Armut_AB_05_2_Sozialer_Wandel 2 PDF
Document Details
2017
Rainer Geißler
Tags
Summary
This document is a lesson plan or worksheet on the topic of social change in Germany. It specifically discusses the economic differences between East and West Germany after World War II. The lesson plan includes instructions for the students, suggesting group work, analysis of texts, graphical representation of data, and presentation preparation.
Full Transcript
Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.2. Arbeitsauftrag: 1. Bildet 4 Gruppen, lest euren Text und fasst ihn in Stichpunkten in EA zusammen. 2. Tauscht euch in der Grupp...
Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.2. Arbeitsauftrag: 1. Bildet 4 Gruppen, lest euren Text und fasst ihn in Stichpunkten in EA zusammen. 2. Tauscht euch in der Gruppe, versucht die Ergebnisse grafisch darzustellen und bereitet einen Vortrag für eine Expertengruppe vor. 3. Haltet eure Ergebnisse auf einem Flipchart fest und bereitet euch darauf vor diese in einem Galeriegang zu präsentieren. Sozialer Wandel in Deutschland Rainer Geißler: BPB 16.12.2014 Der Lebensstandard stieg nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik erheblich schneller an als in der DDR – eine West-Ost-Lücke, die auch zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch nicht völlig verschwunden ist. Vom enormen Anstieg des Wohlstands haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen in unterschiedlichem Maße profitiert. Nach einem Rückgang der sozialen Ungleichheit in den 1960er- und 1970er-Jahren zeichnet sich seit den 1990er-Jahren eine erneute Polarisierung ab. "Wirtschaftswunder" und Stagnation auf hohem Niveau In Westdeutschland setzte, nachdem die schlimmsten Kriegsfolgen überwunden waren, eine beispiellose Aufwärtsentwicklung ein. Das "Wirtschaftswunder" ließ die Wirtschaftsleistung, die Einkommen und in ihrem Gefolge den Lebensstandard steil in die Höhe schnellen. Das Volkseinkommen – wie die Wirtschaftswissenschaftler die Gesamtheit aller produzierten Güter und Dienstleistungen nennen – "explodierte" zwischen 1950 und 1989 von gut 4400 auf fast 18.400 Euro pro Kopf der Bevölkerung (gerechnet in Preisen von 1989). Das ungeheure Tempo dieses Wachstums wird durch den historischen Vergleich deutlich. Der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel hat 1983 errechnet, dass sich das Volkseinkommen in den eineinhalb Jahrhunderten von 1800 bis 1950 in etwa verdreifachte, während es in den vier Jahrzehnten nach 1950 gleich um mehr als das Vierfache zulegte. Wenn man den Reichtum eines Landes am Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner misst, gehört Westdeutschland seit Langem zu den 20 reichsten Ländern der Erde. Die Steigerung des Volkseinkommens spiegelt sich in einem entsprechenden, nahezu kontinuierlichen Wachstum der westdeutschen Reallöhne und Haushaltseinkommen wider. Das – nach Abzug der direkten Steuern und Sozialabgaben – real verfügbare Einkommen pro Kopf lag nach den Berechnungen des Sozialökonomen Richard Hauser im Jahr 1991 um das 2,3-Fache über dem Niveau von 1960. Das Wohlstandsniveau einer Bevölkerung lässt sich am besten mit dem bedarfsgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommen pro Kopf erfassen, weil dieses die Einsparungen durch das gemeinsame Wirtschaften mehrerer Personen in einer Familie bzw. einem Haushalt berücksichtigt. Es wird Nettoäquivalenzeinkommen genannt und international zunehmend eingesetzt. In Westdeutschland erreichte es 1992 einen vorläufigen Gipfel, blieb dann aber bis 1998 unter diesem Niveau. Die Rückwärtsentwicklung ist insbesondere den Lasten der deutschen Vereinigung geschuldet, die den Westdeutschen erstmals in der Nachkriegsgeschichte eine längere Phase mit realen Einkommenseinbußen beschert hat. Erst 1999 geht es den Westdeutschen wieder etwas besser als 1992, allerdings stagniert die Einkommenssituation mit leichten Auf- und Ab-Bewegungen bis 2008. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.2. Trotz der europäischen Wirtschaftskrise sind 2009 und 2010 wieder Gewinne von insgesamt 3 Prozent zu verbuchen. In den 18 Jahren von 1992 bis 2010 ist der durchschnittliche Wohlstand, den der Median der Nettoäquivalenzeinkommen misst, in Westdeutschland nur um 4,8 Prozent gestiegen. Erheblich rasanter als die Einkommen schnellten die westdeutschen Vermögen in die Höhe. So stieg das Nettovermögen der Privathaushalte (Geldvermögen, Immobilien, Betriebsvermögen) zwischen 1950 und 1970 um das 7,8-Fache und zwischen 1973 und 1983 nochmals um das 2,3-Fache an. Nach dem Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) verfügte ein durchschnittlicher Haushalt 2008 über Geld- und Immobilienvermögen in Höhe von 132.000 Euro. Hinter diesen Durchschnittswerten verbergen sich allerdings sehr krasse Ungleichheiten in der Verteilung zwischen Arm und Reich. Die "Wohlstandsexplosion" in den Nachkriegsjahrzehnten lässt sich beispielhaft auch an den Wohnverhältnissen und an der Ausstattung der Haushalte mit hochwertigen Konsumgütern illustrieren. Die Wohnungen und Eigenheime – ein zentraler Faktor für die Qualität des Familienlebens und ein wichtiges Refugium für die wachsende Freizeit – wurden geräumiger und komfortabler. Die Wohnfläche, die jeder Person im Durchschnitt zur Verfügung stand, hat sich zwischen 1950 und 2013 von 15 qm auf 48 qm mehr als verdreifacht; während es 1950 in 80 Prozent der Wohnungen noch kein Bad gegeben hatte, waren 1998 93 Prozent aller Wohnungen mit Bad, Innen-WC und Zentralheizung ausgestattet. Auch die technischen Konsumgüter, die das Leben leichter und angenehmer machen, wie Autos, moderne Haushaltsgeräte und Kommunikationsmedien gehören heute zur Normalausstattung. Im internationalen Vergleich ist die Entstehung von Wohlstand und Massenkonsum nichts Außergewöhnliches, sondern eine normale Entwicklung, die sich in allen Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas in ähnlicher Form vollzogen hat. Die deutsche Besonderheit besteht eher in der spezifischen Ausgangslage der Deutschen. Für die Kriegsgeneration war der schnelle und steile Aufstieg aus den Verwüstungen und dem Elend der Nachkriegszeit besonders dramatisch und nahm Züge eines "Wunders" an. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.2. Rückstand in der DDR Die Entwicklung in der DDR konnte mit dem westdeutschen Tempo nicht Schritt halten. Obwohl auch dort die Verdienste kontinuierlich zunahmen, öffnete sich die West-Ost-Wohlstandsschere immer weiter. 1960 lag das reale, das heißt um die Kaufkraft bereinigte durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen in der DDR nach den Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin 1985) um 30 Prozent hinter dem westdeutschen zurück, 1970 um mehr als 40 Prozent und in den 1980er-Jahren bereits um mehr als 50 Prozent. 1988, ein Jahr vor der Wende, lagen die Bruttoverdienste der ostdeutschen Arbeitnehmer bei nur 31 Prozent der westdeutschen Durchschnittseinkommen – das entspricht in etwa dem Produktionsniveau der DDR-Wirtschaft, das für die 1980er-Jahren auf circa ein Drittel des westdeutschen geschätzt wird. Wegen der vielen Doppelverdiener war der Abstand zum Westen bei den Haushaltseinkommen nicht ganz so drastisch: 1988 erzielten die DDR-Privathaushalte ein Nettoeinkommen (Kaufkraft) von 47 Prozent des Westniveaus. Der Rückstand im Lebensstandard lässt sich auch beim Wohnen und bei der Ausstattung mit Konsumgütern quantifizieren. Ostdeutsche wohnten enger (1989: 28 qm pro Person, West 35 qm), einfacher (1989: 49 Prozent der Wohnungen mit Bad, Innen-WC und Zentralheizung, West 79 Prozent) und in älteren Häusern (1989: mehr als die Hälfte in Vorkriegsbauten, West circa ein Viertel). Bei der Ausstattung mit Pkws (1988: 52 Prozent aller Haushalte) und Haushaltsgeräten hinkte die DDR um mindestens 15 Jahre, bei den Telefonen (1988: 16 Prozent aller Haushalte) sogar um drei Jahrzehnte hinter der Bundesrepublik her. Dürre Zahlen dieser Art machen das Wohlstandsdefizit nur sehr unzureichend deutlich. Weitere Stichworte dazu sind die schmerzlich empfundenen gravierenden Mängel im Angebot von Waren und Dienstleistungen sowie qualitative Unterschiede wie zum Beispiel "Trabbi" statt Golf. Auch in der Vermögensbildung blieb die DDR erheblich hinter der Bundesrepublik zurück. 1988 betrug das private Geldvermögen pro Einwohner 8103 Mark (2302 Euro) im Vergleich zu 40.747 D- Mark (20.834 Euro) im Westen. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.2. Die Ursachen für das Wohlstands- und Produktivitätsdefizit lagen in erster Linie in der Leistungs-, Innovations- und Wachstumsschwäche der zentralen Planwirtschaft. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass auch die Ausgangslage in Ost und West nach dem Krieg sehr ungleich war. Der Historiker Rainer Karlsch hat 1993 ermittelt, dass die Ostdeutschen durch Reparationszahlungen nach dem Zweiten Weltkrieg pro Kopf um fast das Sechzigfache höher belastet waren als die Westdeutschen. Dazu kamen zusätzliche Hemmnisse durch die erzwungene Einbindung in den osteuropäischen Wirtschafts- und Handelsraum sowie der Verlust leistungsfähiger Arbeitskräfte aufgrund der ständigen Westwanderung, die erst 1961 durch den Bau der Berliner Mauer und die Absperrung der Grenze mit Gewalt unterbunden wurde. Die sich öffnende Wohlstandsschere wurde der DDR-Bevölkerung wegen des Westreiseverbots lange Zeit nicht in ihrem ganzen Ausmaß bewusst. Neben den Defiziten an Freiheit, politischer Teilhabe und Arbeitsqualität war sie jedoch eine – wenn nicht sogar die – zentrale Ursache für die wachsende Unzufriedenheit in den 1980er-Jahren, für die Massenflucht im Jahre 1989 und schließlich für den Zusammenbruch der DDR, der möglich wurde, nachdem der außenpolitische Druck zur Erhaltung des Systems gewichen war. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.3. Arbeitsauftrag: 1. Bildet 4 Gruppen, lest euren Text und fasst ihn in Stichpunkten in EA zusammen. 