Einführung in die Politikwissenschaft - Vorlesung PDF
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Universität Heidelberg
2024
Prof. Dr. Jale Tosun
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Diese Folien behandeln die Vorlesung "Einführung in die Politikwissenschaft" im Wintersemester 2024/25 an der Universität Heidelberg. Der Fokus liegt auf sozialer Konfliktlinien und Populismus. Die Folien enthalten theoretische Überlegungen und Beispiele zu diesen Themen.
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Prof. Dr. Jale Tosun Wintersemester 2024/25 Vorlesung POL_P1 Einführung in die Politikwissenschaft Soziale Konfliktlinien und Populismus 12. November 2024 Einleitung (und Gliederung) https://en.wikipedia.org/wiki/Socialist_International#/media/File:Parties_of_Socialist_International.svg...
Prof. Dr. Jale Tosun Wintersemester 2024/25 Vorlesung POL_P1 Einführung in die Politikwissenschaft Soziale Konfliktlinien und Populismus 12. November 2024 Einleitung (und Gliederung) https://en.wikipedia.org/wiki/Socialist_International#/media/File:Parties_of_Socialist_International.svg 2 Einleitung (und Gliederung) https://en.wikipedia.org/wiki/17th_Lok_Sabha https://www.bbc.com/news/world-europe-51386410 https://en.wikipedia.org/wiki/Argentine_Chamber_of_Deputies 3 Einleitung (und Gliederung) Soziale Konfliktlinien − Wie sind soziale Konfliktlinien entstanden? − Wie zutreffend sind diese in einer globalisierten und digitalisierten Welt? Populismus − Was zeichnet Populismus aus? − Wie verbreitet sind populistische Parteien? Und warum? 4 Die Theorie sozialer Konfliktlinien I Makrosoziologisches Modell zur Erklärung der Struktur des Parteienwettbewerbs und Wahlverhaltens in Europa nach Lipset und Rokkan (1967): Gesellschaftliche Konfliktlinien (cleavages) und ihre „Politisierung“ werden als Hauptauslöser für die Etablierung und Persistenz der Parteiensysteme in Westeuropa betrachtet. Es werden zwei Ergebnisse mit der Konfliktbildung assoziiert: (1) Die Nationenbildung und die damit verbundene Entstehung gesellschaftlich homogener und zentral organisierter politischer Einheiten. (2) Die Industrielle Revolution, die zu Verstädterung und der Auflösung tradierter Lebensverhältnisse führte, wodurch es zu einer deutlichen Ausweitung sozialer und politischer Mobilisierung kam. 5 Die Theorie sozialer Konfliktlinien II Durch diese beiden „Revolutionen“ entstanden unterschiedliche soziale Gruppen und politische Eliten, die jeweils unterschiedliche Interessen (im Sinne von Vorstellungen hinsichtlich der Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsstruktur) hatten. Cleavages können (1) funktional determiniert sein: Materielle Verteilungsinteressen oder moralische Vorstellungen sind vorherrschend (2) territorial determiniert sein: Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie dominieren 6 Die Theorie sozialer Konfliktlinien III Generelle Idee von Cleavages: wichtige gesellschaftliche Konflikt- oder Spaltungslinien, entlang derer sich der Parteienwettbewerb strukturiert Vorsicht: bei Lipset und Rokkan – dem Klassiker – sind Cleavages spezifisch definiert über 3 Kriterien (das ist bei anderen Quellen teilweise anders). Erstes Kriterium: ein Cleavage trennt Menschen, die sich durch zentrale sozialstrukturelle Charakteristika unterscheiden, z.B. Beruf, Status oder Religion Die Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital ist ein Cleavage, ebenso die Konfliktlinie zwischen Katholiken und Protestanten Die Konfliktlinie zwischen Anhängern und Gegnern der Kernkraft ist kein Cleavage 7 Die Theorie sozialer Konfliktlinien IV Zweites Kriterium: Die Gruppen, die durch ein Cleavage getrennt werden, müssen sich