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This document discusses the ethical implications of technology, particularly social media, and the increasing role of predictive analytics in shaping and influencing human behavior. It examines how technology companies utilize data and algorithms to understand user behavior and, in turn, shape their experiences within digital platforms.

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Ethik Das Setup ist also kein Zufall, nicht der Technologie per se zuzuschreiben, die bestimmbaren Folgewirkungen nicht zwangsläufig oder unvermeidbar, wenn soziale Medien genützt werden sollen. Es handelt sich stattdessen, um eine bewusste Entscheidung seitens der Technologiekonzerne, im Interesse...

Ethik Das Setup ist also kein Zufall, nicht der Technologie per se zuzuschreiben, die bestimmbaren Folgewirkungen nicht zwangsläufig oder unvermeidbar, wenn soziale Medien genützt werden sollen. Es handelt sich stattdessen, um eine bewusste Entscheidung seitens der Technologiekonzerne, im Interesse des eigenen Marktwerts getroffen. Als fatale Kettenreaktion wirkt die ra- sante Verbreitung von Falschmeldungen oder ungeprüfter Gerüchte, die Un- unterscheidbarkeit zwischen verifizierbaren Tatsachenberichten und haltlo- sen Behauptungen, die Entstehung von diskursiven Parallelgesellschaften. Soziale Netzwerke, die einst die öffentlichkeitswirksame Mission für sich selbst definierten, die Menschheit zu vernetzen, zerfallen zusehends in starre Kleinverbindungen. Plattformen strukturieren also nicht ein gemein- sames Netzwerk, sondern erscheinen vielmehr als die operative Grundlage für segregierte und thematisch abgekapselte Subnetze, zerfallen in zahllose Echokammern. Ein entscheidender Aspekt, wenn über diese Eigenheit nachgedacht wird, besteht darin, dieses Merkmal nicht als einen unumgänglichen Makel der technologischen Entwicklung zu betrachten, sondern die ökonomische Ver- wertungslogik zu reflektieren, die das Setup begründete. Anfänglich war es eine rasante Wachstumslogik, die dazu führte, Nutzer anzuhalten, möglichst viel ihrer begrenzten Zeit auf Aktivitäten in den sozialen Medien zu verwen- den. Dafür mussten Anreize wie ein Belohnungssystem in Form von der wahrnehmbaren Eigenwirkung geschaffen werden – sei es in Form von ver- dienten Likes. Als dann die Business-Modelle intensiviert und verbessert wurden, verstärkte sich die bewährte Logik zusätzlich. Auch aktuell zeigt sich ein Wachstumstrend, wenn die durchschnittliche Zeit ermessen wird, die Nutzer von sozialen Medien auf den unterschiedlichen Plattformen verbringen. 73 Ethik Abbildung 12: Minuten, die Nutzer auf sozialen Netzwerken täglich verbringen (Bezug: Android Nutzer in den USA), Molla/Wagner (2018) Eine der essenziellen und wunderbaren Dienstleistungen, die das konventi- onelle Internet ermöglicht, besteht darin, Personen in flexiblen Netzwerken über globale Distanzen zu verbinden. Gemeinsame Interessen lassen sich teilen, Informationen übertragen, mono- oder multithematische Gruppen können sich konstituieren, die Reichweite erlaubt es, von der lokalen Ebene bis zur interkontinentalen Distanz soziale Einheiten zu integrieren. Diese Schlüsselfunktion wirkt als ein fortschrittliches und attraktives Wesensmerk- mal, dass der Nutzung des Internets eignet. Form, Verfahren und Strukturen, wie diese Prozesse gegenwärtig abgewickelt werden, entsprechen einer ge- wissen Form der Kommerzialisierung und der politischen Ökonomie der be- stehenden Verhältnisse. Es ließe sich auch anders denken und realisieren. Das nächste Kapitel zeigt diesbezüglich eine vergleichbare Vorgehensweise im Hinblick auf die Geschäftspraktiken