2. Tauscht euch in der Gruppe, versucht die Ergebnisse grafisch darzustellen und bereitet einen Vortrag für eine Expertengruppe vor. 3. Haltet eure Ergebnisse auf einem Flipchart fest und bereitet euch darauf vor diese in einem Galeriegang zu präsentieren. Sozialer Wandel in Deutschland Rainer Geißler: BPB 16.12.2014 Der Lebensstandard stieg nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik erheblich schneller an als in der DDR – eine West-Ost-Lücke, die auch zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch nicht völlig verschwunden ist. Vom enormen Anstieg des Wohlstands haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen in unterschiedlichem Maße profitiert. Nach einem Rückgang der sozialen Ungleichheit in den 1960er- und 1970er-Jahren zeichnet sich seit den 1990er-Jahren eine erneute Polarisierung ab. Annäherung seit der Einheit Die Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen und alten Ländern stellt seit der Wende die größte Herausforderung für die deutsche Gesellschaft und ihre Machteliten dar und bildet gleichzeitig einen zentralen Konfliktherd im Verhältnis von Ost- und Westdeutschen. Der verständliche Wunsch der Ostdeutschen nach einer möglichst raschen Anhebung ihres Lebensstandards auf das westdeutsche Niveau kollidiert mit der ökonomischen Gesetzmäßigkeit, dass Wohlstandsverbesserungen an Produktivitätsfortschritte gebunden sind und dass sich ein enormer Produktivitätsrückstand nicht kurzfristig aufholen lässt. Die West-Ost-Produktivitätslücke wurde zwar inzwischen etwas mehr als halbiert, aber der weitere Aufholprozess hat nach den Berechnungen der Statistischen Ämter von Bund und Ländern seit 1996 an Tempo verloren: Das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt je Einwohner ist seitdem nur noch geringfügig von 62 auf 67 Prozent des Westniveaus im Jahr 2012 angestiegen, und auch die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen hat sich in diesen eineinhalb Jahrzehnten nur um 11 Prozentpunkte von 65 auf 76 Prozent des Westniveaus erhöht. Durch Hilfen aus den alten Bundesländern im Zuge von Solidaritätsvereinbarungen wurde dafür gesorgt, dass sich die Wohlstandsschere schneller und weiter schloss als die Produktivitätsschere, wenn auch nicht alle Blütenträume, die in der Anfangseuphorie nach dem Zusammenbruch der DDR reiften, in Erfüllung gingen. Nach den Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln verdienten die ostdeutschen Arbeitnehmer 2001 im Durchschnitt 1206 Euro netto pro Monat im Vergleich zu den durchschnittlich 1449 Euro ihrer westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Die einst weit auseinanderklaffende Verdienstlücke – 1991 machte sie noch 43 Prozent aus – ist innerhalb von vier Jahren um mehr als die Hälfte auf 20 Prozent zusammengedrückt worden, danach schrumpfte sie nur noch sehr langsam auf nominal (d. h. ohne Beachtung der Kaufkraftunterschiede) 17 Prozent im Jahr 2001. Real dürfte der Abstand – unter anderem wegen der etwas niedrigeren Mieten – ein wenig kleiner gewesen sein. Nimmt man nicht die individuellen Löhne und Gehälter als Maßstab, sondern das Nettoäquivalenzeinkommen, dann betrug die Wohlstandslücke 2001 noch 13,4 Prozent. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.3. Besonders rasant vollzog sich die Erhöhung der Renten. Die produktionsorientierte Sozialpolitik der DDR hatte die aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Menschen stark vernachlässigt. Große Teile der Rentner und insbesondere der Rentnerinnen mussten mit Minimaleinkommen ein Dasein am Rande der Gesellschaft fristen. Durch die Übernahme des westdeutschen Systems der Alterssicherung wurden die meisten älteren Menschen quasi über Nacht aus dieser Randlage befreit. Die ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner gehören in der Regel zu den materiellen Gewinnern der Einheit. Das mit dem Nettoäquivalenzeinkommen gemessene Wohlstandsniveau ist in den ostdeutschen Rentnerhaushalten 2008 genauso hoch wie in den Nichtrentnerhaushalten – im Gegensatz zu Westdeutschland, wo den Rentnerhaushalten etwas weniger (95 Prozent) zur Verfügung steht als den Nichtrentnerhaushalten (Berechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle). Eine Ursache sind die günstigeren Erwerbsbiografien der ostdeutschen Frauen, die längere Beitragszeiten haben als westdeutsche. Die "nachholende Einkommensexplosion" in den neuen Ländern – sie stellte das Tempo der Lebensstandardsteigerungen in den goldenen Jahren des westdeutschen Wirtschaftswunders in den Schatten – schlug sich auch in der deutlichen Verbesserung der Wohnverhältnisse und in der Ausstattung der Haushalte nieder. Die Wohnfläche pro Person stieg von 28 qm 1989 auf 43 qm 2013 (West 2013: 48 qm), etwa zwei Drittel der ostdeutschen Wohnungen wurden renoviert und modernisiert. Bei der Zufriedenheit mit den Wohnungen gibt es zwischen Ost und West so gut wie keine Unterschiede mehr. Ostdeutsche Haushalte sind 2013 genauso oder ähnlich gut mit Pkws, Farbfernsehern, Waschautomaten, Gefrierschränken, Mikrowellengeräten, Netz- und Mobiltelefonen, PCs und Internetzugang, DVD- Rekordern und digitalen Fotoapparaten versorgt wie westdeutsche. Zahlen dieser Art erfassen nur unzureichend oder auch gar nicht die Entstehung einer Konsumwelt nach dem Muster westlicher Wohlstandsgesellschaften, den Qualitätssprung im Dienstleistungsangebot, die Sanierung der Umwelt, die Verbesserung der Verkehrsnetze und der Gesundheitsversorgung oder den Reiseboom. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.3. Weiterhin Ost-West-Lücke Die Ost-West-Lücke in den Verdiensten, Wohnbedingungen und anderen Aspekten des Lebensstandards wurde erheblich reduziert, besteht aber weiterhin. Die Entwicklung des Nettoäquivalenzeinkommens zeigt sogar an, dass sich die Ost-West-Wohlstandsschere wieder geöffnet hat. 2001 hatten die Ostdeutschen mit 86,6 Prozent des Westniveaus den bisherigen Gipfel der Annäherung erreicht. Bis 2005 fielen sie dann wieder auf 82,5 Prozent zurück, 2010 liegen sie bei 84,3 Prozent. Real dürfte die Wohlstandslücke allerdings nur etwa halb so groß sein, denn Berechnungen kommen 2009 auf Kaufkraftvorteile in Ostdeutschland im Umfang von 8 Prozent. Besonders augenfällig wird der fortbestehende West-Ost-Abstand bei den Vermögensverhältnissen. Vier Jahrzehnte DDR ohne wesentliche Vermögensbildung sowie die fortbestehenden Einkommensdefizite und die hohe Arbeitslosigkeit nach der Vereinigung fordern ihren Tribut. Im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) ist die Entwicklung der Nettovermögen (Geld- und Immobilienvermögen abzüglich Schulden) in West und Ost zwischen 1993 und 2008 registriert. Im früheren Bundesgebiet nahm das durchschnittliche Nettovermögen eines Haushalts in diesem Zeitraum von 125.000 auf 132.000 Euro zu, in den neuen Ländern von 36.000 auf 55.000 Euro. Die ostdeutschen Haushalte haben in diesen 15 Jahren etwas aufgeholt, verfügen aber 2008 erst über 42 Prozent des Vermögens der westdeutschen Haushalte. So sind auch Erbschaften in Ostdeutschland seltener als im Westen, und die vererbten Beträge von durchschnittlich 15.000 Euro liegen sehr deutlich unter dem West-Durchschnitt von 70.000 Euro. Weiterer Nachholbedarf besteht bei der Sanierung verfallener Stadtviertel und Dörfer sowie beim Zustand öffentlicher Gebäude und Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäusern und Altersheimen. Defizite dieser Art wurden zwar gemildert, aber es wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen, um sie endgültig zu beseitigen. Der soziale Umbruch hat für die Ostdeutschen nicht nur neuen Wohlstand, sondern auch eine Fülle von schmerzlichen Erfahrungen mit sich gebracht. Die größten Verunsicherungen hat die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit ausgelöst; etwa ein Drittel der Arbeitsplätze ist nach dem Zusammenbruch der DDR verloren gegangen. "Das Leiden aller Leiden ist die Arbeitslosigkeit." Dieser Satz von Martin Walser gilt für Ostdeutsche in besonderer Weise, war doch die DDR in stärkerem Maße eine "Arbeitsgesellschaft" mit Arbeitsplatzgarantie geblieben als die Bundesrepublik. Das Tempo der Annäherung wäre ohne Leistungstransfers von West nach Ost in weltweit einmaliger Größenordnung nicht möglich gewesen. Nach den Berechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle belaufen sich die Nettotransfers (abzüglich zurückfließender Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge) für die Jahre 1991 bis 2011 auf etwa 1400 Milliarden Euro, das heißt pro Einwohner der alten Länder (einschließlich Ausländer) über zwei Jahrzehnte hinweg etwa 1000 Euro jährlich. Die Bundesbank hat errechnet, dass ein lediger westdeutscher Durchschnittsverdiener zwischen 1990 und 1996 Einkommensverluste von 6 Prozent durch zusätzliche Steuern und Sozialabgaben für den Aufbau Ost hinnehmen musste. Trotz dieser Anstrengungen ist das vereinte Deutschland von einer Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West noch ein erhebliches Stück entfernt, und es ist absehbar, dass die soziale Einheit im Sinne der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse ein langwieriger Prozess ist. Die Folgen von fast einem halben Jahrhundert ungleicher Entwicklungen sind nicht innerhalb weniger Jahre zu beseitigen. Die Deutschen – insbesondere ihre wichtigen Entscheidungsträger und Meinungsführer – stehen dabei vor der Aufgabe, beim Abbau der West-Ost-Kluft ein mittleres "goldenes Tempo" zu finden, das weder die Geduld der Ostdeutschen noch die Solidaritätsbereitschaft der Westdeutschen überfordert. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.4. Arbeitsauftrag: 1. Bildet 4 Gruppen, lest euren Text und fasst ihn in Stichpunkten in EA zusammen. 2. Tauscht euch in der Gruppe, versucht die Ergebnisse grafisch darzustellen und bereitet einen Vortrag für eine Expertengruppe vor. 3. Haltet eure Ergebnisse auf einem Flipchart fest und bereitet euch darauf vor diese in einem Galeriegang zu präsentieren. Sozialer Wandel in Deutschland Rainer Geißler: BPB 16.12.2014 Der Lebensstandard stieg nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik erheblich schneller an als in der DDR – eine West-Ost-Lücke, die auch zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch nicht völlig verschwunden ist. Vom enormen Anstieg des Wohlstands haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen in unterschiedlichem Maße profitiert. Nach einem Rückgang der sozialen Ungleichheit in den 1960er- und 1970er-Jahren zeichnet sich seit den 1990er-Jahren eine erneute Polarisierung ab. Einkommensungleichheiten und Polarisierung Vom enormen Anstieg des Wohlstands haben verschiedene Gruppen der Gesellschaft in unterschiedlichem Maße profitiert. Die Steigerung des Lebensstandards hat die sozialen Ungleichheiten nicht beseitigt. Alle Wohlstandsgesellschaften der Gegenwart zeichnen sich durch erhebliche Unterschiede im Einkommen und Besitz und den damit verbundenen Lebenschancen aus, alle kennen sie Reichtum und Armut. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird dem sozial sensiblen Beobachter immer wieder in drastischer Form vor Augen geführt: In großstädtischen Ladenpassagen finden Pelzmäntel für 12.000 Euro oder brillantbesetzte Uhren für 34.000 Euro ihre Käufer, während vor den Schaufenstern derselben exklusiven Boutiquen Menschen neben leeren Weinflaschen und Plastiktüten schlafen, in denen sie ihr ganzes Hab und Gut mit sich führen. Der Wohlstand – gemessen am Nettoäquivalenzeinkommen – ist sehr unterschiedlich verteilt. 