Populismus und Cleavages in der Politik

Vorlesung POL_P1 - Einführung in die Politikwissenschaft

• Thema: Soziale Konfliktlinien und Populismus
• Datum: 12. November 2024
• Dozent/in: Prof. Dr. Jale Tosun
• Semester: Wintersemester 2024/25

Einleitung (und Gliederung)

• Soziale Konfliktlinien:

  • Entstehung sozialer Konfliktlinien
  • Relevanz in der globalisierten und digitalisierten Welt

• Populismus:

  • Kennzeichen von Populismus
  • Verbreitung populistischer Parteien und Gründe

Die Theorie sozialer Konfliktlinien I

• Makrosoziologisches Modell:
  • Erklärung der Struktur des Parteienwettbewerbs und Wahlverhaltens in Europa nach Lipset und Rokkan (1967)
  • Gesellschaftliche Konfliktlinien (Cleavages) und deren Politisierung als Hauptauslöser für Parteiensysteme in Westeuropa
  • Zwei Ergebnisse mit der Konfliktbildung:
    • Nationenbildung und die Entstehung gesellschaftlich homogener, zentral organisierter politischer Einheiten
    • Industrielle Revolution, Verstädterung und Auflösung von traditionellen Lebensverhältnissen, führte zu einer deutlichen Ausweitung sozialer und politischer Mobilisierung

Die Theorie sozialer Konfliktlinien II

• Entstehung unterschiedlicher sozialer Gruppen und politischer Eliten mit verschiedenen Interessen (Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsstruktur)
• Cleavages:
  • funktional determiniert (materielle Verteilungsinteressen oder moralische Vorstellungen)
  • territorial determiniert (Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie)

Die Theorie sozialer Konfliktlinien III

• Generelle Idee von Cleavages: Wichtige gesellschaftliche Konflikt- oder Spaltungslinien, entlang derer sich der Parteienwettbewerb strukturiert.
• Vorsicht: Bei Lipset und Rokkan (Klassiker) werden Cleavages über 3 Kriterien spezifiziert. (Dies ist bei anderen Quellen teilweise anders.)
• Beispiele für Cleavages:
  • Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital
  • Konfliktlinie zwischen Katholiken und Protestanten
  • Konfliktlinie zwischen Anhängern und Gegnern der Kernkraft (ist kein Cleavage)
  • Status, Religion

Die Theorie sozialer Konfliktlinien IV

• Zweites Kriterium: Die durch ein Cleavage getrennten Gruppen müssen sich ihrer kollektiven Identität bewusst sein und sich selbst als Gruppe ansehen.
• Beispiele für Cleavages in Bezug auf Arbeitsverhältnisse und Geschlechter:
  • Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Interessenlage und entsprechende kollektive Identität
  • Frauen und Männer - fehlende kollektive Identität (obwohl Geschlechter-Konflikte zentral in westlichen Gesellschaften sind)

Die Theorie sozialer Konfliktlinien V

• Drittes Kriterium: Ein Cleavage muss einen organisatorischen Ausdruck finden, typischerweise als Aktivitäten von Gewerkschaften, Arbeitgebern, Kirchen oder politischen Parteien.
• Beispiel für einen Konflikt - Nationalitätenkonflikte in Großbritannien und Irland:
  • Lange Zeit nur partieller organisatorischer Ausdruck
  • Mittlerweile entsprechende Parteien (z.B., Schottischer Nationalismus)

Die Theorie sozialer Konfliktlinien VI

• Parteienentstehung: In Form der „politischen Übersetzung“ von Cleavages in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und damit zu Zeiten der beginnenden Parlamentarisierung.
• Lipset und Rokkan: Identifizieren vier massgebliche soziale Konfliktlinien (historisch) die die westeuropäischen Parteiensysteme beeinflusst haben.
• Zusammenhang: Parteien sind Ausdruck von Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen.

Die Theorie sozialer Konfliktlinien VII

• Nationale Revolution:
  • Zentrum vs. Peripherie (Nationenbildung)
  • Staat vs. Kirche (Hoheit des Staates über gesellschaftliche Ordnung)
• Industrielle Revolution:
  • Städtische vs. ländliche Gebiete/Interessen (Agrarsektor vs. Industriesektor)
  • Arbeiter vs. Kapitaleigner (Klassenkonflikt)

Gesellschaftliche Konfliktlinien, Parteien und Parteifamilien I

• Zentrum vs. Peripherie: Widerstand gegen administrative Zentralisierungsbestrebungen und kulturelle Standardisierung (Sprache/Religion).
• Beispiele: Bildung regionaler Parteien, Vertretung sprachlicher und/oder ethnischer Minderheiten im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Zentralismus.
  • Spanien (katalanisch, galizisch, baskisch)
  • Großbritannien (Scottish National Party, Plaid Cymru)
  • Deutschland (Bayerische Volkspartei, Bayernpartei)

Gesellschaftliche Konfliktlinien, Parteien und Parteifamilien II

• Staat vs. Kirche: Auseinandersetzung um Oberhoheit in gesellschaftspolitischen Fragen (Schul- und Bildungspolitik)
• Beispiele: Zentrumspartei (Kaiserreich, Weimarer Republik) / Christdemokratische Parteien in Mitteleuropa, Österreichische Volkspartei (ÖVP)

Gesellschaftliche Konfliktlinien, Parteien und Parteifamilien III

• Stadt vs. Land: Konflikt zwischen Industrie und Agrarwirtschaft über Wirtschafts- und Außenhandelspolitik (z. B. wirtschaftliche Öffnung/freier Handel vs. Protektionismus)
• Beispiele: Zentrumsparteien (Skandinavien), Konservative Parteien im wilhelminischen Kaiserreich, Deutschnationale Volkspartei in der Weimarer Republik, Schweizerische Volkspartei.

