DiF I - VL12

Grundlagen der Diagnostik in pädagogischen Handlungsfeldern: Intelligenz und Hochbegabung

• Die Vorlesung behandelt die Grundlagen der Diagnostik in pädagogischen Handlungsfeldern mit Schwerpunkt auf Intelligenz und Hochbegabung im Wintersemester 2024/25.
• Dozenten sind Prof. Dr. Ricarda Steinmayr und Prof. Dr. Olga Kunina-Habenicht.

Definition von Intelligenz nach Gottfredson (1997)

• Intelligenz wird als eine allgemeine geistige Kapazität definiert, die verschiedene Fähigkeiten umfasst.
• Zu diesen Fähigkeiten gehören schlussfolgerndes und abstraktes Denken, Planen, Problemlösung sowie das Verständnis komplexer Ideen.
• Intelligenz beinhaltet schnelles Lernen und Lernen aus Erfahrung.
• Intelligenz ist mehr als reines Wissen; sie schließt akademische Spezialleistungen oder Testerfahrungen aus.

Akademische Intelligenz

• Akademische Intelligenz umfasst jene Intelligenzaspekte, die für schulische Anforderungen als besonders wichtig erachtet werden.
• Diese Aspekte werden durch gängige Intelligenztests erfasst.
• Unterschiede in der Intelligenz sind zu einem hohen Anteil durch genetische Unterschiede erklärbar, insbesondere ab dem Schulalter (50-80% abhängig vom Alter).

Beispiele zur Erfassung akademischer Intelligenz

• Die verbale Intelligenz wird mit Aufgaben erfasst, bei denen Gegenteile oder Analogien gefunden werden müssen.
• Numerische Intelligenz wird mit Aufgaben gemessen, bei denen numerische Fähigkeiten erforderlich sind. Hier werden beispielsweise unbekannte Variablen berechnet.
• Figurale Intelligenz wird anhand von Aufgaben überprüft, bei denen Muster erkannt und fortgesetzt werden müssen. Direkte Rückmeldungen werden vermieden, um Frustration zu verhindern.

"Three Stratum"-Theorie von Carroll

• Diese Theorie beschreibt Intelligenz auf drei Ebenen.
• Auf der obersten Ebene steht die allgemeine Intelligenz.
• Auf der mittleren Ebene befinden sich breite kognitive Fähigkeiten wie fluide und kristalline Intelligenz, Gedächtnis, visuelle und auditive Wahrnehmung.
• Die unterste Ebene umfasst spezifische Fähigkeiten, wie induktives Schlussfolgern, Leseverständnis sowie Konzept- und Wortflüssigkeit.

Fluide vs. Kristalline Intelligenz

• Fluide Intelligenz (GF) bezieht sich auf die Basisprozesse des Denkens und der kognitiven Informationsverarbeitung. Sie ist unabhängig von kulturellen Einflüssen und wird oft in spracharmen Tests erfasst
• Kristalline Intelligenz (GC) umfasst kognitive Fertigkeiten, die durch die Anhäufung von Wissen und Lernerfahrungen entstehen. Sie ist abhängig von kulturellen Einflüssen und individuellen Lern- und Bildungserfahrungen.

Kritik an akademischen Intelligenzmodellen

• Einige Forscher kritisierten, dass einseitig Fokus auf mathematische, räumliche und sprachliche Fähigkeiten liegt und betrachten Intelligenz als breiteres Konstrukt
• Gardner (1983, 2006): Theorie multipler Intelligenzen mit musikalischer und interpersonaler Intelligenz
• Goleman (1995): Emotionale Intelligenz mit Wahrnehmungs-, Verständnis- und Regulationsfähigkeit eigener und fremder Gefühle
• Diese Modelle sind für Laien oft plausibel, aber empirische Beweise für ihre Reliabilität und Validität zur alternativen Intelligenzerfassung fehlen bisher.

