Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 29. Juli 2024 PDF

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Summary

This is a legal document from the Swiss Federal Administrative Court (Bundesverwaltungsgericht) concerning a case involving the IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA. The document details the court's decision made on July 29, 2024.

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Bundesverwaltungsgericht Tribunal administratif fédéral Tribunale amministrativo federale Tribunal administrativ federal Abteilung III C-587/2024 Urteil vom 29. Juli 2024 Besetzung Richter Beat Weber (Vorsitz),...

Bundesverwaltungsgericht Tribunal administratif fédéral Tribunale amministrativo federale Tribunal administrativ federal Abteilung III C-587/2024 Urteil vom 29. Juli 2024 Besetzung Richter Beat Weber (Vorsitz), Richterin Caroline Bissegger, Richterin Caroline Gehring, Gerichtsschreiberin Tanja Jaenke. Parteien A._______, Zustelladresse: c/o B._______ (Schweiz), vertreten durch lic. iur. Nicolai Fullin, Advokat, Beschwerdeführerin, gegen IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA, Vorinstanz. Gegenstand IV, Rückerstattung; Verfügung der IVSTA vom 22. Dezember 2023. C-587/2024 Sachverhalt: A. A._______ (nachfolgend Versicherte), geboren am (…) 1959, ist indische Staatsangehörige. Im Jahr 1992 reiste sie in die Schweiz ein (vgl. Akten der Vorinstanz im Verfahren C-587/2024 gemäss Aktenverzeichnis vom 23. Februar 2024 [IVSTA3-act.] 7 S. 1; 20 S. 1). Von 1992 bis 1997 hielt sich die Versicherte in (…) auf und von 1997 bis 2002 in (…) (IVSTA3-act. 7 S. 1). Sie absolvierte von Oktober 1994 bis Juni 1998 eine vierjährige Aus- bildung an der C._______ in (…) (IVSTA3-act. 44 S. 1). Am 19. Februar 2002 heiratete die Versicherte D._______ [Anmerkung des Gerichts: teil- weise auch mit «[…]» bezeichnet], der neben der Schweizer Staatsbürger- schaft auch über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügt (IVSTA3-act. 2 S. 1; 131 S. 1; 283; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts [BGer] 8C_660/2018 vom 7. Mai 2019 E. 7.1 in fine). Die Versicherte arbeitete von 1993 bis 2009 in der Schweiz und leistete dabei Beiträge an die schweize- rische Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (IVSTA3-act. 47; 233). Zuletzt war sie bei der E._______ AG in (…) zu 50 % als Haushalts- hilfe/Raumpflegerin tätig und ist seit 2. April 2009 zu 100% arbeitsunfähig (IVSTA3-act. 20 S. 5; 31). B. B.a Am 12. Februar 2010 meldete sich die Versicherte bei der IV-Stelle F._______ (nachfolgend IV-Stelle) zum Bezug von Massnahmen für die berufliche Eingliederung an (IVSTA3-act. 20; 22). Mit Verfügung vom 28. Juni 2012 wies die IV-Stelle für Versicherte im Ausland (nachfolgend IVSTA) das Leistungsbegehren der Versicherten mangels eines Wohnsit- zes in der Schweiz ab (IVSTA3-act. 79). Die dagegen erhobene Be- schwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 25. August 2014 im Verfahren B-4464/2012 ab (IVSTA3-act. 95). Mit Urteil vom 4. Mai 2015 hiess das Bundesgericht die gegen das Urteil des Bundesverwal- tungsgerichts erhobene Beschwerde im Verfahren 8C_713/2014 teilweise gut und wies die Sache zur korrekten Feststellung des Sachverhalts und zu neuer Verfügung an die IVSTA zurück (IVSTA3-act. 117). B.b Nach weiteren Abklärungen der IV-Stelle zum Wohnsitz der Versicher- ten wies die IVSTA das Leistungsbegehren der Versicherten mit Verfügung vom 21. Juli 2017 erneut aufgrund des fehlenden Wohnsitzes in der Schweiz ab (IVSTA3-act. 147 f.). Hiergegen erhob die