Staatsrecht – Grundrechte PDF HWS 2023

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Universität Mannheim

2023

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz

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constitutional law fundamental rights german law

Summary

This document is lecture notes on Constitutional Law and Fundamental Rights, for the Winter Semester 2023 (HWS 2023). It discusses the rights and responsibilities of citizens and the legal protections afforded. It contains an analysis of past German court cases related to constitutional law.

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 III. Grundrechtsberechtigte und Grundrechtsverpflichtete 1. Grundrechtsberechtigte a) Bürger- bzw. Deutschenrechte ▪ Manche Grundrechte sind explizit Deutschen i.S.v. Art. 116 GG vorbehalten. ▪ Dies gilt insbesondere für Art. 12 I...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 III. Grundrechtsberechtigte und Grundrechtsverpflichtete 1. Grundrechtsberechtigte a) Bürger- bzw. Deutschenrechte ▪ Manche Grundrechte sind explizit Deutschen i.S.v. Art. 116 GG vorbehalten. ▪ Dies gilt insbesondere für Art. 12 I GG, aber auch z.B. für Art. 11 I und Art. 8 I GG. ▪ Diese heute für viele nur schwer nachvollziehbare Restriktion rechtfertigt sich aus verschiedenen Gründen: ➢ Privilegierung der eigenen Staatsangehörigen (Wahlbürger) aus politischen (Art. 8 I GG) oder ökonomischen Gründen (Art. 12 I GG). ➢ Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Art. 11 I GG) ➢ (Völkerrechtlicher) Gedanke der „Reziprozität“: Durch die Beschränkung bestimmter Freiheitsbereiche (etwa das Recht, arbeiten zu dürfen – Art. 12 I GG) auf die eigenen Staatsangehörigen, ergibt sich für den Staat die Möglichkeit, in bi- bzw. multilateralen Verhandlungen mit anderen Staaten ein solches Recht für die eigenen Staatsangehörigen einzufordern und im Gegenzug auf einfachrechtlicher Ebene den ausländischen Staatsangehörigen dieses Recht in der Bundesrepublik Deutschland einzuräumen. ▪ Für die EU hat diese Reziprozität freilich an Bedeutung verloren (insbesondere durch die im AEUV verbürgten Grundfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsund Niederlassungsfreiheit) – dazu i.Ü. noch später sub d). b) Jedermanns- bzw. Menschenrechte ▪ Im Gegensatz zu den Deutschen- bzw. Bürgerrechten werden die Jedermanns- bzw. Menschenrechte ohne Ansehung der Staatsangehörigkeit gewährt. So hat gem. Art. 1 I GG jeder eine unantastbare Würde. Auch hat gem. Art. 2 II 1 GG „jeder“ das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. ▪ Es versteht sich von selbst, dass derartige Fundamentalverbürgungen – schon wegen Art. 1 II GG – in einem Rechtsstaat nicht von der Staatsangehörigkeit bzw. vom Kriterium der Reziprozität abhängig gemacht werden können. 12 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 c) Prä- bzw. postnatale Grundrechtsberechtigung ▪ Grundrechtsberechtigt sind unstreitig geborene Menschen. Ebenso unstreitig ist jedoch, dass – zumindest bei bestimmten Grundrechten – die Grundrechtsberechtigung nicht erst mit der Geburt beginnt und sofort mit dem Tode endet. ▪ So hat das BVerfG in seinen beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 39, 1 ff; 88, 203 ff.) die Grundrechtsträgerschaft des sog. nasciturus „jedenfalls“ ab dem 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) anerkannt. ▪ Unter dem Stichwort des „postmortalen Persönlichkeitsschutzes“ erkennt das BVerfG zudem einen „nachwirkenden“ Würdeschutz über den Todeszeitpunkt hinaus an (erstmalig: BVerfGE 30, 173 ff. – Mephisto; aus jüngerer Zeit z.B. BVerfG, NJW 2001, 594 [Willi-Brandt-Gedenkmünze]). d) Grundrechtlicher Schutz von Ausländern Fall: B ist türkischer Staatsangehöriger und nach eigenen Angaben strenggläubiger sunnitischer Muslim. Er lebt seit 20 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland und betreibt in Hessen eine Metzgerei, die er 1990 von seinem Vater übernahm. Für die Versorgung seiner muslimischen Kunden erhielt er bis Anfang September 1995 eine Ausnahmegenehmigung für ein Schlachten ohne Betäubung nach § 4a II Nr. 2 TierSchG (sog. Schächten). Die Schlachtungen nahm er in seinem Betrieb unter veterinärärztlicher Aufsicht vor. Für die Folgezeit stellte B weitere Anträge auf Erteilung solcher Genehmigungen. Diese blieben, auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, erfolglos. B erhebt deshalb Verfassungsbeschwerde, mit der er u.a. die Verletzung des Art. 12 I GG rügt. Mit Erfolg? (vgl. BVerfGE 104, 337 ff. – Schächten) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 1) ▪ Eine (unmittelbare) Berufung auf Art. 12 I GG scheidet aus, da B nicht deutscher Staatsangehöriger ist. ▪ In ständiger Rechtsprechung erkennt das BVerfG allerdings an, dass sich nicht-deutsche Staatsangehörige zumindest auf Art. 2 I GG (allgemeine Handlungsfreiheit) berufen können (str.) – vgl. BVerfGE 78, 179 (96 f.); 104, 337 (346). ▪ Vorliegend hat es zudem den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) durch den speziellen Freiheitsgehalt des Grundrechts der 13 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG verstärkt („Schutzbereichsverstärkung“ – vgl. BVerfGE 104, 337 [346]). ▪ Im Lichte dieser Verfassungsnormen sei § 4a I i.V.m. II Nr. 2 Alt. 2 TierSchG so auszulegen, dass muslimische Metzger eine Ausnahmegenehmigung für das Schächten erhalten könnten. Abwandlung Wie ist der vorstehende Fall zu bewerten, wenn es sich bei B nicht um einen türkischen, sondern um einen französischen Staatsangehörigen handelt? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 2) ▪ Art. 18 I AEUV („allgemeines Diskriminierungsverbot“): „Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“ ▪ Literatur: Der Begriff des/der „Deutschen“ muss wegen des höherrangigen Art. 18 I AEUV auch auf Unionsbürger erstreckt werden (= europarechtskonforme Auslegung des Deutschen-Begriffs). ▪ BVerfG: Lehnt Erstreckung (wohl wegen des klaren Wortlauts) nach wie vor ab. Auch Unionsbürger sollen sich nur auf Art. 2 I GG berufen dürfen. Die allgemeine Handlungsfreiheit wird aber durch den Grundrechtsgehalt der spezielleren Grundrechte „angereichert“ (und damit in ihrer Schutzintensität gleichgestellt). Zur Vertiefung: Wernsmann, Jura 2000, 661 ff.; Tonikidis, Die Grundrechtsfähigkeit und Grundrechtsberechtigung natürlicher Personen, JA 2012, 38 ff. e) Grundrechtsberechtigung von Personenmehrheiten (Art. 19 III GG) ▪ Manche Grundrechte gelten nicht nur für natürliche Personen, sondern gem. Art. 19 III GG „auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind“. ▪ Die Regelung statuiert drei tatbestandliche Voraussetzungen: ➢ „juristische Person“: Begriff ist weit zu verstehen und umfasst neben juristischen Personen i.e.S. (eigene Vollrechtsfähigkeit!) auch teilrechtsfähige Gesellschaften (z.B. GbR) bzw. Personenvereinigungen (z.B. oHG, KG). 