ihrer kollektiven Identität bewusst sein; sie müssen sich selbst als Gruppe ansehen Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben – über ihre Interessenlage – eine entsprechende kollektive Identität Frauen und Männern fehlt diese kollektive Identität obwohl der Geschlechter-Konflikt zu den wichtigsten Konflikten in allen westlichen Gesellschaften gehört, ist dieser Konflikt keine Spaltungslinie oder Cleavage im Sinne von Lipset und Rokkan 8 Die Theorie sozialer Konfliktlinien V Drittes Kriterium: Ein Cleavage muss einen organisatorischen Ausdruck finden, typischerweise als Aktivitäten von Gewerkschaften, Arbeitgebern, Kirchen oder politischen Parteien Beispiel: Nationalitätenkonflikte in Großbritannien und Irland › Schottischer (und walisischer) Nationalismus hatte lange Zeit nur partiell organisatorischen Ausdruck gefunden kein oder „schlafender“ Cleavage; mittlerweile gibt es entsprechende Parteien › In Irland dagegen – vor allem vor der Unabhängigkeit und auch noch danach – wichtige Spaltungslinie (Fianna Fáil vs. Fine Gael beim anglo-irischen Vertrag) › In Nordirland DIE zentrale Spaltungslinie Die drei Kriterien tragen dazu bei, dass eine Konfliktlinie dauerhaft ist und nicht nur für eine begrenzte Periode existiert 9 Die Theorie sozialer Konfliktlinien VI Parteien entstanden in Form der „politischen Übersetzung“ von Cleavages in der Mitte des 19. Jahrhunderts und damit zu Zeiten der einsetzenden Parlamentarisierung. Lipset und Rokkan identifizieren vier maßgebliche soziale Konfliktlinien, die die westeuropäischen Parteiensysteme bis heute maßgeblich geprägt haben. Parteien sind damit immer Ausdruck von Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. 10 Die Theorie sozialer Konfliktlinien VII Nationale Revolution: (1) Zentrum vs. Peripherie: Nationenbildung (2) Staat vs. Kirche: Hoheit des Staates über die gesellschaftliche Ordnung Industrielle Revolution: (3) Städtische vs. ländliche Gebiete/Interessen: Agrarsektor vs. Industriesektor (4) Arbeiter (abhängig Beschäftigte) vs. Kapitaleigner: Klassenkonflikt 11 Gesellschaftliche Konfliktlinien, Parteien und Parteifamilien I (1) Zentrum vs. Peripherie Widerstand gegenüber administrativen Zentralisierungsbestrebungen und kultureller Standardisierung (Sprache/Religion), wie sie von Liberalen und Konservativen propagiert wurde/wird Bildung regionaler Parteien und Formierung von Parteien, die bestimmte sprachliche und/oder ethnische Minderheiten vertreten und damit den Forderungen der Metropolen bzw. des Zentralismus entgegen treten [Aktuelle] Beispiele für Parteiensysteme und einzelne Parteien: − Spanien (katalanische, galizische und baskische Regionalparteien) − Großbritannien (Scottish National Party, Plaid Cymru) − Deutschland: Bayerische Volkspartei und Bayernpartei 1920-33 und 1946-ca.1960; die PDS bis Mitte der 2000er-Jahre 12 Gesellschaftliche Konfliktlinien, Parteien und Parteifamilien II (2) Staat vs. (römisch-katholische) Kirche Liberal-säkularer Staat kämpft mit der Kirche um Oberhoheit in gesellschaftspolitischen Fragen (Schul- und Bildungspolitik) Bildung vor allem katholischer, aber auch allgemein christdemokratisch- konservativer Parteien gegen zunehmende Säkularisierung und gegen die Trennung von Kirche und Staat Beispiele: − Zentrumspartei (Kaiserreich und Weimarer Republik) − Christdemokratische Parteien in Mitteleuropa (CDU/CSU, Österreichische Volkspartei (ÖVP) bzw. 2017 „Liste Sebastian Kurz – Die neue Volkspartei“) 13 Gesellschaftliche Konfliktlinien, Parteien und Parteifamilien III (3) Stadt vs. Land Konflikt zwischen Industrie und Agrarwirtschaft über wirtschafts- und außenhandelspolitische Fragen: wirtschaftliche Öffnung/freier Handel