maßgeblicher Startup-Konzerne, die gerne als Sinnbild für disruptive Geschäftsmodelle in einer Branche verstan- den werden. Abschließend: Die Darstellung von Inhalten in den sozialen Netzwerken, die Einzelpersonen angezeigt bekommen, basiert auf der Kalkulation von Algo- rithmen, die einfach versuchen, persönlichen Erwartungshaltungen zu ent- sprechen. Die Funktionsweise der Algorithmen zielt darauf, jene Beiträge zu erkennen, die eine Person bevorzugt lesen möchte. Es werden also Muster erkannt und dann plausible Vorhersagen abgeleitet, Vorlieben und vorge- fasste Meinungen werden extrapoliert. Dieser Erkenntniszusammenhang wirkt nun nicht nur im Umfeld der sozialen Medien. Auch andere Big Data Analysen zielen genau darauf ab, anhand von empirischen Datenbeständen, 74 Ethik konkrete Handlungsweisen in der Zukunft vorherzusagen. Diese Entwicklung wird mit dem Schlagwort Predictive Analytics umschrieben. Was genau meint Predictive Analytics? Predictive Analytics umfasst eine Vielzahl von statistischen Techniken aus den Bereichen Data Mining, Predic- tive Modelling und Machine Learning. Aktuelle und historische Fakten bzw. Merksatz vergangene Verhalten werden analysiert, um Vorhersagen über zukünftige oder sonst unbekannte prognostizierbare Ereignisse zu treffen. Predictive Analytics erlaubt also auf Grundlage einer umfassenden Daten- auswertung, Muster zu deduzieren, die mit gewisser Plausibilität zukünftige Verhaltensmuster antizipieren lassen. Dieses Wissen lässt sich nun beispielsweise dafür nutzen, dass Kundinnen individualisierte Angebote gemacht werden, da das weitere Konsumverhal- ten von Einzelpersonen sich anhand vergangenen Benehmens eruiert lässt. Es lässt sich dafür nutzen, politische Präferenzen zu bestimmen und diese geschickt zu adressieren. Predictive Analytics wird häufig gerade dann kri- tisch thematisiert, wenn es in Verbindung mit dem Vorschlag von Predictive Policing auftritt. Statistische Datenauswertungen werden in diesem Zusam- menhang dafür genutzt, um potenzielle Verbrechen zu verhindern. Predic- tive Policing analysiert individuelles Benehmen, kombiniert dieses mit mo- dernen GPS-Daten und anderen dokumentierten Verstößen von Einzelper- sonen, um die Wahrscheinlichkeiten von anstehenden Gesetzesübertritten zu ermessen. Die Polizeiarbeit wandelt sich also von der Ahndung von Ver- brechen hin zur Verhinderung derselben. Es wird folglich anhand von mul- tiplen Datenbeständen die Wahrscheinlichkeit von Zwangsläufigkeiten de- terminiert, um auf dieser Grundlage dem Sicherheitsbedürfnis moderner Gesellschaften genüge zu leisten. Speziell Predictive Policing zeigt nun immanente Konsequenzen für die Auf- fassungen davon, wie Menschen eigentlich agieren. Wenn sich aus aufge- zeichneten Verhaltensmustern denkbar exakte Vorhersagen treffen lassen, dann wird das Rollenbild eines autonom agierenden Menschen entschei- dend herausgefordert. Wenn sich aufgrund vergangenen Verhaltens zukünf- tiges Benehmen abstrahieren lässt, dann wird die wesentliche Auffassung manifest herausgefordert, die ein liberales Menschenbild begründet – näm- lich der Sachverhalt, dass ein Mensch selbstbestimmt und frei auf Basis ei- gener und ungezwungener Entscheidungen agiert. Predictive Analytics operiert zwar in Wahrscheinlichkeiten, aber oft wird dem Phänomen speziell im öffentlichen Diskurs ein gewisses Maß an Deter- minismus zuerkannt. 