Versicherte, vertre- ten durch Advokat Nicolai Fullin, Beschwerde beim Bundesverwaltungsge- richt, welche mit Urteil vom 21. August 2018 im Verfahren C-5216/2017 Seite 2 C-587/2024 abgewiesen wurde (IVSTA3-act. 165). Am 5. September 2018 hiess das Bundesverwaltungsgericht ein Erläuterungsgesuch der Versicherten gut und ergänzte das Dispositiv des Urteils vom 21. August 2018 (IVSTA3- act. 167). Die gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erhobene Beschwerde hiess das Bundesgericht mit Urteil vom 7. Mai 2019 im Ver- fahren 8C_660/2018 (zwischenzeitlich publiziert als BGE 145 V 231) teil- weise gut, hob das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. August 2018 sowie die Verfügung der IVSTA vom 21. Juli 2017 auf und wies die Sache zu neuem Entscheid an die IVSTA zurück (IVSTA3-act. 186). Zur Begründung führte das Bundesgericht in Erwägung 10.1 aus, die Versi- cherte habe als Ehefrau eines in Deutschland wohnhaften Schweizers un- ter den gleichen Voraussetzungen wie eine Schweizer Bürgerin Anspruch auf eine Invalidenrente. B.c Die IVSTA setzte das Bundesgerichtsurteil im Verwaltungsverfahren folgendermassen um: B.c.a Mit drei Verfügungen vom 6. Mai 2021 sprach die IVSTA der Versi- cherten vom 1. August 2010 bis zum 31. Juli 2011 eine halbe IV-Rente (Wartekonto: Fr. 3’016.–), vom 1. August 2011 bis zum 31. März 2012 eine ganze IV-Rente (Wartekonto: Fr. 4'048.–) und ab dem 1. April 2012 eine Dreiviertelsrente der IV (Wartekonto: 42'388.–; Saldo Juni 2021: Fr. 392.–) zu (IVSTA3-act. 236-238). Diese Verfügungen erwuchsen unangefochten in Rechtskraft. B.c.b Mit drei weiteren Verfügungen vom 23. Juni 2021 sprach die IVSTA der Versicherten Verzugszinsen auf die mit Verfügungen vom 6. Mai 2021 gewährten Rentennachzahlungen zu (vgl. Akten der Vorinstanz im Verfah- ren C-3746/2021 gemäss Aktenverzeichnis vom 1. September 2021 [IV- STA-act.] 127-129). Hiergegen erhob die Versicherte eine Beschwerde beim Bundesverwal- tungsgericht, welche unter der Fallnummer C-3746/2021 in der Geschäfts- liste geführt wird (vgl. Akten im Beschwerdeverfahren C-3746/2021 [BVGer-act.] 1). B.c.c In der Folge traf die IVSTA weitere Abklärungen im Zusammenhang mit dem Wohnsitz der Versicherten sowie ihres Ehemannes und hob schliesslich mit Verfügung vom 28. August 2023 die IV-Rente der Versi- cherten mangels der Erfüllung der versicherungsmässigen Voraussetzun- gen und mangels des Nachweises der gemäss FZA notwendigen Seite 3 C-587/2024 Bedingungen für die Auszahlung der Rente rückwirkend für die Zeiträume vom 10. April 2011 bis zum 20. November 2013, vom 29. August 2015 bis zum 20. November 2016 und ab dem 19. November 2019 auf (IVSTA3- act. 296). Den Akten ist diesbezüglich zu entnehmen, dass die IVSTA die Rentenzahlungen bereits im Dezember 2021 – jedoch offenbar ohne dass in jenem Zeitpunkt diesbezüglich eine Verfügung erlassen worden wäre – eingestellt und in der Folge auch nicht mehr aufgenommen hat (IVSTA3- act. 247 f.; 253; 255; 257; 259; 263; 272 ff.). Hiergegen erhob die Versicherte am 27. September 2023 eine Be- schwerde beim Bundesverwaltungsgericht, welche unter der Fallnummer C-5240/2023 in der Geschäftsliste geführt wird (vgl. Akten im Beschwerde- verfahren C-5240/2023 [BVGer2-act.] 1). B.c.d Mit Vorbescheid vom 1. November 2023 informierte die IVSTA die Versicherte über ihre Absicht, die zu Unrecht bezahlten Leistungen im Zeit- raum vom 1. Dezember 2019 bis zum 30. November 2021 in der Höhe von total Fr. 9'356.