1,5 Prozent der Menschen in Deutschland fristen ihr Dasein mit weniger als 500 Euro und weitere 17 Prozent mit weniger als 1000 Euro in armen oder armutsnahen Lebensverhältnissen. Gut die Hälfte (52 Prozent) bewegt sich im Bereich zwischen 1000 und 2000 Euro und ein weiteres gutes Fünftel (21 Prozent) zwischen 2000 und 3000 Euro. Eine Minderheit von 8,6 Prozent gehört zu den Wohlhabenden und Reichen, die mit mehr als 3000 Euro pro Monat einen großzügigen, zum Teil Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.4. auch luxuriösen Lebensstil pflegen können. Das Schaubild zeigt, dass aus dem "Durchschnittsbauch" der Normalverdiener eine Pyramide von Menschen mit überdurchschnittlichem Einkommen herausragt, die sich nach oben hin zunehmend verjüngt und schließlich bei den Spitzeneinkommen die Form einer spitzen Antenne annimmt. Den Inbegriff des Reichtums stellen nach allgemeinem Verständnis die "Millionäre" dar. Als Folge der kontinuierlichen Geldentwertung dürfte man heutzutage mit den Superreichen eher die Einkommensmillionäre als die inzwischen sehr zahlreichen Vermögensmillionäre assoziieren. Die Zahl der DM-Einkommensmillionäre ist in Westdeutschland zwischen 1983 und 2001 um mehr als das 3- Fache gestiegen: 1983 deklarierten gut 10.000 westdeutsche Steuerzahler bei den Finanzämtern ein jährliches Einkommen von mindestens einer Million D-Mark, 2001 gaben gut 34.000 Steuerzahler über 500.000 Euro an, darunter 11.830 über eine Million Euro. Auch im vergangenen Jahrzehnt hat die Zahl der Euro-Einkommensmillionäre weiter zugenommen – bis 2008 auf 18.600. Nicht enthalten in diesen Zahlen sind die kriminellen Steuerflüchtlinge sowie reiche Deutsche, die ihren Wohnsitz in ausländische "Steuerparadiese" verlegt haben und sich damit "legal" ihrer staatsbürgerlichen Steuerpflicht in Deutschland entziehen. Bildungs- und Berufsgruppen Einen soziologisch etwas konkreteren Einblick in die Einkommensverteilung vermitteln die Unterschiede zwischen Bildungs- und Berufsgruppen. Eine gute Ausbildung zahlt sich finanziell nach wie vor aus. Hochschulabsolventen verdienen mehr als das Doppelte von Erwerbstätigen, die das Bildungssystem ohne Schulabschluss verlassen haben. Und die Abstände zwischen den Bildungsgruppen haben sich im Zuge der Bildungsexpansion nicht verkleinert, wie mitunter angenommen wird, sondern sind größer geworden. Nach den Berechnungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind die Monatsverdienste der verschiedenen Qualifikationsgruppen 2008 deutlich weiter voneinander entfernt als 1984. Auch die Armutsrisiken variieren stark bildungsspezifisch. Zwischen 2009 und 2011 lebten 5 Prozent aller Hochschulabsolventen in Armut, von den Menschen ohne Hauptschulabschluss waren es 29 Prozent. Zu den Berufsgruppen existiert nur die sehr grobe Einteilung nach der beruflichen Stellung in der offiziellen Statistik. In Westdeutschland erzielen die Selbstständigen seit jeher die höchsten Einkommen. Ihre Nettoeinkommen schwankten 1972 bis 1996 ungefähr zwischen dem 1,5-Fachen und dem 2,5-Fachen des Durchschnitts. Nach dem Datenreport 2008 betrugen ihre Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.4. Nettoäquivalenzeinkommen in Gesamtdeutschland 62.900 Euro, das ist das 2,8-Fache des Durchschnitts. Arbeiterfamilien mussten sich mit 17.600 Euro bzw. 78 Prozent des Durchschnitts begnügen. Beachtenswert sind die großen Unterschiede innerhalb der Gruppe der Selbstständigen. So mussten 2010 in Westdeutschland 17 Prozent und in Ostdeutschland 23 Prozent der vollzeiterwerbstätigen Selbstständigen mit einem monatlichen Nettoverdienst unter 900 Euro auskommen. Zunehmende Polarisierung Die Entwicklung der Einkommensungleichheit gehört zu den gesellschaftspolitisch bedeutsamen und immer wieder diskutierten Fragen: Sind die Einkommen heute gleicher oder ungleicher verteilt als früher? Ist der Abstand zwischen Arm und Reich größer oder kleiner geworden? Werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher, wie 76 Prozent der Deutschen im Jahr 2005 glaubten? Die Einteilung der Bevölkerung in Einkommensfünftel erhellt einen Aspekt dieser Frage auf empirischer Basis. Die Tabelle rechts zeigt in Westdeutschland leichte Tendenzen einer Umverteilung von oben nach unten in den 1960er- und 1970er-Jahren: Der Abstand zwischen dem oberen und dem unteren Fünftel ging vom 4,2-Fachen im Jahr 1962 auf das 3,4-Fache im Jahr 1978 zurück. Seit Anfang der 1990er-Jahre vollzieht sich jedoch eine Trendwende – eine Umverteilung von unten nach oben, die deutliche Züge einer zunehmenden Polarisierung trägt. 2006 erreicht diese Polarisierung ihren vorläufigen Höhepunkt: Das Nettoäquivalenzeinkommen im oberen Fünftel ist um das 4,6-Fache höher als das im unteren Fünftel; die Einkommensungleichheit zwischen dem armen und dem reichen Fünftel der Bevölkerung erreicht den höchsten Stand seit 1962, als sie erstmals in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte gemessen wurde. Zwischen 2006 und 2012 gibt es dann gewisse kleinere Schwankungen, aber keine eindeutig rückläufige Tendenz. Verlierer dieser Polarisierung ist die untere Hälfte der Gesellschaft, insbesondere das arme Fünftel; gewonnen hat das reiche Fünftel. Zwischen 2006 und 2012 ist der Anteil des ärmsten Fünftels wieder minimal größer und der Anteil des reichsten Fünftels geringfügig kleiner geworden. Allerdings klaffen Armut und Reichtum auch 2012 immer noch weiter auseinander als in den Jahrzehnten vorher. Andere Berechnungsmethoden bestätigen diese Tendenz, dass eine zunächst rückläufige Ungleichheit der Einkommen seit zwei Jahrzehnten von einer zunehmenden Polarisierung abgelöst wurde. Der Gini-Koeffizient – eine international gebräuchliche kompakte Messziffer für die Ungleichverteilung – erreicht mit 0.303 im Jahr 2006 und 0.298 im Jahr 2012 die Spitzenwerte in den letzten 50 Jahren. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.4. Seit die Bundesregierung 2001 den ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt hat, wird in Deutschland intensiver über Reichtum geforscht. Wer im Hinblick auf sein Einkommen zu den Reichen gehört, ist durchaus umstritten. In der Regel werden diejenigen Haushalte als reich eingestuft, deren Nettoäquivalenzeinkommen mindestens das Doppelte des Durchschnitts beträgt. Empirisch gut erkennen lassen sich damit zwei Entwicklungen in den beiden letzten Jahrzehnten. Diese belegen die bereits erwähnte zunehmende Polarisierung: Die Reichen werden immer zahlreicher. Im Jahr 2000 lebten 3,1 Prozent der Deutschen in reichen Familien oder Haushalten; bis 2011 ist dieser Anteil laut Datenreport 2013 um fast die Hälfte auf 4,5 Prozent gewachsen. Die Reichen werden nicht nur immer zahlreicher, sie werden auch immer reicher, ihr Abstand zum Durchschnitt nimmt zu. Nach den Angaben im ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2001) und in der Studie des Reichtumsforschers Wolfgang Lauterbach (2009) lässt sich Folgendes berechnen: 1995 lebten die reichsten 5 Prozent von einem Nettoäquivalenzeinkommen, das um das 2,15-Fache über dem Durchschnitt lag; 2003 hatte sich diese Kluft auf das 2,38-Fache erweitert (Geißler 2014, S. 78). Ursachen Als Ursachen für die Einkommenspolarisierung spielen offensichtlich viele Entwicklungen eine Rolle, deren Zusammenhänge und relative Bedeutung nicht eindeutig geklärt sind. Ökonomen verweisen auf den Angebot-Nachfrage-Mechanismus des Arbeitsmarktes im Informationszeitalter: Der technische Wandel hat dazu geführt, dass die Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften wie IT-Spezialisten, Managern oder Beratern stark zugenommen hat, sodass der Bedarf das Angebot übersteigt. Genau umgekehrt ist die Situation bei den handwerklichen Tätigkeiten. Immer häufiger sind Arbeitsplätze nicht mehr durch kollektive Tarifverträge gesichert; minderbezahlte befristete Arbeitsplätze nehmen zu. Die Abnahme der Tarifbindung von Löhnen und Gehältern sowie die Ausdehnung des Niedriglohnsektors weisen auf die begrenzte Verhandlungsmacht der Gewerkschaften hin, deren Organisationsgrad seit 1980 zurückgegangen ist. In den vergangenen Jahren ist er jedoch auf einem mittleren europäischen Niveau konstant geblieben; bei der IG Metall gibt es insbesondere bei den jüngeren Jahrgängen wieder leichte Zuwächse. Auch die zunehmende Globalisierung der Arbeitszusammenhänge verstärkt den Druck auf die Verdienste der Geringqualifizierten. Deren relative Wettbewerbsposition in Deutschland wird dadurch beeinträchtigt, dass niedrig qualifizierte Arbeiten immer häufiger in Billiglohnländer ausgelagert werden. Auch die schrittweise Absenkung des Spitzensteuersatzes von 53 Prozent im Jahr 1999 auf 42 Prozent seit 2005 hat Umverteilungseffekte zugunsten der hohen Einkommensschichten ausgelöst. Eine weitere Ursache der Einkommenspolarisierung sind die Veränderungen der Haushaltsstrukturen, nämlich die Zunahme von einkommensstarken Paaren ohne Kinder und von einkommensschwachen Alleinerziehenden. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.5. Arbeitsauftrag: 1. Bildet 4 Gruppen, lest euren Text und fasst ihn in Stichpunkten in EA zusammen. 2. Tauscht euch in der Gruppe, versucht die Ergebnisse grafisch darzustellen und bereitet einen Vortrag für eine Expertengruppe vor. 3. Haltet eure Ergebnisse auf einem Flipchart fest und bereitet euch darauf vor diese in einem Galeriegang zu präsentieren. Sozialer Wandel in Deutschland Rainer Geißler: BPB 16.12.2014 Der Lebensstandard stieg nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik erheblich schneller an als in der DDR – eine West-Ost-Lücke, die auch zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch nicht völlig verschwunden ist. Vom enormen Anstieg des Wohlstands haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen in unterschiedlichem Maße profitiert. Nach einem Rückgang der sozialen Ungleichheit in den 1960er- und 1970er-Jahren zeichnet sich seit den 1990er-Jahren eine erneute Polarisierung ab. Vermögensungleichheiten Die Statistik unterscheidet drei wichtige Grundarten des Vermögens: das Geldvermögen (verschiedene Varianten von Sparanlagen wie Spar- und Bausparguthaben, Lebensversicherungen, Wertpapiere, Aktien u. Ä.), das Immobilienvermögen (Haus- und Grundbesitz) und das Betriebsvermögen. Die Chancen, Ersparnisse und Vermögen zu bilden, sind sehr ungleich verteilt: Wer wenig verdient, kann nur wenig oder auch gar nichts zurücklegen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Vermögensunterschiede noch erheblich stärker ausgeprägt sind als die Einkommensunterschiede. Der Wert des Gini-Koeffizienten für die Ungleichheit der individuellen Nettovermögen in Westdeutschland ist 2007 mit 0.785 mehr als zweieinhalbmal so hoch wie für die Ungleichheit der Nettoäquivalenzeinkommen mit 0.295. Einerseits nähert sich die Zahl der Vermögensmillionäre (gemessen in US-Dollar) in Deutschland inzwischen der Millionengrenze: Nach dem World Wealth Report von Capgemini und Merrill Lynch stieg sie zwischen 2005 und 2009 um ein Fünftel von 767.000 auf 924.000 an; etwa jeder vierzigste Privathaushalt (2,5 Prozent) besitzt ein Vermögen von mindestens einer Million