassade einer … versage“) – kann gegenwärtig in Kontakt sein Einstellung zu zeigen, die mit der eigentlichen inneren Haltung nicht übereinstimmt; Nicht an Bedingungen geknüpfte Wertschätzung Wertschä tzung –Akzeptanz –Akzeptanz Die Würde des Anderen wird Akzeptanz bedeutet auch, das eigene Ein Berater hat verinnerlicht, – erlebbar – respektiert – Erleben, eigene Bewertungen bewusst dass das Grundbedürfnis nach unabhängig davon, wie ein wahr zu nehmen und zu trennen, was Achtung angeboren ist und das Klient sich verhält, was nicht von anderen entgegenkommt d.h. die Erleben dieser Bedürfnisbefrie- bedeutet, alle Verhaltens- Fähigkeit, eigene Werte in der Bera- digung eine zentrale Bedingung weisen zu billigen tung „beiseite zu stellen“ für Veränderungsschritte dar- stellt Einfühlung – empathi empathisches sches Verstehen Konkret erfassen, was Inneren Bezugsrahmen des Klienten Selbstexplorationsgrad der eine Person verbal und verstehen: verstehen, was der Klient zu Person erfassen: wie nah/fern non-verbal mitteilt seinen Gefühlen fühlt und wie er diese ist die Person bewertet Abb. 2: Personzentrierte Grundprinzipien und das daraus sich ergebende Be- ziehungsangebot (Kunze 2008) 29 Neuere Forschungen Bindungs- und Säuglingsforschung „Wenn das Kleinkind die Interaktion mit seiner Umgebung aufnimmt, fängt es an, Konzepte über sich selbst, über seine Umgebung und über sich selbst in Beziehung zur Umgebung zu bilden. Zwar sind diese Kon- zepte nicht-verbal und dem Bewusstsein vielleicht nicht gegenwärtig, aber das hindert sie nicht daran, als leitende Prinzipien zu funktionie- ren“ (Rogers 1942/1972, S. 430). Rogers Beschreibungen der Entstehung des Selbst wurde von der empiri- schen Säuglingsforschung weiter ausdifferenziert, indem Stern (2011) die Grundeinheiten des Selbst als zwischenmenschliche Erfahrungen beschreibt, in der die Affektabstimmung, d.h., die Resonanz der Mutter/des Vaters auf Verhalten und Erleben des Kindes von grundlegender Bedeutung ist (vgl. Behr 2002). Die Bindungsforschung konnte zeigen, wie frühe Erfahrungen des Kin- des in Bezug auf Einfühlung und Verfügbarkeit der Bindungsperson als in- nere Arbeitsmodelle im Selbst des Kindes verankert sind, außerhalb des Be- wusstseins existieren und maßgeblich Gefühle und Verhaltensstrategien der Person beeinflussen (Brisch 2010, Brisch/Hellbrügge 2006, Grossmann/ Grossmann 2004, Spangler/Zimmermann 2011). Emotions- und neurobiologische Forschung Der personzentrierte Ansatz wurde in den letzten Jahren auch durch die emotions- und neurobiologische Forschung untermauert. So zeigte sich die Bedeutung des unmittelbaren Erlebens für das Entstehen, die Aufrechter- haltung und Veränderung von Verhalten (Bauer 2004, 2005; Damasio 2002, Hüther 2009) und gleichzeitig, wie destruktive, dysfunktionale emotionale Schemata durch eine neue Beziehungserfahrung verändert werden können (Bauer 2004, Greenberg 2011). Lux (2007) beschreibt, wie Rogers grundle- gende Thesen zur Entwicklung der Persönlichkeit durch die neurobiologi- sche Forschung bestätigt wurden und wie sich durch das spezielle Bezie- hungsangebot eine verbesserte Verbundenheit zwischen expliziten und im- pliziten Funktionssystemen des Gehirns einstellt (Lux 2008, S. 235). Weiterführende Literatur Eine ausführliche Darstellung von Rogers’ Persönlichkeitskonzept finden Sie bei Rogers (1959/2009): Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischen- menschlichen Beziehungen sowie in Rogers (1961/2008): Entwicklung der Persönlich- keit. Mehr über das Menschenbild im klientenzentrierten Ansatz lesen Sie bei Rogers 30 (2007): Der neue Mensch, bei Stevens/Rogers (2000): Von Mensch zu Mensch. Möglich- keiten sich und anderen zu begegnen und bei Korunka (1992): Das Menschenbild. Die humanistische Psychologie wird dargestellt von Quitmann (1996): Humanistische Psychologie. Mehr über die Person und den Werdegang von Carl R. Rogers erfahren Sie bei bei Grod- deck (2010): Carl Rogers. Wegbereiter der modernen Psychotherapie, Hinz/Behr (2002): Biografische Rekonstruktionen und Reflexionen. Zum 100. Geburtstag von Carl Rogers und bei Zundel (2001): Carl Rogers: Humanistische Psychologie. Eine sehr anschauliche und gut verständliche Darstellung des Personzentrierten Ansatzes im Rahmen der neurowissenschaftliche Forschung findet sich bei Lux (2007, 2008). 1.1.4 Die Gesprächspsychotherapie Rogers Beratungs- und Therapiekonzept wurde ab 1956 von dem Hambur- ger Psychologenehepaar Reinhard und Annemarie Tausch unter dem Namen „Klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie“ im deutschsprachigen Raum eingeführt. Die entscheidende Konzeptualisierung in der Gesprächspsycho- therapie bzw. Klientenzentrierten Psychotherapie ist das Beziehungsangebot. Ausgehend von der Überzeugung, dass die Klientin in sich die Fähigkeit hat, sich in konstruktiver Weise zu entwickeln, geht es in der Gesprächspsychothe- rapie darum, Bedingungen herzustellen, die dieses Entwicklungspotential ak- tivieren. Dies geschieht, indem in der psychotherapeutischen Situation zu dem Klienten eine Beziehung hergestellt wird, die durch die Verwirklichung der von Rogers formulierten Therapeutenmerkmale gekennzeichnet ist. Die Verwirklichung dieser Merkmale setzt – wie bereits ausgeführt – ei- nen therapeutischen Prozess in Gang, in welchem der Klientin zunehmend Gefühle und Erfahrungen bewusst werden, die ihr in der Vergangenheit nicht zugänglich waren oder die sie nur verzerrt wahrnehmen konnte, da sie mit ihrem Selbstkonzept nicht in Einklang zu bringen waren. Ziel der Ge- sprächspsychotherapie ist es, diese krank machenden Inkongruenzen zwi- schen Selbstkonzept und Erfahrungen der Klientin aufzulösen. Das Selbst- konzept der Klientin wird schrittweise reorganisiert, so dass die Klientin immer mehr Gefühle und Erfahrungen in ihr Selbstkonzept integrieren kann, d.h., als „zu sich“ gehörig erleben kann. Statt abhängig von rigiden – aus den Bezügen der Kindheit stammenden – Bewertungsbedingungen zu sein, erfährt sie sich zunehmend als Ort ihrer eigenen Bewertung. Rogers betont, dass die so beschriebene therapeutische Beziehung „keine Vorbe- dingung auf Veränderung ist“ (Rogers 1942/1972, S. 38), sondern diese schon verändernd wirkt. Während Rogers die angeführten Beziehungsmerkmale nicht weiter ausdifferenziert hat, wurden nachfolgend störungsspezifische und zielorien- tierte Handlungskonzepte der Gesprächspsychotherapie ausgearbeitet (Bin- 31 der/Binder 1999, Finke 2004, Kriz/Slunecko 2007, Sachse 2002, Speierer, 1994, Swildens 2002). So beschreibt Finke (2009) die beschriebenen drei Grundhaltungen der Therapeutin als Therapieprinzipien, aus denen konkre- te Therapietechniken abgeleitet werden. Diese Interventionstechniken die- nen dazu, die Therapieprinzipien „Einfühlendes Verstehen“, „Unbedingte Wertschätzung“ und „Kongruenz“ störungsspezifisch und in Abhängigkeit von der jeweiligen Phase des Therapieprozesses zu realisieren. In Bezug auf die Beratungsarbeit wird dies im Kapitel 3 näher ausgeführt. Ausgehend von Rogers Persönlichkeitstheorie wurden in den neunziger Jahren Konzepte einer gesprächspsychotherapeutischen Krankheitslehre for- muliert, aus denen sich genaue Aussagen über Indikation, Kontraindikation und den Einsatz störungsspezifischer Vorgehensweisen ableiten lassen (Eckert u.a. 2012, Finke/Teusch 2002, Schmidtchen u.a. 1993, Speierer 1994). Die Gesprächspsychotherapie, zunehmend auch Personzentrierte Psy- chotherapie genannt, gehört heute zu den bedeutendsten psychotherapeuti- schen Therapiemethoden. Sie hat sich als effektives psychotherapeutisches Verfahren unter anderem bei depressiven Störungen, Angststörungen, psy- chosomatischen Störungen und Persönlichkeitsstörungen erwiesen (Eckert u.a. 2012, Finke/Teusch 2002, Kriz/Slunecko 2007, Moshagen 1997, Teusch/ Finke/Gastpar 1994). Weiterführende Literatur Mehr Informationen zur Gesprächspsychotherapie erhalten Sie durch die Standardwerke von Eckert/Biermann-Ratjen/Höger: (2012): Gesprächspsychotherapie: Ein Lehrbuch für die Praxis und von Finke (2009): Gesprächspsychotherapie. Grundlagen und spezifische Anwendung. Eine Übersicht über die Bandbreite des klientenzentrierten Konzeptes im Rahmen von Psychotherapie finden Sie bei Keil/Stumm (2002): Die vielen Gesichter der Personzentrierten Psychotherapie. 