– zurückzufordern (IVSTA3-act. 298). Nachdem die Versi- cherte offenbar am 29. November 2023 einen Einwand – der in den von der Vorinstanz eingereichten Akten jedoch nicht enthalten ist – gegen die Rückforderung erhoben hatte, verfügte die IVSTA am 22. Dezember 2023 die Rückerstattung des Betrags von Fr. 9’356.– (IVSTA3-act. 299). C. C.a Am 26. Januar 2024 erhob die Versicherte (nachfolgend Beschwerde- führerin), nach wie vor vertreten durch Advokat Nicolai Fullin, Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht gegen die Verfügung vom 22. Dezember 2023 und stellte die folgenden Rechtsbegehren (vgl. Akten im Beschwer- deverfahren C-587/2024 [BVGer3-act.] 1): «1.Es sei die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 22. Dezember 2023 aufzu- heben, und es sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin den von der Be- schwerdegegnerin rückgeforderten Betrag von CHF 9'356.00 nicht schuldet. 2. Es sei das vorliegende Verfahren bis zum Urteil des Bundesverwaltungsge- richts im Verfahren C–5240/2023 zu sistieren, eventualiter seien die beiden Verfahren zu vereinigen. 3. Es sei der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsver- beiständung mit dem unterzeichneten Advokaten als Rechtsvertreter zu bewil- ligen. Seite 4 C-587/2024 4. Unter o/e-Kostenfolge.» C.b Mit Zwischenverfügung vom 1. Februar 2024 hiess der Instruktions- richter das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung so- wie der unentgeltlichen Verbeiständung gut und ordnete der Beschwerde- führerin Advokat Nicolai Fullin als amtlich bestellten Anwalt bei (BVGer3- act. 2 Dispositiv-Ziffern 1 und 2). C.c Ebenfalls mit Zwischenverfügung vom 1. Februar 2024 wies der In- struktionsrichter das Sistierungsgesuch der Beschwerdeführerin ab und stellte einen späteren Entscheid über den Eventualantrag einer Verfah- rensvereinigung in Aussicht (BVGer3-act. 2 Dispositiv-Ziffern 3 und 4). C.d Die IVSTA (nachfolgend auch Vorinstanz) stellte in ihrer Vernehmlas- sung vom 1. März 2024 den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen und die angefochtene Verfügung zu bestätigen (BVGer3-act. 4). C.e Replikweise hielt die Beschwerdeführerin am 22. April 2024 an ihrer Beschwerde fest (BVGer3-act. 6). C.f Mit Schreiben vom 24. Mai 2024 teilte die Vorinstanz mit, aus der Replik der Beschwerdeführerin würden sich keine relevanten neuen Gesichts- punkte ergeben, weshalb an den Anträgen festgehalten werde (BVGer3- act. 8). C.g Am 29. Mai 2024 schloss der Instruktionsrichter den Schriftenwechsel ab und stellte der Beschwerdeführerin die Eingabe der Vorinstanz vom 24. Mai 2024 zur Kenntnisnahme zu (BVGer3-act. 9). C.h In der Folge reichte die Beschwerdeführerin am 3. Juni 2024 eine wei- tere Stellungnahme ein (BVGer3-act. 10). C.i Mit Instruktionsverfügung vom 5. Juni 2024 stellte der Instruktionsrich- ter der Vorinstanz die Stellungnahme der Beschwerdeführerin vom 3. Juni 2024 zur Kenntnis zu (BVGer3-act. 11). D. Auf die weiteren Ausführungen der Parteien sowie auf die eingereichten Unterlagen wird – soweit erforderlich – in den nachstehenden Erwägungen eingegangen. Seite 5 C-587/2024 Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung: 1. Das Bundesverwaltungsgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kog- nition, ob die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind und ob auf eine Be- schwerde einzutreten ist (Art. 7 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. De- zember 1968 über das Verwaltungsverfahren [Verwaltungsverfahrensge- setz, VwVG, SR 172.021]; BVGE 2016/15 E. 1; 2014/4 E. 1.2). 