75 Ethik Determinismus meint die Auffassung von der kausalen Vorbestimmtheit al- len Geschehens und Handelns. Als solche steht diese Überzeugung quer zum Ansatz der Willensfreiheit. Merksatz Freier Wille, freie Entscheidung, die Überzeugung, dass menschliches Han- deln auf diesen Paradigmen beruht, bildet die theoretische und praktizierte Voraussetzung dafür, dass Demokratien realisierbar werden. Eine freie Ge- sellschaft baut auf dem Grundton, dass mündige Bürgerinnen autonome und vernünftige Entscheidungen treffen werden. Wird dieser gedankliche Grundsatz nun durch die Praxis von vortrefflichen Predictive Analytics zunehmend bedrängt oder gar widersprüchlich zur er- fahrbaren Welt, dann könnten Grundsätze des aufgeklärten Weltbilds zu erodieren beginnen. Deshalb sei an dieser Stelle eines vermerkt: Freiheit im essenziellen Sinne meint vor allem die Anerkennung der Fähigkeit des Menschen, das eigene Leben vernunftbasiert, individuell und eigenständig zu gestalten. Es meint nicht, aus einem vorgegebenen Sortiment von Produkten eine bevorzugte Auswahl zu treffen. Wird Freiheit darauf reduziert, dann sind ideelle Umbrü- che zu erwarten. Überspitzt formuliert: Predictive Analytics mag dabei helfen, Konsumverhal- ten zu entschlüsseln. Wenn also eine Zeit lang Windeln für Säuglinge gekauft werden, dann ist daraufhin zu erkennen, dass bald die Nachfrage nach Holz- spielzeug entsteht, das lässt sich mit Big Data erwirken. Wie aber ein moder- nes, ethisches, vernünftiges, nachhaltiges Leben im 21. Jahrhundert geführt werden kann, dafür bedingt es der autonomen Entscheidungen aufgeklärter Individuen. Wenn Big Data nun dabei hilft, komplexe Entscheidungsgrundla- gen aufzubereiten, um neue und ergänzende, auch gewinnträchtige Per- spektiven zu erschließen, dann hat bereits eine Technologie effektiv zum zi- vilen Fortschritt beitragen können. Doch die Autonomie der Entscheidung obliegt dem Menschen, auch weil er sich aus der Verantwortung für die Welt nicht stehlen kann. Doch nicht nur Predictive Analytics zeigt diesbezüglich vehemente Konse- quenzen für die Selbstwahrnehmung des Menschen betreffend Gestaltung und Erfahrung von Wirklichkeit. Predictive Analytics nutzt Big Data, umfas- sende und disparate Datenbestände werden also darauf verwandt, konkrete Aussagen zu treffen. Die Schwierigkeit für das menschliche Selbstbewusstsein wartet nun darin, dass Maschinen Aussagen über die Wirklichkeit treffen können, die den kog- nitiven Erkenntniswegen des Menschen schlicht verschlossen bleiben. Der 76 Ethik menschliche Verstand fungiert somit nicht mehr als alleinige und entschei- dende Richtinstanz der Analyse weltlicher Prozesse, sondern er stützt seine Einschätzung auf computergestützten Operationen. Big Data meint die Auf- zeichnung von einer Fülle an Datenbeständen, die nur noch dann informativ verarbeitet werden können, wenn auch dafür computergestützte Verfahren zur Anwendung kommen. Das Wissen, das aktuell dokumentiert wird, zeigt Ausmaß und Fülle, die sich nur noch dann gewinnbringend auswerten lassen, wenn technologische Ver- fahren zur Anwendung kommen. Die aussagekräftige Aufbereitung von In- Merksatz formation benötigt bereits technologische Unterstützung. Danach werden dann Kreativität, Einschätzung und Interpretation durch den menschlichen Geist verlangt. Dieser Einschnitt markiert eine Zäsur. Das 21. Jahrhundert dokumentiert also den Übergang in ein neues Zeitalter, das dem Menschen neue Rollen zudenkt. Für den Bruch überholter Konven- tionen zeigen sich zwei zentrale Faktoren entscheidend: Die digitale Transformation bewirkt, dass Gegenstände, die wir nutzen, in konkreter Hinsicht intelligenter agieren können als der Mensch selbst. Das Verhältnis zwischen Menschen und Gegenständen, die genutzt werden, ver- ändert sich damit nachhaltig. Nicht nur das: Bisher war der Weiterentwick- lung jedes Gegenstands menschlichem Erfindungsgeist zuzuschreiben, Künstliche Intelligenz hingegen trainiert sich selbst und wird eigentätig schlauer. Der Klimawandel redefiniert zusätzlich das Verhältnis zwischen Menschen und Natur. Die ältesten fossilen Funde, die die Existenz der Spezies Homo Sapiens belegen, finden sich in Afrika und lassen sich 300.000 Jahre rückda- tieren. Der Klimawandel ändert nun die thermischen und klimatischen Be- dingungen im natürlichen Lebensraum des Menschen, wie es innerhalb die- ses Zeitraums vergleichbar nicht vorgekommen ist. Beides wird nachhaltige Veränderungen bewirken. 