1.1.5 Das klientenzentrierte Konzept in Abgrenzung zu anderen Verfahren Behandlung, Heilung durch nichts anderes als ein Gespräch ist eine uralte Methode, die bereits bei den „alten Griechen“ bekannt war. Watzlawick (2000) nennt Antiphon von Athen (480-411 v. Chr.) den geistigen Urheber dessen, was wir heute therapeutische Kommunikation nennen: „Es liegen... Fragmente vor, wonach Antiphon der Erfinder einer ‚Trö- stungskunst‛ war und die Ausarbeitung eines geschlossenen Begriffssy- stems der menschlichen Beeinflussung durch die Sprache für möglich hielt... Über ihn berichtet Plutarch: Während er sich noch mit Politik 32 befasste, erfand er eine Kunst der Befreiung von Schmerz, ähnlich wie für jene, die krank sind, eine ärztliche Behandlung besteht. In Korinth wurde ihm ein Haus neben der Agora zugewiesen, auf dem er ein Schild anbrachte, wonach er Kranke durch Worte heilen konnte.“ (Watzlawick 2000, S. 12, 13) Im Laufe der Zeit wurden die verschiedensten Formen therapeutischer Kommunikation entwickelt, die sich in Bezug auf die jeweils zugrunde lie- gende Persönlichkeitstheorie, die Bedeutung der Beziehung und die ange- strebten Ziele unterscheiden. Im Folgenden werden stichwortartig und ge- zwungenermaßen stark vereinfacht die am häufigsten angewandten Verfah- ren: die Verhaltenstherapie, die psychoanalytische Therapie und die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie, als die „drei großen Therapie- formen“ (Pongratz 1973, S. 343) überblicksartig dar- und gegenübergestellt. Psychoanalyse Theorie: Auf Sigmund Freud zurückgehendes Konzept, nachdem die Per- sönlichkeit aus drei Instanzen besteht: dem Es, dem Ich und dem Über-Ich. Das Es beinhaltet die triebhaften Impulse, es handelt nach dem Lustprinzip. Das Ich handelt nach dem Realitätsprinzip, es stellt das bewusste Vorstellen und Handeln dar. Das Über-Ich enthält die internalisierten Moralvorstel- lungen und hat die Funktion des Gewissens. Alle drei Instanzen stehen in intensiver gegenseitiger Wechselbeziehung. Die psychische Entwicklung ist eine psychosexuelle Entwicklung in strenger Abfolge (orale – anale – phalli- sche – genitale Phase). Es existieren unbewusste Triebkräfte, die we- sentlichsten sind der Sexual- und der Aggressionstrieb. Seelische Störungen und deren Symptome entstehen infolge einer mangelhaften Verarbeitung dieser Triebkräfte und/oder Konflikten zwischen Ich, Es und Über-Ich in einer der genannten Entwicklungsphasen. Beziehung: Die Beziehung in der Therapie wird unter dem Aspekt der Übertragung und Gegenübertragung gesehen. Aufgrund der stattfindenden Übertragung projiziert die Klientin Erlebnisse und Erfahrungen aus der Kindheit auf die Therapeutin. Damit die Übertragungsprojektion stattfin- den kann, verhält sich die Therapeutin sehr zurückhaltend. Mit Gegenüber- tragung werden die Gefühle bezeichnet, die die Therapeutin als Reaktion auf das Verhalten der Klientin bei sich empfindet. Ziele: Im Rahmen der Übertragungsbeziehung wird die Lebensgeschichte der Klientin durchgearbeitet. Dabei werden vor dem Hintergrund der psy- 33 choanalytischen Theorie Deutungen gemacht, die unbewusste pathogene Mechanismen bewusst machen sollen. Verhaltenstherapie Theorie: Die Theorie beschränkt sich bewusst unter Verzicht auf Konstruk- te zur Persönlichkeit und deren Entwicklung auf beobachtbares und mess- bares Verhalten. Verhaltensstörungen werden entsprechend den erforschten lerntheoretischen Gesetzmäßigkeiten (klassische Konditionierung, operante Konditionierung, soziale Lerntheorie und in der neueren Entwicklung kog- nitive Theorien) im Verlauf der Biographie gelernt und aufrechterhalten. Beziehung: Eine „positive“ Beziehung wird als Basis für ein funktionieren- des „Arbeitsbündnis“ für erforderlich angesehen. Ziele: Reduktion des unerwünschten Verhaltens und Erlernen von er- wünschtem Verhalten mit Hilfe strukturierender Anleitung (u.a. Systemati- sche Desensibilisierung, Reizüberflutung, Verhaltensformung mit Hilfe von Verstärkung, Verhaltensverträge, kognitive Methoden zur Selbstkontrolle, Training sozialer Fertigkeiten...) durch die Therapeutin. Gesprächspsychotherapie (Personzentrierte Psychotherapie) Theorie: Es gibt eine Aktualisierungstendenz, diese bezeichnet die Tendenz des Gesamtorganismus, sich zu entwickeln und zu erhalten. Erfahrungen werden von der Aktualisierungstendenz zuerst nur danach bewertet, ob sie dieser Entwicklung des Gesamtorganismus dienen oder diese behindern. Nachdem das Selbstkonzept des Kindes eine erste Gestalt angenommen hat, kann es – bedingt durch die Beziehungsgestaltung zu den Bezugspersonen, dispositionellen Faktoren und lebensgeschichtlichen Erfahrungen – zu einer Unvereinbarkeit zwischen der Entfaltung des Gesamtorganismus und der Erhaltung des Selbstkonzeptes kommen. Dies wird Inkongruenz genannt. In Folge einer Inkongruenz können Aspekte des Erlebens nicht in das Selbst- bild integriert werden, da sie dieses bedrohen. Diese Erfahrungen werden verzerrt wahrgenommen oder verleugnet. Beziehung: Die Beziehung ist in der Gesprächspsychotherapie der zentrale Wirkfaktor. Die neue emotional korrigierende Beziehungserfahrung ermög- licht es der Klientin, Erfahrungen aus diesem Beziehungsangebot in ihre Be- ziehung zu sich selbst zu übernehmen. 34 Ziele: Verminderung der Inkongruenz zwischen dem organismischen Erle- ben und dem Selbstkonzept. Ziel ist ein Selbstkonzept des Individuums, das immer mehr (im Idealfall alle) ankommenden Erfahrungen integrieren kann. Gemeinsamkeiten und Unterscheidungsmerkmale In den letzten Jahren haben sich die verschiedenen therapeutischen Ansätze mehr und mehr aufeinander zu entwickelt. So wird die klassische Psycho- analyse, in der die Klientin auf der Couch liegt und über einige Jahre mehrmals wöchentlich zur Therapiestunde kommt, immer mehr durch die so genannte tiefenpsychologisch fundierte Therapie ersetzt, deren Störungs- annahme sich auf die Psychoanalyse bezieht, die aber maßgeblich weiter- entwickelt wurde: unter anderem sitzen sich Therapeutin und Klientin ge- genüber und die Behandlungsfrequenz ist auf zumeist eine wöchentliche Sitzung beschränkt. Die Verhaltenstherapie bezieht schon geraume Zeit kognitive und zunehmend auch emotionale und motivationale Vorgänge in die Konzeptualisierung und Behandlung mit ein. Was den klientenzentrierten Ansatz weiterhin von sowohl der Psycho- analyse (PA) als auch der Verhaltenstherapie (VT) unterscheidet, ist das zugrunde liegende Menschenbild, nachdem menschliche Entwick- lungsprozesse als Prozesse der Selbstorganisation gesehen werden und davon ausgegangen wird, dass Menschen in sich die Fähigkeit haben, sich konstruktiv in Richtung auf Unabhängigkeit, Selbstbewusstsein und Stabilität hin zu entwickeln: keine unbewusste Determination (PA) und keine Determination durch äußere Reizbedingungen (VT); das Beziehungsangebot der Therapeutin als therapeutische Qualität an sich; keine eher neutral abstinente Beziehung als Übertragungsfläche (PA) und keine positive Beziehung als Haltung, um Behandlungsbereit- schaft und Lernprozesse zu optimieren (VT). 1.1.6 Begriff und Bedeutung der Klientenzentrierten Gesprächsführung Ein entscheidendes Kennzeichen des klientenzentrierten Ansatzes ist es, dem Klienten keine Interpretationen, Ratschläge oder fertige Lösungen an- zubieten, sondern die Auseinandersetzung mit emotionalen Prozessen und das Finden neuer Wege und Betrachtungsweisen zu fördern. Dies geschieht mit dem Ziel, den Klienten zu befähigen, auch mit künf- tigen Problemen besser fertig zu werden. Rogers (1942/1972, S. 36) be- schreibt diesen Ansatz so: 35 „Er zielt direkt auf die größere Unabhängigkeit und Integration des In- dividuums ab, statt zu hoffen, dass sich diese Resultate ergeben, wenn der Berater bei der Lösung des Problems hilft. Das Individuum steht im Mittelpunkt der Betrachtung und nicht das Problem. Das Ziel ist es nicht, ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern dem Individuum zu helfen, sich zu entwickeln, so dass es mit dem gegenwärtigen Problem und mit späteren Problemen auf besser integrierte Weise fertig wird. Wenn es genügend Integration gewinnt, um ein Problem unabhängiger, verantwortlicher, weniger gestört und besser organisiert zu bewältigen, dann wird es auch neue Probleme auf diese Weise bewältigen.