US-Dollar. Andererseits standen im Jahr 2007 30 Prozent der deutschen Bevölkerung ohne Vermögen da. Das ärmste Zehntel hatte nicht nur keinen Besitz, sondern wies eine Minusbilanz auf: Seine durchschnittlichen Schulden waren höher als sein Vermögen. Ein Privileg der oberen Hälfte der Gesellschaft Die Bildung von Vermögen ist ein Privileg der oberen Hälfte der Gesellschaft. Nach dem Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) sind 2008 lediglich 1,2 Prozent des Gesamtvermögens in der unteren Hälfte der Bevölkerung verblieben. Und auch in der oberen Hälfte sind die Chancen auf Vermögensbildung noch sehr ungleich verteilt. Dem Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht (2005) ist zu entnehmen, dass das obere Fünftel 2003 über 68 Prozent des Vermögens verfügt und 8,5-mal mehr an Vermögen angehäuft hat als das mittlere Fünftel. Für die Entwicklung zwischen 2002 und 2007 liegt eine Studie zu den individuellen Nettovermögen in Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.5. Gesamtdeutschland vor. Sie teilt die Bevölkerung ab 17 Jahren in zehn gleich große Gruppen ein und zeigt deren Anteil am Gesamtvermögen. Die Analyse belegt eine zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich. Gewinner sind ausschließlich die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung – in Westdeutschland verfügen diese über mindestens 251.000 Euro und in Ostdeutschland über mindestens 91.000 Euro. Die anderen Zehntel haben gewisse Einbußen hinnehmen müssen oder sind bei ihren geringfügigen Anteilen geblieben. Das ärmste Zehntel ist noch tiefer in die Schulden gerutscht und die beiden Gruppen ohne Vermögen – das zweite und dritte Zehntel von unten – haben weiterhin kein Vermögen bilden können. Auch der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) belegt, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Zwischen 1998 und 2008 ist der enorme Anteil des reichsten Zehntels der Haushalte am Nettovermögen von 45 auf 53 Prozent gestiegen, während der ohnehin schon extrem geringfügige Anteil der unteren Hälfte der Haushalte von 3 Prozent auf den winzigen Rest von einem Prozent zusammengeschmolzen ist. Der Gini-Koeffizient ist in diesem Jahrzehnt um 9 Prozent von 0.686 auf 0.748 angestiegen. Die Vermögensunterschiede nach beruflicher Stellung bergen keine Überraschungen und entsprechen in etwa den Einkommensunterschieden zwischen diesen Gruppen. Fast zwei Drittel der Arbeitslosen, aber auch ein knappes Drittel der Arbeiterschaft und der einfachen Angestellten stehen ohne Vermögen da. Im oberen Bereich ragen die großen Vermögensbestände der leitenden Angestellten und insbesondere der Selbstständigen heraus. Dabei ist zu beachten, dass das Vermögen für Selbstständige einen wichtigen Teil ihrer Altersvorsorge darstellt. Auch das Vermögen der gehobenen und höheren Beamten liegt deutlich über dem Durchschnitt – ein Vorsprung, der an den Vermögen der Pensionäre im Alter (das 2,2-Fache des Durchschnitts) sichtbar wird. Die hohen Vermögensbestände haben in den vergangenen Jahren eine Welle von Erbschaften in bisher unbekanntem Ausmaß ausgelöst. Die Auswertung des Alterssurveys 2002 durch eine Arbeitsgruppe um den Soziologen Martin Kohli ergab, dass fast jeder dritte Westdeutsche im Alter von 40 bis 45 Jahren mehr als 13.000 Euro geerbt hat, jeder sechste mehr als 51.000 Euro und jeder dreißigste mehr als 256.000 Euro. Fast jeder Hundertste (0,8 Prozent) gibt an, D-Mark-Millionenerbe zu sein (mindestens 511.000 Euro). Nach einer neuen Studie dieser Arbeitsgruppe sind Erbschaften und Schenkungen in den Jahren 2002 bis 2007 umso größer, je höher die Bildung, der berufliche Status und das bereits vorhandene Vermögen der Empfangenden ist. Beim Vermögenstransfer von Generation zu Generation greift also der biblische "Matthäus-Effekt": "Wer da hat, dem wird Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.5. gegeben." Dennoch hat die Weitergabe der Vermögen nach den neueren Berechnungen keine zunehmende Vermögenskonzentration zur Folge, sondern wirkt sogar eher "tendenziell nivellierend". Denn es profitieren davon auch vermögensarme Haushalte, die vorher über kein oder nur geringes Vermögen verfügten, und große Vermögen werden durch die Aufteilung auf mehrere Erben zum Teil "zersplittert". Unterschiede in Ostdeutschland In der DDR waren die Vermögensunterschiede im Zuge der sozialistischen Nivellierungspolitik stark eingeebnet worden. Zu den wichtigen Maßnahmen gehörten Enteignungen der Großgrundbesitzer, Großbauern und Bergwerke, der Großunternehmer in Industrie und Handel, der Banken und Versicherungen sowie der Flüchtlinge, Verstaatlichung und Kollektivierung, Restriktionen für den kleinen Rest der Selbstständigen sowie die Entwertung des Immobilienbesitzes. Auch die Einkommensunterschiede – zwischen Arbeitern, Angestellten und Genossenschaftsbauern, zwischen Genossenschaftsmitgliedern und Selbstständigen, aber auch innerhalb dieser Gruppen – wurden nach dem egalitären Prinzip der "Annäherung aller Klassen und Schichten" verkleinert. Arbeiter und Bauern erhielten dadurch vergleichsweise günstige Positionen im Ungleichheitsgefüge der DDR; die Opfer dieser "Annäherungspolitik" waren wichtige Leistungsträger wie Selbstständige und Hochqualifizierte sowie die Angestellten. Wohlstandsdefizit, soziale Nivellierung und die relativ günstige Soziallage von Arbeitern und Bauern rechtfertigen es, die DDR als eine nach unten – nicht zur Mitte hin – nivellierte Arbeiter- und Bauerngesellschaft zu charakterisieren. Der Abbau der Einkommensungleichheit war im letzten Jahrzehnt der DDR nicht unumstritten. Auf der Suche nach den "sozialen Triebkräften" des Wirtschaftswachstums distanzierten sich der Sozialstrukturforscher Manfred Lötsch und andere Wissenschaftler von traditionellen kommunistischen Gleichheitsvorstellungen und von einem starren "gleichmacherischen" Gehaltssystem. Sie kritisierten die Missachtung des Leistungsprinzips und entwickelten die These von der Triebkraftfunktion sozialer Unterschiede, die stark an die Argumente der amerikanischen Funktionalisten erinnert. Nach dieser These wirkt eine übertriebene Nivellierung leistungsfeindlich; sie bremse die sozioökonomische Entwicklung, da bestimmte Unterschiede im Einkommen und in den Lebensbedingungen als Leistungsanreize erforderlich seien. Angleichung nach 1990 Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde der Wohlstandsschub von einer Zunahme sozialer Ungleichheit in den neuen Ländern begleitet; leistungshemmende soziale Nivellierung kehrte sich um in zunehmende soziale Differenzierung. Die Hintergründe dieser Trendumkehr sind die Reprivatisierung der Wirtschaft und des Immobilienmarktes, der Neuaufbau des Mittelstandes von Selbstständigen und Freiberuflern sowie die Spreizung der Lohn- und Gehaltsstrukturen. In ihrem Gefolge vergrößern sich die Einkommens- und Vermögensunterschiede und die damit verknüpften Unterschiede in den Lebensbedingungen und Lebenschancen. Im Zusammenhang mit dem Wohlstandsschub bedeutet dies Differenzierung und Polarisierung nach oben: Die sozialen Abstände zwischen oben und unten werden auf einem insgesamt höheren Niveau größer. Zu den materiellen Gewinnern der Einheit gehören neben der großen Mehrheit der Rentnerinnen und Rentner die Freiberufler wie Ärzte, Rechtsanwälte oder Steuerberater, deren Abstand zum Durchschnitt größer ist als in den alten Ländern. Die größeren Unternehmer sind dagegen von den Einkommensprivilegien ihrer westdeutschen Konkurrenten noch ein erhebliches Stück entfernt. Auf der Seite der relativen Verlierer finden sich – neben den Risikogruppen am gesellschaftlichen Rand (Langzeitarbeitslose, Teile der Alleinerziehenden und der Kinderreichen) – Arbeiter sowie Un- und Angelernte. Auch viele der neuen kleinen Selbstständigen müssen sich mit unterdurchschnittlichen Einkommen begnügen. Ein Fünftel aller Selbstständigen lebte laut Datenreport 2013 in den Jahren 2009 bis 2011 in Armut; ihre Armutsquote ist erheblich höher als unter Facharbeitern (7 Prozent) und Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 08.01.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 005.5. einfachen Angestellten (12 Prozent). Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht hat die Wohlstandsungleichheit in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung langsam, aber stetig zugenommen; sie ist jedoch noch deutlich vom westdeutschen Ungleichheitsniveau entfernt. Die Tabelle auf S. 19 macht die "nachholende Spreizung" im Nettoäquivalenzeinkommen deutlich: 1992 stand dem oberen Fünftel das 2,8-Fache des unteren Fünftels zur Verfügung, 2012 war der Abstand auf das 3,9-Fache angestiegen und lag damit in etwa auf dem Westniveau in den 1990er- Jahren, aber noch deutlich unter dem Westniveau von 2012, das sich inzwischen auf das 4,4-Fache erhöht hat. Die nachholende Spreizung und fortbestehende ausgewogenere Verteilung des Wohlstands spiegelt sich auch in der Entwicklung des Gini-Koeffizienten wider. Er steigt in den neuen Ländern von 0.208 im Jahr 1991 auf 0.265 im Jahr 2012, hat sich aber in diesem Zeitraum den sich polarisierenden Verhältnissen im früheren Bundesgebiet nur wenig angenähert: 1991 lag er bei 84 Prozent des Westniveaus und 2012 bei 89 Prozent. Die neuen Vermögen der Ostdeutschen hinken zwar vom Umfang her noch weit hinter den westdeutschen her, sind aber ähnlich ungleich, zum Teil sogar noch ungleicher verteilt als in Westdeutschland. Besonders benachteiligt sind die älteren Rentnerinnen und Rentner. Sie haben einen großen Teil oder auch ihr gesamtes Erwerbsleben in der DDR verbracht und konnten daher von der Einkommensexplosion nach der Vereinigung nur wenig oder gar nicht profitieren. Auch der Anteil von überschuldeten Personen, deren Verbindlichkeiten höher sind als ihre Vermögen, ist in Ostdeutschland größer als in Westdeutschland. Die Konturen der sozialen Ungleichheit treten auch deshalb schärfer hervor, weil die nivellierenden Rahmenbedingungen des sozialistischen Alltags verschwunden sind. Unterschiede bei den zur Verfügung stehenden Finanzen ermöglichen stärker als zuvor eine verschiedenartige Lebensgestaltung, unterschiedliche Konsum- und Freizeitchancen. Die nach unten nivellierte "Gesellschaft der kleinen Leute" hat sich nach und nach in eine Mittelschichtengesellschaft mit stärkeren sozialen Abstufungen auf gehobenem Wohlstandsniveau verwandelt. Die Privatisierung und Reprivatisierung (Rückübertragung an Alteigentümer) des ostdeutschen Produktivvermögens hatte eine radikale Veränderung der Besitzverhältnisse zur Folge. Beim Verkauf von gut 12.000 ehemaligen "volkseigenen" Unternehmen durch die Treuhandanstalt hatten betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte absolute Priorität. Da es den Ostdeutschen weitgehend an Kapital und marktwirtschaftlich-unternehmerischem Know-how mangelte, kamen die neuen Eigentümer überwiegend aus Westdeutschland, ein Teil auch aus dem Ausland. Wenn ostdeutsche Privatpersonen als Käufer auftraten, dann geschah dies im Wesentlichen im Rahmen des sogenannten Management-Buy-out, das heißt, Unternehmen wurden von leitenden Mitarbeitern oder Teilen der Belegschaft übernommen. Etwa ein Drittel der privatisierten bzw. reprivatisierten Betriebe haben diese Form; meist handelt es sich dabei um kleine mittelständische Dienstleistungsunternehmen. Am Gesamtwert der von der Treuhandanstalt abgeschlossenen circa 35.000 Kaufverträge sind sie mit nur etwa 3 Prozent beteiligt. Rund 84 Prozent der Gesamtkaufsumme brachten westdeutsche Eigentümer und circa 8 Prozent ausländische Unternehmer auf; etwa 5 Prozent entfielen auf ostdeutsche Gebietskörperschaften, vor allem auf die Länder. Experten wie der Sozialökonom Richard Hauser (1996) vermuten, dass die Privatisierungsaktion "eher zu einer Konzentration des Produktivvermögens als zu einer breiteren Streuung geführt" hat. Ein Gegengewicht gegen den "Ausverkauf" des ostdeutschen Produktivvermögens an Westeigentümer bildeten der Gründerboom und die Vielzahl von Betriebsneugründungen durch Ostdeutsche in den 1990er-Jahren. 