6 Die Moral der Disruption Wird über Veränderung im Rahmen der digitalen Transformation nachge- dacht, dann fällt regelmäßig der Begriff Disruption. Das Schlagwort stammt aus dem Englischen, auf Deutsch übertragen bezeichnet disruption Zusam- menbruch, Störung, Diskontinuität. 77 Ethik In Verbindung mit der digitalen Transformation meint Disruption den Um- bruch und die Erneuerung von konventionellen Geschäftsmodellen durch den Einsatz neuer Technologien. Merksatz In der Verlagsbranche wurde durch neue Mechanismen der Informationsbe- schaffung die Relevanz der gedruckten Tageszeitung oder konventioneller Nachrichtensendungen gesenkt. Bedeutungen haben sich radikal verscho- ben. Der Anzeigenmarkt, der für Tageszeitungen und Magazine neben den Vertriebserlösen die bedeutsamste Einkommensquelle bildete, erfuhr radi- kale Umwälzungen. Soziale Medien und Suchmaschinen verdienen mittler- weile eindrücklich an den Umbrüchen und Abstürzen der anderen. Facebook veröffentlicht Kennzahlen, die belegen, dass im Jahr 2018 rund 55 Milliarden Dollar an Werbeumsätzen erzielt wurden. Google kassierte im selben Jahr 116 Milliarden Dollar an Werbeeinnahmen. 31 Bei beiden Unternehmen muss berücksichtigt werden, dass sie, anders als Verlagshäuser, keine eigenen In- halte produzieren. Sie verstehen sich auch nicht als solche, sondern agieren ihrem Rechtscharakter nach als reine Plattformen, die für Inhalte nicht haft- bar zu machen sind. Vielmehr sind es die Nutzer, die Inhalte zur Verfügung stellen, die entweder das soziale Netzwerk beleben oder auf Suchmaschinen hinweisen können. Das Prinzip, dass Nutzer Inhalte kostenlos produzieren und zur Verfügung stellen, Inhalte, die dann von den Plattformen selbst kommerzialisiert wer- den, nutzen beispielsweise einige Denkerinnen als einen Begründungszu- sammenhang für eine Art des bedingungslosen Grundeinkommens. 32 Durch effizientes Steuerregime und der Redistribution mittels Grundeinkommen würden die Verfasserinnen von Inhalten für ihre Aktivitäten entlohnt. Das Verfassen von Inhalten wäre die anzuerkennende entlohnende Arbeit, die Netzwerke vermarkten. Die Plattformen würden dementsprechend als Ver- werter der Inhalte zu einem Medium werden, das die Beiträge effektiv mo- netarisiert, bevor die erzielten Einnahmen dann weiterverteilt werden. Wie in einer anderen Lehrveranstaltung bereits vermerkt, eignet sich auch die Musikindustrie als Sinnbild eines Marktes, der durch die Logik der Dis- ruption essenziell erneuert wurde: In der zweiten Januarwoche 2019 schaffte es der New Yorker Musiker A Boogie wit da Hoodie auf Platz 1 der amerikanischen Album Charts Billboard 200 mit gerade einmal 823 verkauf- ten Tonträgern. Die Spitzenposition erhielt er insofern, als seine Popularität bei den Streamingdiensten sich in Albumäquivalente übertragen lässt. 31 Vgl. Fidler, 2018 32 Vgl. Lobe, 2017 78 Ethik Billboard verbuchte für das Album Hoodie SZN in der besagten Woche 58.000 Albumäquivalente in den Streamingdiensten und 823 verkaufte Ton- träger. 