“ Dieses an der Person, ihren Ressourcen und ihrem Veränderungspotential orientierte Vorgehen hat zu einer großen Verbreitung des klientenzentrier- ten Ansatzes auch außerhalb von therapeutischen Arbeitsfeldern geführt. Rogers wendet sich mit seinem Konzept auch nicht nur an Psychologen, sondern an alle Fachleute, die einen großen Teil ihrer Zeit damit verbrin- gen, „durch persönlichen Vis-à-vis-Kontakt einen konstruktiven Wandel der Einstellungen bei ihren Klienten zu bewirken. Ob sie sich Psychologen, Psy- chiater, Fürsorger, Schul-, Studien-, Ehe- oder Personalberater nennen“ (Ro- gers 1942/1972, S. 17). Rogers verwendet die Begriffe Beratung (Counseling) und Psychotherapie dementsprechend auch mehr oder weniger austauschbar, da sich beide Bezeichnungen „auf die gleiche grundlegende Methode beziehen – auf eine Reihe direkter Kontakte mit dem Individuum, die darauf abzielen, ihm bei der Änderung seiner Einstellungen und seines Verhaltens zu helfen“ (Rogers ebd., S. 17). Doch wenn sich auch eine intensive, mehrere regelmäßig durchgeführte Gesprächskontakte umfassende Beratung nicht immer eindeu- tig von einer entsprechenden Psychotherapie trennen lässt, so muss doch davon ausgegangen werden, dass die in der psychosozialen Arbeit Tätigen in ihrer Berufspraxis eine Situation vorfinden, in der einerseits häufig die Notwendigkeit besteht, beim Klienten konkrete Einstellungs- und Verhal- tensänderungen zu erzielen, dies jedoch andererseits zumeist unter ganz an- deren Bedingungen und mit teilweise ganz anders motivierten Klienten, als dies z.B. bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten der Fall ist. So zeichnet sich die Situation einer Beraterin in psychosozialen Aufga- bengebieten häufig folgendermaßen aus: 1. auf Seiten der Beraterin dadurch, dass sie überwiegend – im Rahmen einer Institution arbeitet, die ihr eine ganz bestimmte Funktion zuweist; – für den einzelnen Klienten nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung hat; – die Probleme des Klienten von bestimmten Umweltfaktoren verur- sacht und aufrechterhalten sieht; 36 2. auf Seiten des Klienten dadurch, dass er überwiegend – konkrete Hilfe erwartet; – die Schwierigkeiten, in denen er sich befindet, weniger in seiner Per- son als vielmehr durch äußere Faktoren verursacht und aufrecht- erhalten sieht und – keinen so großen Leidensdruck hat wie jemand, der sich bei einem Psychotherapeuten anmeldet. Dies ist jedoch nicht absolut zu sehen, denn zum einen gibt es eine große Vielfalt unterschiedlichster Beratungsformen in der sozialen Arbeit (Sicken- diek u.a. 2008, Pauls 2011) und zum anderen weisen Sickendiek, Engel, Nestmann (2008) darauf hin, dass es zwar immer wieder Klienten gibt, die einfache Anleitungen im Sinne von Ratschlägen erwarten, aber „– so para- dox es klingt – wollen Ratsuchende gerade in psychosozialen Angelegenhei- ten oft keine Ratschläge oder rezeptähnliche Anweisungen … Sie wollen sich über unterschiedliche Sichtweisen zu ihrer Problemstellung austau- schen, Folgen von Entscheidungen abschätzen lernen, ihre eigenen Unsi- cherheiten, Unentschiedenheiten oder Ambivalenzen besprechen und diese möglichst reduzieren. Sie hoffen darauf, neue oder angemessene Perspekti- ven zu gewinnen“ (S. 14). Pauls (2011), der sich sehr umfassend mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Beratung und Psychotherapie beschäftigt, betont, dass die Sozialarbeiter/Sozialpädagogen „es in der psycho-sozialen Fallarbeit in der Beratung bei klinischen Aufgabenstellungen in hohem Maße mit ge- fühlsmäßigen Betroffenheiten der Menschen zu tun haben, die zugleich Ori- entierung suchen und die Hilfe bei der Auffindung oder Aktualisierung von Mitteln zur Problemlösung in ihrer Lebenssituation benötigen … gerade bei der Klinischen Sozialarbeit geht es häufig um ganz grundlegende Lebensori- entierungsfragen, die sich zunächst als Mittelprobleme (z.B. Schulden) prä- sentieren und die nicht rein argumentativ beratend angegangen werden können“ (S. 258). Für die Anwendung des klientenzentrierten Konzeptes in der psy- chosozialen Praxis lässt sich folgern, dass dieses sehr komplexe Aufgaben- feld von Beratung in der psychosozialen Arbeit eine Klientenzentrierte Ge- sprächsführung verlangt, in der die Prinzipien des klienten- bzw. person- zentrierten Ansatzes so realisiert werden, dass im Sinne einer stärkeren Strukturierung und Themenzentrierung (Gesprächsführung) nicht nur auf die innere Erlebniswelt der Klienten eingegangen wird, sondern ebenso auf die Handlungsebene und das konkrete soziale Umfeld, in das Erleben und Verhalten der Klienten eingebettet sind. Prinzipiell erfordern die vielfältigen und teilweise sehr unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche und Aufgabenstel- lungen im sozialen Bereich ein Konzept der Klientenzentrierten Gesprächs- 37 führung, das in seiner methodischen Ausprägung den Erfordernissen der jeweiligen spezifischen beruflichen Tätigkeit angepasst werden kann. Weiterführende Literatur Weitere Darstellungen des Konzepts der Klientenzentrierten Gesprächsführung bzw. der Personzentrierten Beratung im psychosozialen Bereich finden Sie bei Pauls (2013): Psy- chosoziale Beratung als Antwort auf aktuelle Entwicklungen, Pauls (2011): Klinische So- zialarbeit, Sander/Ziebertz (2010): Personzentrierte Beratung, Rechtien u.a. (2009): Per- sonzentrierte Beratung, Weber (2005): Wege zum helfenden Gespräch, Straumann (2001): Professionelle Beratung und bei Schmid (1995): Personale Begegnung. Der per- sonzentrierte Ansatz in Psychotherapie, Beratung, Gruppenarbeit und Seelsorge. 1.1.7 Klientenzentrierte Gesprächsführung und Soziale Einzelfallhilfe Die wesentlichen Prinzipien der klientenzentrierten Methode finden sich in einem klassischen Konzept der Sozialarbeit wieder: der Sozialen Einzelhilfe (social casework), dem „ältesten und am klarsten umrissenen Gebiet der So- zialarbeit“ (Roberts/Nee 1992, S. 11). Wesentliche Kennzeichen der Sozialen Einzelhilfe, die ganz im Einklang mit den Prinzipien des klientenzentrierten Vorgehens stehen, sind 1. der Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe, d.h. nicht für den Klienten etwas tun, sondern mit dem Klienten gemeinsam daran arbeiten, die Eigen- kräfte des Klienten zu fördern und zu stärken. Der Klient soll zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit seinen Schwierigkeiten angeregt und so befähigt werden, sich selbst zu helfen, selbst zu einer Lösung sei- ner Probleme zu kommen; 2. die Beziehung zwischen Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (SA/SP) und Klient, die in der Sozialen Einzelhilfe eine zentrale Rolle spielt und 3. die Vernachlässigung der Vergangenheit zugunsten der Gegenwart. Das einzelne methodische Vorgehen in der Sozialen Einzelhilfe variiert je nach zugrunde gelegter theoretischer Ausrichtung. So lassen sich insgesamt vier theoretische Hauptrichtungen unterscheiden: die diagnostische oder psychosoziale, die funktionelle, die problemlösende und die verhaltensver- ändernde (vgl. Roberts/Nee 1992). Stellt man diese einzelnen theoretischen Ausrichtungen dem klien- tenzentrierten Konzept gegenüber, so fällt die enge Beziehung zwischen dem klientenzentrierten Konzept und der funktionellen Methode der Sozia- len Einzelhilfe auf. Dies kommt nicht von ungefähr, denn war die diagnosti- sche Methode, die bis zur Entwicklung der funktionellen Methode vorherr- 38 schend war, von der Freudschen Psychoanalyse und einer eher mechanis- tisch-deterministischen Auffassung vom Menschen geprägt, so wurden die führenden Vertreter der funktionellen Methode wie J. Taft und V. Robinson von Otto Rank, einem Schüler Freuds, beeinflusst, der an der Pennsylvania School of Social Work lehrte und der menschliches Wachstum als Prozess ansah, den freien Willen des Menschen betonte und die Beziehung zwischen Therapeut und Klient hervorhob. Da auch Rogers in starkem Ausmaße von den Thesen Ranks beeinflusst wurde, überrascht es nicht, dass sich zentrale Thesen des klientenzentrierten Ansatzes auch in der funktionellen