1.1 Gemäss Art. 31 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bun- desverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG, SR 173.32) in Verbindung mit Art. 32 und Art. 33 Bst. d VGG sowie Art. 69 Abs. 1 Bst. b des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG, SR 831.20) ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung der vorliegenden Beschwerde zuständig. 1.2 Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht richtet sich gemäss Art. 37 VGG grundsätzlich nach VwVG. Vorbehalten bleiben gemäss Art. 3 Bst. dbis VwVG die besonderen Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG, SR 830.1). Nach den allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln finden diejenigen Verfahrensregeln Anwendung, welche im Zeitpunkt der Beschwerdebeurteilung in Kraft stehen (BGE 130 V 1 E. 3.2). 1.3 Als direkte Adressatin ist die Beschwerdeführerin von der angefochte- nen Verfügung berührt und sie kann sich auf ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung berufen (Art. 59 ATSG; Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die eingereichte Beschwerde ist, nachdem die Pflicht zu Leis- tung eines Kostenvorschusses infolge der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege entfallen ist (vgl. Art. 69 Abs. 1bis und 2 IVG i.V.m. Art. 63 Abs. 4 VwVG; BVGer3-act. 2), einzutreten (Art. 60 ATSG; Art. 52 Abs. 1 VwVG). 2. Zum Beschwerdeverfahren ist Folgendes festzuhalten: 2.1 Das Bundesverwaltungsgericht prüft die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich der Überschreitung oder des Missbrauchs des Ermessens, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und die Unangemessenheit (Art. 49 VwVG). Seite 6 C-587/2024 2.2 Gemäss dem Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen ist das Bundesverwaltungsgericht nicht an die Begründung der Begehren der Parteien gebunden (Art. 62 Abs. 4 VwVG). Es kann die Beschwerde auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder den an- gefochtenen Entscheid im Ergebnis mit einer Begründung bestätigen, die von jener der Vorinstanz abweicht (vgl. BVGE 2013/46 E. 3.2). 2.3 Sowohl das Verwaltungsverfahren wie auch der erstinstanzliche Sozi- alversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG; Art. 61 Bst. c ATSG; Art. 12 VwVG). Danach hat die Verwaltung und im Beschwerdeverfahren das Gericht von Amtes we- gen für die richtige und vollständige Abklärung des erheblichen Sachver- halts zu sorgen (vgl. BGE 136 V 376 E. 4.1.1). Sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, gilt im Sozialversicherungsrecht der Be- weisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 143 V 168 E. 2; 138 V 218 E. 6). 3. Nachfolgend ist zunächst das anwendbare materielle Recht und der zeit- lich massgebende Sachverhalt zu bestimmen: 3.1 Die Beschwerdeführerin ist indische Staatsangehörige und mit einem Schweizer Bürger verheiratet (vgl. oben Bst. A). Gemäss Bundesgerichts- urteil 8C_660/2018 vom 7. Mai 2019 haben sowohl die Beschwerdeführe- rin als auch ihr Ehemann Wohnsitz in Deutschland. Da das Bundesverwal- tungsgericht im Urteil C-5240/2023 vom 29. Juli 2024 überdies festgestellt hat, dass sich hieran nichts geändert habe, liegt offensichtlich ein grenz- überschreitender Sachverhalt mit Bezug zur EU vor (vgl. dazu BGE 145 V 231 E. 7.1; 143 V 81 E. 8.3). Damit gelangen das Freizügigkeitsabkommen vom 21. Juni 1999 (FZA, SR 0.142.112.681) und die Regelwerke der Ge- meinschaft zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäss Anhang II des FZA, insbesondere die für die Schweiz am 1. April 2012 in Kraft getretenen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 (SR 0.831.109.268.1) und Nr. 987/2009 (SR 0.831.109.268.11), zur Anwendung. Seit dem 1. Ja- nuar 2015 sind auch die durch die Verordnungen (EU) Nr. 1244/2010, Nr. 465/2012 und Nr. 1224/2012 erfolgten Änderungen in den Beziehun- gen zwischen der Schweiz und den EU-Mitgliedstaaten anwendbar. 