Bedeutung von IQ-Tests in der schulischen Diagnostik

• IQ-Tests dienen als Diagnosekriterium für verschiedene Grade geistiger Behinderung bzw. spezieller Förderbedarfe.
• Sie sind ein zentrales Kriterium zur Diagnose von Hochbegabung (IQ > 130).
• IQ-Tests dienen als Vergleichsgröße zur Diagnose von Teilleistungsstörungen, bei denen mindestens durchschnittliche IQ, aber deutlich unterdurchschnittliche Leistungen vorliegen.

Beispiele für Intelligenztests

• Der Grundintelligenztest Skala 2 – Revision (2019) ist ein nonverbaler Intelligenztest, der die fluide Intelligenz nach Cattell misst. Er besteht aus zwei Testteilen mit je 4 Subtests und ist als Gruppentest für Personen von 8;5 bis 64 Jahren geeignet
• Der Test hat eine Langform von ca. 50 Minuten und eine Kurzform von ca. 35 Minuten. Alters- und Klassennormen sind vorhanden.
• Innerhalb des Tests müssen Reihen fortgesetzt und aus Figuren diejenige identifiziert werden, die nicht zu den anderen passt (Klassifikationen), Matrizen müssen vervollständigt werden und topologische Schlussfolgerungen müssen gemacht werden.

Wechsler Intelligence Scale V (2017)

• Dieser Test misst Arbeitsgedächtnis, Sprachverständnis, fluide Schlussfolgerungen, Verarbeitungsgeschwindigkeit und visuell-räumliches Denken.
• Er wird einzeln durchgeführt, dauert ca. 60 Minuten und ist auch digital möglich. Alters- und Klassennormen liegen vor.

Wechsler Adult Intelligence Scale – Fourth Edition (WAIS-IV, 2012)

• Der WAIS-IV dient der Intelligenzmessung von Jugendlichen und Erwachsenen im Alter von 16;0 bis 89;11 Jahren.
• Die Durchführung dauert ca. 90 Minuten (Kerntests) bzw. ca. 115 Minuten (inkl. optionaler Untertests). Alters- und Klassennormen sind vorhanden.

Was bei der Diagnostik beachtet werden muss

• Bei Kindern, die die Testsprache nicht fließend sprechen, sollten nicht-verbale Intelligenztests genutzt werden.
• Bei Teilleistungsstörungen sollten Tests ohne die betroffene Teilleistung gewählt werden
  • LRS: Tests mit hohem Leseanteil weglassen
  • Dyskalkulie: Tests mit numerischen Anteilen weglassen
  • ADHS: Tests zur Konzentrationsfähigkeit weglassen
• Bei leistungsängstlichen Kindern sind Intelligenztests ohne Zeitbeschränkung geeigneter.
• Es ist sinnvoll, einen Profiltest mit mehreren Intelligenzbereichen und einen nonverbalen Test zur Erfassung von fluider Intelligenz durchzuführen, um Stärken und Schwächen besser einschätzen zu können.

Entwicklung der Intelligenz (absolute Stabilität)

• Bis zum 9. Lebensjahr steigt die Intelligenz steil an, danach flacht die Wachstumskurve ab
• Kaum Abfall allgemeiner Intelligenz vor dem 6. Lebensjahrzehnt, ansonsten meist Abfall fluider Intelligenz (″mental speed″) und eventueller Abbau kristallisierter Intelligenz.
• Substanzielle Einbußen von Intelligenz treten erst im 7. Lebensjahrzehnt auf.
• Es gibt hohe Retest-Korrelationen für Intelligenztests im Erwachsenenalter mit rtt = .90
• Retest-Intervalle von 42 Jahren wurden mit rtt = .77 und geschätzte jährliche Stabilität mit rtt = .99 gemessen.
• Die Rangreihen bleiben jedoch ohne systematische (z. B. Intelligenztraining) oder unsystematische Einflüsse (z. B. Unfall, Krankheit) ab einem Alter von ca. 9 Jahren relativ stabil.