14 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz HWS 2023 ➢ „inländische“: Die juristische Person muss ihren Hauptverwaltungssitz (nicht Gründungs- oder Satzungssitz) im Inland haben. Die Staatsangehörigkeit der Gesellschaftsmitglieder bzw. Anteilseigner ist dabei irrelevant (BVerfG-K, NVwZ 2008, 670 f.). ➢ „ihrem Wesen nach … anwendbar“: - BVerfG: Stellt darauf ab, ob sich die hinter der jur. Person stehenden natürlichen Personen zusammengeschlossen haben, um ihre grundrechtliche Freiheit gemeinschaftlich zu verwirklichen („Durchgriffsbetrachtung“). - Literatur: Juristische Person muss sich wie natürliche Person in einer „grundrechtstypischen Gefährdungslage“ befinden. ▪ Unstreitig anwendbar auf juristische Personen sind etwa Art. 2 I, 3 I, 4 I u. II, 5 I, 5 III, 8, 9, 10, 11, 12, 14, 19 IV, 101, 103 I GG. ▪ Unstreitig nicht anwendbar sind Art. 1 I, 2 II, 6 I, 16, 16a GG. ▪ Problembereiche: ➢ Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts; ➢ Grundrechtsberechtigung sog. „gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen“ (= Unternehmen, an denen der Staat unmittelbar oder mittelbar neben Privaten beteiligt ist – näher hierzu Bethge, in: Butzer/Kaltenborn/Meyer, FS für F. Schnapp, 2008, S. 3 ff.) ➢ Unternehmen, mit Hauptverwaltungssitz in der EU (BVerfGE 129, 78 ff.: „Die Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union stellt eine aufgrund des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten im Binnenmarkt [Art. 26 II AEUV] und des allgemeinen Diskriminierungsverbots wegen der Staatsangehörigkeit [Art. 18 AEUV] vertraglich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes dar.“ – näher dazu Wernsmann, NZG 2011, 1241 ff.) Fall 1: Die Stadt Mannheim ist Eigentümerin eines landwirtschaftlich nutzbaren Grundstücks, das sie gerne an den Landwirt L verpachten würde. Das Grundstück liegt indes in einem Naturschutzgebiet. Durch Rechtsverordnung werden den Grundstückseigentümern deshalb zahlreiche Nutzungsrestriktionen auferlegt, die eine ökonomisch sinnvolle landwirtschaftliche Nutzung nicht zulassen. 15 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Kann sich die Stadt Mannheim gegen diese Naturschutzverordnung mit der Begründung zur Wehr setzen, diese verletze sie in ihrem Grundrecht aus Art. 14 I 1 GG? (vgl. BVerfGE 61, 82 ff. – Sasbach) Fall 2: Die M-AG ist eine Aktiengesellschaft, deren Aktien zu 75% von der Gemeinde F gehalten werden. Sie betreibt auf dem Gebiet der Gemeinde F ein in ihrem Eigentum stehendes Stromversorgungsnetz. Die M verwehrte mehreren anderen Netzbetreibern den Anschluss an ihr Mittelspannungsnetz zu den üblichen Nutzungsbedingungen, weshalb diese beim Bundeskartellamt ein Missbrauchsverfahren gegen die M-AG beantragten. Das Bundeskartellamt gab der M-AG daraufhin auf, den anderen Netzbetreibern in bestimmtem Umfang den Zugang zu ihrem Mittelspannungsnetz zu gewähren. Die M-AG sieht sich hierdurch in ihren Grundrechten aus Art. 12 I und 14 I GG verletzt. Zu Recht? (vgl. BVerfG v. 18.5.2009 – 1 BvR 1731/05, NVwZ 2009, 1282 – Kammerentscheidung!). Lösungshinweise Fall 1: (Lösungshinweisblätter Nr. 3) Bei der Stadt Mannheim handelt es sich um eine inländische juristische Person des öffentlichen Rechts (Gebietskörperschaft). Allerdings handelt es sich bei der Stadt zugleich um einen Grundrechtsverpflichteten i.S. des Art. 1 III GG (dazu noch nachfolgend sub III. 2.). Grundsätzlich können der Staat und seine Untergliederungen nicht zugleich grundrechtsverpflichtet und -berechtigt sein, weshalb das BVerfG in der vorliegenden Konstellation eine Grundrechtträgerschaft der Gemeinde denn auch zu Recht abgelehnt hat (BVerfGE 61, 82 ff. – Sasbach). Mit anderen Worten ist Art. 14 I GG „seinem Wesen nach“ nicht auf die Gemeinde anwendbar. Im Grundsatz bezieht sich Art. 19 III GG deshalb nur auf Vereinigungen und juristische Personen des Privatrechts. Das BVerfG hat hiervon allerdings drei Ausnahmen anerkannt: 1. Religionsgemeinschaften, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts haben (vgl. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 V WRV): Dieser öffentlich-rechtliche Status besteht hier gleichsam „pro forma“ und soll den Religionsgemeinschaften nicht ihre Stellung als private Glaubensgemeinschaften nehmen. 2. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten (SWR, ZDF etc.): Hier besteht eine „grundrechtstypische Gefährdungslage“ für die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten, die als Agenten des Gemeinwohls im öffentlichen Interesse den durch Art. 5 I 2 Alt. 2 GG (Rundfunkfreiheit) geschützten Bereich staatsfern ausfüllen sollen. 16 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 3. Universitäten/öffentlich-rechtliche Forschungseinrichtungen: Auch hier besteht eine „grundrechtstypische Gefährdungslage“. Ähnlich wie die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten kommt ihnen eine „dienende Funktion“ gegenüber der Allgemeinheit zu, weshalb sie staatsfern operieren können müssen (vgl. Art. 5 III 1 GG). Lösungshinweise Fall 2: (Lösungshinweisblätter Nr. 4) Im Unterschied zu Fall 1 handelt es sich bei der M-AG um eine inländische juristische Person des Privatrechts. Dennoch ist fraglich, ob die Art. 12 I und 14 I GG auf die M-AG ihrem Wesen nach anwendbar sind, da sich ihre Anteile zu 75% in öffentlicher Hand befinden. Auch juristische Personen des Privatrechts, die sich überwiegend im Anteilseigentum der öffentlichen Hand befinden, können sich nicht auf den Schutz der materiellen Grundrechte berufen, soweit sie bestimmungsgemäß öffentliche Aufgaben wahrnehmen und in dieser Funktion von dem angegriffenen Hoheitsakt betroffen sind. Bereits im Jahre 1989 hat das BVerfG in dieser Hinsicht entschieden, dass sich ein mehrheitlich in öffentlicher Hand befindliches Stromversorgungsunternehmen auf materielle Grundrechte nicht berufen kann (BVerfG v. 16.5.1989 – 1 BvR 705/88 = BVerfG, NJW 1990, 1783 – HanseNet) und an dieser Auffassung in der hier zugrunde gelegten Kammerentscheidung aus dem Jahre 2009 explizit festgehalten (Ls.: Unternehmen, die im Eigentum der öffentlichen Hand stehen und eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen, können sich nicht auf die materiellen Grundrechte berufen. Dies gilt auch, wenn Private an dem Unternehmen beteiligt sind, solange die öffentliche Hand beherrschenden Einfluss hat). Die Art. 12 I und 14 I GG sind damit auf die M-AG nicht wesensmäßig anwendbar, da sie mit qualifizierter Mehrheit von 75% durch die öffentliche Hand beherrsch wird und die von ihr wahrgenommene Energieversorgung als öffentliche Aufgabe zu qualifizieren ist. Diese Ablehnung der wesensmäßigen Anwendbarkeit gründet letztlich auf der Erwägung, dass ein Hoheitsträger nicht durch die Gründung einer juristischen Person des Privatrechts die eigene Grundrechtsbindung abstreifen und mittelbar eine eigene Grundrechtsfähigkeit erwerben darf („Keine Flucht ins Privatrecht!