3.2 In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze mass- geblich, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 143 V 446 E. 3.3; 139 V 335 E. 6.2; 138 V 475 E. 3.1). Seite 7 C-587/2024 Deshalb finden die Vorschriften Anwendung, die spätestens beim Erlass der Verfügung vom 22. Dezember 2023 in Kraft standen; weiter aber auch Vorschriften, die zu jenem Zeitpunkt bereits ausser Kraft getreten waren, die aber für die Beurteilung allenfalls früher entstandener Leistungsansprü- che von Belang sind. Am 1. Januar 2022 sind die Änderung vom 19. Juni 2020 des IVG und des ATSG (Weiterentwicklung der IV; AS 2021 705; BBl 2020 5535; Botschaft des Bundesrates vom 15. Februar 2017 [BBl 2017 2535]) sowie die Ände- rungen der IVV vom 3. November 2021 (AS 2021 706) in Kraft getreten. Weil in zeitlicher Hinsicht – vorbehältlich besonderer übergangsrechtlicher Regelungen – grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgeblich sind, die bei der Erfüllung des rechtlich zu ordnenden oder zu Rechtsfolgen führen- den Tatbestandes Geltung haben (BGE 146 V 364 E. 7.1; 144 V 210 E. 4.3.1), sind die Leistungsansprüche für die Zeit ab 1. Januar 2022 nach den neuen Normen zu prüfen. Soweit Ansprüche zu prüfen sind, die noch vor dem 1. Januar 2022 entstanden sind, kommen für die Zeit bis zum Rechtswechsel noch die bis 31. Dezember 2021 geltenden Normen zur Anwendung (vgl. BGE 130 V 445). 3.3 Das Sozialversicherungsgericht stellt bei der Beurteilung einer Streit- sache in der Regel auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verwaltungsverfügung (hier: 22. Dezember 2023) eingetretenen Sachver- halt ab (BGE 132 V 215 E. 3.1.1; 130 V 445 E. 1.2). Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall Gegenstand ei- ner neuen Verwaltungsverfügung sein (BGE 121 V 362 E. 1b; Urteil des BGer 8C_136/2017 vom 7. August 2017 E. 3). Immerhin sind indes Tatsa- chen, die sich erst später verwirklichen, soweit zu berücksichtigen, als sie mit dem Streitgegenstand in engem Sachzusammenhang stehen und ge- eignet sind, die Beurteilung im Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu beein- flussen (BGE 121 V 362 E. 1b; Urteile des BGer 8C_95/2017 vom 15. Mai 2017 E. 5.1 und 9C_24/2008 vom 27. Mai 2008 E. 2.3.1). 4. Anfechtungsobjekt und damit Begrenzung des Streitgegenstandes des vorliegenden Beschwerdeverfahrens (vgl. BGE 131 V 164 E. 2.1) bildet die Verfügung vom 22. Dezember 2023, mit der die Vorinstanz die Leistungen im Zeitraum vom 1. Dezember 2019 bis zum 30. November 2021 in der Höhe von Fr. 9'356.– zurückfordert. Streitig und vom Bundesverwaltungs- gericht zu prüfen ist damit die Zulässigkeit dieser Rückforderung. Seite 8 C-587/2024 5. Mit Verfügung vom 28. August 2023 hob die IVSTA die der Beschwerde- führerin zuvor zugesprochene Rente rückwirkend für die Zeiträume vom 10. April 2011 bis zum 20. November 2013, vom 29. August 2015 bis zum 20. November 2016 und ab dem 19. November 2019 auf. Diese Verfügung wurde – wie erwähnt (vgl. oben Bst. B.c.c) – ebenfalls beim Bundesverwal- tungsgericht angefochten. Die entsprechende Beschwerde wird im konne- xen Verfahren C-5240/2023 gleichzeitig mit dem vorliegenden Verfahren behandelt. Einer Vereinigung der beiden Verfahren bedarf es demnach nicht, weshalb der diesbezügliche Eventualantrag der Beschwerdeführerin abzuweisen ist. 6. In rechtlicher