Kriteriumsvalidität von Intelligenz

• Intelligenz korreliert mit verschiedenen Kriterien:
• Bildungsdauer .55
• Höhe der Ausbildung .49
• Berufserfolg .51
• Prestige der Berufstätigkeit .41
• Einkommen .22
• Schulleistung .50
• Gesundheit .40
• Lebenserwartung .40
• Präfrontales Hirnvolumen .40
• Hirnvolumen - gesamt .35
• Negativ = Wahl - Reaktionszeit -.35
• Inspektionszeit -.30
• Delinquenz im Jugendalter -.25

Korrelationen zwischen Intelligenz und Schulleistung

• Es besteht ein Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulnoten (r = .40 bis .50).
• Die höchsten Korrelationen mit Einzelnoten finden sich meist zwischen Intelligenz und der Mathematiknote (r = .40).
• Ergebnisse aus Deutschland 2003 und 2007 ergeben ähnliche Resultate zwischen Intelligenz und Lese/Mathe/Naturwissenschaft Kompetenz.

Einfaktorentheorie der Hochbegabung nach Terman (1925)

• Hochbegabung wird definiert als ein IQ von ≥ 130.
• Als Kriterium dient ausschließlich der g-Faktor.
• Die Diagnose erfolgt mittels Intelligenztests, was mit einer hohen konvergenten Validität einhergeht.

Diagnose von Hochbegabung

• Um Hochbegabung zu diagnostizieren, muss die Leistung in mindestens einem (besser zwei) Intelligenztests mindestens zwei Standardabweichungen über dem Durchschnittswert von 100 liegen.

Häufigkeiten von Intelligenztestwerten

• Nur 2 von 100 Personen haben einen IQ von >= 100
• Nur 4 von 100 Personen haben einen IQ von >= 110
• 11 von 100 Personen haben einen IQ von >= 120
• 44 von 100 Personen haben einen IQ von >= 130
• 261 von 1000 Personen haben einen IQ von >= 140
• 2.330 von 1000 Personen haben einen IQ von >= 150

Drei-Ringe-Konzept von Renzulli (1978)

• Das Drei-Ringe-Konzept von Renzulli (1978) beschreibt Hochbegabung als das Zusammenspiel von überdurchschnittlichen Fähigkeiten, Kreativität und Aufgabenorientierung.
• Die Definition der Hochbegbung über einen IQ von 130 ist willkürlich, die obersten 5-10% sollten eingeschlossen werden.

Weitere Modelle

• Triadisches Interdependenzmodell (Mönks, 1990)
• Münchner Begabungsmodell von Heller (1995)

Implikationen und Kritik der Modelle von Renzulli, Mönks und Heller

• Hochbegabung als Produkt eines dynamischen Prozesses unterschiedlicher hemmender und fördernder Einfluss-Faktoren (wurden aber noch nicht in Gänze untersucht)
• Hochleistungen = Hochbegabung
• Underachiever (hohe Intelligenz, die sich nicht in Leistung umsetzt) gelten als nicht hochbegabt.
• Wenige erfüllen alle Voraussetzungen (weniger als 2% der Population wie nach der alleinigen IQ > 130 Definition).
• Viele Bedingungsfaktoren, z. Kreativität oder Musikalität, können bislang nur unzulänglich reliabel gemessen werden.

Sind Hochbegabte Problemkinder?

• Es gibt die Divergenzhypothese, dass es eine Diskrepanz zwischen kognitiver Leistungsfähigkeit und körperlich-seelischer Gesundheit gibt.
• Es gibt die Konvergenzhypothese. Dies besagt eine Übereinstimmung von kognitiver Leistungsfähigkeit und psychischer Stabilität.
• Eine Lebensumweltanalyse von Hochbegabten und Hochleistenden (Rost, 1993a) untersuchte Drittklässler/innen hinsichtlich ihrer Intelligenz und verglich die besten 2% mit einer durchschnittlich-intelligenten Vergleichsgruppe.