“). Zur Vertiefung: Tonikidis, Die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen nach Art. 19 III GG, JURA 2012, 517 ff.; Thiemann, Unionsrecht und Verfassungsrecht – Die urheberrechtlich geschützten Sessel, JuS 2012, 735 ff.; Müller-Terpitz, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung, JZ 2020, 1080 ff. f) Grundrechtsmündigkeit ▪ Bei der „Grundrechtsmündigkeit“ handelt es sich um einen wenig geklärten und bis heute umstrittenen Topos. Zu unterscheiden ist eine materiell und eine prozessuale Dimension der Grundrechtsmündigkeit: 17 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz ▪ Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Materielle Dimension ➢ Als natürliche Personen selbstverständlich Träger grundrechtsfähig. sind Kinder und von Grundrechten Jugendliche und damit ➢ Teilweise wird ihre autonome Grundrechtsausübungsberechtigung allerdings von einer Grundrechtsmündigkeit, d.h. von einer Fähigkeit zur tatsächlichen Ausübung eines Grundrechts, abhängig gemacht, sprich die Grundrechtsträgerschaft an ein bestimmtes Mindestalter geknüpft. ➢ Im Wortlaut der Grundrechte ist eine solche Restriktion indes nicht angelegt. Von daher stehen jedem – auch dem Kind oder dem Jugendlichen – unabhängig von seinem Alter oder seiner Einsichtsfähigkeit Grundrechte zu. ➢ Selbst wenn man eine Beschränkung der Grundrechtsausübungsberechtigung durch den Topos der Grundrechtsmündigkeit annehmen wollte, wäre zu bedenken, dass eine auf die Einsichtsfähigkeit abstellende Grundrechtsmündigkeit nur bei solchen Grundrechten in Betracht kommen kann, die eine entsprechende Fähigkeit seitens des Berechtigten erfordern. Sie könnte deshalb nur solche Grundrechte betreffen, die Verhaltensfreiheiten schützen oder Bewirkungsrechte beinhalten. Dagegen stehen Rechte des Güterschutzes, wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG), das Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) und das Eigentumsrecht (Art. 14 GG), dem Kind oder Minderjährigen stets unabhängig von einer Grundrechtsmündigkeit zu. Ähnliches gilt auch für den Schutz von Persönlichkeitsrechten (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) und den Gleichheitssatz (Art. 3 GG). ➢ Bei einem solchen Verständnis der Grundrechtsmündigkeit wäre für den dann verbleibenden Bereich der Verhaltens- und Bewirkungsfreiheiten davon auszugehen, dass die natürliche Handlungsfähigkeit ausreichend ist, um Grundrechtsschutz greifen zu lassen. Wer sich versammeln will, wer sich eine Meinung bilden kann und wer Kunst ausüben kann, ist mithin auch durch das jeweilige Grundrecht geschützt. ➢ Daneben existieren allerdings zahlreiche gesetzliche Bestimmungen, welche die Grundrechtsausübung von Kindern und Minderjährigen regeln: − Dazu zählt insbesondere § 5 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung vom 15.7.1921 (RGBl. S. 939), welcher die Befugnis zur persönlichen Bestimmung über die Religionszugehörigkeit mit Vollendung des 14. Lebensjahres eintreten lässt und bereits ab Vollendung des 12. Lebensjahres einen Religionswechsel gegen den Willen des Kindes ausschließt. 18 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 − Beschränkungen der Grundrechtsausübung statuieren des Weiteren die Bestimmungen des bürgerlichen Rechts über die Geschäftsfähigkeit (§§ 104 ff. BGB), welche die rechtsgeschäftliche Wahrnehmung von Grundrechten betreffen. − Gleiches gilt für die in § 1303 BGB geregelte „Ehemündigkeit“. − Derartige gesetzliche Restriktionen der Grundrechtsausübung können im Einzelfall grundrechtseinschränkende Wirkung haben und bedürfen deshalb einer Rechtfertigung. Abgesehen von Gesetzesvorbehalten ist das elterliche Erziehungsrecht nach Art. 6 II GG als kollidierendes Verfassungsrecht die maßgebliche Rechtfertigung für derartige Beschränkungen. ▪ Prozessuale Dimension ➢ Von diesen materiellen Fragen zu unterscheiden ist das Problem der prozessualen Geltendmachung eigener Grundrechtspositionen im fachgerichtlichen Verfahren oder mittels einer Verfassungsbeschwerde, was sub specie Prozessfähigkeit für natürliche Personen gerne unter dem Stichwort der „Grundrechtsmündigkeit“ erörtert wird (kein Terminus des BVerfG!). Während in anderen Rechtsgebieten die Prozessfähigkeit regelmäßig in Anlehnung an die Geschäftsfähigkeit bestimmt wird, ist das Verfassungsprozessrecht insoweit lückenhaft. Aber auch diese Lücke kann nicht einfach durch eine Parallele von Grundrechtsmündigkeit und Prozessfähigkeit geschlossen werden (str.). Vielmehr ist an die Prozessfähigkeit im Rahmen der anderen Prozessordnungen anzuknüpfen und damit ebenfalls grundsätzlich von der Geschäftsfähigkeit auszugehen. Dies gilt umso mehr, als eine Verfassungsbeschwerde regelmäßig erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig ist (§ 90 II 1 BVerfGG) und für diesen eben jene Bestimmungen Geltung beanspruchen. ➢ Soweit allerdings in bestimmten Rechtsbereichen die Altersgrenzen zur Geltendmachung herabgesetzt sind (z.B. Gesetz über religiöse Kindererziehung), können diese Sonderregelung auch auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren übertragen werden. Instruktiv zum Ganzen: Volkmann, Staatsrecht II Grundrechte, 3. Aufl. 2020, § 1 Rn 11 f., § 9 Rn. 4 f. Fall: Die Eltern der 13-jährigen K sind Mitglieder der mormonischen Kirche und melden ihre katholisch getaufte Tochter dort ebenfalls an. Unter Berufung auf ihre Religionsfreiheit erklärt K daraufhin den Austritt aus dieser Kirche; sie möchte katholisch bleiben. Die Eltern halten diesen Austritt, dem sie nicht zugestimmt haben, für unwirksam, da sich K auf dieses Grundrecht noch gar nicht berufen könne. Ihre fehle insoweit die „geistige Reife“ und damit die „Grundrechtsmündigkeit“. Trifft dies zu? 19 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 5) Die Auffassung der Eltern ist unzutreffend. K ist Trägerin der Religionsfreiheit. Unabhängig von der Anerkennung einer Grundrechtsmündigkeit weist ihr das einfache Recht (Gesetz über religiöse Kindererziehung) hier sogar das Recht zu, sich einem Religionswechsel widersetzen zu dürfen. In diesem Recht wurde sie verletzt, weshalb sie autonom den Austritt aus der mormonischen Kirche erklären darf. Ihr Grundrecht kann sie dabei auch notfalls im Wege der Verfassungsbeschwerde durchsetzen, da sie insoweit als prozessfähig gilt. 2. Grundrechtsverpflichtete a) Staat als Grundrechtsverpflichteter (Art. 1 III GG) ▪ Gem. Art. 1 III GG binden die „nachfolgenden Grundrechte“ Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. ▪ Die Bestimmung konkretisiert für den Grundrechtsrechtsbereich Art. 20 III GG. ▪ Gebunden werden sowohl die Staatsgewalten der Bundes- als auch der Landesebene! ▪ Der Begriff „vollziehende Gewalt“ ist weit zu verstehen und umfasst neben der Gubernative (Staatsleitung) die „klassische“ unmittelbare staatliche Verwaltung sowie sonstige in die mittelbare Staatsverwaltung eingeschaltete juristische Personen des öffentlichen und privaten Rechts (wie z.B. Gemeinden oder die Deutsche Bahn AG) oder sonst mit Hoheitsgewalt (einseitigen Befugnissen) ausgestattete Institutionen (wie z.B. Universitäten). b) Private als Grundrechtsverpflichtete (u.a. mittelbare Drittwirkung) ▪ In manchen Bereichen – so vor allem im Bereich wirtschaftlicher Aktivitäten – stehen dem Staat und seinen Untergliederungen (z.B. Gemeinden) nicht selten eine Wahlfreiheit hinsichtlich der Handlungsform zu (öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Handlungsform). Bedient sich die „vollziehende“ Gewalt in einer solchen Konstellation privatrechtlicher Handlungsformen, so kann sie sich hierdurch nicht von ihrer Grundrechtsbindung aus Art. 1 III GG lösen („Keine Flucht ins Privatrecht!