oder Protektionismus? Bildung von agrarischen Parteien/Bauernparteien gegen den „Industrialismus“ Beispiele: − Zentrumsparteien in den skandinavischen Ländern − Konservative Parteien im wilhelminischen Kaiserreich und die Deutschnationale Volkspartei in der Weimarer Republik − Schweizerische Volkspartei bis Mitte der 1990er-Jahre 14 Gesellschaftliche Konfliktlinien, Parteien und Parteifamilien IV (4) Arbeiter vs. Kapitaleigner Konflikt um die Etablierung sozialer und wirtschaftlicher Mindeststandards (Arbeitsdauer, Streikrecht, Kündigungsschutz, wohlfahrtsstaatliche Absicherung etc.) Bildung von sozialdemokratischen/sozialistischen Arbeiterparteien Klassen-Cleavage: Die entscheidende Konfliktlinie (Links vs. Rechts) in allen Industrie- und Wohlfahrtsstaaten Beispiele: − SPD, Sozialdemokratische Partei Österreichs − Labour Party 15 „Frozen party system“ und neue Cleavages? I Die westeuropäischen Parteiensysteme galten für Lipset und Rokkan (1967) als „eingefroren“ (vgl. Bartolini & Mair 1990): In den meisten westeuropäischen Ländern spiegelt(e) das Parteiensystem der 1960er Jahre das Parteiensystem und die Konfliktlinien der 1920er Jahre wider Jedoch: „few, but significant exceptions“: u.a. Deutschland und Italien als „späte Nationen“, wo sich die Parteien auch erst dementsprechend spät als Massenorganisationen herausbilden konnten 16 „Frozen party system“ und neue Cleavages? II Folgende Parteifamilien (mit entsprechendem ideologischem Unterbau) sind in Westeuropa entstanden (Mair & Mudde 1998; aufbauend auf von Beyme 1985): 1. Liberale Parteien 2. Konservative Parteien 3. Arbeiterparteien 4. Agrarparteien 5. Regionalparteien 6. Christdemokratische Parteien 7. Kommunistische Parteien 8. Faschistische Parteien 9. Protestparteien 10. Ökologische Parteien 17 „Frozen party system“ und neue Cleavages? III Neue Cleavages? „Post-industrielle Revolution“ (Inglehart 1977; Kitschelt 1994, 1995) Konflikte zwischen verschiedenen Werten: materiell vs. postmateriell „Generations-Cleavage“ über neue Policy-Prioritäten wie Umweltschutz und Bürgerrechte Konstituierung linkslibertärer und grüner Parteien gegen die „Wachstumsgesellschaft“ („Die Grenzen des Wachstums“) Beispiele: − „Grüne“ und ökologische Parteien − Linkslibertäre Parteien (D66 in den Niederlanden) − Piratenpartei (Digitale Revolution?) 18 „Frozen party system“ und neue Cleavages? IV Post-Materialismus-Index nach Inglehart – Operationalisierung im ALLBUS 2021 https://www.gesis.org/allbus/inhalte-suche/frageboegen 19 „Frozen party system“ und neue Cleavages? V 1 = Materialisten 2 = Mischform 3 = Post-Materialisten Quelle: Jordaan & Dima (2020) 20 „Frozen party system“ und neue Cleavages? VI „Post-industrielle Revolution“, 2. Variante Konflikte über die Ausrichtung einer Gesellschaft („Globalisierungs- cleavage“; Kriesi et al. 2006; Caramani & Grotz 2015): gegen das bürokratisch-wohlfahrtsstaatliche System offen gegenüber der „globalen“ Weltwirtschaft oder für wirtschaftliche Abschottung? Haltung gegenüber den USA und der EU bzw. der europäischen Integration 21 „Frozen party system“ und neue Cleavages? V Heute: Konflikte zwischen „Anywheres“ (Kosmopoliten/Nirgendwos) und „Somewheres“ (Dagebliebene/Heimatverbundene). Offen, wie sich der Konflikt in seiner Ausprägung entwickelt. Beispiele: AfD, Freiheitliche Partei Österreichs, United Kingdom Independence Party bzw. Brexit Party Aber: sind diese neuen Themen auch wirklich Cleavages? Ein Konfliktlinie wird erst dann politisiert (und somit zu einem Cleavage), wenn eine (organisierte) soziale Gruppe mit bewusster gemeinsamer Identität eine Allianz mit einer politischen Partei eingeht. 