33 Disruption wird also dann wirksam, wenn sich innovative Technologien mit neuartigen Geschäftsmodellen so verbinden, dass bestehende Prozesse und Absatzwege nahezu schlagartig obsolet werden. Ein Unternehmen, das vielen als Inbegriff disruptiver Geschäftspraktiken gilt, ist Uber. Doch was verbirgt sich hinter dem Erfolg des einstigen Startups und was erzählt die Entwicklungsgeschichte über die Moral der Disruption? Beispiel Die Geschichte von Uber fängt gemäß dem eigenen Narrativ damit an, dass die beiden Freunde Travis Kalanick und Garrett Camp zusammen die Le Web Konferenz in Paris im Jahr 2008 besuchen. Beide sind zu diesem Zeitpunkt bereits aufgrund des Verkaufs erster Startups vermögend. Das nutzt an ei- nem Konferenzabend jedoch denkbar wenig, denn es finden sich nach Ende eines Veranstaltungstages keine Taxis, die sie hätten nutzen können, um ins Zentrum der Stadt zurückzukehren. Diese Erfahrung veranlasst die Beiden darüber nachzudenken, wie sich denn eine App aufsetzen ließe, die Fahrten mit Limousinenservices teilt. Diese Idee führte auch zum ursprünglichen Geschäftsfeld des Unterneh- mens. Es sollten damit ausschließlich Fahrten an Fahrer vermittelt werden, die üblicherweise in schwarzen, eleganten Personenwagen Flugpassagiere von Flughäfen in ein Stadtzentrum bringen. Diese Tätigkeit ist normaler- weise mit langen Wartezeiten verbunden. Um also höhere Effizienz zu erwir- ken, war es angedacht, diesen Limousinenfahrern weitere Fahrgäste weiter- zuvermitteln. Der Rechtsrahmen war abgesteckt, die Standards gesetzt, das Optimierungspotenzial klar ersichtlich. Die Leerläufe und Stehzeiten von Flughafenlimousinen zu verkürzen, indem zusätzliche Fahrten vermittelt werden, darin bestand anfänglich das Ge- schäftsmodell von Uber. Diese Idee wurde dann auch präsentiert, um Inves- toren zu gewinnen, die den Aufbau und die Geschäftstätigkeit des Unterneh- mens finanzieren sollten. Die Schwierigkeit fand sich darin, dass nahezu parallel und simultan ein an- deres Startup eine Idee zu vermarkten begann, das weit ambitionierter als Uber wirkte. Das Unternehmen nennt sich Lyft und das Geschäftsmodell da- hinter bestand darin, dass eine Software programmiert wurde, die Personen schlicht erlaubt hat, eine Fahrt bei anderen Personen zu buchen. Lyft 33 Vgl. Sokolov, 2019 79 Ethik erneuerte den Mobilitätssektor, da das Unternehmen nicht nur Personen, welche Limousinen fahren, als Service-Provider in die Plattform miteinbe- zog, sondern es jeder Person freistellte, sich nicht nur als Kunde sondern auch als Fahrer zu registrieren. Der Ansatz besagte also, dass sich Mobilität so neu denken lassen müsste, dass Fahrten schlicht miteinander geteilt wer- den, jeder unkompliziert sowohl Anbieter als auch Nutzer solcher Dienste sein solle. Lyft verstand es als Unternehmen folglich, bestehende Hardware in Form der genutzten Autos gleich zu belassen, doch diese anders und in- tensiver durch vernetzende Software zu nutzen. Die operative Auslastung der vorhandenen Bestände wurde durch den Einsatz neuer Software umge- staltet. Was bisher Taxameter, Call-Center und eigene Fahrzeugflotten be- sorgen, ließe sich durch bestehende Fahrzeuge, einfach bedienbare Apps und kooperativ agierende Personen ersetzen. Das essenzielle Problem dieser Geschäftsidee bestand darin, dass es sich fak- tisch um Rechtsbruch handelt. Das Beförderungswesen unterliegt komple- xen legalistischen Regelungen, die deshalb Sinn ergeben, weil Passagiere be- sondere Versicherungsstandards genießen. Insofern zeigen sich im Taxiwe- sen ausdifferenzierte juristische Regelungen für welche Schäden die fahren- den Personen, wann das Taxisunternehmen und wann die Passagiere selbst haften würden. Es ist schwierig aber notwendig, rechtlich aufzuschlüsseln, wann und ab welchem Zeitpunkt im Falle von Verletzungen oder Unfällen der Passagier selbst