“). ▪ Eine solche Grundrechtsbindung gilt privatrechtlichen Personen, die mit 20 auch für solche Hoheitsbefugnissen Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ausgestattet sind (sog. „Beliehenen“), denen kraft Gesetzes die Befugnis zur Ausübung von Hoheitsrechten übertragen wurde. Bsp.: TÜV-oder DEKRA-Sachverständige im Rahmen der KFZHauptuntersuchung; privater Postbediensteter im förmlichen Zustellungsverkehr; Bezirksschornsteinfeger; Notare; Flug- und Schiffskapitäne; Akkreditierungsagenturen im Wissenschaftsbereich (Letzteres allerdings str.). ▪ Im Übrigen binden die Grundrechte Private nicht unmittelbar (sonst handelte es sich bei ihnen um Grundpflichten – s. o. sub II. 5.). Über die unbestimmten, sprich interpretationsbedürftigen Rechtsbegriffe der Rechtsordnung können sie jedoch auch auf private Rechtsverhältnisse einwirken. So ist etwa die Frage, ob ein Boykottaufruf i.S.d. § 826 BGB „sittenwidrig“ ist, was auch im Lichte der Meinungsfreiheit des zum Boykott Aufrufenden zu bewerten ist (vgl. BVerfGE 7, 189 ff. – Lüth). ▪ Über diese Figur der sog. „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte kommt es im Ergebnis zwar ebenfalls zu einer gewissen Bindung Privater an Grundrechte. Diese ist allerdings im Regelfall nicht so intensiv wie bei einer unmittelbaren Grundrechtsbindung und wird zudem sehr häufig durch eigene Grundrechtspositionen des Privaten relativiert (vgl. insofern auch BVerfGE 128, 226 [248]: „Dies schließt umgekehrt allerdings nicht aus, dass möglicherweise Private – etwa im Wege der mittelbaren Drittwirkung – unbeschadet ihrer eigenen Grundrechte ähnlich oder auch genauso weit durch die Grundrechte in Pflicht genommen werden, insbesondere wenn sie in tatsächlicher Hinsicht in eine vergleichbare Pflichten- oder Garantenstellung hineinwachsen wie traditionell der Staat.“) ▪ Nota bene: Die Figur der „mittelbaren Drittwirkung“ wird nach verbreiteter, wenn auch nicht unstreitiger Auffassung mittlerweile als ein Unterfall der Schutzpflichtendimension der Grundrechte begriffen. Der Richter, der in einem konkreten Rechtsstreit unbestimmte Rechtsbegriffe wie den der „Sittenwidrigkeit“ oder „Treu und Glauben“ auszulegen hat, hat insofern aufgrund seiner (unmittelbaren) Grundrechtsbindung (Art. 1 III GG!) die grundrechtlichen Positionen der Kontrahenten in einen „schonenden Ausgleich“ zu bringen bzw. praktische Konkordanz zwischen ihnen herzustellen. Zu beachten ist deshalb, dass in Konstellationen der „mittelbaren Drittwirkung“ zumeist widerstreitende Grundrechtsbelange (die des Klägers und die des Beklagten) in einen (schonenden) Ausgleich gebracht werden müssen. Fall („Fraport“): Die K ist Mitglied der Aktivistengruppe „Initiative gegen Abschiebungen“, welche im öffentlich zugänglichen Bereich des Flughafens Frankfurt a.M. regelmäßig Aktionen und Werbeveranstaltungen gegen die Abschiebung von Ausländern durchführt. Gestützt auf ihr Hausrecht erteilt die F-AG als Betreiberin des Flughafens und Eigentümerin des Flughafengeländes der 21 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Aktivistengruppe ein Meinungskundgabe- und Demonstrationsverbot. Begründet wird dieses Verbot mit dem reibungslosen Betriebsablauf und der Sicherheit des Flugverkehrs. Die Aktien der F-AG werden zum Zeitpunkt des Verbots zu etwa 70 % vom Land Hessen, der Stadt Frankfurt a.M. und der Bundesrepublik Deutschland gehalten. Die K fühlt sich durch das Meinungskundgabe- und Demonstrationsverbot der F-AG in ihren Grundrechten aus Art. 5 I 1 und 8 I GG verletzt. Kann sich die K gegenüber der F-AG auf diese Grundrechte berufen? (vgl. BVerfGE 128, 226 ff. – Fraport) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 6) Die K könnte sich gegenüber der F-AG auf Art. 5 I 1 und 8 I GG berufen, sofern diese als juristische Person des Privatrechts (unmittelbar) an Grundrechte gebunden ist. Generell gilt: Die Nutzung zivilrechtlicher Formen enthebt die staatliche Gewalt nicht von ihrer Bindung an die Grundrechte gemäß Art. 1 III GG. Eine Flucht aus der Grundrechtsbindung in das Privatrecht mit der Folge, dass der Staat unter Freistellung von Art. 1 III GG als Privatrechtssubjekt zu begreifen wäre, ist ihm mithin verstellt („Keine Flucht ins Privatrecht“). Von der öffentlichen Hand beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen unterliegen dabei ebenso wie im Alleineigentum (100%) des Staates stehende öffentliche Unternehmen, die in den Formen des Privatrechts organisiert sind, einer unmittelbaren Grundrechtsbindung. Auch bei gemischtwirtschaftlichen Unternehmen erfasst die Frage der Grundrechtsbindung das jeweilige Unternehmen insgesamt und kann nur einheitlich beantwortet werden. Ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen unterliegt dann der unmittelbaren Grundrechtsbindung, wenn es von den öffentlichen Anteilseignern beherrscht wird, was ist in der Regel der Fall ist, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen. Anders als in Fällen, in denen die öffentliche Hand nur einen untergeordneten Anteil an einem privaten Unternehmen hält, handelt es sich dann grundsätzlich nicht um private Aktivitäten unter Beteiligung des Staates, sondern um staatliche Aktivitäten unter Beteiligung von Privaten. Für sie gelten unabhängig von ihrem Zweck oder Inhalt die allgemeinen Bindungen staatlicher Aufgabenwahrnehmung. Bei der Entfaltung dieser Aktivitäten sind die öffentlich beherrschten Unternehmen unmittelbar durch die Grundrechte gebunden (grundrechtsverpflichtet) und können sich – gleichsam als logische Kehrseite hierzu – umgekehrt gegenüber den Bürgern nicht auf eigene Grundrechte stützen (sind also nicht grundrechtsberechtigt). Eine solche Konstellation liegt bei der F-AG vor, da mehr als die Hälfte ihrer Anteile von der öffentlichen Hand gehalten werden und diese deshalb als von der öffentlichen Hand beherrschtes gemischtwirtschaftliches Unternehmen anzusehen ist. Die Auswirkungen dieser Grundrechtsbindung sind, da im Rahmen des Zivilrechts verbleibend, jedoch begrenzt. Insbesondere wird die öffentliche Hand hierdurch nicht grundsätzlich daran gehindert, in adäquater und 22 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz HWS 2023 weithin gleichberechtigter Weise wie Private die Handlungsinstrumente des Zivilrechts für ihre Aufgabenwahrnehmung zu nutzen und auch sonst am privaten Wirtschaftsverkehr teilzunehmen. Allerdings sind die Grundrechtsbindung und die ihr entsprechende fehlende Grundrechtsberechtigung nicht ohne Bedeutung. So kann die öffentliche Hand zwar die zivilrechtlichen Eigentümerbefugnisse – wie vorliegend das Hausrecht (§ 1004 I BGB) – nutzen, jedoch entheben diese nicht davon, insbesondere einseitig verbindliche Entscheidungen durch legitime Gemeinwohlzwecke am Maßstab der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu legitimieren. Das BVerfG ist im Fraport-Fall deshalb davon ausgegangen, dass in der vorliegenden Konstellation wegen ihrer unmittelbaren Bindung an Art. 5 I 1 und 8 I GG eine Duldungspflicht der F-AG aus § 1004 II BGB besteht. c) Auslandsgeltung der Grundrechte? ▪ Die Frage nach der Auslandsgeltung von (nationalen) Grundrechten ist bislang nicht abschließend geklärt. Aufgrund der rasant fortschreitenden Globalisierung und Internationalisierung hat sie in den letzten Jahren allerdings enorm an Bedeutung gewonnen. ▪ Folgende Konstellationen sind zu unterscheiden: - Ausländische Staatsangehörige werden im Ausland durch deutsche Staatsorgane beeinträchtigt (Bsp.: Der BND hört via Satellit einen in Chile wohnenden chilenischen Staatsangehörigen ab.). Da Grundrechte als „Kompensationsrechte“ für die „Gewaltunterworfenheit“ (status subjectonis) des Einzelnen unter die deutsche Staatsgewalt zu begreifen sind, ist in derartigen Konstellationen eine Auslandsgeltung der Grundrechte (konkret: des Art. 10 I GG) zu bejahen. Hierfür spricht auch die Formulierung in Art. 1 III GG, welche allein darauf abstellt, dass die „vollziehende Gewalt“ tätig wird. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage anfänglich in seiner 3. G 10-Entscheidung explizit offengelassen (vgl. BVerfGE 100, 313 ff.), nun aber in der BND-Entscheidung vom Mai 2020 bejaht (BVerfGE 154, 152 ff.). - Darüber hinaus spielen Grundrechte in zahlreichen Konstellationen mit Auslandsbezug eine Rolle. Die Sachfrage, um die es geht, unterliegt jedoch grundsätzlich deutscher Hoheitsgewalt (Bsp.: Entlohnung nichtdeutscher Staatsangehöriger auf Schiffen, die unter deutscher Flagge fahren und damit deutscher Hoheitsgewalt unterliegen – sog. Zweitregister. Das BVerfG hat insoweit wiederholt festgestellt, dass die Grundrechtsintensität mit Blick auf die 23 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Auslandsbezogenheit des Sachverhalts möglicherweise zurückzunehmen ist (so hielt es etwa das Gericht in der Zweitregister-Entscheidung für mit Art. 9 III GG vereinbar, dass der Gesetzgeber für ausländische Staatsangehörige auf deutschen Schiffen niedrigere Löhne als für deutsche Staatsangehörige zulässt, um ein weiteres Ausflaggen der deutschen Handelsflotte zu verhindern). Fall: Der Somalier P wird im März 2009 zusammen mit acht weiteren Personen in internationalen Gewässern im Golf von Aden von der Fregatte „Rheinland-Pfalz“ der deutschen Bundesmarine wegen des Verdachts eines (versuchten) seeräuberischen Angriffs auf das unter der Flagge von Antigua und Barbuda fahrende, einer deutschen Reederei gehörende Motorschiff „Courier“ aufgegriffen und in Gewahrsam genommen. Die Fregatte war Teil der Seestreitkräfte, die im Rahmen der Militäroperation „ATALANTA“ zur Abschreckung und Bekämpfung von seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen vor der Küste Somalias tätig waren bzw. sind. Kurz nach der Festnahme wurden die Piraterieverdächtigen den kenianischen Behörden zur Strafverfolgung übergeben, wo diese immer noch in Haft sitzen. P begehrt gegenüber der Bundesrepublik Deutschland die Feststellung, dass seine Übergabe an Kenia rechtswidrig gewesen sei. Hierzu führt P aus, dass die kenianischen Haftbedingungen menschenunwürdig seien, da diese u.a. durch unerträgliche Hitze und tagelang unterbrochene Wasserversorgung geprägt seien, was Deutschland bekannt gewesen sei. Die Bundesrepublik Deutschland berief sich darauf, dass nicht sie, sondern allein die EU die völkerrechtliche Verantwortung für die Maßnahme trage, da der Operation „ATALANTA“ eine vom Rat der EU beschlossene „Gemeinsame Aktion“ zugrunde liegt, welche wiederum auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrates beruht. Zudem habe Kenia die Einhaltung völkerrechtlicher Mindeststandards schriftlich zugesichert, worauf sich die Beteiligten hätten verlassen können. Ist die Feststellungsklage des P begründet? (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.09.2014 – 4 A 2948/11, DÖV 2015, 343 ff. = BeckRS 2014, 56389) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 7) ▪ ▪ Die Übergabe des P an die kenianischen Strafbehörden stellt nach Auffassung des OVG Münster einen Akt deutscher Staatsgewalt dar und ist daher der Bundesrepublik zuzurechnen. Der Umstand, dass die beteiligten deutschen Hoheitsträger i.R.d. „Gemeinsamen Aktion“ der EU tätig geworden sind, lässt die Verantwortung nicht entfallen. Die Übergabe des P an Kenia bedurfte als Eingriff in seine Freiheitsrechte einer hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage. An einer solchen fehlte es hier, was bereits zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme führt. 24 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte ▪ HWS 2023 Bei einer Auslieferung zur Strafverfolgung ist seitens der Behörden stets zu prüfen, ob der Auslieferung die Verletzung des nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards sowie die Verletzung der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze der öffentlichen Ordnung entgegenstehen. ▪ Gleiche Anforderungen sind nach Art. 3 EMRK anzulegen, der in Auslieferungsfällen uneingeschränkt Anwendung findet. ▪ Nicht zu prüfen ist, ob die vom GG garantierten Grundrechte vollständig gewahrt werden. ▪ Auf die völkerrechtlich verbindliche Zusicherung der Gewährleistung menschenwürdiger Haftbedingungen seitens der Republik Kenia kann sich die Bundesrepublik dann nicht berufen, wenn ihr bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, dass die Zustände im März 2009 die geforderte menschenwürdige Behandlung nicht ermöglichten. ▪ Die prekären Haftbedingungen sind der Bundesrepublik durch verschiedene Botschaftsberichte hinlänglich bekannt gewesen. ▪ Die Übergabe des P an die Republik Kenia ist der Bundesrepublik zuzurechnen und rechtswidrig. 25 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 IV. Wirkungsweise der Grundrechte 1. Allgemeine Wirkungsweise der Grundrechte a) Abwehrdimension Fall: Der Landtag von Baden-Württemberg beschließt in einem ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahren das „Baden-Württembergische Gesetz zum Schutz vor übermäßigem Alkoholkonsum in Gaststätten“. Das Gesetz hat folgenden Wortlaut: §1 In jeder Gaststätte, in der alkoholische Getränke angeboten werden, ist folgender Warnhinweis in gut sichtbarer Form anzubringen: ,Die EU warnt: Übermäßiger Alkoholkonsum schädigt Ihre Gesundheit‘. §2 Dieses Gesetz tritt am Tag nach seiner Verkündung in Kraft.“ Ist das Gesetz mit den Grundrechten der Gastwirte zu vereinbaren? ▪ Um zu ermitteln, ob ein Akt der öffentlichen Gewalt (vorliegend: der Legislative) mit Grundrechten vereinbar ist, müssen nach allgemein akzeptierter Grundrechtsdogmatik folgende Gedankenschritte durchlaufen werden: ➢ Schutzbereich: Ist der Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet, d.h. thematisch berührt/betroffen? (Vorliegend ist der Schutzbereich des Art. 12 I 1 GG [Berufsfreiheit] betroffen, der u.a. die Art und Weise einer selbstständigen Berufsausübung schützt.) ➢ Eingriff: Greift der Akt der öffentlichen Gewalt in das berührte Grundrecht ein? (Dies ist vorliegend zu bejahen, da die Gastwirte zu einer bestimmten Art und Weise ihrer Berufsausübung verpflichtet werden, was ihre durch Art. 12 I GG verbürgte Berufsfreiheit einengt/beschränkt.) 26 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ➢ Verfassungsrechtliche Rechtfertigung: Kann dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden? (Vorliegend könnte die Beschränkung der Berufsfreiheit gem. Art. 12 I 2 GG durch das Landesgesetz gerechtfertigt sein. Dies setzt allerdings nicht nur die bloße Existenz eines kompetenzgerecht und ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes voraus. Vielmehr muss dieses Gesetz auch bestimmten „Schranken-Schranken“ genügen, insbesondere verhältnismäßig sein. [vorliegend zu bejahen]) ▪ Lässt sich der Eingriff verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen, so greift die Rechtsfolge des Grundrechts ein: Der Eingriff ist zu unterlassen (vorliegend entweder durch Aufhebung des Gesetzes [Folgenbeseitigung] oder durch verfassungsgerichtliche Nichtigerklärung des Gesetzes – vgl. § 78 BVerfGG). b) Schutzpflichtendimension ▪ Das Gericht müsste dem Antrag stattgeben, wenn es hierzu aus der grundrechtlichen Schutzpflicht verpflichtet wäre. ▪ Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebietet die Schutzpflicht dem Staate, „sich schützend und fördernd vor das Schutzgut zu stellen, d.h. vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“ (vgl. z.B. BVerfGE 39, 1 [42], 77, 170 [214 f.]). ▪ Diese Aussage lässt sich in eine rechtssatztypische Tatbestands- und Rechtsfolgenstruktur zerlegen: ➢ Tatbestandsebene: Rechtswidriger Eingriff (Übergriff) eines Privaten in ein grundrechtliches Schutzgut; ➢ Rechtsfolgenebene: Staatliche Verpflichtung, sich „schützend“/„bewahrend“ bzw. „fördernd“ vor das bedrohte Rechtsgut zu stellen. Eingriffdimension Schutzpflichtendimension Schutzbereich eines Grundrechts berührt? Schutzbereich eines Grundrechts berührt Staatlicher Eingriff? Privater Übergriff (str. für Naturkatastrophen u. Krankheiten) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung? Rechtswidrigkeit des Übergriffs? (keine Rechtfertigung durch rechtlich 27 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 (Übermaßverbot) geschützte u. überwiegende Interessen des Störers) Rechtsfolge: Rechtsfolge: Unterlassen des staatlichen Eingriffs Angemessener und als solcher wirksamer Schutz (Untermaßverbot) Fall: Am 5.9.1977 wird Hanns-Martin Schleyer nach Ermordung seiner Begleitpersonen von Terroristen entführt. Die Entführer machten gegenüber der Bundesregierung und dem BKA die Freilassung des Entführten von der Erfüllung bestimmter Forderungen abhängig und drohten bei Nichterfüllung seine „Hinrichtung“ an. U.a. forderten sie, dass 11 namentlich benannte, in UHaft oder Strafhaft einsitzende Terroristen freizulassen sind und ihnen die Ausreise aus der Bundesrepublik zu gestatten ist. Die Rechtsvertreter des Entführten begehrten daraufhin den Erlass folgender einstweiliger Anordnung vom BVerfG: „Die Antragsgegner sind gehalten, den Forderungen der Entführer auf Freilassung und Gewährung freier Ausreise stattzugeben“: Muss das BVerfG diesem Antrag entsprechen? (vgl. BVerfGE 46, 160 ff.) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 8) Das BVerfG musste dem Antrag dementsprechend auch nicht getan. nicht entsprechen und hat des Zwar waren die staatlichen Institutionen (hier zuvörderst die Exekutive) aus der Schutzpflicht heraus verpflichtet, Maßnahmen zur Rettung von Hanns-Martin Schleyer zu ergreifen. Diese müssen auch angemessen und als solche wirksam sein. Das Gericht billigte insofern der Exekutive allerdings eine weite Einschätzungsprärogative zu und erachtete die polizeilichen Maßnahmen (Straßensperren, Hausdurchsuchungen, Telefonüberwachungen etc.), die in solchen Fällen typischerweise ergriffen werden, als hinreichend wirksam (nota bene: Da es hier um Gefahrenabwehrhandeln ging, war die Frage der Wirksamkeit aus eine exante-Perspektive zu beurteilen). Ausschlaggebend hierfür war auch die Überlegung, dass ein Eingehen auf die Forderungen der Entführer nicht angemessen gewesen wäre: Denn zum einen hätte die Freilassung der Terroristen in Zukunft das Leben anderer Menschen gefährden können, für die dem Staat ebenfalls eine Schutzpflicht zukommt. Zum anderen wäre der Staat so in Zukunft erpressbar geworden (aus gutem Grunde verhandeln Staaten 28 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 nicht, zumindest nicht offiziell, mit Terroristen und Geiselnehmern, da dies ihren Handlungsspielraum übermäßig einengen würde). Schließlich gilt es zu beachten, dass eine Freilassung der Terroristen nach der geltenden Rechtslage (damals wie heute) gar nicht zulässig gewesen wäre. Die Bundesregierung hätte hierdurch in eklatanter Art und Weise gegen den Vorrang des Gesetzes (Art. 20 III GG) verstoßen. c) Ausgestaltungsdimension ▪ Wie oben (sub I.1.) bereits ausgeführt, umfasst der Grundrechtskatalog des GG norm- und sachgeprägte Grundrechte. Im Unterschied zu letzteren, sind normgeprägte Grundrechte auf eine normative Ausgestaltung durch den (parlamentarischen) Gesetzgeber angewiesen, damit der Grundrechtsberechtigte von ihnen überhaupt sinnvoll Gebrauch machen kann. So kann man das Rechtsinstitut der Ehe nur schließen, wenn der Gesetzgeber die insoweit erforderlichen Voraussetzungen (Alter, Geschlecht, Rechtswirkungen des Eheschlusses etc.) definiert. Auch kann man die Rechtsposition „Eigentum“ nur innehaben, wenn der Gesetzgeber zuvor solche Rechtspositionen schafft. ▪ Die Ausgestaltung eines Grundrechts darf dabei nicht mit einem staatlichen Eingriff in dieses gleichgesetzt werden. Sie bewegt sich gleichsam nur auf der Schutzbereichsebene des Grundrechts und stellt deshalb keinen Eingriff in selbiges dar. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Gesetzgeber völlig frei hinsichtlich der Ausgestaltung des Schutzbereichs eines normgeprägten Grundrechts wäre. Vielmehr hat er dabei folgende Grenzen zu beachten: ➢ Die Ausgestaltung hat sich am Begriff und der Reichweite der auszugestaltenden Institution zu orientieren. Bsp.: So definiert das BVerfG den Begriff „Ehe“ gegenwärtig als die auf Lebzeiten angelegte Verbindung von Mann und Frau. Entsprechend können sich ausgestaltende Regelungen auch nur auf ein solches Institut beziehen (und nicht etwa auf eine Verbindung von Homosexuellen) str. ggf ergänzende Ausführungen, vgl. Blome, Die Geschlechterverschiedenheit der Ehegatten – Kerngehalt der Ehe nach Art. 6 I GG?, NVwZ 2017, 1658). Das Eigentum ist eine für seinen Inhaber privatnützige Rechtsposition. Entsprechend müssen Eigentumspositionen privatnützig ausgestaltet sein. Der Rundfunk dient der Sicherung der Meinungsvielfalt. Ausgestaltende Regelungen zur Rundfunkordnung müssen deshalb auf dieses Ziel ausgerichtet sein. ➢ Des Weiteren ist zu beachten, dass der Gesetzgeber auch in ein ausgestaltungsbedürftiges Grundrecht einzugreifen vermag. Dies namentlich dann, wenn seine Gesetzgebung nicht auf die Ausgestaltung des normgeprägten Schutzbereichs angelegt ist, sondern diesen restringiert. Im Einzelfall kann es allerdings sehr schwierig sein zu erkennen, ob der Gesetzgeber noch ausgestaltend oder bereits eingreifend tätig ist. Die Übergänge sind hier häufig fließend. Bsp.: So 29 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 sieht das BGB vor, dass ein Eheschluss unter engen Verwandten nicht zulässig ist (§ 1307 BGB). Je nachdem, wie weit man die Definition des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs zieht, kann dies noch eine Ausgestaltung des Schutzbereichs des Art. 6 I GG darstellen oder sich bereits als Eingriff in die Eheschließungsfreiheit erweisen, der dann wie bei den sachgeprägten Grundrechten verfassungsrechtlich zu rechtfertigen wäre. ➢ Früher standen das BVerfG und die herrschende Grundrechtsdogmatik auf dem Standpunkt, dass es sich bei der Ausgestaltung gerade nicht um einen Eingriff handelt und dementsprechend auch die Schranken für Grundrechtseingriffe – insbesondere das aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Verhältnismäßigkeitsprinzip – keine Anwendung finden. Das vorstehende Beispiel zeigt indes, dass die Abgrenzung zwischen einer Ausgestaltung und einem Grundrechtseingriff fließend sein kann. In seiner neueren Dogmatik legt das BVerfG deshalb auch auf ausgestaltende Gesetze den Verhältnismäßigkeitsmaßstab an, was die dogmatischen Grenzen zwischen beiden Grundrechtsdimensionen zunehmend verwischt. So hat es in seiner Entscheidung zur Beteiligung von Parteien an privaten Rundfunkveranstaltern festgestellt: „Bei der Zulassung privater Bewerber hat der Gesetzgeber allerdings nicht nur die Aspekte der Meinungsvielfalt und Staatsfreiheit zu beachten. Vielmehr muss er auch die Rechte privater Rundfunkbetreiber aus Art. 5 I 2 respektieren“ (BVerfGE 121, 30 [55]). ➢ Die Ausgestaltung findet schließlich ihre Grenze an der Existenz des Instituts als solchem. Der Gesetzgeber muss das in Rede stehende Rechtsinstitut zumindest soweit ausgestalten, dass von ihm sinnvoll Gebrauch gemacht werden kann. Eine Abschaffung des Instituts oder ein Leerlaufenlassen ist ihm verboten. 