22 https://twitter.com/faznet/status/1048547683294699520?lang=de 23 https://twitter.com/faznet/status/1048547683294699520?lang=de 24 https://www.derstandard.de/story/2000108895811/deutscher-gruenen-chef-habeck-heimat-ist-ein-versprechen-fuer-alle 25 Populismus I Wer ist eigentlich ein „Populist“ und warum? Ist kein neues Phänomen! Vgl. etwa das Regime von General Juan Domingo Péron in den 1940er- und 1950er Jahren in Argentinien Populismus ist ein hochgradig umstrittenes Konzept: die Frage ist nicht nur, was Populismus ist (Ideologie vs. Bewegung vs. Syndrom), sondern auch, ob Populismus überhaupt existiert Lange haben „Populisten“ sich selbst nicht also solche definiert – das ist jetzt in bestimmten Fällen anders (siehe AfD-Beispiel) Populismus wird insbesondere in den Medien sehr breit verwendet, was den Begriff für analytische Zwecke problematisch macht („konzeptionelle Überdehnung“) In den Medien werden häufig ausländerkritische Parteien als populistische Parteien bezeichnet, aber das zeichnet nicht das populistische Element aus 26 Populismus II Um Populismus definieren zu können, müssen wir einen Referenzpunkt definieren; hierfür eignet sich das Konzept der „liberalen“ Demokratie (Volkssouveränität, repräsentative Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft) – von diesem Referenzpunkt möchte sich der Populismus wegbewegen Mudde und Kaltwasser (2017) plädieren dafür, dass es sich bei Populismus um eine „dünne“ Ideologie handelt, die daher eine vollausgeprägte Ideologie als „Wirt“ braucht, um überhaupt ein politisches Angebot machen zu können Beschreibt nicht nur Rechts-Populisten (vgl. Europa), sondern auch Links-Populisten (vgl. Lateinamerika); tatsächlich gibt es viel Varianz unter populistischen Parteien 27 Populismus III Linksextrem: Vänsterpartiet (SE) Links-populistisch: SYRIZA (GR) Rechts-populistisch: Forum voor Democratie (NL) Rechtsextrem: Eidgenössisch- Demokratische Union (CH) Populistisch: Movimento 5 Stelle (IT) https://popu-list.org 28 Populismus III Die „Ideologie“ von Populismus lässt sich wie folgt beschreiben: Es gibt das „reine“ Volk − Es gibt keine einheitliche Definition vom „Volk“, was den Begriff instrumentalisierbar macht − Generell wird das „Volk“ assoziiert mit dem Souverän (muss berücksichtigt werden), die „einfachen Leute“ (Kritik der dominanten Kultur bzw. Eliten) und die Nation (nationale Identität) Es gibt eine „korrupte“ Elite − Homogene Gruppe von „Mächtigen“ aus allen Gesellschaftsbereichen, die gegen das eigene Volk arbeiten Es gibt den Allgemeinwillen (volonté générale; vgl. Sitzung zu Jean- Jacques Rousseau) Kritik an repräsentativer Demokratie; Unterstützung für eine republikanische Utopie und plebiszitäre/direktdemokratische Elemente 29 Populismus IV https://oe1.orf.at/artikel/352568/FPOe-Direkte-Demokratie-Koalitionsbedingung 30 Populismus VI https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/volksbegehren-nichtraucherschutz- 31 oesterreich-dont-smoke Populismus und Mobilisierung Es gibt drei Hauptformen der Mobilisierung: − Personalisierte Führung (Beispiel: Alberto Fujimori in Peru in den 1980er- und 1990er-Jahren) − Soziale Bewegungen (Beispiel: Die „Tea Party“ ab den späten 2000er Jahren in den USA) − Politische Parteien (Rassemblement National, ehemals Front National, in Frankreich seit den 1970er Jahren) Welche Form sich etabliert, hängt von diversen Faktoren ab: Personalisierte Führung eher in Präsidialsystemen wegen deren starken Personalisierung Soziale Bewegungen entstehen eher in Systemen mit reduzierten politischen Opportunitätsstrukturen (USA ist plausibel, weil zementiertes Zweiparteiensystem) In parlamentarischen Systemen haben wir vermehrt die Gründung von entsprechenden Parteien 32 Negative