2010 haben immerhin 72 Prozent der Betriebe in den neuen Ländern ostdeutsche Eigentümer und weitere 5 Prozent sind im Besitz der öffentlichen Hand. Da die Ostdeutschen in der Regel die Inhaber von kleineren Betrieben sind, beschäftigen sie nur 44 Prozent der Arbeitnehmer, weitere 19 Prozent arbeiten in den öffentlichen Unternehmen (Wahse u. a. 2011). Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.1. Arbeitsauftrag: 1. Bildet 4 Gruppen, lest euren Text und fasst ihn in Stichpunkten in EA zusammen. 2. Tauscht euch in der Gruppe, versucht die Ergebnisse grafisch darzustellen und bereitet einen Vortrag für eine Expertengruppe vor. 3. Haltet eure Ergebnisse auf einem Flipchart fest und bereitet euch darauf vor diese in einem Galeriegang zu präsentieren. Armut und Prekariat Rainer Geißler: BPB 16.12.2014 Einleitung Armut und Prekarität im heutigen Deutschland sind nicht vergleichbar mit dem Massenelend, das die Industrialisierung begleitete, oder mit der Lebenssituation breiter Bevölkerungskreise in der Zwischen- und Nachkriegszeit. Wohlstandswachstum und Sozialstaat haben Armut und Prekarität quantitativ und qualitativ verändert, aber nicht beseitigen können. Als "prekär" bezeichnen die Sozialwissenschaften die soziale Lage von Menschen, die Gefahr laufen, in die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung abzugleiten. Das Problem, was Armut ist, wer zu den Armen gehört und welche Lebensumstände als "Leben in Armut" bezeichnet werden sollen, ist unter Sozialwissenschaftlern, Sozialarbeitern und Politikern umstritten. Einig ist sich die Armutsforschung über drei Aspekte der Armut: Armut in Deutschland ist keine absolute, sondern relative Armut. Mit anderen Worten: Armut ist in entwickelten Gesellschaften keine Frage des physischen Überlebens mehr – wie noch in vielen Ländern der sogenannten Dritten oder Vierten Welt –, sondern eine Frage des angemessenen Lebens; die Armutsgrenze wird nicht durch ein physisches, sondern durch ein soziokulturelles Existenzminimum markiert. Armut wird als interkulturell und historisch relative Erscheinung begriffen: Was Armut ist, variiert interkulturell von Gesellschaft zu Gesellschaft und historisch von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt. So definierte der Rat der Europäischen Gemeinschaft 1984 verarmte Personen als "Einzelpersonen, Familien oder Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist". Was in einer Gesellschaft als "annehmbares Minimum" angesehen wird, verändert sich im Laufe der Zeit mit dem Wandel der Lebensverhältnisse in der Gesamtgesellschaft. Festlegungen dieser Art beruhen auf gesellschaftlichen bzw. politischen Mehrheitsmeinungen und werden nicht von allen Parteien, Wissenschaftlern oder Gesellschaftsmitgliedern geteilt. Armut ist mehrdimensional: Sie ist nicht nur ein ökonomisch-materielles, sondern gleichzeitig auch ein soziales, kulturelles und psychisches Phänomen. Ökonomische und materielle Unterversorgung ist gekoppelt mit der Versagung von allgemein anerkannten Lebenschancen in wesentlichen Bereichen der menschlichen Existenz, mit dem weitgehenden Ausschluss von der Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.1. Einkommensarmut Die statistischen Angaben zur Zahl der Armen unterscheiden sich stark – je nachdem, wie Armut gemessen bzw. wo die "Armutsgrenze" gezogen wird. Es lassen sich grob zwei Konzepte von Armut unterscheiden: die staatlich anerkannte "offizielle Armut" und die "relative Armut". Offizielle Armut Die "offizielle Armut" erfasst alle Menschen, die staatliche Unterstützung erhalten, um den soziokulturellen Mindestbedarf für ein menschenwürdiges Leben sicherzustellen. Staatliche Hilfe erhalten Personen oder Familien, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, das gesellschaftlich zuerkannte Existenzminimum aus eigener Kraft und durch andere soziale Versorgungsleistungen zu sichern. Dieses Minimum errechnet sich nach einem komplizierten Verfahren und sichert den Empfängern ein Einkommen von weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens. Nach dem Datenreport 2008 mussten Haushalte von Sozialhilfeempfängern 2005 mit monatlich 883 Euro pro Person (bedarfsgewichtet nach Alter) auskommen, einem Durchschnittshaushalt standen 1875 Euro zur Verfügung. In den 1960er-Jahren nahm die Zahl der Sozialhilfeempfänger ab, aber in den 1970er-Jahren kehrte sich dieser Trend wieder um. Seitdem rutschten immer mehr Menschen in die Sozialhilfe, offiziell als "Hilfe zum Lebensunterhalt" (HLU) bezeichnet, ab. Ende 1982 wurde in Westdeutschland die Millionengrenze überschritten, Ende 1992 die Zweimillionengrenze, und Ende 1997 stieg die Zahl in Gesamtdeutschland auf einen vorläufigen Gipfel von 2,89 Millionen. Dieser wurde nach einem vorübergehenden Rückgang 2004 – beim Auslaufen der traditionellen Sozialhilfe – erneut geringfügig übertroffen. Damals lebten 2,91 Millionen Menschen oder 3,4 Prozent der Bevölkerung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt. Viele arme Menschen wissen gar nicht, dass ihnen Sozialhilfe zusteht, und nicht wenige scheuen den Gang zum Sozialamt aus Stolz oder Scham, aus Furcht vor der Stigmatisierung als Almosenempfänger oder auch, weil sie verhindern möchten, dass Kinder oder andere Verwandte nach dem Sozialhilfegesetz zur finanziellen Mithilfe verpflichtet werden. Die letzte Schätzung zur "Dunkelziffer der Armut" – auch "verdeckte Armut" genannt – kommt zu dem Ergebnis, dass 2003 auf drei HLU- Empfänger mindestens zwei, eher drei weitere Berechtigte kamen (Becker/Hauser 2005). Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.1. Mit der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe in der größten Sozialreform der deutschen Nachkriegsgeschichte durch das Hartz-IV-Gesetz lief die übliche Sozialhilfestatistik Ende 2004 aus. Die Regelung der Ansprüche auf Arbeitslosengeld II und Sozialgeld – im Volksmund "Hartz IV" genannt – ist hochkomplex und mehrfach geändert worden. Die Empfänger von "Hartz IV" sind nicht mehr mit den HLU-Empfängern nach der traditionellen Sozialhilferegelung vergleichbar. Sicher ist, dass die Reform die verdeckte Armut nicht beseitigt hat. Nach einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nahmen im Jahr 2008 zwischen 34 und 43 Prozent der Menschen, die einen Anspruch auf Hilfe durch die Hartz-IV-Gesetze haben, diese Unterstützung nicht in Anspruch (Bruckmeier u. a. 2013). Relative Armut Die europäische international vergleichende Armutsforschung arbeitet mit dem weiter gefassten Begriff der "relativen Armut": Arm sind demnach Einzelpersonen oder Familien, die über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens – gewichtet nach Anzahl und Alter der in einem Haushalt lebenden Personen – verfügen. Die relativen Armutsquoten liegen erheblich höher als die Sozialhilfequoten. 2004 bezogen in Westdeutschland 3,4 Prozent der Bevölkerung laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, aber 10,8 Prozent – also mehr als dreimal so viele Menschen – mussten mit einem Einkommen vorliebnehmen, das weniger als 60 Prozent des Durchschnitts betrug. Diese Unterschiede haben zwei Ursachen: Zum einen erfasst die "relative Armut" auch die "verdeckte Armut", und zum anderen liegt das politisch anerkannte soziokulturelle Existenzminimum erheblich niedriger als die 60-Prozent-Grenze. Daher wird die relative Armut im politischen Bereich häufig nicht als "Armut", sondern als "Armutsrisiko" oder "Armutsgefährdung" bezeichnet. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.1. Das Schaubild "Relative Einkommensarmut 1991-2012" macht deutlich, dass sich die relative Einkommensarmut im früheren Bundesgebiet insbesondere in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre wieder ausgebreitet hat: 1991 waren 6,6 Prozent der Westdeutschen arm, 1996 bereits 10,4 Prozent. Und auch im vergangenen Jahrzehnt ist die Armutsquote nochmals von 10,2 Prozent im Jahr 2000 auf den bisherigen Gipfel von 12,6 Prozent im Jahr 2012 angestiegen. Auch im europäischen Vergleich hat sich die Situation Deutschlands erheblich verschlechtert. 2001 war Deutschland im Kampf gegen die Armut noch sehr erfolgreich – in den damals 15 EU-Staaten lebten lediglich in Schweden weniger Menschen in Armut. Im vergangenen Jahrzehnt ist Deutschland ins Mittelfeld abgestiegen: 2010 war die Armutsquote in 7 der 15 Gesellschaften niedriger – in den drei skandinavischen Ländern sowie in den Niederlanden, in Österreich, Luxemburg und Frankreich. Die Ergebnisse aus dem Datenreport 2013 zu den Alltagsproblemen, die im Schaubild "Probleme im Alltag durch relative Armut" dargestellt sind, vermitteln einen Eindruck davon, welche Einschränkungen und Belastungen sich hinter dem abstrakten statistischen Konzept der 60-Prozent-Mediangrenze verbergen. So konnten es sich zum Beispiel 60 Prozent der Betroffenen nicht leisten, jedes Jahr eine Woche Urlaub woanders als zu Hause zu verbringen. Von den Menschen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen oberhalb der 60-Prozent-Grenze sind 16 Prozent dieser Einschränkung unterworfen. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.2. Arbeitsauftrag: 1. Bildet 4 Gruppen, lest euren Text und fasst ihn in Stichpunkten in EA zusammen. 