haftet, ob es im Verantwortungsbereich des Lenkers lie- gen würde oder ob eine potenzielle Versicherungsleistung durch das Taxiun- ternehmen selbst zu decken wäre. Geschieht es beispielsweise beim Einstei- gen oder Verlassen des Fahrzeugs oder erst wenn sich das Auto in Bewegung setzt? Aus diesen Gründen war das Mobilitätsgewerbe reglementiert – teils auch zweifellos überreglementiert. Lyft begründete also eine Geschäftspraxis, die einen bewussten Rechtsbruch darstellte. Uber erkannte, dass das eigene Geschäftsmodell dagegen nicht erfolgreich konkurrieren konnte und folgte der Praxis von Lyft. Der Unter- schied bestand darin, dass Uber noch aggressiver und konsequenter im Auf- bau des eigenen Geschäftsmodells vorging, als es Lyft jemals getan hat. Die Frage, die sich nun stellt, um diese Vorgänge zu bewerten, lautet: War sich Uber der Tatsache bewusst, dass mit dem eigenen Geschäftsmodell ge- gen rechtliche Regelungen verstoßen wird? Benjamin Edelman, ein in Harvard lehrender Jurist und Ökonom, belegt in seiner Arbeit, dass Uber die Illegalität des eigenen Handelns nicht nur be- wusst war, sondern dass sie auch offen im Zuge interner Kommunikation thematisiert wurde. Die Illegalität des eigenen Handels wurde sogar als 80 Ethik Vorteil verstanden. Aufwändige Prüfungen für die lenkende Person, geson- derte Registrierungen, die Taxiautos verlangen, Unternehmensversicherun- gen, die verschärften Inspektionen für Fahrzeuge, die zur kommerziellen Be- förderung von Passagieren genutzt werden, all das konnte Uber umgehen. Die Ignoranz gegenüber verbindlichen Standards erlaubte im Preiskampf mit bestehenden Unternehmen, die gängigen Tarife zu unterbieten. Der Rechts- bruch führte zu strategischen Vorteilen im Wettbewerb. Der US-amerikanische Ökonom Peter Drucker hielt für Organisationen und Unternehmen eine entscheidende Wahrheit fest: „Cultur eats strategy for breakfast.“ Die Kultur, die in einem Unternehmen oder einer Organisation gepflegt wird, ist also die entscheidende Richtgröße, um Verhaltensnormen zu definieren. Werden Strategien definiert, die im Gegensatz zur Kultur ste- hen, gilt es als sicher, dass ihnen wenig Erfolg beschieden sein wird. Die Kul- tur repräsentiert gemäß dieser Auffassung das kollektive Selbstverständnis einer Organisation. Bei Uber war und ist diese Verständnisgrundlage des ei- genen Tuns davon grundlegend mitbestimmt, dass die eigene Geschäftstä- tigkeit sich in der Illegalität bewegt. Benjamin Edelman fast seine Forschung über Uber in knappen Sätzen zusammen: Darüber hinaus konzentrierten sich Ubers ausgeprägtesten Fähigkeiten auf die Verteidigung der Rechtswidrigkeit. U- ber baute Personal, Verfahren und Softwaresysteme auf, deren Zweck es war, Passagiere und Fahrer zu befähigen und zu mobilisieren, Regulatoren und Gesetzgeber zu be- einflussen – eine politische Katastrophe für jeden, der U- bers Ansatz in Frage stellte. Die Phalanx der Anwälte des Unternehmens brachte Argumente [in unterschiedlichen Gerichtsverfahren und Anhörungen, Anm.] vor, die aus früheren Streitigkeiten perfektioniert wurden, während jede Gerichtsbarkeit Uber unabhängig und von einer leeren Tafel aus ansprach, meist mit einem bescheidenen Prozess- team. Uber-Publizisten präsentierten das Unternehmen als Inbegriff von Innovation und stilisierten Kritiker zu etablier- ten Marionetten, die in der Vergangenheit stecken geblie- ben waren. 34 Die Intention der Geschäftsstrategie baut auf einer stringenten Logik auf: Das Geschäftsmodell steht zwar geltenden Regularien entgegen, ignoriert und bricht diese, aber der Rechtsbruch selbst gilt insofern als 34 Edelman, 2017 81

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