Methode der Sozialen Einzelhilfe finden (vgl. Smalley 1992). Versucht man eine Einordnung der Klientenzentrierten Gesprächs- führung in die Soziale Einzelhilfe, so stellt sich die Soziale Einzelhilfe, in der die direkte Arbeit mit dem Klienten im Mittelpunkt steht, die darüber hin- aus aber auch mit dem sozialen Umfeld des Klienten arbeitet, als übergrei- fendes Konzept dar, in dessen Rahmen unterschiedliche methodische An- sätze integriert werden können. Neben dem klientenzentrierten Ansatz sind dies z.B. kommunikationstheoretische Ansätze, der Ansatz der Verhaltens- modifikation, psychoanalytisch orientierte Vorgehensweisen wie auch die konkrete Hilfe bei materiellen und rechtlichen Fragen und/oder die Ände- rung bestimmter sozialer Umstände, sofern diese für die Probleme des Kli- enten verantwortlich sind. Weiterführende Literatur Die Integration des klientenzentrierten Konzepts in die Soziale Einzelfallhilfe wird näher ausgeführt bei: Alterhoff (1994): Grundlagen klientenzentrierter Beratung. Lernkontrolle Mit den einzelnen Aufgaben dieser wie auch der nachfolgenden Lernkon- trollen sollen Sie überprüfen können, inwieweit Sie die jeweils angegebenen Lernziele erreicht haben. Da anhand der Aufgaben die wesentlichen Aussa- gen des Abschnitts noch einmal rekapituliert werden, dient diese Lernkon- trolle gleichzeitig der Vertiefung des Lernstoffes. Vorbemerkung: Lösen Sie die Aufgaben in der vorgegebenen Reihenfolge, da nachfolgende Aufgaben Lösungshilfen für vorangegangene enthalten können. Dies gilt auch für die noch folgenden Lernkontrollen. 39 Aufgabe 1 Bitte kreuzen Sie diejenige(n) Aussage(n) (A-E) an, die eine wesentliche These von Ro- gers‘ Persönlichkeitstheorie beinhaltet (beinhalten).  A Das Selbstkonzept, das ein Mensch von sich hat, beeinflusst dessen Wahrneh- mung.  B Jedes Individuum kann die Realität objektiv wahrnehmen.  C Der Mensch ist von Natur aus gut, mit einem angeborenen Streben nach Selbst- verwirklichung.  D Es gibt ein angeborenes, so genanntes organismisches Wertsystem.  E Erfahrungen werden verfälscht aufgenommen oder verleugnet, wenn sie mit dem Selbstkonzept nicht in Einklang zu bringen sind. Aufgabe 2 Bitte setzen Sie in diesen Lückentext, der beschreibt, wie nach Rogers Angst- und Vertei- digungshaltungen geändert werden können, die zutreffenden fehlenden Formulierungen ein. Text: Um die erzeugten Angst- und Verteidigungshaltungen ändern zu können, muss eine zwischen dem Selbstkonzept und den organismischen Erfahrungen hergestellt werden. Voraussetzung dafür ist, dass das Selbstkonzept wird, so dass das Indi- viduum wesentlich mehr Erfahrungen (im Idealfall alle Erfahrungen) in das Selbstkonzept einbauen, d.h. für sich akzeptieren kann. Aufgabe 3 Bitte kreuzen Sie diejenige(n) Aussage(n) (A-D) an, die zutreffend beschreibt/ beschrei- ben, wie nach Rogers Angst- und Verteidigungshaltungen abgebaut werden können:  A Das Selbstkonzept muss flexibler werden, so dass es alle auftretenden Erfahrun- gen integrieren kann.  B Durch Manipulation des Verhaltens werden unerwünschte Verhaltensweisen ab- gebaut.  C Das Individuum muss eine Beziehung finden, in der es keine Angst- und Verteidi- gungshaltungen aufbauen muss.  D Durch nochmaliges Durcharbeiten der Kindheitsphasen werden die Störungen ab- gebaut. Lösungen siehe Seite 228. 40 1.2 Empathisches Verstehen Lernziele Von den Kommunikationskanälen, über die die Beraterin Infor- mationen über die Klientin erhält, zwei nennen können. Hohe und niedrige Ausprägungen des Merkmals „Empathisches Verste- hen“ unterscheiden können. Aus vorgegebenen Äußerungen diejenige Aussage identifizieren können, die in höchstem Ausmaß „Empathisches Verstehen“ erkennen lässt. Von vorgegebenen Kriterien, die bei einem flexiblen, deutlichen und konkreten Verbalisieren zu beachten sind, die zutreffenden identifizieren können. 1.2.1 Begriff und Bedeutung Definition: Empathisches Verstehen bedeutet „den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so, als ob man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals die „Als-ob“-Position aufzugeben (Rogers 1959, S. 37). Indem Sie sich jeweils auf die gefühlsmäßigen Empfindungen (Vor- stellungen, Einstellungen, Werte) der Klientin konzentrieren und versu- chen, diese vom Bezugspunkt der Klientin her zu verstehen und der Klien- tin dies so Verstandene möglichst präzise (accurate emphatic under- standing) mitzuteilen, nimmt die Klientin diese Empfindungen aus einer gewissen Distanz heraus wahr, die es ihr ermöglicht, Einstellungen und Werthaltungen in Frage zu stellen – ähnlich wie jemand, der seine Empfin- dungen in Briefen oder in einem Tagebuch niederschreibt und auch dadurch das Erlebte aus einer gewissen Distanz heraus sieht und es besser verarbeiten kann. In der intensiven Kommunikation mit der Gesprächspartnerin wird die Klientin so ständig angeregt, sich mit den mit ihrem Erleben verbundenen Gefühlen und Empfindungen auseinander zu setzen und durch ein Abwä- gen, Differenzieren und Konkretisieren ihrer Wünsche und Ziele schrittwei- se zu einer Klärung ihrer inneren und äußeren Konflikte zu kommen. Rogers hat nicht festgelegt, wie diese Empathie dem anderen mitzuteilen ist, da er keine Technik daraus machen wollte. Dies hat jedoch zu vielen Missverständnissen geführt. So wurde das empathische Verstehen auf „die Worte des Klienten spiegeln“ reduziert. Rogers (1976, S. 34) schreibt dazu: 41 „Aber diese Neigung, die Therapeutenantworten in den Mittelpunkt zu stellen, hatte Konsequenzen, die mich erschreckten. Ich war auf Feindse- ligkeiten gestoßen, aber diese Reaktionen waren schlimmer. Die ganze Methode wurde nach einigen Jahren als eine Technik verstanden. ‚Non- direktive Therapie‘, wurde behauptet, ‚ist die Technik des Widerspie- gelns der Gefühle des Klienten‘. Eine noch üblere Karikatur war: ‚In der nondirektiven Therapie wiederholt man die letzten Worte, die der Klient gesprochen hat.‘ Ich war so schockiert über diese vollständig verzerrte Darstellung unserer Methode, dass ich ein paar Jahre lang fast gar nichts über einfühlendes Zuhören sagte, und wenn doch, dann um eine empa- thische Haltung hervorzuheben, und ich äußerte mich kaum dazu, wie diese in Beziehung zum Klienten eingebracht werden konnte. Ich disku- tierte lieber die Merkmale ‚Wertschätzung‘ und ‚Kongruenz‘ (Echtheit) des Therapeuten; ich nahm an, dass diese zusammen mit der Einfühlung den therapeutischen Prozess förderten. Auch sie wurden häufig missver- standen, aber wenigstens nicht karikiert.“ Häufig wurde das einfühlende Verstehen auch mit der „Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)“ gleichgesetzt. Beim empathischen Ver- stehen geht es aber auch darum, welche Bedeutung bzw. innere Bewertung die Klientin mit ihren gefühlsmäßigen Reaktionen verbindet. Darüber hin- aus bezieht sich das empathische Verstehen auch nicht nur auf die Gefühle, die der Klientin im Moment zugänglich sind, die sie explizit nennt, sondern auch auf die „neblige Zone am Rande der Gewahrwerdung“ (Rogers 1997, S. 24), d.h., Empfindungen, die die Klientin vielleicht irgendwie spürt, die sie andeutet, die sie aber noch nicht in Worte fassen kann. Angedeutet wer- den diese Gefühle häufig in Signalen der nicht-verbalen Kommunikation: in der Stimme, Mimik, Gestik und Körperhaltung. Empathisches Verstehen kann der Klientin auf verschiedene Art und Weise mitgeteilt werden. Durch Worte, durch Schweigen, durch Körper- kontakt. Immer geht es darum, zu spüren, was die Klientin im Moment be- wegt und welche Bedeutung sie dem gibt. So entsteht ein fortlaufender ge- meinsamer Suchprozess. Wichtig ist, dass Sie Ihre Äußerungen nicht als Feststellung aussprechen, sondern – fast fragend formuliert – als Angebot, die Klientin zu verstehen. Dieser fragende Tonfall ist sehr wichtig, denn einziges Kriterium für die „Richtigkeit“ der Berateräußerung ist die Klientin und nicht ein übergeord- netes theoretisches Modell, das angibt, was diese oder jene Reaktion in einer bestimmten Situation bedeutet. Allein die Klientin kann sagen, ob Ihre Äu- ßerung auf ihre Empfindungen zutrifft oder nicht. Durch den fragenden Tonfall wird der Klientin auch vermittelt, dass Sie gefordert ist, ihre Emp- findungen zu reflektieren und zu differenzieren. 