2. Tauscht euch in der Gruppe, versucht die Ergebnisse grafisch darzustellen und bereitet einen Vortrag für eine Expertengruppe vor. 3. Haltet eure Ergebnisse auf einem Flipchart fest und bereitet euch darauf vor diese in einem Galeriegang zu präsentieren. Armut und Prekariat Rainer Geißler: BPB 16.12.2014 Einleitung Armut und Prekarität im heutigen Deutschland sind nicht vergleichbar mit dem Massenelend, das die Industrialisierung begleitete, oder mit der Lebenssituation breiter Bevölkerungskreise in der Zwischen- und Nachkriegszeit. Wohlstandswachstum und Sozialstaat haben Armut und Prekarität quantitativ und qualitativ verändert, aber nicht beseitigen können. Als "prekär" bezeichnen die Sozialwissenschaften die soziale Lage von Menschen, die Gefahr laufen, in die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung abzugleiten. Das Problem, was Armut ist, wer zu den Armen gehört und welche Lebensumstände als "Leben in Armut" bezeichnet werden sollen, ist unter Sozialwissenschaftlern, Sozialarbeitern und Politikern umstritten. Einig ist sich die Armutsforschung über drei Aspekte der Armut: Armut in Deutschland ist keine absolute, sondern relative Armut. Mit anderen Worten: Armut ist in entwickelten Gesellschaften keine Frage des physischen Überlebens mehr – wie noch in vielen Ländern der sogenannten Dritten oder Vierten Welt –, sondern eine Frage des angemessenen Lebens; die Armutsgrenze wird nicht durch ein physisches, sondern durch ein soziokulturelles Existenzminimum markiert. Armut wird als interkulturell und historisch relative Erscheinung begriffen: Was Armut ist, variiert interkulturell von Gesellschaft zu Gesellschaft und historisch von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt. So definierte der Rat der Europäischen Gemeinschaft 1984 verarmte Personen als "Einzelpersonen, Familien oder Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist". Was in einer Gesellschaft als "annehmbares Minimum" angesehen wird, verändert sich im Laufe der Zeit mit dem Wandel der Lebensverhältnisse in der Gesamtgesellschaft. Festlegungen dieser Art beruhen auf gesellschaftlichen bzw. politischen Mehrheitsmeinungen und werden nicht von allen Parteien, Wissenschaftlern oder Gesellschaftsmitgliedern geteilt. Armut ist mehrdimensional: Sie ist nicht nur ein ökonomisch-materielles, sondern gleichzeitig auch ein soziales, kulturelles und psychisches Phänomen. Ökonomische und materielle Unterversorgung ist gekoppelt mit der Versagung von allgemein anerkannten Lebenschancen in wesentlichen Bereichen der menschlichen Existenz, mit dem weitgehenden Ausschluss von der Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.2. Risikogruppen Als Risikogruppen werden Bevölkerungsgruppen mit einem besonders hohen Anteil von Armen bezeichnet; die Zugehörigkeit zu ihnen ist also mit einem sehr großen Risiko verknüpft, an oder unter der relativen Armutsgrenze leben zu müssen. Mit dem Wandel der Armut hat sich auch die Struktur der Risikogruppen teilweise verändert. In den 1960er- und 1970er- Jahren waren alte Menschen – vor allem ältere Frauen – besonders hohen Armutsrisiken ausgesetzt. Die Altersarmut wurde jedoch durch die Verbesserung der Alterssicherung, vor allem durch die Dynamisierung der Renten, eingedämmt. Seit drei Jahrzehnten liegt die Armutsquote der älteren Menschen nicht mehr über, sondern unter dem Durchschnitt. Zwischen 2009 und 2011 waren lediglich die 31- bis 40-Jährigen seltener von Armut betroffen als die über 60-Jährigen. Allerdings droht wegen verschiedener Entwicklungen am Arbeitsmarkt – Zunahme des Niedriglohnsektors und der unsteten Beschäftigungsverhältnisse, prekäre Selbstständigkeit mit Niedrigeinkünften – eine neue Altersarmut, wenn keine sozialpolitischen Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind – sieht man einmal von der überwiegend weiblichen Risikogruppe der Alleinerziehenden ab – weitgehend eingeebnet worden. In den Jahren 2009 bis 2011 lag die durchschnittliche Armutsquote der Frauen nur um 1,7 Prozentpunkte über derjenigen der Männer. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.2. Aus der soziodemografischen Struktur der Armutsbevölkerung, die Jan Goebel, Roland Habich und Peter Krause für den Datenreport 2013 berechnet haben, lassen sich folgende Faktoren ableiten, die das Risiko, in relative Armut abzurutschen, am meisten erhöhen (in dieser Reihenfolge): Arbeitslosigkeit, Alleinerziehen, Migrationshintergrund (insbesondere Ausländerstatus), geringe schulische Qualifikation (kein Hauptschulabschluss), Scheidung, geringe berufliche Qualifikation (un- und angelernte Arbeiter), niedriges Alter (11-30 Jahre) und Kinderreichtum (Familien mit mindestens drei Kindern). Den besten Schutz gegen Armut bieten ein hoher beruflicher Status (gehobene/höhere Beamte, leitende Angestellte), die Vollzeiterwerbstätigkeit, eine gute Ausbildung (Hochschulabschluss) sowie ein Leben zu zweit ohne Kinder. Ob jemand in Armut gerät oder nicht, hängt sehr stark von seiner Situation auf dem Arbeitsmarkt ab. Während Vollzeiterwerbstätigkeit vergleichsweise gut gegen Armut schützt (Armutsrate 4,5 Prozent), führen die Arbeitslosen die Liste der armutsbedrohten Gruppen mit großem Abstand an (56 Prozent). Erwerbstätigkeit ist allerdings kein absoluter Schutz gegen Armut. Die aus anderen Gesellschaften bekannten "working poor" bilden auch in Deutschland ein wachsendes Segment der Armutsbevölkerung. Nach dem Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) verdienten neben den erwähnten 4,5 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen weitere 15 Prozent der Teilzeiterwerbstätigen im Jahr 2010 so wenig, dass sie unter der 60-Prozent-Grenze leben mussten. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.3. Arbeitsauftrag: 1. Bildet 4 Gruppen, lest euren Text und fasst ihn in Stichpunkten in EA zusammen. 2. Tauscht euch in der Gruppe, versucht die Ergebnisse grafisch darzustellen und bereitet einen Vortrag für eine Expertengruppe vor. 3. Haltet eure Ergebnisse auf einem Flipchart fest und bereitet euch darauf vor diese in einem Galeriegang zu präsentieren. Armut und Prekariat Rainer Geißler: BPB 16.12.2014 Einleitung Armut und Prekarität im heutigen Deutschland sind nicht vergleichbar mit dem Massenelend, das die Industrialisierung begleitete, oder mit der Lebenssituation breiter Bevölkerungskreise in der Zwischen- und Nachkriegszeit. Wohlstandswachstum und Sozialstaat haben Armut und Prekarität quantitativ und qualitativ verändert, aber nicht beseitigen können. Als "prekär" bezeichnen die Sozialwissenschaften die soziale Lage von Menschen, die Gefahr laufen, in die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung abzugleiten. Das Problem, was Armut ist, wer zu den Armen gehört und welche Lebensumstände als "Leben in Armut" bezeichnet werden sollen, ist unter Sozialwissenschaftlern, Sozialarbeitern und Politikern umstritten. Einig ist sich die Armutsforschung über drei Aspekte der Armut: Armut in Deutschland ist keine absolute, sondern relative Armut. Mit anderen Worten: Armut ist in entwickelten Gesellschaften keine Frage des physischen Überlebens mehr – wie noch in vielen Ländern der sogenannten Dritten oder Vierten Welt –, sondern eine Frage des angemessenen Lebens; die Armutsgrenze wird nicht durch ein physisches, sondern durch ein soziokulturelles Existenzminimum markiert. Armut wird als interkulturell und historisch relative Erscheinung begriffen: Was Armut ist, variiert interkulturell von Gesellschaft zu Gesellschaft und historisch von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt. So definierte der Rat der Europäischen Gemeinschaft 1984 verarmte Personen als "Einzelpersonen, Familien oder Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist". Was in einer Gesellschaft als "annehmbares Minimum" angesehen wird, verändert sich im Laufe der Zeit mit dem Wandel der Lebensverhältnisse in der Gesamtgesellschaft. Festlegungen dieser Art beruhen auf gesellschaftlichen bzw. politischen Mehrheitsmeinungen und werden nicht von allen Parteien, Wissenschaftlern oder Gesellschaftsmitgliedern geteilt. Armut ist mehrdimensional: Sie ist nicht nur ein ökonomisch-materielles, sondern gleichzeitig auch ein soziales, kulturelles und psychisches Phänomen. Ökonomische und materielle Unterversorgung ist gekoppelt mit der Versagung von allgemein anerkannten Lebenschancen in wesentlichen Bereichen der menschlichen Existenz, mit dem weitgehenden Ausschluss von der Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.3. Obdachlose Materielle Not hat häufig Wohnungsnot und Obdachlosigkeit zur Folge. Menschen ohne eigene Wohnung gehören zuden Ärmsten der Armen; ihre Mittel reichen nicht aus, um sich ein eigenes "Obdach" zu leisten. Über Art und Umfang der Obdachlosigkeit in Deutschland kursiert eine Fülle von Missverständnissen, weil wichtige Begriffe wie "Obdachlose" oder "Wohnungslose" im Amtsdeutschen, bei Wissenschaftlern, Journalisten, Sozialpädagogen oder in der Umgangssprache einen sehr unterschiedlichen Bedeutungsgehalt haben. Nach der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe (BAG W) ist wohnungslos, wer weder über Wohneigentum noch "über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt". Wohnungslosigkeit Wohnungslosigkeit kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Die meisten Wohnungslosen leben in provisorischen Notunterkünften. Diese werden ihnen von den Gemeindebehörden mietfrei zur Verfügung gestellt, weil sie nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft eine Wohnung zu finanzieren. Menschen in Notunterkünften dieser Art haben zwar eine Wohnung, leben darin aber nicht als Mieter mit entsprechenden Rechten, sondern nur als vorübergehend geduldete Nutzer. Sie sind stärkeren behördlichen Reglementierungen ausgesetzt, und ihre Privatsphäre ist eingeschränkt, weil die Behörden jederzeit das Recht auf Zutritt und Kontrolle haben. Auch viele (Spät-)Aussiedler waren in den 1990er-Jahren in Notunterkünften untergebracht, bis sie eine Mietwohnung gefunden hatten. Im Statistischen Jahrbuch (2013, S. 487) ist zwar nachzulesen, wie viele Legehennen in Käfigen gehalten werden, aber nicht, wie viele Menschen in unwürdigen Verhältnissen wohnen müssen. Daher lässt sich die Zahl der Wohnungslosen nur schätzen. Dank der Bemühungen der BAG W sind die Schätzungen aber immer zuverlässiger geworden. Da sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt seit Ende der 1980er-Jahre durch die sprunghaft angestiegene Ost-West-Wanderung (ca. 3 Millionen Aus- und Übersiedler) krisenhaft zuspitzte, nahm auch die Zahl der Wohnungslosen zunächst erheblich zu und erreichte 1996 mit etwa 930.000 – davon gut 50.000 in den neuen Ländern – ihren Gipfel. Danach war sie zwölf Jahre lang rückläufig. 