Hinsicht ist Folgendes festzuhalten: 6.1 Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten. Wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstat- ten, wenn eine grosse Härte vorliegt (Art. 25 Abs. 1 ATSG). Gemäss Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ATSG erlischt der Rückforderungsanspruch gemäss der vom 1. Januar 2003 bis 31. Dezember 2020 in Kraft gestandenen Fassung (AS 2002 3376) mit dem Ablauf eines Jahres und gemäss der seit dem 1. Ja- nuar 2021 in Kraft stehenden Fassung (AS 2020 5137) mit Ablauf von drei Jahren, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Bei den genannten Fristen handelt es sich um von Amtes wegen zu beachtende Verwirkungsfristen (BGE 146 V 217 E. 2.1, 140 V 521 E. 2.1 und 138 V 74 E. 4.1, je m.H.; Urteil des BGer 8C_843/2018 vom 22. Januar 2018 E. 3.2 m.H.). Mangels besonderer Übergangsvorschriften – es besteht lediglich eine übergangsrechtliche Bestimmung, wonach für im Zeitpunkt des Inkrafttre- tens der neuen Fassung von Art. 25 Abs. 2 ATSG vom 1. Januar 2021 beim erstinstanzlichen Gericht hängige Beschwerden das bisherige Recht gilt (vgl. Art. 82a ATSG) – ist aufgrund der allgemeinen intertemporalrechtli- chen Regeln vorliegend zu beachten, dass für bis Ende 2020 zu Unrecht ausgerichtete Leistungen eine relative einjährige Verwirkungsfrist und für ab dem Jahr 2021 unrechtmässig ausgerichtete Leistungen eine solche von drei Jahren zur Anwendung gelangt (vgl. dazu Urteil des Bundesver- waltungsgerichts [BVGer] C-557/2022 vom 20. März 2023 E. 4.1). Seite 9 C-587/2024 6.2 Die Festlegung einer (allfälligen) Rückerstattung von Leistungen erfolgt in einem mehrstufigen Verfahren: In einem ersten Entscheid ist über die Frage der Unrechtmässigkeit des Bezuges der Leistung zu befinden (in der Regel mittels Wiedererwägung oder Revision, vgl. Art. 53 ATSG bzw. Art. 17 ATSG). Daran schliesst sich zweitens der Entscheid über die Rück- erstattung an, in dem zu beantworten ist, ob – bei der festgestellten Un- rechtmässigkeit des Leistungsbezugs – eine rückwirkende Korrektur ge- mäss Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG erfolgt. Die Rechtsprechung lässt es al- lerdings zu, dass über die Unrechtmässigkeit des Leistungsbezuges und über die allfällige sich daraus ergebende Rückerstattungspflicht gemein- sam entschieden wird (vgl. Urteil des BGer 9C_564/2009 vom 22. Januar 2010 E. 6.4; UELI KIESER, Rückforderung unrechtmässig bezogener Leis- tungen von Dritten, in: Sozialversicherungsrechtstagung 2010, 2011, S. 224). Schliesslich ist drittens, auf entsprechendes Gesuch hin, über den Erlass der zurückzuerstattenden Leistung gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG zu entscheiden (vgl. UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 4. Aufl. 2020, Art. 25 Rz. 21), dies jedoch erst, wenn die Rechtsbeständigkeit der Rück- erstattungsforderung feststeht (Urteil des BGer 9C_466/2014 vom 2. Juli 2015 E. 3.1 m.H.; vgl. auch Art. 4 Abs. 4 der Verordnung vom 11. Septem- ber 2002 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSV, SR 830.11]). 7. Vorliegend hat die Vorinstanz im Rahmen des in Erwägung 6.2 beschrie- benen mehrstufigen Verfahrens zwar in einem ersten Schritt die der Be- schwerdeführerin zuvor zugesprochene Rente rückwirkend für die Zeit- räume vom 10. April 2011 bis zum 20. November 2013, vom 29. August 2015 bis zum 20. November 2016 und ab dem 19. November 2019 aufge- hoben. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ge- gen diese Verfügung mit Urteil vom 29. Juli 2024 im Verfahren C-5240/2023 gutgeheissen und die Verfügung vom 28. August 2023 auf- gehoben. Damit entfällt die der Anordnung einer Rückerstattung zugrunde liegende Unrechtmässigkeit des Leistungsbezugs. Entsprechend ist vorlie- gend die Beschwerde vom 26. Januar 2024 gutzuheissen und die Verfü- gung vom 22. Dezember 2023 ersatzlos aufzuheben. 8. Zu befinden bleibt über die Verfahrenskosten und allfällige Parteientschä- digungen. Seite 10 C-587/2024 8.1 Das Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig (Art. 69 Abs. 1bis i.V.m. Art. 69 Abs. 2 IVG), wobei die Verfahrenskosten grundsätzlich der unterlie- genden Partei auferlegt werden (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Der obsiegenden Beschwerdeführerin sind keine Verfahrenskosten aufzuerlegen. Der Vor- instanz sind ebenfalls keine Verfahrenskosten aufzuerlegen (vgl. Art. 63 Abs. 2 VwVG). 8.2 Die obsiegende, durch Advokat Nicolai Fullin vertretene Beschwerde- führerin hat gemäss Art. 64 Abs. 1 VwVG in Verbindung mit Art. 7 ff. des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) Anspruch auf eine Parteientschädigung zu Lasten der Verwaltung, womit der subsidiäre Anspruch auf eine Entschädigung aus der mit Zwischenverfügung vom 31. Januar 2024 bewilligten unentgeltlichen Rechtsverbeiständung entfällt (vgl. KAYSER/ALTMANN, Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwal- tungsverfahren [VwVG], 2. Aufl. 2019, Art. 65 Rz. 82). Da keine Kostennote eingereicht wurde, ist die Entschädigung aufgrund der Akten festzusetzen (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 VGKE). Unter Berücksichti- gung des Verfahrensausgangs, des gebotenen und aktenkundigen Auf- wands, der Bedeutung der Streitsache und der Schwierigkeit des vorlie- gend zu beurteilenden Verfahrens ist eine Parteientschädigung von Fr. 1’400.– (inkl. Auslagen, ohne Mehrwertsteuer [vgl. dazu auch Urteil des BVGer C-6173/2009 vom 29. August 2011 m.H.]) gerechtfertigt. Die Par- teientschädigung ist von der Vorinstanz nach Eintritt der Rechtskraft des vorliegenden Urteils zu leisten. Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht: 1. Der Eventualantrag der Beschwerdeführerin auf Vereinigung des Be- schwerdeverfahrens C-587/2024 mit dem Beschwerdeverfahren C-5240/2023 wird abgewiesen. 2. Die Beschwerde vom 26. Januar 2024 wird gutgeheissen und die Verfü- gung vom 22. Dezember 2023 aufgehoben. 3. Es werden keine Verfahrenskosten erhoben. Seite 11 C-587/2024 4. Der Beschwerdeführerin wird eine Parteientschädigung von Fr. 1’400.– zu- gesprochen. Die Parteientschädigung ist von der Vorinstanz nach Eintritt der Rechtskraft des vorliegenden Urteils zu leisten. 5. Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, die Vorinstanz und das Bun- desamt für Sozialversicherungen. Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin: Beat Weber Tanja Jaenke Rechtsmittelbelehrung: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach Eröffnung beim Bun- desgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern, Beschwerde in öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten geführt werden (Art. 82 ff., 90 ff. und 100 BGG). Die Frist ist gewahrt, wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht eingereicht oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben worden ist (Art. 48 Abs. 1 BGG). Die Rechtsschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Be- weismittel und die Unterschrift zu enthalten. Der angefochtene Entscheid und die Beweismittel sind, soweit sie die beschwerdeführende Partei in Händen hat, beizulegen (Art. 42 BGG). Versand: Seite 12

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