Ergebnisse der Studie von Rost (1993a, 2009)

• Unter anderem wurden Temperament, Selbstkonzept, Persönlichkeit, Anpassung und soziale Kompetenz untersucht.
• Die Datenquellen ware Kinder, Eltern und Lehrkräfte.
• Es zeigen sich vielfach keine Unterschiede zwischen Hochbegabten und nicht-Hochbegabten.
• In der Grundschule hatten Hochbegabte postitivere Fähigkeitsselbstkonzepte, waren emotional stabiler, Ehrgeiziger usw.
• Alle Ergebnisse waren aber gering und die Studienlage ist inkonsistent.

Stigmatisierung von Hochbegabten

• Das Stereotyp des hochbegabten Problemkindes wird durch die Hervorhebung und Verallgemeinerung von Einzelfällen genährt.
• Etwa zwei Drittel der Deutschen verbinden Hochbegabung mit sozial-emotionalen Problemen
• Ursachen: Unterforderung und geringer Wissenstand über Hochbegabte bei Lehrkräften aber auch Eltern.
• Stigmatisierung von Hochbegabten negativ beeinflusst ihre Umwelt -> Probleme entwickeln sich auch im Sinne einer self-fulfilling prophecy.

Bergold, Hastall & Steinmayr (2021) stellten folgende Frage

• Kann eine objektivierende Berichterstattung zu einer Entstigmatisierung von Hochbegabten beitragen? Studie mit 296 Studierenden (82% Lehramt) -> Es gibt ein negativen Stigmatisierungseffekt durch stereotype Berichterstattung, es braucht objektive Berichte

Identifikation von Hochbegabten

• Nominierung durch Eltern: Eltern sind eine unsichere Quelle zur Identifikation von Hochbegabten aufgrund von Voreingenommenheit und mangelndem Wissen.
• Lehrerurteile: Lehrer orientieren sich an gezeigten Leistungen, wodurch Kinder mit nicht ausgeschöpftern Potential nicht erkannt werden.
• Nominierung durch Peers: Peers orientieren sich ebenfalls an Leistungen und sind nicht zuverlässig.
• Testverfahren: sind die wichtigste, da einzig zuverlässige Diagnoseform. Ohne standardisierte Intelligenztests ist ein eine Identifikation nicht möglich.

Checklisten zur Identifizierung von Hochbegabten

• Es werden typische Merkmale die auf Hochbegabte zutreffen in Eltern und Lehrerkräften Checklisten genutzt
• Beispiele sind: "Es erreicht viele Entwicklungsstadien im Baby- und Kleinkindalter früher und durchläuft sie schneller." "Es kann sehr logisch denken." "Es ist eher das älteste Kind." "Es hat mehrere Hobbies."
• Je mehr dieser Verhaltensweisen auf ein Kind zutreffen heißt es oft, dass das Kind über eine besondere Begabung verfügt.
• Beim Vergleich mit adäquaten Kontrollgruppen sind keine Unterschiede zwischen Hochbegabten und Nichthochbegabten feststellbar.
• Checklisten suggerieren auf diese Weise jedoch Unterschiede in nicht bedeutsamen Merkmalen

Fazit

• Intelligenz ist ein objektiv, reliabel und valide erfassbares Merkmal, das mit vielen wichtigen Kriterien zusammenhängt.
• Es gibt zahlreiche Mythen über Hochbegabte, die größtenteils unberechtigt sind
• Der Prozentsatz von Hochbegabten mit Problemen ist in etwa gleich wie bei nicht hochbegabten.
• Die Bemühungen zur angemessenen Förderung von Hochbegabten und Hochleistenden sollten verstärkt werden, um ihnen die Chance zu geben, aus ihren Möglichkeiten das Beste zu machen.