2008 erreichte sie einen Tiefststand von 227.000. Die meisten (Spät-)Aussiedler konnten die Notunterkünfte verlassen, 2010 waren nur noch etwa 2000 von ihnen ohne eigene Wohnung. Aber auch einheimischen Deutschen gelang es besser als vorher, im Mietwohnungsmarkt Fuß zu fassen. Viele Neubauten sowie preisgünstige Wohnungen, die durch den Abzug der alliierten Truppen frei geworden waren, trugen zu diesem Rückgang ebenso bei wie die Anstrengungen von Kommunen und freien Trägern der Wohnungslosenhilfe (Übernahme von Mietschulden, vermehrte Beratungsangebote). Seit 2009 kehrt sich der rückläufige Trend jedoch wieder um; die Zahl der Wohnungslosen stieg innerhalb von vier Jahren um ein Viertel auf 284.000 im Jahr 2012, von denen ca. 35.000 in Ostdeutschland leben. Für den erneuten Anstieg der Wohnungslosigkeit lassen sich drei Ursachen ausmachen: der schrumpfende Bestand an Sozialwohnungen, gestiegene Mietpreise insbesondere in den Ballungsgebieten und die Ausdehnung der Armutszone. Die BAG W geht davon aus, dass die Wohnungslosenzahlen bis 2016 um ein weiteres Drittel auf 380.000 ansteigen werden – ein Rückfall auf den Stand von 2003. Wohnungslosigkeit ist nur selten ein ausschließlich selbst verschuldeter Zustand. Strukturelle Hintergründe der Notlage, die in Mietschulden offenbar wird, sind Armut und Arbeitslosigkeit in Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.3. Zusammenhang mit einer angespannten Situation am Wohnungsmarkt. Die Belastung armer Familien durch die Miete ist extrem hoch. Haushalte mit Niedrigeinkommen müssen im Durchschnitt 44 Prozent des Einkommens für die Miete aufbringen, bei einer Durchschnittsfamilie ist dieser Anteil nur halb so groß. Arbeitslosigkeit und unverschuldete Notlagen, zum Beispiel durch Krankheit, haben für die Entstehung von Obdachlosigkeit eine große Bedeutung; familiäre Ereignisse wie Scheidung oder Geburten spielen ebenfalls eine Rolle, sind aber von minderem Gewicht. Wie sich die Wohnungslosen soziostrukturell zusammensetzen, ist nur schlecht erfasst. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen ist zwischen 1996 und 2012 von 34 auf 11 Prozent zurückgegangen. Unter den Erwachsenen dominieren 2012 die Männer mit 75 Prozent. 64 Prozent aller Wohnungslosen sind alleinstehend. Straßenobdachlosigkeit Die letzte Stufe der sozialen Deklassierung ist mit der Straßenobdachlosigkeit erreicht. Straßenobdachlos ist die relativ kleine Gruppe von Menschen, die kein dauerhaftes Dach über dem Kopf haben. Sie leben im Freien, "machen Platte" in Parks, auf der Straße oder an anderen öffentlich zugänglichen Stellen. Manche von ihnen nutzen leer stehende Wohnungen, einige verbringen die Nächte in Notübernachtungshäusern, den sogenannten Obdachlosenasylen. Wer ohne Obdach leben muss, dem ist eine elementare Grundlage für ein gesichertes, menschenwürdiges Leben entzogen. Die Wohnung ist nicht nur materielle Basis für Wärme, Schutz und Geborgenheit, sondern unabdingbare Voraussetzung für Arbeit, Familie, Privatleben, Hygiene, für bestimmte Formen der Kommunikation (z. B. Postzustellung) und für ein Mindestmaß an sozialer Anerkennung. Ein Leben auf der Straße bedeutet ein Leben außerhalb vieler, ja nahezu aller Normen, den "Ausschluss aus der Welt derer […], die sich gegenseitig als Menschen wiedererkennen und anerkennen" – so hat es Hartwig Drude, der frühere Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe, etwas überspitzt formuliert. Die Belastungen, die mit dem ungesicherten und entwürdigenden Leben eines "Landfahrers" oder "Stadtstreichers" verbunden sind, haben bei längerer Dauer körperliche und psychische Schäden sowie vorzeitige Alterung zur Folge und verringern die Lebenserwartung um etwa zehn Jahre. Seit 1991 sind mindestens 278 Straßenobdachlose im Freien – auf Parkbänken, unter Brücken, in Abrisshäusern, Gartenlauben und an ähnlichen Orten – erfroren. Nach den neuesten Schätzungen der BAG W ist der harte Kern derjenigen, die über einen längeren Zeitraum "Platte machen" und ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, von 35.000 im Jahr 1996 nach und nach auf den Tiefststand von 18.000 im Jahr 2006 zurückgegangen. Seitdem ist ihre Zahl allerdings wieder um ein Drittel auf 24.000 im Jahr 2012 angestiegen. Betroffen von Straßenobdachlosigkeit sind hauptsächlich alleinstehende Männer im Alter zwischen 20 und 50 Jahren. Etwa ein Fünftel von ihnen sind ehemalige Strafgefangene, die nach ihrer Haftentlassung nicht oder noch nicht wieder Fuß fassen konnten. Der Frauenanteil ist seit den 1990er-Jahren von 3 bis 5 Prozent auf etwa 10 Prozent gestiegen. In einer Studie von Wolfgang Ludwig-Mayerhofer u. a. (2001) wird darauf hingewiesen, dass in dieser Zahl die verdeckte weibliche Straßenobdachlosigkeit nicht berücksichtigt ist, also diejenigen Frauen, die "zweckorientierte Partnerschaften mit Männern eingehen, um dem ungeschützten Leben auf der Straße und der damit verbundenen Stigmatisierung auszuweichen". Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.4. Arbeitsauftrag: 1. Bildet 4 Gruppen, lest euren Text und fasst ihn in Stichpunkten in EA zusammen. 2. Tauscht euch in der Gruppe, versucht die Ergebnisse grafisch darzustellen und bereitet einen Vortrag für eine Expertengruppe vor. 3. Haltet eure Ergebnisse auf einem Flipchart fest und bereitet euch darauf vor diese in einem Galeriegang zu präsentieren. Armut und Prekariat Rainer Geißler: BPB 16.12.2014 Einleitung Armut und Prekarität im heutigen Deutschland sind nicht vergleichbar mit dem Massenelend, das die Industrialisierung begleitete, oder mit der Lebenssituation breiter Bevölkerungskreise in der Zwischen- und Nachkriegszeit. Wohlstandswachstum und Sozialstaat haben Armut und Prekarität quantitativ und qualitativ verändert, aber nicht beseitigen können. Als "prekär" bezeichnen die Sozialwissenschaften die soziale Lage von Menschen, die Gefahr laufen, in die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung abzugleiten. Das Problem, was Armut ist, wer zu den Armen gehört und welche Lebensumstände als "Leben in Armut" bezeichnet werden sollen, ist unter Sozialwissenschaftlern, Sozialarbeitern und Politikern umstritten. Einig ist sich die Armutsforschung über drei Aspekte der Armut: Armut in Deutschland ist keine absolute, sondern relative Armut. Mit anderen Worten: Armut ist in entwickelten Gesellschaften keine Frage des physischen Überlebens mehr – wie noch in vielen Ländern der sogenannten Dritten oder Vierten Welt –, sondern eine Frage des angemessenen Lebens; die Armutsgrenze wird nicht durch ein physisches, sondern durch ein soziokulturelles Existenzminimum markiert. Armut wird als interkulturell und historisch relative Erscheinung begriffen: Was Armut ist, variiert interkulturell von Gesellschaft zu Gesellschaft und historisch von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt. So definierte der Rat der Europäischen Gemeinschaft 1984 verarmte Personen als "Einzelpersonen, Familien oder Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist". Was in einer Gesellschaft als "annehmbares Minimum" angesehen wird, verändert sich im Laufe der Zeit mit dem Wandel der Lebensverhältnisse in der Gesamtgesellschaft. Festlegungen dieser Art beruhen auf gesellschaftlichen bzw. politischen Mehrheitsmeinungen und werden nicht von allen Parteien, Wissenschaftlern oder Gesellschaftsmitgliedern geteilt. Armut ist mehrdimensional: Sie ist nicht nur ein ökonomisch-materielles, sondern gleichzeitig auch ein soziales, kulturelles und psychisches Phänomen. Ökonomische und materielle Unterversorgung ist gekoppelt mit der Versagung von allgemein anerkannten Lebenschancen in wesentlichen Bereichen der menschlichen Existenz, mit dem weitgehenden Ausschluss von der Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.4. Armut auf Zeit Armut und Obdachlosigkeit sind für den Einzelnen und für die Gesellschaft umso folgenschwerer, je länger sie andauern. Wenn Menschen über lange Zeit oder auf Dauer in Mangellagen leben müssen, verschlimmern und verfestigen sich die psychischen und sozialen Folgen. Es kann dazu kommen, dass extreme Benachteiligungen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die sogenannte dynamische Armutsforschung ermöglicht genauere Einblicke in die Dynamik der Armut, in die Bewegungen über die Armutsgrenzen hinweg und damit auch in die Dauer von Sozialhilfebezug, relativer Armut und Obdachlosigkeit. Die letzte Studie zum Sozialhilfebezug, die bis 2003 über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren lief, kommt zu dem Ergebnis, dass knapp die Hälfte der Unterstützten nach diesem Zeitraum wieder finanziell auf eigenen Füßen stand, 60 Prozent von ihnen durch die Befreiung aus der Arbeitslosigkeit. 8 Prozent der Sozialhilfeempfänger war nur ein vorübergehender Ausstieg gelungen, und 43 Prozent waren ununterbrochen zweieinhalb Jahre lang auf Sozialhilfe angewiesen. Genauere und neuere Daten zur relativen Armut liegen im Datenreport 2013 vor. Knapp zwei Fünftel (39 Prozent) der Menschen, die 2011 in der Armutszone leben mussten, waren auch in den Jahren 2007 bis 2010 dauerhaft von Armut betroffen. Weitere gut zwei Fünftel (42 Prozent) waren in den vier vorangehenden Jahren ein, zwei oder drei Jahre lang arm, und 19 Prozent glitten 2011 erstmals in die Armutszone ab. Ein Vergleich mit der Situation im Jahr 2000 macht deutlich, dass sich die Armut im letzten Jahrzehnt etwas verfestigt hat. Die dynamische Armutsforschung hat deutlich gemacht, dass die Überwindung von Armut für einen Teil der Betroffenen – insbesondere für Menschen mit niedriger Schulbildung – nicht von Dauer ist. Sie geraten wiederholt in die Armutszone, ihr Lebenslauf ähnelt – so der Armutsforscher Hans-Jürgen Andreß (1999) – "einer ‚Achterbahn‘ mit zyklusabhängigen Höhen und Tiefen". Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.4. Die Dynamik unter Obdachlosen ist erheblich schlechter erforscht. Die BAG W hat 2010 in einer nicht repräsentativen Stichprobe 24.000 Obdachlose befragt. Die Studie liefert Hinweise darauf, dass die Dauer der Obdachlosigkeit erheblich kürzer ist als die Dauer der Armut und dass sich Wohnungsnot im letzten Jahrzehnt nicht verfestigt, sondern verkürzt hat. 2010 gab es einen harten Kern von 11 Prozent der Obdachlosen, die länger als fünf Jahre ohne eigene Wohnung leben mussten, und 69 Prozent waren vor weniger als zwölf Monaten in die Obdachlosigkeit abgeglitten. Randständigkeit ist heute in der Regel kein Dauerschicksal mehr. In den sprichwörtlichen "Teufelskreis" von Armut und Obdachlosigkeit, aus dem es dann kein Entrinnen mehr gibt, gerät nur eine – derzeit allerdings wachsende – Minderheit der Betroffenen. Die bisherige Antwort der deutschen Wohlstandsgesellschaft auf das Problem der Armut ist nicht ihre Beseitigung, sondern ihre Befristung – die Armut auf Zeit. Diese "Problemlösung" hat auch ihre Kehrseite: Das befristete Schicksal der Randständigkeit wird auf viele Schultern verteilt. Zwischen 1991 und 1997 gerieten immerhin etwa ein Fünftel der Deutschen zumindest kurzfristig unter die 50-Prozent-Armutsgrenze. Auch Angehörige der mittleren und sogar der höheren Schichten sind gewissen Armutsrisiken ausgesetzt. Allerdings führt die Vorstellung von einer "Demokratisierung der Risiken" im Sinne von "Gemeinsamkeiten der Risiken über unterschiedliche Einkommenshöhen, Bildungsabschlüsse hinweg" (Ulrich Beck 1986) schnell in die Irre, wenn dabei die deutlichen schichtspezifischen Risikounterschiede