2. Schutzbereich der Grundrechte a) Personeller Schutzbereich = Frage nach dem Grundrechtsberechtigten (s. hierzu bereits ausführlich oben sub III. 1.). b) Sachlicher Schutzbereich aa) Positive bzw. negative Gewährleistungsgehalte ▪ Alle Grundrechte statuieren jedenfalls eine positive Verbürgung. So verbürgt Art. 2 II 1 GG ein Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit, Art. 5 I GG ein Recht, seine Meinung frei zu äußern, sowie Art. 12 I 1 GG, einen Beruf zu wählen und auszuüben. 30 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz ▪ Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Im Wege der Grundrechtsinterpretation lässt sich den meisten Grundrechten darüber hinaus aber auch eine sog. negative Verbürgung entnehmen: ➢ So gewährt Art. 4 I GG nicht nur die Religionsfreiheit, sondern auch die Freiheit, keinem religiösen Bekenntnis oder keiner Religionsgemeinschaft angehören zu wollen (sog. negative Glaubensfreiheit). ➢ Art. 5 I 1 GG lässt sich das Recht entnehmen, nicht nur seine Meinung frei zu äußern, sondern eine solche auch nicht zu äußern (negative Meinungsäußerungsfreiheit). ▪ Durch diese „negative Dimension“ des Schutzbereichs verwirklicht der Grundrechtsträger letztlich die durch das Grundrecht verbürgte Freiheit: Denn zur Freiheit des Art. 4 I GG gehört auch ein individuelles weltanschauliches Bekenntnis, welches gerade darin bestehen kann, areligiös zu sein. Und auch im Nichtäußern einer Meinung kann implizit eine Meinungsbekundung liegen. Fall: Gemäß § 3 I Nr. 1 und 2 der Verordnung über die Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen und über Höchstmengen von Teer im Zigarettenrauch vom 29.10.1991 dürfen Zigarettenpackungen gewerbsmäßig nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie außer dem allgemeinen Warnhinweis nach § 2 I jeweils eine der folgenden besonderen Warnhinweise tragen: „Die EUGesundheitsminister warnen: 1. Rauchen verursacht Krebs. 2. Rauchen verursacht Herz- und Gefäßkrankheiten.“ U, der Tabakerzeugnisse, insbesondere Zigaretten, herstellt und verbreitet, fühlt sich durch diese Verordnung u.a. in seinem Grundrecht aus Art. 5 I 1 GG verletzt. Zu Recht? (vgl. BVerfG, LMRR 1997, 5 ff.) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 9) Laut BVerfG war die negative Meinungsfreiheit vorliegend nicht verletzt. Denn nach Auffassung des Gerichts hätte dies vorausgesetzt, dass aus Sicht des Rezipienten (den Rauchern) die auf der Zigarettenschachtel aufgedruckten Warnhinweise dem U als eigene Aussage zuzurechnen gewesen wären. Für den Käufer der Zigarettenschachtel sei aber erkennbar, dass es sich bei dem Warnhinweis nicht um eine Äußerung des U, sondern um den gesetzlich erzwungenen Abdruck der Äußerung der EU-Gesundheitsminister handele. Der Fall war deshalb lediglich an Art. 12 I GG, nicht aber auch an Art. 5 I 1 GG zu messen (Schutzbereich schon nicht berührt). Zur Vertiefung: Merten, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II: Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren 31 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 I, 2006, § 42; Volkmann, Staatsrecht II Grundrechte, 3. Aufl. 2020, § 2 Rn. 74 ff. (speziell zu Art. 2 II 1 GG) bb) Enges oder weites Schutzbereichsverständnis? ▪ Umstritten ist, ob der Schutzbereich (= Tatbestand) eines Grundrechts „eng“ oder „weit“ zu interpretieren ist. Was ist damit gemeint? ▪ Nach der engen Schutzbereichskonzeption sind bestimmte Verhaltensweisen, die – grob formuliert – gegen das nenimem-laedere-Prinzip verstoßen, aus dem Schutzbereich der Grundrechte a limine auszugrenzen. Nach diesem Verständnis schützt die vorbehaltlos gewährleistete Kunstfreiheit in Art. 5 III GG deshalb nicht den „Mord auf offener Bühne“ oder das Besprühen fremder Hauswände („Sprayer von Zürich“). Auch die Forschungsfreiheit (ebenfalls Art. 5 III GG) umfasst nach diesem Verständnis nicht das Recht auf Forschung am Menschen (ohne dessen Einwilligung). ▪ Die weite Schutzbereichskonzeption geht demgegenüber davon aus, dass zunächst alle menschlichen Verhaltensweisen vom Schutzbereich eines allgemeinen oder speziellen Grundrechts umfasst sind (also etwa auch die Forschung am Menschen ohne dessen Einwilligung oder die Tötung als künstlerischer Akt) – sog. prima facie-Schutz. Dies soll indessen nicht bedeuten, dass es sich insoweit um grundrechtlich geschützte Verhaltensweisen handele. Vielmehr müsse solchen Verhaltensweisen die Rechtfertigung versagt werden. ▪ Beide Ansichten kommen deshalb im Regelfall zu gleichen Ergebnissen. Allerdings löst die enge Schutzbereichskonzeption diese Frage bereits auf der Schutzbereichsebene, wohingegen das weite Schutzbereichsverständnis diese Fragen im Rahmen der Rechtfertigung behandelt. Entsprechend gehen Vertreter der weiten Schutzbereichskonzeption (wie insbes. Höfling) davon aus, dass der „effektive Gewährleistungsbereich“ eines Grundrechts nur aus einer Gesamtschau des Schutzbereichs und der Rechtfertigungsebene ermittelt werden könne. ▪ Das BVerfG hat sich zu dieser Streitfrage bislang noch nicht prinzipiell geäußert. In einigen Entscheidungen scheint es einer engen Schutzbereichskonzeption nahe zu stehen (so etwa, wenn es bestimmte Verhaltensweisen wie sozialschädliche berufliche Tätigkeiten oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen aus dem Schutzbereich der jeweiligen Grundrechte [Art. 12 I 1, 5 I 1 Alt. 1 GG] ausnimmt). In anderen Entscheidungen neigt es deutlich einem weiten Schutzbereichsverständnis zu (so vor allem in Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 III GG). In seiner berühmten „Sprayer von Zürich“-Entscheidung hat das Gericht (allerdings lediglich in Gestalt einer Vorprüfungskommission [heute: Kammer]) eine enge Schutzbereichskonzeption favorisiert. So ging es in dieser Entscheidung davon aus, dass sich ein Künstler (Harald Naegeli) zur Ausübung seiner Kunst (vorliegend: Graffiti) schon nicht auf die Inanspruchnahme fremden Eigentums (konkret: fremder Hauswände) berufen könne, da diese grundrechtlich anderen Rechtssubjekten zugeordnet seien (vgl. insoweit NJW 1984, 1293). ▪ Aus staatstheoretischer Sicht spricht für eine enge Schutzbereichskonzeption, dass sie das der staatlichen Ordnung zu Grunde liegende neminem laedre-Prinzip 32 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 verwirklicht: Der Bürger wird in eine staatliche Ordnung hineingeboren, die ihm Schutz nach innen und außen gewährt. Im Gegenzug verspricht er dieser staatlichen Ordnung und seinen Mitbürgern gegenüber, sich friedlich zu verhalten, d.h. die Rechtsgüter seiner Mitbürger nicht zu schädigen. Vor diesem staatstheoretischen Hintergrund liegt es nahe, die Reichweite der Grundrechte dann auch nicht auf solche schädigenden Verhaltensweisen zu erstrecken. Insofern berührt sich ein enges Tatbestandsverständnis mit der Fundierung grundrechtlicher Schutzpflichten. ▪ Das enge Tatbestandsverständnis weist allerdings dort Schwächen auf, wo die Reichweite eines Schutzbereichs erst durch einen Abwägungsvorgang mit kollidierenden Rechtsgütern Dritter (z.B. Ehre v. Meinungsäußerungsfreiheit) zu ermitteln ist. Von daher ist sie auf solche Grundrechte zu beschränken, die einen klar umrissenen gegenständlichen Lebenssachverhalt schützen und diesen geschützten Bereich eindeutig einem Rechtsträger zuweisen. Dies sind vor allem die Grundrechte aus Art. 2 II S. 