Effekte von Populismus Durch die zentrale Rolle des Allgemeinwillens können Minderheitenrechte eingeschränkt werden Populistische Herrscher können Institutionen, die dem Schutz von Menschenrechten dienen, unter Berufung auf die Volkssouveränität und den Allgemeinwillen schwächen oder gar abschaffen Populismus kann langfristig dazu führen, dass ein entsprechender sozialer Konflikt (cleavage) entsteht, was das Parteiensystem und die Möglichkeit zur Bildung von Regierungen bzw. die Stabilität von Regierungen beeinflusst Populismus kann zu einer „Moralisierung“ von politischen Prozessen führen, die es schwierig macht, Lösungen und Kompromisse auszuhandeln Aber Mudde und Kaltwasser (2017: 83) betonen auch das Vorhandensein von positiven Effekten von Populismus… 33 Positive Effekte von Populismus Populismus gibt Menschen, die sich ansonsten von Politik ausgeschlossen fühlen, eine Stimme Populismus kann durch das Angebot einer neuen politischen Alternative bestimmte Bevölkerungsgruppen besser integrieren Populismus kann die Responsivität des politischen Systems verbessern, da nun auch Politikangebote an bislang vernachlässigte Bevölkerungsgruppen gemacht werden (müssen) Populismus kann einen Beitrag dazu leisten, dass die Rechenschaftspflicht von politischen Akteuren erhöht wird, da insgesamt ein höherer Grad an Politisierung herrscht In der Summe kann Populismus beides: ein demokratisches System schwächen, aber auch stärken 34 Gründe für Populismus "Marktmodell der Demokratie", welches zwischen einer Angebots- und einer Nachfrage-Seite unterscheidet Policy Angebot Nachfrage Menge 35 Nachfrageseite Nachfrage nach populistischen Ideen, vor allem wenn das Gefühl vorherrscht, das die Gesellschaft in Gefahr ist (vgl. Deutschland) Korruptionsskandale bzw. systematische Korruption sind ein weiterer Auslöser dafür, weshalb eine Nachfrage nach einem populistischen Angebot aufkommt (vgl. Brasilien) Ein weiterer Auslöser ist, wenn die Bevölkerung das Gefühl hat, dass das politische System nicht responsiv ist und das politische Angebot sich nicht ändert (vgl. Griechenland Eurokrise) Die Digitalisierung und die „Demokratisierung“ der Medien macht es der Bevölkerung einfacher, das Verhalten von Politikern zu beobachten und zu beurteilen 36 Einschub „Digitalisierung“ Quelle: https://netzpolitik.org /2019/studie-zur- europawahl-afd- dominiert-facebook- die-partei-twitter/ Ergebnisse basieren auf Fuchs & Holnburger (2019) 37 Einschub „Digitalisierung“ Quelle: https://de.statista.co m/infografik/26002/fa cebook-engagement- deutscher-parteien/ 38 Einschub „Digitalisierung“ Quelle: https://afdkompakt.de/2022/01/13/afd-waechst- rasant-bei-telegram-20-000-abonnenten/ 39 Einschub „Digitalisierung“ Die AfD bedient die sozialen Medien (insbesondere Facebook) besser als die politische Konkurrenz Die AfD versucht, mit Emotionen (vor allem Angst und Wut) zu mobilisieren Diese Mobilisierungsstrategie passt gut zur Art der Kommunikation in den sozialen Medien – es geht dort um „griffige“ Forderungen, die leicht geliked oder geteilt werden Im Vergleich zur AfD schneiden vor allem CDU/CSU und SPD schlecht ab 40 Angebotsseite Populisten folgen häufig auf Populisten Populisten politisieren Themen, die vorher nicht als besonders problematisch betrachtet wurden, weder von den anderen Parteien, noch von der Bevölkerung (z.B. EU-Mitgliedschaft in Großbritannien, welche durch UKIP politisiert wurde) Die ideologische Konvergenz von konventionellen Parteien erleichtert es populistischen Kräften, eine politische Nische zu besetzen (vgl. Österreich, aber auch Deutschland im Zusammenhang mit der Flüchtlings- und Migrationspolitik) Populisten versuchen Nachfrage nach ihrer