42 Die Bedeutung von „Empathischem Verstehen“ Zusammengefasst besteht die Bedeutung des „empathischen Verstehens“ für die Klientin im Folgenden: Die Klientin erfährt von Ihnen keine Belehrungen, Bewertungen und Kritik und wird so befähigt, angstfrei und ohne Abwehrmaßnahmen über ihre Gefühle und Konflikte zu sprechen, sie abzuwägen und sich um eine Klärung zu bemühen (= Selbstexploration der Klientin, s. Kap. 1.5). Obwohl Sie keine Ratschläge anbieten, erlebt die Klientin, dass Sie ihr aktiv zugewandt sind und großen Anteil an ihrer Person und ihren Emo- tionen nehmen. Die Klientin erlebt Sie als Modell für einen offenen und entspannten Umgang mit Gefühlen. Erst über ein empathisches Verstehen können Sie die Klientin auch un- eingeschränkt akzeptieren, wie dies in dem nachfolgenden Merkmal „Unbedingte Wertschätzung“ gefordert ist. Beispiel: Wenn es Ihnen ge- lingt, sich in eine Person einzufühlen, in dem Moment, in dem sie aus reiner Hilflosigkeit jemanden Gewalt angetan hat, dann können Sie diese Person annehmen, auch wenn Sie das Verhalten per se missbilligen. Goleman (1998) versteht unter Empathie die Fähigkeit zu wissen, was andere fühlen. Sie ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der von ihm dar- gestellten und immer mehr Beachtung findenden „Emotionalen Intelli- genz“. Nach Goleman (ebd.) ist die Grundlage der Empathie die Selbst- wahrnehmung: „je offener wir für unsere eigenen Emotionen sind, desto besser können wir die Gefühle anderer deuten“ (ebd. S. 127). Goleman zeigt auf, wie eng diese Fähigkeit mit non-verbalem Einfühlungsvermögen gekoppelt ist. So waren Kinder, die es verstanden, nonverbal Gefühle zu deuten, die beliebtesten in ihrer Klasse und auch die emotional stabils- ten. Die Empathiefähigkeit sorgte auch für einen höheren Schulerfolg im Vergleich zu Kindern, die einen gleichen Intelligenzquotienten, jedoch weniger nonverbales Einfühlungsvermögen zeigten. Die Förderung der Empathiefähigkeit und übergeordnet der ,Emotionalen Intelligenz‘ sollte daher von Anfang an einen besonderen Stellenwert in der Erziehung ha- ben. Die Kunst, mit sich und mit anderen positiv umzugehen, ist nach Goleman lehr- und lernbar. In den letzten Jahren ist zur Emotionalen Intelligenz das Konzept der Mentalisierung hinzugekommen (Fonagy u.a. 2008), das die Fähigkeit beschreibt, eigene und fremde mentale Zustände (Gefühle, Vorstellun- gen, Motive, Gedanken, Wünsche) zu erkennen und zu benennen. In dem sich die Klientin durch das einfühlende Verstehen ihrer inneren Gedanken- und Gefühlswelt klarer wird, lernt sie auch, sich in andere 43 besser hineinzuversetzen. Eine entwicklungsbedingt unvollkommene Mentalisierung kann so in der Berater-Klient-Beziehung verbessert wer- den. 1.2.2 Hinweise zur Verwirklichung Personen in helfenden Berufen reagieren manchmal sehr schnell, in dem sie auf den so genannten Appellaspekt einer Nachricht reagieren (Schulz v. Thun 2010). Das heißt, sie hören aus einer Aussage sehr schnell eine Auf- forderung heraus: Was meinen/sagen/denken Sie dazu? Damit wird die Em- pathie erschwert. Hilfreicher ist es, auf den emotionalen Teil der Aussage zu achten bzw. darauf, was der – Schulz v. Thun spricht von „Sender“ – für ei- ne Botschaft über sich selbst damit ausdrückt. Ein Beispiel: Eine Sozialpädagogin, die ihr Praktikum in einer Jugendjus- tizvollzugsanstalt macht und bisher sehr gut mit den Jugendlichen zurecht- kommt, wird mit folgender Aussage eines Jugendlichen konfrontiert: „Stell Dir vor, gestern Abend habe ich zum ersten Mal wieder gebetet!“ Die Sozi- alpädagogin hört dies nur unter dem Appellaspekt (Was sagst Du dazu?) und schweigt, da sie so schnell keine Antwort weiß. Daraufhin wird der Ju- gendliche sehr verlegen, er schämt sich ganz offensichtlich, etwas so Persön- liches gesagt zu haben. Diese für die Sozialpädagogin im Nachhinein sehr belastende Situation wäre nicht entstanden, wenn sie auf die emotionale Aussage reagiert hätte, z.B. mit „Da bist Du ganz überrascht“ oder „Das hät- test Du nicht gedacht, dass Du wieder betest“. Der Jugendliche hätte sich verstanden gefühlt und hätte mit großer Wahrscheinlichkeit spontan weiter erzählt, dass er vielleicht zuletzt als Kind gebetet hat oder eigentlich ja gar nicht an Gott glaubt oder Ähnliches. Da es beim empathischen Verstehen in erster Linie darum geht, die Klientin aus ihrer Sichtweise heraus zu verstehen, d.h. sich permanent die Frage zu stellen: „Wie sieht die Klientin das?“ ist die Gefahr, dass persönliche Vorur- teile, Wertungen oder Konflikte in die Gesprächssituation hereingebracht werden, weniger groß als bei einer Methode, bei der die zentrale Frage ist: „Wie sehe ich das? Wie verstehe ich das Material?“ Der eher fragende Ton- fall trägt ebenfalls dazu bei, dass die Klientin auf ihre Empfindungen nicht zutreffende Äußerungen korrigiert bzw. differenziert. Haben Sie erst einmal gelernt, auf die emotionale Botschaft in Aussagen zu achten, können Sie nach und nach die Art und Weise, wie Sie das Erleben aufgreifen, verbessern. Dazu allgemeine und spezielle Hinweise. 44 Allgemeine Hinweise Gebrauchen Sie eher einfache, häufig gebrauchte Wörter und kurze Sät- ze, da diese verständlicher sind und die Klientin eher aufgefordert wird, sich mit Ihrer konkreten Äußerung auseinander zu setzen. Verwenden Sie keine Fremdwörter und Fachtermini, da diese relativ un- spezifisch und abstrakt sind und wenig gefühlsmäßige Dynamik enthalten. Beispiel: Kl.: Ich kann mich nicht überwinden, zu ihm zu gehen und ihn zu fragen. Ber.: Da können Sie nicht aus Ihrer Haut raus (nicht: Da haben Sie Komplexe). Ziehen Sie Adjektive, Verben und Adverbien Substantiven vor, da Ad- jektive, Verben bzw. Adverbien gefühlvoller, persönlicher sind und we- niger schwerfällig wirken. Beispiel: Kl.: Irgendwie traue ich mich nicht, ihm das zu sagen. Ber.: Da verspüren Sie Furcht (Substantiv). Ber.: Da fürchten Sie sich vor (Verb). Zusammengefasst gilt: Vermeiden Sie eine abstrakte Sprache, drücken Sie sich so einfach und klar wie möglich aus! Spricht Ihre Klientin eine „einfa- che“ Sprache, so passen Sie sich diesem Sprachniveau an, so dass die Klien- tin sich wirklich verstanden und angenommen fühlt. Spricht Ihre Klientin dagegen sehr „akademisch“, so versuchen Sie, sie von dieser abstrakten Ebe- ne „herunterzuholen“ und zu konkreten, gefühlsmäßigen Aussagen zu brin- gen, indem Sie auch bei dieser Klientin eine möglichst einfache, plastische Sprache gebrauchen. Speziellere Hinweise Synonyme verwenden Wenn Sie die Äußerung der Klientin mit einem Synonym aufgreifen, hilft Ihnen dies, flexibel und abwechslungsreich zu verbalisieren und Wiederho- lungen zu vermeiden. Darüber hinaus regen Sie die Klientin an, ihr Erleben zu spezifizieren, d.h., herauszufinden, was es für sie ganz genau bedeutet, wenn sie z.B. sagt, sie habe Hemmungen oder sie fühle sich bedrückt. 45 Beispiele für Synonyme 1. Bedrückt sein Synonyme: belastet, geängstigt, bekümmert, betrübt, gequält; 2. Hemmungen haben Synonyme: Spannungen verspüren, sich beeinträchtigt fühlen, Angst ha- ben, sich behindert fühlen, belastet sein. Das Repräsentationssystem der Klientin aufgreifen Es ist hilfreich, wenn Sie bei der Spezifizierung des Erlebens auf das Reprä- sentationssystem (Bandler/Grinder 2007) der Klientin achten. Mit dem Re- präsentationssystem ist die Sinnesmodalität (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen) gemeint, die jemand benutzt, um das, was er als Infor- mation wahrnimmt, sprachlich auszudrücken, zu repräsentieren. In erster Li- nie nehmen wir über das Sehen, Hören und über körperliche Empfindungen (Kinästhetik) Informationen über unsere Umwelt auf. Bandler/Grinder haben aufgezeigt, dass dabei häufig ein bestimmtes Repräsentationssystem bevorzugt wird, d.h., jemand hat sehr oft innere Bilder, sieht etwas vor seinen Augen; bei einem anderen werden schnell auditive Vorstellungen ausgelöst, bei ihm „klingelt’s“ und ein Dritter ist gleich von etwas berührt (ihm wird heiß oder kalt). Welches Repräsentationssystem jemand bevorzugt verwendet, lässt sich an so genannten Prozesswörtern erkennen, das sind die Verben, Adjektive und Adverbien, die der Betreffende benutzt. Beispiele: visuell: Ich kann das nicht mehr sehen! Mir wird rot vor Augen! auditiv: Ich kann das nicht mehr hören! Bei mir schreit alles! kinästhetisch: Mich schüttelt es bei dem Gedanken! Ich könnte kotzen! Es ist offensichtlich, dass es von Vorteil ist, das bevorzugte Repräsenta- tionssystem der Klientin zu erkennen und aufzugreifen, denn dann ist es mög- lich, „die Sprache des Klienten zu sprechen“ (Bandler/Grinder 2007, S. 21). Beispiel 1: Klient: Ich kann dieses ewige Gejammer von ihr nicht mehr hören (auditiv). Nicht: Sie wollen sie nicht mehr sehen (visuell) oder Sie zucken da richtig zusammen (kinästhetisch), sondern: je nach Intensität des Gesagten: Das klingt Ihnen ständig nach. Da machen Sie die Ohren zu. Da schalten Sie auf Durchzug. Da möchten Sie am liebsten losbrüllen. 