Gesellschaftliche Konfliktlinien, Parteien und Parteifamilien IV

• Arbeiter vs. Kapitaleigner: Konflikt um die Etablierung sozialer und wirtschaftlicher Mindeststandards (z.B. Arbeitsdauer, Streikrecht, Kündigungsschutz).
• Beispiele: SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands), Sozialdemokratische Partei Österreichs, Labour Party.

„Frozen party system“ und neue Cleavages? I, II, III

• Westeuropäisches Parteiensystem: Ging für Lipset und Rokkan als „eingefroren“ (vgl. Bartolini & Mair 1990) durch
• Ausnahmen: Deutschland und Italien (Späte Nationen; Späte Herausbildung von Massenorganisationen)
• Parteifamilien (Beyme 1985, Mair & Mudde 1998): Liberale, konservative, Arbeiterparteien, Agrarparteien, Regionalparteien, christdemokratische, kommunistische, faschistische und Protestparteien, ökologische Parteien
• Neue Cleavages (Post-industrielle Revolution):
  • Konflikte zwischen verschiedenen Werten
  • Generations-Cleavage
  • Konstituierung Linkslibertärer und grüner Parteien gegen die „Wachstumsgesellschaft“

„Frozen party system“ und neue Cleavages? IV, V

• Post-Materialismus-Index (Inglehart): Messmethode zur Klassifizierung von Materialismus in der Bevölkerung.
• Neue Cleavages:
  • Globalisierung
  • Politische und wirtschaftliche Abschottung vs. Offenheit
  • Haltung gegenüber der USA und der EU

Populismus I, II, III

• Was ist Populismus? - Keine einheitliche Definition; oft umstritten; Ideologie, vs. Bewegung, vs. Syndrom; lange Zeit nicht als solche definiert;
• Populismus im Vergleich: Zu Zeiten des Populismus haben sich Menschen mit gemeinsamen Charakteristika verbunden und mit Politiker.
• Ideologischer Bezug - Ist oft problematisch im analytischen Kontext, da Medienverwendungen den Begriff ausweiten.

Populismus IV

• Direkte Demokratie als Koalitionsbedingung: Hofer (ÖVP)- Forderung nach Ausbau der direkten Demokratie als Koalitionsbedingung.
• Hintergrund: Freihandelsabkommen CETA als Beispiel für Politikdiskurse, die mit Volksabstimmungen, Proteste und Kritik verbunden sind. (Beispiel-Referenz: Österreich)

Populismus VI

• Rauchverbot in der Gastronomie: Volksbegehren in Österreich mit massgeblichen Unterstützung.

Populismus und Mobilisierung

• Drei Hauptformen: Personalisierte Führung, Soziale Bewegungen, Politische Parteien.
• Einflussfaktoren: Wahlsysteme, politische Systeme, historische/politische und gesellschaftliche Umstände.

Negative Effekte von Populismus

• Minderheitenrechte: Einschränkung aufgrund der zentralen Rolle des Allgemeinwillens.
• Institutionen: Schwächung von Institutionen, die Menschenrechte schützen.
• Sozialer Konflikt: Entstehung von langfristigen sozialen Konflikten, Störung des Parteiensystems und der Regierungsbildung.
• Politisierung: Verengung bzw. Polarisierung des politischen Prozesses.

Positive Effekte von Populismus

• Stimme/Repräsentation: Stärkung von politischen Anliegen, die bisher von der Politik außer Acht gelassen wurden.
• Integration: Integration von bisher vernachlässigten Bevölkerungsgruppen.
• Rechenschaftspflicht: Erhöhung der Rechenschaftspflicht.
• Politisierung: Verstärkung der Politisierung.

Gründe für Populismus

• Marktmodell der Demokratie (Angebots- und Nachfrage-Seite): Populismus als Reaktion auf angebliche Versagen demokratischer Systeme.

Nachfrageseite

• Gefühl der Gesellschaft in Gefahr: Motiv für Nachfrage nach populistischen Ideen, besonders nach Korruptionsskandalen.
• Nicht-Responsivität: Nicht-Responsivität des politischen Systems.
• Digitalisierung: Macht die Beobachtung und Einschätzung von Politikern einfacher.

Einschub "Digitalisierung"

• AfD-Aktivität in sozialen Medien: Besondere Aktivität auf Facebook und Telegram.
• Soziale Medien-Nutzen: Vorteil der AfD - strategische Nutzung digitaler Medien
• Kritik: Vergleich zu anderen Parteien negativ