nicht beachtet werden. Die Gefahr, in die Armutszone abzugleiten, war zum Beispiel in den Jahren 2009 bis 2011 für Un- und Angelernte dreieinhalbmal so groß wie für Facharbeiter, siebenmal so groß wie für qualifizierte Angestellte und siebzehnmal so groß wie für leitende Angestellte; und längere Armutsperioden tauchen bei Menschen ohne Ausbildungsabschluss relativ häufig, bei Abiturienten und insbesondere bei Akademikern nur noch in Ausnahmefällen auf. Soziale und psychische Folgen Die Grundsituation der Armut wird – auch bei längerer Dauer – von den Betroffenen sehr unterschiedlich bewältigt. Andreß (1999) dokumentiert die erheblichen Einschränkungen in der alltäglichen Lebensführung, insbesondere beim Konsum, aber auch bei der Ernährung, in vielen Einzelheiten. Die aus einigen Fallstudien bekannte "Isolationsthese" – Rückzug der Armen in die Familie und Abbruch der außerfamilialen Kontakte – lässt sich dagegen ebenso wenig quantitativ bestätigen wie die Vorurteile, Arme seien arbeitsscheu oder unfähig, mit ökonomisch prekären Situationen umzugehen. Neuere Studien (Böhnke 2009; Böhnke/Dathe 2010) belegen, dass bei vielen Betroffenen mit dem Abstieg in die Armut auch Einbußen an Lebenszufriedenheit, politischem Interesse und kultureller Teilhabe (Konzert-, Theater-, Museumsbesuche) sowie ein Rückzug aus ehrenamtlichen Tätigkeiten in Vereinen, Verbänden oder sozialen Diensten einhergehen. Nach einer Expertise des Robert-Koch- Instituts von 2005 berichten Menschen in Armut erheblich häufiger als andere von starken Schmerzen und gesundheitsbedingten Einschränkungen im Alltagsleben. Zu den Ursachen gehören hoher Alltagsstress, aber auch häufigeres gesundheitsschädliches Verhalten wie Rauchen, ungesunde Ernährung und sportliche Inaktivität. Obwohl sich die meisten Eltern große Mühe geben, ihre Kinder möglichst wenig unter der familiären Notlage leiden zu lassen, sind die Folgen der Armut auch für junge Menschen gravierend. Bei 12- bis 16-Jährigen aus unterversorgten Familien sind die Risiken, mit dem Leben unzufrieden zu sein, sich als Außenseiter zu fühlen und von den Mitschülerinnen und Mitschülern nicht akzeptiert zu werden, etwa doppelt so hoch wie bei Gleichaltrigen aus Durchschnittsfamilien. Auch Gefühle von Einsamkeit und Hilflosigkeit sowie Defizite im Selbstbewusstsein treten häufiger auf (Klocke 2001). Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 05.02.2017 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 006.4. Neuere Studien aus dem vergangenen Jahrzehnt bestätigen diese Defizite. So kommen nach den Analysen des Frankfurter Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) zum Beispiel arme Sechsjährige mitunter hungrig und ohne körperliche Pflege in die Kindertagesstätten. Sie zeigen häufiger Auffälligkeiten im Sprach-, Spiel- und Arbeitsverhalten, werden häufiger von anderen Kindern gemieden und haben häufiger gesundheitliche Probleme. Arme Zehnjährige sind seltener Mitglieder in Vereinen, haben erheblich seltener Zugang zum Internet, bringen seltener Kinder mit nach Hause und feiern seltener ihren Geburtstag. Sie nehmen ihre Mahlzeiten häufiger unregelmäßig ein, haben häufiger Gewichtsprobleme sowie frühzeitiger und häufiger Kontakt zu Zigaretten und Alkohol (Holz 2006). Auch die deutliche Beeinträchtigung der Bildungschancen durch Armut wurde in neueren Studien bestätigt. So verlassen beispielsweise Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren, die mindestens zweimal vorübergehend von Armut betroffen waren, das Schulsystem dreimal so häufig ohne Abschluss wie ihre Altersgenossen, besuchen Haupt- und Förderschulen doppelt so häufig und erreichen das Abitur nur halb so häufig (Boeckenhoff u. a. 2012). In der Regel gilt für die skizzierten Folgen der Armut: Je länger die Armut dauert, umso intensiver wird die alltägliche Lebensführung eingeschränkt und belastet. Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 01.11.2021 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 007 Arbeitsauftrag: 1. Lest den Text in EA. 2. Fertigt eine Mindmap oder ein Schubild an, in dem ihr den Begriff Prekariat in allen Teilaspekten und Bezügen darstellen könnt. 3. Versucht abschließend die wichtigsten Unterschiede zwischen den Begriffen Prekariat und Armut darzustellen. 4. Notiert euch alle Ergebnisse in eure Unterlagen. Armut und Prekariat Rainer Geißler: BPB 16.12.2014 Prekarität Im vergangenen Jahrzehnt ist das Konzept der Prekarität in Wissenschaft und Öffentlichkeit populär geworden. Der Begriff wird allerdings sehr unterschiedlich verwendet, unter anderem auch als Synonym für Armut. Im Folgenden wird er im Anschluss an den französischen Soziologen Robert Castel für die soziostrukturelle Zone der "sozialen Verwundbarkeit" verwendet, die der Armut vorgelagert ist. Prekär ist die soziale Lage von Menschen, die Gefahr laufen, in die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung abzugleiten. In diesem Sinne wird zum Beispiel in den Datenreports seit 2002 die sozialstatistische Kategorie des "prekären Wohlstands" benutzt. Sie erfasst Menschen, die mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von 50 bis 75 Prozent des Durchschnittswerts auskommen müssen. Sie leben über der relativen Armutsgrenze, aber ihre Situation ist armutsnah und prekär im Sinne von "verwundbar, unsicher, heikel, instabil". Sie gleiten häufiger in die Armutszone ab als andere. Ihr Anteil an der Bevölkerung schwankte in den beiden vergangenen Jahrzehnten geringfügig zwischen etwa 22 und 25 Prozent, 2011 betrug er 25,5 Prozent (Datenreport 2013). Die Diskussion über Prekarität hat ihren Ausgangspunkt in der Arbeitswelt, bei der sogenannten Entstandardisierung der Beschäftigungsverhältnisse. Der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung, die als Arbeitnehmer in einem Normalarbeitsverhältnis tätig sind – vollbeschäftigt, unbefristet, tariflich geregelt –, ist in den beiden vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen; ausgedehnt haben sich die unbefristeten Teilzeitbeschäftigungen, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse (sogenannte Minijobs) sowie die besonders prekäre Leiharbeit (2011 knapp 3 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten). Die Deregulierung des Arbeitsmarktes kommt den Flexibilitätsbedürfnissen des globalisierten Arbeitsmarktes entgegen und wird durch den Umbau des "versorgenden" zum "aktivierenden" Sozialstaat, zum Beispiel durch die Sozialreformen der "Agenda 2010" und die "Hartz-Gesetze", begünstigt. "Prekarität ist überall" – auf diese Formel hat Pierre Bourdieu 1998 die Situation in Frankreich gebracht. Zehn Jahre später kommt Heinz Bude in seiner bekannten Analyse über Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 01.11.2021 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 007 die "Ausgeschlossenen" in Deutschland zu demselben Ergebnis: "Der Absturz ist überall möglich […]. Das passiert auf allen Ebenen und in den verschiedenen Milieus unserer Sozialwelt: In den Milieus der Unterprivilegierten genauso wie in den Arbeitnehmermilieus der Mitte, im […] Mittelstand der Ärzte, Therapeuten und Lehrer genauso wie im Bildungsbürgertum der Professoren, Pfarrer und Rechtsanwälte, in der Manager- und Bankerklasse genauso wie in den Reihen des Besitzbürgertums" (Bude 2008, S. 34). Allerdings suggerieren diese aus Einzelbeobachtungen abgeleiteten Aussagen ein falsches Bild der Zonen von Exklusion und Prekarität. Die verarmten, in einem sozialen Brennpunkt lebenden Banker und Professoren dürften Ausnahmefälle sein, aber es gibt Zigtausende von armen, arbeitslosen Ungelernten. Quantitative Analysen (z. B. Böhnke 2006; Groh-Samberg 2009) belegen, dass soziale Ausgrenzung und Prekarität sehr deutlich schichttypisch ungleich verteilt sind. Eine aufsehenerregende Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (Grabka/Frick 2008) wies erstmals auf das Phänomen der "schrumpfenden Mittelschicht" hin. Als "Mittelschicht" wird in diesem Zusammenhang der Teil der Bevölkerung mit einem Einkommen von 70 bis 150 Prozent des Durchschnitts (Median) bezeichnet. In den 1980er- und 1990er-Jahren blieb der Umfang dieser "Einkommens-Mittelschicht" weitgehend stabil. Zwischen 2000 und 2010 schrumpfte er jedoch kontinuierlich von 63,8 auf 58,2 Prozent, weil Armut und Prekarität entsprechend zunahmen. Andere Studien (z. B. Geißler 2014) zeigen, dass Menschen aus der Mitte mit einem überdurchschnittlichen Einkommen nur selten in Armut oder Prekarität absteigen. Die Vorstellung der "schrumpfenden Mittelschicht" lässt sich daher noch weiter präzisieren: Es ist die untere Einkommens-Mittelschicht, die abbröckelt. Die Einkommenssituation schlägt jedoch nicht auf die Selbsteinstufung in die Mittelschicht durch: Im Jahr 2000 stuften sich 61 Prozent und 2010 sogar 62 Prozent der Westdeutschen in die Mittelschicht ein; in Ostdeutschland stieg die Selbstzuordnung zur Mittelschicht in diesem Zeitraum von 45 auf 51 Prozent an. Allerdings breiten sich Ängste und Unsicherheiten auch in die gesellschaftliche Mitte hinein aus, und selbst die obere Schicht bleibt von Sorgen um ihre Arbeitsplätze und ihre wirtschaftliche Zukunft nicht völlig verschont. "Die Angst kriecht die Bürotürme hinauf" – so formuliert der Soziologe Stefan Hradil (2006) diesen Vorgang in einem anschaulichen Bild. Individuelle Ängste und Sorgen sind subjektive Empfindungen, die nur zum Teil mit der "wirklichen", "objektiven" eigenen Situation zusammenhängen. So ist empirisch belegt, dass die starke Zunahme der Ängste in der unteren Mitte nicht auf tatsächliche Arbeitslosigkeit oder Vertragsbefristungen in der eigenen Erwerbsbiografie zurückzuführen ist. Es handelt sich um einen sogenannten spill over effect, was sich in etwa mit "Überschwapp-Effekt" übersetzen lässt: Die Risiken von Verarmung und Prekarisierung "schwappen" von den unteren Schichten, wo sie besonders häufig auftreten, in die gesellschaftliche Mitte und sogar in obere Berufsgruppen über und produzieren dort übertriebene Unsicherheit. Die Situation entspricht der unter Ökonomen gängigen Formel "Die Stimmung ist schlechter als die Lage." Fach: Politik Kurs: Q 1 Datum: 30.09.2020 Thema: Gesellschaftliche Spaltung Lfd. Nr.: 008.1. Arbeitsauftrag: 1. Lest den Text in Einzelarbeit und fasst den Text stichpunktartig in euren Unterlagen zusammen. (20 min) 2. Bildet anschließend Kleingruppen innerhalb der Halbgruppe (8.1. und 8.2.). 3. Fasst die wichtigsten Inhalte der beiden Hauptabschnitte eures Textes zusammen, erarbeitet eine strukturierte Übersicht zu jedem dieser Abschnitte und haltet sie auf Vorder- und Rückseite eines A3-Papieres fest. (60 min) (Regelsatz für Kinder, Messung von Kinderarmut) 4. Bereitet euch darauf vor die Ergebnisse in einem Kugellager zu präsentieren. (10 min) Kinderarmut in Deutschland Karl August Chassé: BPB 13.10.2010 Einleitung Armut wirkt sich für Kin