46 Beispiel 2: Klient: Ich begreife langsam, dass ich da so eine Last mit mir herumschleppe. Nicht: Da geht Ihnen jetzt ein Licht auf oder Da hat’s jetzt bei Ihnen gefunkt. sondern: Sie spüren, wie Sie das drückt. Sie spüren jetzt, wie hart das ist. Das fühlt sich richtig schwer an. Sie wollen das nicht länger tragen. Anmerkung: Diese „Anleihe“ beim Neurolinguistischen Programmieren (NLP) ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn Sie mit der Zeit lernen, automatisch das Repräsentationssystem der Klientin zu beachten, wie Psychotherapeuten (z.B. Milton H. Erickson und Virginia Sa- tir) dies intuitiv taten, lange bevor Bandler/Grinder dies von der Linguistik herkommend analysierten. 1.2.3 Demonstrationsmaterial Vorbemerkung: Wie bereits erwähnt, können Textausschnitte die auf bei- den Seiten durch verbale wie nonverbale Reize geprägte Beziehung zwischen Beraterin und Klientin, aus der heraus sich erst das empathische Verstehen entwickelt, nicht hinreichend wiedergeben. Aus diesem Grunde wird hier nur ein kurzer schriftlicher Gesprächsausschnitt wiedergegeben. Dafür soll auf Video- und Tonaufzeichnungen als Anschauungsmaterial hingewiesen werden. Videoaufnahmen sind als Anschauungsmaterial von besonderem Wert, da sie die nonverbale Kommunikation miteinbeziehen und gleichzei- tig das Modelllernen fördern. Sie sollten jedoch nicht gleich am Anfang der Ausbildung eingesetzt werden, da die Lernenden so zu früh auf bestimmte Gesprächsstile festgelegt und dann eher blockiert werden, ihre eigene indi- viduelle Form zu entwickeln. Als audiovisuelles Demonstrationsmaterial bieten sich Videoauf- zeichnungen von Klientenzentrierten Psychotherapien an, die die GwG (s. S. 253) in ihrer Videothek für Ausbildungszwecke zusammengestellt hat. Aus einer Gesprächspsychotherapie werden im Folgenden zwei kurze Ausschnitte aus dem 2. und 5. Gesprächskontakt dargestellt. Bei dem Klien- ten handelt es sich um einen 28-jährigen Mann, der sich scheiden ließ, weil er zu der Feststellung gekommen war, dass er homosexuell sei. Um auf den fragenden, offen lassenden Tonfall aufmerksam zu machen, wurde hinter die Aussage der Therapeutin jeweils mit Absicht kein Punkt gesetzt. 47 2. Kontakt: Kl.: Ja, es ist immer so, wenn er zu Besuch kommt, bin ich irgendwie glück- lich. Sobald er weg ist, mhm, dann ist alles wieder vorbei. Th.: Da ist so ein Gefühl des Wohligseins, des Aufgehobenseins da Kl.: Ja genau. Er hat es mir oft bewiesen, schon so oft, er ist von X nach N gefahren, das hat jedes Mal unwahrscheinlich viel Geld gekostet und Urlaub und alles. Das sind schon alles Beweise, dass er es ernst nimmt und, mhm, er sagt das mir auch so oft, aber, mhm, ich weiß nicht, trotzdem kommen wir halt doch nicht so klar miteinander. Th.: Sie haben das Gefühl: irgendwie stimmt es einfach nicht so Kl.: Ja, ich wusste das von Anfang an, dass das erste Aufflammen vorüber- geht und dass dann das andere wichtiger ist: wie man sich versteht und mit- einander auskommt und ob man die gleichen Interessen hat oder nicht. Das weiß ich, das kommt immer, das ist in jeder Beziehung so. Aber wir haben wenig gemeinsame Interessen und trotzdem... Th.: Das wundert Sie, dass es trotzdem so gut geht Kl.: Ja, ganz genau. Th.: Dass Sie sich trotzdem so wohl fühlen Kl.: Ja, das wundert mich wirklich. Ja. Vielleicht ist überhaupt diese Be- ziehung das wichtigste, mhm, der wichtigste Punkt, denn wenn diese Bezie- hung klappen würde, dann würde ich auch zu der neuen Sexualität voll da- stehen. Das wäre mir dann egal, was die anderen sagen. Ich habe meinen Freund, ich fühle mich anerkannt, ich werde gemocht. Das ist schon ein Ge- fühl, das das andere überwiegt. Das andere ist dann nicht mehr so wichtig. In der Arbeit habe ich zu arbeiten. Wenn ich meine Arbeit leiste, dann ist es mir eigentlich nicht so wichtig, ob sie mich schief angucken oder was. Mein Gott, um 5 Uhr habe ich Feierabend, dann gehe ich weg. Vielleicht wäre das irgendwie schon zu bewältigen, dass es gar nicht so schwierig wäre, aber, mhm, die Beziehung. Ich glaube, dass das vielleicht das Wichtigste über- haupt ist. Ich weiß da aber keinen Rat mehr. Ich habe ihm mal gesagt, dass es mir nicht so viel ausmachen würde, wenn er mal fremdginge. Er war da ganz empört. Ich habe dann oft darüber nachgedacht und ich glaube, mhm, dass, dass meine Beziehung zu ihm fast so etwas wie eine, mhm, Vater- Sohn-Beziehung ist. Ich sehe in ihm jemanden, der mich beschützen soll, der für mich da sein soll, der mich mögen soll, aber sonst keine weiteren Ansprüche auf mich. Es ist vielleicht egoistisch von mir, aber es ist so, ich will das nicht irgendwie verheimlichen. Th.: Dieses Gefühl, irgendwo Geborgenheit zu finden, unter die Fittiche ge- nommen zu werden, das ist für Sie ganz wichtig, das gibt Ihnen sehr viel. Kl.: Ja, ja, das spielt eine ganz große Rolle. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass ich in der Kindheit, dass ich dort wenig Geborgenheit be- 48 kommen habe. Meine Eltern waren einfache Leute und hatten für uns Kin- der ganz wenig Zeit. Wenn ich heute sehe, wie sich manche Eltern mit ihren Kindern abgeben, wie viel Mühe manche sich geben, dass die Kinder, was weiß ich, vorwärts kommen oder so. Manchmal, da... könnte ich heulen, wenn ich so was sehe. Ich habe nie solch eine Person gehabt (Pause). Viel- leicht kommt es daraus, dass ich eigentlich mehr einen Vater suche als einen Freund. Ich weiß es nicht. Neulich hat eine Bekannte zu mir gesagt: wenn du der Sache nachgehst, vielleicht brauchst du dann am Ende gar keinen Partner, sondern eine Partnerin. Ich war ganz erstaunt darüber. Möglich wäre es schon, ich weiß es nicht. Th.: Das hat sie sehr überrascht, die Homosexualität nicht als etwas so un- bedingt Festgelegtes anzusehen. Kl.: Ja, so habe ich das vorher noch nie gesehen. Und ich glaube festgestellt zu haben, dass mir die Sexualität gar nicht so viel bedeutet. Th.: Dass für Sie eigentlich wichtiger ist die Beziehung, dieses: Da kümmert sich jemand um mich Kl.: Ja, das ist ganz wichtig. Th.: Und das ist etwas, was Sie in Ihrer Beziehung nicht gefunden haben. Kl.: Ja, wenn ich das so überleg’, meine Frau, die hat sich an mich angelehnt. Das war eine Belastung für mich, die ganze Zeit. Th.: Da haben Sie so gespürt: eigentlich brauch’ ich jemanden, an den ich mich anlehnen kann. Kl.: Ich musste immer alles entscheiden. Sie war da ganz hilflos. Manche mögen das ja, aber ich schiebe lieber die Verantwortung ab. Th.: Da haben Sie sich die ganze Zeit überfordert gefühlt, mhm, und jetzt, in der Beziehung, da bekommen Sie irgendwie mehr. Kl.: Ja, mhm, ich habe noch nie jemanden gehabt. Es hat sich noch nie je- mand um mich gekümmert. Und jetzt ist da mein Freund. Th.: Da bekommen Sie so eine Orientierung. Kl.: Orientierung – nein, das glaube ich, ist es nicht. Wir haben ganz ver- schiedene Lebensvorstellungen und Ideale. Aber er ist, mhm, er ist irgend- wie so offen zu mir. Ich geniere mich fast ein bisschen, dass ich ihn ausnüt- ze, weil, weil er mir so hilft. Th.: Er gibt Ihnen so unwahrscheinlich viel, und Sie haben das Gefühl: ich kann ihm nicht so viel geben. Kl.: Ja genau. Von Anfang an habe ich gedacht, aber auch ihn gefragt: Was erwartest du von mir? Was kann ich dir geben? Geld – sowieso nicht. Aber auch nichts, was man sonst in einer Beziehung sucht: einen schönen Part- ner, oder netten oder unterhaltsamen. Das war auch so quälend, dass ich, mhm, nicht