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) sowie aus Art. 14 I GG (Eigentum); die Parallele zu den explizit in § 823 I BGB aufgeführten Rechtsgütern liegt auf der Hand. Zur Vertiefung: Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, Der Staat 43 (2004), 167 ff.; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 123 ff. 3. Staatlicher Eingriff a) Klassischer Eingriffsbegriff Der klassische Eingriffsbegriff weist 4 Merkmale auf. Hiernach ist ein Eingriff - final (und nicht bloß unbeabsichtigte Folge eines auf andere Ziele gerichteten Staatshandelns), - unmittelbar (und nicht bloß zwar beabsichtigte, aber lediglich mittelbare Folge des Staatshandelns), - rechtsförmig (d.h. von rechtlicher und nicht bloß tatsächlicher Natur) und vermag mit - Befehl angeordnet und Zwang durchgesetzt zu werden (vgl. BVerfGE 105, 279 [300] – Osho). Die landesgesetzliche Bestimmung im oben (1. a) geschilderten Gaststätten-Fall erfüllt diese Merkmale. 33 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 b) Moderner Eingriffsbegriff Fall: In ihrem jährlichen Jugendschutzbericht warnt die Ministerin für Familie, Senioren und Jugend vor der Sekte „Osho“. Bei dieser handele es sich um eine „pseudoreligiöse“ Sekte, die vor allem Jugendliche „manipuliere“. Die Verantwortlichen der OshoBewegung fühlen sich durch diesen Bericht verunglimpft und fordern von der Ministerin Widerruf bzw. Unterlassung. Zu Recht? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 10) ▪ Ein Widerrufs- bzw. Unterlassungsanspruch könnte sich aus Art. 4 I, II GG ergeben (grundrechtlicher Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch). ▪ Neben der Eröffnung des Schutzbereichs setzt dies einen staatlichen Eingriff voraus. ▪ Seit langem ist anerkannt, dass Grundrechte nicht nur durch finale, unmittelbare, rechtliche und durchsetzbare Akte des Staates beschränkt werden können. Im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes ist der Eingriffsbegriff vielmehr weit zu verstehen. ▪ Von daher hat das BVerfG festgestellt: „Unter der Geltung des Grundgesetzes ist der Grundrechtsschutz nicht auf Eingriffe im herkömmlichen Sinne begrenzt, sondern auf faktische und mittelbare Beeinträchtigungen ausgedehnt worden. Damit reagierte die Rechtsordnung auf geänderte Gefährdungslagen“ (vgl. BVerfGE 105, 279 [302] – Osho). ▪ Als Eingriff ist deshalb jedes staatliche Handeln zu qualifizieren, dass dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht bzw. erheblich (i.S.v. nicht unwesentlich) erschwert – und zwar gleichgültig, ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich (faktisch, informal), mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt. Allerdings muss die Wirkung von einem zurechenbaren Verhalten der öffentlichen Gewalt ausgehen (vgl. Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 321 ff.). ▪ Bewertung des Osho-Falls? Im Osho-Fall lag ein mittelbar-faktischer Eingriff vor, der aufgrund seiner Vorhersehbarkeit und Finalität staatlichem Handeln zurechenbar war. 34 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 c) Grundrechtsgefährdung ▪ Auch bloße Grundrechtsgefährdungen können sich als Eingriffe darstellen („eingriffsgleiche Grundrechtsgefährdungen“). ▪ Das BVerfG hat dies vor allem für das Recht auf Leben anerkannt, um die Schutzwirkung dieses Grundrechts nicht leerlaufen zu lassen (Irreversibilität staatlicher Eingriffe in das Leben!). ▪ Dieser Gedanke lässt sich allerdings auf alle Grundrechte erstrecken. Die Gleichsetzung eines tatsächlichen Eingriffs mit einer bloßen (Eingriffs-) Gefährdung resultiert letztlich aus dem Unterlassensanspruch, den Grundrechte verbürgen („Grundrechte als negative Kompetenzbestimmungen“). Der Bürger hat einen Anspruch auf Unterlassen staatlicher Eingriffe. Seiner Natur nach wirkt ein solcher Unterlassensanspruch dergestalt vor, dass es zu Eingriffen gar nicht erst kommen darf. Von daher beinhalten die Grundrechte auch ein Abwehrrecht gegen bloß gefährdendes staatliches Handeln. ▪ Wann insoweit ein grundrechtsgefährdendes Handeln als eingriffsäquivalent qualifiziert werden kann, ist anhand des Einzelfalls zu beurteilen. Maßgeblich hierfür ist das Gewicht des betroffenen Grundrechts sowie die Nähe und Wahrscheinlichkeit eines staatlichen Eingriffs. d) „Grundrechtsverzicht“ Fall: Schon seit längerem observiert die Polizei das Haus des R, von dem vermutet wird, dass er Beteiligter eines Banküberfalls war und die Beute in seinem Haus versteckt hat. Polizist P, der an dieser Observation beteiligt ist, hält die Spannung nicht mehr aus und möchte nunmehr „Gewissheit haben“. P geht zum Haus des R, klingelt an dessen Tür und fragt diesen höflich, ob er sich in seinem Haus nach der vermeintlichen Beute umschauen dürfe. R, der völlig zu Unrecht verdächtigt wird, ist hierüber sehr erstaunt, entspricht dem Wunsch des P aber, „da er Nichts zu verbergen hat“ und „seine Ehre wiederherstellen will.“ Ist die anschließende Hausdurchsuchung des P grundrechtswidrig? ▪ Unter einem Grundrechtsverzicht ist nicht der Verzicht auf die aktive Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit im Einzelfall zu verstehen (dies betrifft die negative Dimension der Grundrechte). Auch darf der Grundrechtsverzicht nicht mit der vollständigen Preisgabe eines oder mehrerer Grundrechte gleichgesetzt werden. Dies wäre weder mit Art. 1 I, II GG noch mit dem Wesen der Grundrechte (objektive Wertentscheidungen) zu vereinbaren. Eine derartige Grundrechtsverwirkung kann im Übrigen nur vom BVerfG (auf Zeit) ausgesprochen werden (vgl. Art. 18 GG). ▪ Unter einem Grundrechtsverzicht ist dementsprechend der einzelfallbezogene Verzicht auf die abwehrrechtliche (oder sonst schützende) Dimension der 35 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Grundrechte im Verhältnis zum Staat (oder zum Privaten) zu verstehen. Andere sprechen insofern (synonym) von einer Einwilligung in einen Grundrechtseingriff/-übergriff. ▪ Der Grundrechtsverzicht/die Einwilligung unterbricht den Zurechnungszusammenhang zum Staat/Störer (und ist deshalb als Problem des Eingriffs/Übergriffs zu behandeln; a.A.: Frage der Rechtfertigung). ▪ Für den vorliegenden Fall bedeutet dies: Verzichtet der Bürger auf den grundrechtlichen Schutz aus Art. 13 I und II GG, so nimmt er der staatlichen Maßnahme (Durchsuchung) ihren Eingriffscharakter, da diese nun nicht mehr auf staatlichem Handeln, sondern auf privater Einwilligung beruht. ▪ Nota bene: Der wirksame Verzicht auf grundrechtlichen Schutz hängt allerdings von zwei Komponenten ab: ➢ Objektive Komponente: Die grundrechtliche Position muss zur Disposition des Grundrechtsträgers stehen (z.B. Art. 13 GG; str. für die Selbsttötung; zu verneinen für Art. 1 I und den Grundsatz der geheimen Wahl – Art. 38 I GG). ➢ Subjektive Komponente: Die Verzichtserklärung muss freiwillig erfolgen. Dies setzt zum einen Freiheit von äußerem Zwang, zum anderen Aufklärung über die Faktenlage voraus („informed consent“). Zur Vertiefung (Grundrechtsverzicht): Volkmann, Staatsrecht II Grundrechte, 3. Aufl. 2020, § 9 Rn. 63 ff. Zur Vertiefung des Abschnitts IV.: Voßkuhle/Kaiser, Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Grundrechtseingriff, JuS 2009, 313 ff. 36 Prof. Dr. R. Müller-Terp

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