Politik zu schaffen, indem sie von „Krisen“ sprechen (vgl. Finnland Wirtschafts- und Finanzkrise) 41 Angebotsseite Untersuchungen zu Narrativen des Populismus haben fünf Erzählformen identifiziert: Aversion gegen das Establishment, Funktionseliten und Intellektualität (z.B. „Lügenpressen“); Reaktivierung von Opfermythen und Heldengeschichten (z.B. das Flugzeugunglück, bei dem Lech Kaczynski starb); Beschwörung des zu schützenden „Volkskörpers“ durch externe Feindbildkonstruktionen (z.B. Migranten); Die „einfache Herkunft“ als Glaubwürdigkeitsversprechen und die Verklärung der Heimat (z.B. „die schwäbische Hausfrau“ oder „der Buchhändler aus Würselen“); Die widersprüchliche Inszenierung von Moral und Exzess (z.B. Bild der Trump-Familie nach dem Amtsantritt). 42 Lösungsstrategien Nachfrageseite: Demokratische Institutionen pflegen und Missstände beseitigen (z.B. offensiver Umgang mit Korruptionsskandalen) Politische Handlungsoptionen (z.B. im Falle einer Finanzkrise) transparent kommunizieren und damit realistische Erwartungen wecken Mehr in politische Bildung investieren Angebotsseite: Polarisierung von konventionellen politischen Parteien Stärkung von Institutionen, die grundlegendes Recht schützen Plurale Medienlandschaft Supranationale Organisationen (vor allem die EU) können helfen, Fehlentwicklungen zu korrigieren (was aber bislang kaum passiert ist) 43 Fazit Moderne Gesellschaften sind strukturiert durch (volatile) Konflikte und (stabile) Konfliktlinien Die Parteiensysteme in den meisten Ländern der Welt reflektieren zumindest in Teilen diese Konfliktlinien (cleavages) Es gibt zusätzlich zu den traditionellen Konfliktlinien auch neuere (z.B. Post-Materialismus) Populistische Parteien adressieren gesellschaftliche Konflikte, besetzen aber keine Konfliktlinie Populistische Parteien sind kein neues Phänomen Populistische Erzählformen kommen auch bei nicht-populistischen Parteien vor Es gibt kein Patentrezept gegen den Populismus 44 Bibliographie Bartolini, S., & Mair, P. (2007). Identity, competition and electoral availability: the stabilisation of European electorates 1885-1985. ECPR Press. Caramani, D., & Grotz, F. (2015). Beyond citizenship and residence? Exploring the extension of voting rights in the age of globalization. Democratization, 22(5), 799-819. Fuchs, M., & Hollburger, J. (2019): #ep2019 - DIE DIGITALEN PARTEISTRATEGIEN ZUR EUROPAWAHL 2019. Hamburg/Berlin: FES. Gadinger, F. (2019). Lügenpresse, gesunder Volkskörper, tatkräftiger Macher: Erzählformen des Populismus. In: Müller, M., Precht, J. (eds) Narrative des Populismus. Springer VS, Wiesbaden. Inglehart, R. (1977). The Silent Revolution, Princeton. Jordaan, J. A., & Dima, B. (2020). Post Materialism and Comparative Economic Development: Do Institutions Act as Transmission Channel?. Social Indicators Research, 148(2), 441-472. Kitschelt, H. (1994). The transformation of European social democracy. Cambridge University Press. 45 Bibliographie Kriesi, H., Grande, E., Lachat, R., Dolezal, M., Bornschier, S., & Frey, T. (2006). Globalization and the transformation of the national political space: Six European countries compared. European Journal of Political Research, 45(6), 921-956. Lipset, S. M., & Rokkan, S. (Eds.). (1967). Party systems and voter alignments: Cross- national perspectives (Vol. 7). Free press. Mair, P., & Mudde, C. (1998). The party family and its study. Annual review of political science, 1(1), 211-229. Mudde, C. (2013). Three decades of populist radical right parties in Western Europe: So what?. European Journal of Political Research, 52(1), 1-19. Mudde, C., & Kaltwasser, C. R. (2017). 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