wusste, was hat er denn an mir? Was kann ich ihm bieten? Und ich dachte, vielleicht ist es auch nur die erste Zeit, dass er so begeistert von 49 mir ist und die Begeisterung geht dann vorüber. Aber nein, es wird sogar noch stärker, es wird noch mehr. Th.: Ich höre da so ein ganz, ganz großes Staunen darüber. Kl.: Ja, ich verstehe das nicht. Th.: Sie wissen so eigentlich gar nicht, was an Ihnen so liebenswürdig ist. 5. Kontakt, zu Beginn der Sitzung: Kl.: Noch zum letzten Mal vielleicht. Das letzte Mal, da habe ich gedacht, ir- gendwie, eigentlich hat sich alles schon gegeben, was mich so bewegt hat. Aber dann hat es sich irgendwie ganz anders ergeben das letzte Mal. Und mhm, die ersten drei Abende, da bin ich heimgegangen und ich war sehr erleichtert. Ich hatte mir ziemlich viel von der Seele geredet. Und letztes Mal, da war das an- ders, da bin ich belastet heimgegangen. Irgendwie habe ich vorher gedacht, es gibt nicht viel zu besprechen, im Moment sind keine Probleme da, der wird nicht so viel bringen der Abend, und es war dann ganz anders. Das hat mich schon verwirrt. Das es doch noch etwas gibt. Es hat mir nämlich schon ge- zeigt, dass ich manche Sachen einfach überspiele. Th.: Wenn Sie jetzt so mal fühlen, was Sie so dabei empfinden, wenn Sie sa- gen: „Das hat mich schon belastet.“ Was ist da so in Ihnen vorgegangen? Kl.: Mir kam es so, dass es doch nicht so einfach ist. Da sind Sachen, die mich tief berühren. Und mitten in der besten Stimmung kann so was auf- kommen. Das ist nur so überdeckt. Th.: Das hat Sie irgendwie traurig gemacht. Kl.: Ja, ich habe gedacht, mhm, ich bin ausgeglichen, mir geht es gut, mich kann eigentlich nichts erschüttern, und dann ist es ganz anders gekommen. Th.: Sie spüren da so die Angst: Das könnte immer wiederkommen Kl.: Ja, mhm, ich habe auch ziemlich viel nachgedacht darüber (kurze Pau- se), mir fiel wieder ein, die Situation, als mir die Bekannte sagte, solange ich so sei, hätte ich gar kein Recht, mich in ihre Probleme reinzumischen. Da sollte ich erst Mal vor meiner eigenen Haustür kehren. Das hat mich so ge- troffen. Mir ist irgendwie klar geworden, dass mir das immer wieder passie- ren kann, dass mir auch die guten oder besten Freunde so was vorschmei- ßen können. Wenn sie mal wütend sind oder was getrunken haben oder mich verletzen wollen. Von Fremden kann man das sowieso erwarten, aber, mhm, von Freunden eben auch. Th.: Da hat sich ein Abstand aufgetan zwischen Ihnen und Ihren engsten Freunden. Kl.: Mhm, zwischen mir und allen anderen (Pause), ich habe gedacht, es könnte Ausnahmen geben. Leute, die alles mitbekommen haben, den gan- zen Prozess, wie ich mich damit abgequält habe bis zum jetzigen Zeitpunkt. 50 Das hat eine Kluft aufgetan zwischen mir und allen anderen. Th.: Ich höre da so raus: letzten Endes bin ich ganz alleine. Kl.: Ja, mhm, so wie ich bin, so werde ich doch nicht richtig verstanden. Th.: Das klingt so unwahrscheinlich traurig und irgendwie verbittert Kl.: Ja, meine Zukunft wird wohl darin bestehen, dass ich mich immer mehr in meine Wohnung zurückziehen werde. Th.: Momentan sind Sie innerlich ganz darauf eingestellt, so eine Mauer um sich zu ziehen und, mhm, da wollen Sie keinen reinschauen lassen. Kl.: Ja. Th.: Ich möchte nicht wieder verletzt werden. Kl.: Ja, ich habe Angst davor, mhm, große Angst. Bevor mir so was noch mal passiert, da bin ich lieber alleine. Th.: Wenn Sie das jetzt mal so anschauen: das Zurückziehen, keinen rein- schauen lassen und das dann so gegenüberstellen mit dem, was Sie sich mal gewünscht haben: Kontakte zu anderen, viel Unternehmungen, nicht alleine sein... 1.2.4 Empathisches Zuhören Bevor Sie sich anhand von ausgewählten Übungen näher auf das empathi- sche Verstehen einlassen, soll noch auf eine Grundbedingung eines jeden helfenden Gesprächs eingegangen werden: das empathische Zuhören. Um das emotionale Empfinden des Klienten aufzunehmen, stehen Ihnen mehrere Kommunikationskanäle zur Verfügung. Die wichtigsten sind: akustisch müssen Sie auf den Inhalt, d.h. speziell auf den emotionalen Inhalt, achten, ebenso aber auch auf immer wiederkehrende Worte, Sätze oder einen evtl. sichtbaren „roten Faden“. Daneben müssen auch der Ton- fall, das Sprechtempo und Sprechpausen registriert werden. Gleichzeitig müssen Sie visuell auf die Mimik und Gestik des Klienten achten, um fest- zustellen, ob das verbale Verhalten des Klienten (z.B. stockendes Sprechen) durch entsprechende nichtverbale Signale (z.B. unruhiges Hin- und Her- rutschen auf dem Stuhl, gespannte Gesichtsmuskulatur) ergänzt wird und Sie somit recht eindeutige Informationen über das emotionale Empfinden des Klienten erhalten, oder ob so genannte Kanaldiskrepanzen auftreten. Darunter versteht man, dass zwei oder mehrere Kommunikationskanäle diskrepante, d.h. sich widersprechende Informationen liefern. Dies ist z.B. der Fall, wenn die Klientin davon berichtet, wie stark sie der eine oder ande- re Vorfall verletzt hat (verbale Signale), und gleichzeitig die Beraterin lä- chelnd und entspannt anschaut (nichtverbale Signale). In solch einem Fall sollten Sie die Diskrepanz in den beiden Kommunikationskanälen aufgrei- fen (z.B.: „Irgendwie können sie das jetzt gar nicht mehr so nachempfin- 51 den), um herauszubekommen, welcher Kommunikationskanal im Moment am ehesten das emotionale Empfinden der Klientin widerspiegelt. Nur wenn Sie akustisch und visuell alle vom Klienten ausgesandten Sig- nale aufnehmen und nicht zeitweilig innerlich abschalten, Ihre Gedanken schweifen lassen oder noch über eine Aussage nachdenken, während die Klientin schon wieder weitergegangen ist, nur wenn Sie der Klientin so wirklich zuhören und sie nicht gleich mit Interpretationen oder Ratschlägen unterbrechen, nur so werden Sie das ganze momentane emotionale Emp- finden der Klientin aufnehmen können und sie aus ihrem Bezugsrahmen heraus verstehen lernen. Auch ein aufmerksames, verstehendes Zuhören ist in erster Linie eine Einstellungsfrage. Haben die Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen der Klientin wirklich Bedeutung für Sie, so wird es primär eine Übungssa- che sein, über eine längere Zeit hinweg konzentriert zuzuhören, auf alle Sig- nale zu achten und nicht abzuschweifen. Eine Beraterin, die darauf „brennt“, ihr Wissen anzubringen, wird schwerlich ein verstehendes Zuhö- ren praktizieren können. Sehr schön formuliert Michael Ende das empathische Zuhören in seinem Kinderbuch MOMO: „Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher (Leser) sa- gen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhö- ren verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich gescheite Ge- danken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den an- deren auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte ein- fach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betref- fende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf ein- mal ganz genau wussten, was sie wollten. Und dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, das es 52 ihn genauso, wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!“ (Ende 1973, S. 14) Eine Gesprächsmethode des empathischen Zuhörens ist es, mit eigenen Worten das aufzugreifen, was Sie vom Gesagten verstanden haben. Dieser Aspekt wird oft auch „Aktives Zuhören“, „Einfühlendes Wiederholen“, „Pa- raphrasieren“ oder „Spiegeln“ genannt. Bekannt wurde dieses Vorgehen durch die Bücher ‚Familienkonferenz’ und ‚Lehrer-Schüler-Konferenz’ von Thomas Gordon (2012), einem Schüler von Rogers. Dieses Spiegeln vermit- telt der Klientin das Bemühen, das zu erfassen, was für sie im Vordergrund steht. Die Klientin kann dann ohne abgelenkt zu werden, ihre Gedanken weiterentwickeln und weiter präzisieren. Dabei darf die Zuhörerin natürlich nicht einfach die Worte der Klientin wiederholen, sondern muss mit eigenen Worten das Wesentliche wiedergeben. Beispiele: Klient.: Ich verstehe einfach nicht, was der Chef von mir will. Der ist so wischiwaschi. Ber.: Der schwafelt eher, Sie können damit gar nichts anfangen. Klient.: Ich versuche es jetzt einfach noch einmal, mehr als „Nein“ sagen kann er ja nicht. Ber.: Sie sind fest entschlossen, ihn einfach noch einmal zu fragen. Klientin: Die Kollegen sind alle gegen mich. Die haben alles schon unter sich abgesprochen. Ber.: Das ist für sie ein abgekatertes Spiel, in dem Sie keine Chance mehr haben. Das aktive Zuhören oder Spiegeln stellt eine Gesprächsmethode dar, die ei- nen Anfang bildet, um in Kontakt mit der subjektiven Wirklichkeit der Kli- entin zu kommen. Dies ist besonders wichtig, wenn die Klientin eine fest gefügte Meinung hat oder eine gänzlich andere Meinung vertritt als die Be- raterin. 53 1.2.5 Übungen Übung 1: „Empathisches Zuhören“ A. 1. Sammeln Sie Signale, die verbal ein aufmerksames Zuhören ausdrücken. 2. Sammeln Sie Signale, die nonverbal ein aufmerksames Zuhören ausdrücken. 3. Probieren Sie in 2er-Gruppen verschiedene Sitzhaltungen aus, die mehr oder weniger deutlich ein aufmerksames Zuhören zeigen. Drücken Sie Interesse und Desinteresse mit Mimik, Gestik und Körperhaltung aus. 4. Tauschen Sie sich darüber aus, ob Sie Situationen kennen, in denen es Ihnen hilfreich war, dass Ihr Gegenüber Ihnen einfach „nur“ zuhörte. 5. Versuchen Sie herauszufinden, wie es für Sie persönlich ist, wenn sie in einem Ge- spräch ständig unterbrochen werden; der Gesprächspartner versucht, Sie „mit Ge- walt“ zu überzeugen; Sie das Gefühl haben: der hört mir ja gar nicht richtig zu! B. Instruktion: Teilen Sie sich in Zweiergruppen auf und überlegen Sie gemeinsam ein Thema, zu dem Sie unterschiedliche Meinungen haben. Themenvorschläge: Politik und politische Einstellung; umstrittene aktuelle Gesetze. Sozialer Bereich: die the- rapeutische Verantwortung in der psychosozialen Arbeit, Leben in einer Wohngemein- schaft. Hochschulbereich: Notwendigkeit von Prüfungen, mündliche oder schriftliche Prü- fungen. Wenn Sie sich auf ein „kontroverses Thema“ geeinigt haben, dann diskutieren Sie zu zweit bitte 5-10 Minuten über dieses Thema (= 1. Ablauf). Nach dieser 1. Diskussion gilt Folgendes: Sie diskutieren weiter über das bereits ange- sprochene Thema oder Sie suchen sich ein neues Thema. Diesmal jedoch nach folgender Vorgehensweise (= 2. Ablauf): Wenn eine von Ihnen (A) die ersten ein bis zwei Sätze ge- sagt hat, dann darf die Gesprächspartnerin (B) nicht gleich mit ihrer Entgegnung reagie- ren, sondern muss zuerst das von A inhaltlich Gesagte mit eigenen Worten sinngemäß wiedergeben (spiegeln bzw. paraphrasieren). Erst wenn daraufhin A mit „stimmt“ oder „richtig“ bestätigt, dass der Sinn des von ihr Gesagten in der Wiedergabe nicht entstellt wurde, erst dann darf B ihre Entgegnungen ausführen. Wird ein Satz von B (oder A) nicht richtig wiedergegeben, dann wird er von der Partnerin auch nicht bestätigt, B (oder A) muss dann erneut versuchen, das Gesagte sinngemäß zu wiederholen. Auch dieses Gespräch soll nach ca. 10 Minuten beendet werden. Beispiel für den 2. Ablauf: A: Ich finde, es bringt überhaupt nichts ein, wenn man in eine Wohngemeinschaft zieht. Laufend ist Streit, man muss aufeinander Rücksicht nehmen, und man ist nicht so frei, als wenn man alleine wohnt. B: Du hältst von einer Wohngemeinschaft nichts, denn du meinst, es gibt doch immer Ärger, man ist viel eingeschränkter, als wenn man allein lebt. A: Ja, stimmt. 54 B: Ich finde das gar nicht so. Meiner Meinung nach... A: Du meinst... Nach Beendigung dieses 2. Gesprächs diskutieren Sie, inwieweit folgende Thesen auf Ih- re Gesprächssituation zutreffen bzw. zutrafen: Man lässt bei der Wiedergabe leicht einiges unter den Tisch fallen (besonders, was ei- nem nicht ins eigene Konzept passt). Man konzentriert sich auf eine bestimmte Aussage und bekommt dann andere Aussagen nicht mehr ganz mit. Wenn man das, was man gesagt hat, noch einmal sinngemäß zur Überprüfung wieder- gegeben bekommt, so empfindet man ein angenehmes Gefühl des Verstandenwerdens. Übung 2: Synonyme bilden Im Folgenden finden Sie eine Reihe von gefühlsmäßigen Empfindungen. Versuchen Sie, zu jedem Ausdruck möglichst viele Synonyme, d.h. Worte mit gleicher oder ganz ähnli- cher Bedeutung, zu finden. Überlegen Sie nicht zu lange, sondern sagen Sie spontan alle Ausdrücke, die Ihnen zu der entsprechenden Empfindung einfallen. Beispiel: Traurig sein: niedergeschlagen, bedrückt, unglücklich, mutlos, betrübt, bekümmert, trostlos. Psychische Empfindungen: 1. sich zurückgewiesen fühlen, 2. sich unsicher fühlen, 3. sich unbehaglich fühlen, 4. sich freuen, 5. völlig leer sein, 6. sich ausgelacht fühlen, 7. ängstlich sein, 8. ärgerlich sein, 9. glücklich sein, 10. sich allein fühlen, 11. sich geborgen fühlen. Übung 3: Sprachliche Bilder finden Versuchen Sie, die oben aufgeführten Empfindungen in ein sprachliches Bild umzu- setzen. Da sich fast jede Empfindung in mehreren Bildern ausdrücken lässt, versuchen Sie, jeweils so viele passende sprachliche Bilder zu finden wie möglich. Fällt Ihnen zu einer Empfindung kein Bild ein, so gehen Sie zum nächsten Ausdruck über. Beispiel: Ärgerlich sein. Bild: an die Decke gehen, rot sehen, innerlich kochen. 55 Übung 4: Repräsentationssysteme Sammeln Sie Sprichwörter und Redewendungen, die die verschiedenen Repräsenta- tionssysteme widerspiegeln. Beispiel: visuell: Das sticht mir ins Auge. auditiv: Nur mit einem Ohr dabei sein. kinästhetisch: Es schnürt mir das Herz ab. Übung 5: Die emotionale Botschaft der Klientin wahrnehmen und aufgreifen Im Folgenden sind zehn Klientenäußerungen aufgeführt. Versuchen Sie sich jeweils in den inneren Bezugsrahmen der Klientin hineinzuversetzen und bei den einzelnen Äuße- rungen das dazugehörige Erleben zu verbalisieren. Denken Sie dabei an den fragenden Tonfall, da Ihre Verbalisierung ja jeweils nur ein Versuch ist, das vorherrschende Gefühl der Klientin zu treffen. Beispiel: Klientin: Wenn ich ihn schon heimkommen höre! Das Geschimpfe geht doch gleich wieder los. Nicht auf den Inhalt eingehen, wie z.B. Ihr Mann kommt dann rein und schimpft, sondern auf das Gefühl, das innere Erleben eingehen, z.B. Da graut Ihnen schon richtig vor, oder Sie haben das so satt, oder Sie haben so das Gefühl: da komme ich nicht mehr gegen an. Klientenaussagen: Ich gehe da auf keinen Fall mehr hin! Das hätten Sie sehen sollen, wie die gestaunt haben, als ich plötzlich in der Tür stand. Das geht jetzt schon jahrelang so. Tagaus, tagein, immer diese Nörgelei. Ich kann mich einfach nicht dazu überwinden, wenn da alle so am Tisch rumsitzen, auch mal den Mund aufzumachen und was zu sagen. Sie glauben nicht, wie kalt der Mann sein kann. So richtig eiskalt. Ich weiß schon, dieser Schulabschluss wäre wichtig. Aber eine ganz schöne Umstel- lung ist das schon. Meinen Sie, mit der kann ich noch reden? Das hat doch überhaupt keinen Sinn mehr. Ich kann auf den Jungen nicht mehr aufpassen. Der macht doch was er will! Irgendwie ist der Schwung weg. Vor ein paar Jahren sah das noch ganz anders aus. Da bin ich einfach aufgestanden und habe denen meine Meinung gesagt. Ich glaube, ich bin nicht einmal rot geworden. 56 Übung 6: Nonverbaler Ausdruck von Gefühlen Versuchen Sie Ihre Wahrnehmung in Bezug auf den Ausdruck von Gefühlen zu erweitern, indem Sie in Zweiergruppen oder in Kleingruppen herausfinden, wie verschiedene Gefüh- le nichtverbal ausgedrückt werden. Stellen Sie Aussagen wie „Ich bin traurig“ / „Ich bin wütend“ / „Ich fühle mich einsam“ / „Ich fühle mich großartig“ / „Ich schaffe es!“ / „Mir geht’s gut“ pantomimisch dar. Übung 7: Eigene Gefühle kennen lernen Beschäftigen Sie sich in Kleingruppen mit der Frage: Inwieweit machen mir starke Gefüh- le (Schmerz, Wut, Trauer, Verzweiflung) Angst? Warum? Wovor habe ich dabei Angst? Lernkontrolle Aufgabe 1 Nennen Sie die zwei im Text genannten Kommunikationskanäle, über die die Beraterin Informationen über den Klienten erhält. 1. __________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ 2. __________________________________________________________________________ ___________________________________________________________________________ Aufgabe 2 Ordnen Sie die Klientenaussagen (A-F) folgenden Repräsentationssystemen zu: 1. visuell: ___________________________________________________________________ 2. auditiv: ___________________________________________________________________ 3. kinästhetisch: _________________________________________

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