Medienkompetenz f. soziale Medien PDF
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Ulrike Wagner
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This document explores social media competency from a theoretical and practical perspective. The author argues that media literacy is a crucial skill for navigating the digital world effectively. The text delves into the complexities of how people interact with media, especially social media.
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# Kompetenzen für soziale Medien ## Ulrike Wagner ## Inhalt 1. Einleitung 2. Das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt und sein Medienumgang 3. Charakteristika der Handlungsrepertoires mit sozialen Medien 4. Kompetenzen für eine souveräne Lebensführung auf und mit sozialen Medien 5. Herausforder...
# Kompetenzen für soziale Medien ## Ulrike Wagner ## Inhalt 1. Einleitung 2. Das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt und sein Medienumgang 3. Charakteristika der Handlungsrepertoires mit sozialen Medien 4. Kompetenzen für eine souveräne Lebensführung auf und mit sozialen Medien 5. Herausforderungen für die Subjekte und für die Felder des Kompetenzerwerbs 6. Fazit Literatur ## Zusammenfassung Der Beitrag skizziert vor dem Hintergrund handlungstheoretischer Grundlagen ein Modell der Kompetenzen für die Aneignung sozialer Medien, das sowohl auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Nutzenden Bezug nimmt als auch aktuelle Herausforderungen für eine adäquate Medienkompetenzförderung berücksichtigt. Zentraler Ausgangspunkt ist, dass Menschen nicht von vornherein die notwendigen Fähigkeiten für den Umgang mit Medien besitzen, sondern diese sukzessive im Umgang mit Medien entwickeln und durch Anregung von "außen", d. h. aus ihrem sozialen und erzieherischen Umfeld, Anstöße für die Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten erhalten. Herausgearbeitet wird, welche Fähigkeiten entwickelt werden müssen, um in einer vernetzten und digitalisierten Welt, in der soziale Medien zunehmend zu Dreh- und Angelpunkten des Kommunikationsverhaltens werden, ihr Leben souverän gestalten zu können. ## Schlüsselwörter Medienkompetenz Handlungsorientierung Gesellschaftliche Handlungsfähigkeit Kompetenzerwerb Medienaneignung ## 1 Einleitung Die Frage, welche Kompetenzen im Umgang mit Medien entwickelt werden sollen, setzt die Annahme voraus, dass es bestimmte Fähigkeiten gibt, die dazu geeignet sind, um "gut" mit Medien umgehen zu können. Im Beitrag wird vom Konzept der interaktionistisch orientierten Sozialisationstheorie aus argumentiert, dass diese Fähigkeiten sukzessive vom Kindes - bis zum Erwachsenenalter gebildet werden. Bei dieser Sichtweise werden die Menschen mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Mittelpunkt gestellt, die sich zeit ihres Lebens mit gesellschaftlichen Verhältnissen auseinandersetzen, sich dabei die Welt aneignen und ihre Orientierungen und Weltsichten entwickeln. Ausgehend von dieser Perspektive sind Menschen als aktiv Gestaltende ihrer Lebensführung und als aktiv Handelnde im Umgang mit Medien anzusehen. Da die Möglichkeiten zunehmen, sich mit und über Medien auszudrücken, zu kommunizieren und zu interagieren sowie die eigenen Artikulationen zu veröffentlichen, steigen auch die Anforderungen an die Fähigkeiten, mit diesen Medien umzugehen und Medienkompetenz zu entwickeln. Insbesondere bei Angeboten und Strukturen, die unter dem Begriff "soziale Medien" zusammengefasst werden, zeigt sich die zunehmende Durchdringung des Alltags mit digitalen Techniken besonders deutlich. Ein kompetenter Umgang mit diesen Kommunikations- und Interaktionsstrukturen erscheint also notwendig, um ein souveränes und selbstbestimmtes Leben führen zu können. Medienkompetenz kann als Zielkategorie pädagogischen Handelns beschrieben werden. Der Diskurs um Medienkompetenz hat seine Grundlage in einer handlungsorientierten Perspektive auf Medienpädagogik und in einer normativen Perspektive auf das Medienhandeln der Menschen (Schorb und Wagner 2013; Tulodziecki 2011). Die Möglichkeiten und Fähigkeiten, den Medien eine Rolle für die eigene Lebensführung zuzuweisen und sie souverän in Gebrauch zu nehmen, um sowohl Bewältigungs- und Entwicklungsaufgaben zu erfüllen als auch mit Herausforderungen umzugehen, sind nach wie vor ungleich verteilt: Alter, Bildung, Entwicklungsstand, die Erfahrungen im Umgang mit Medien sowie das sozio-kulturelle Umfeld sind wichtige Einflussgrößen, um einen kompetenten Umgang mit Medien zu entwickeln. Die Herausforderungen, Fähigkeiten für ein "gutes" Leben mit Medien herauszubilden, zeigen sich insbesondere mit Blick auf Heranwachsende, die heute über Familienmitglieder im Prinzip bereits von Geburt an mit Medien in Berührung kommen. Gleichzeitig entfalten sie erst im Prozess des Aufwachsens kognitive wie sozial-moralische Fähigkeiten und haben zentrale Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Die Ausformung von Medienkompetenz ist aber immer mehr eine Herausforderung über die verschiedenen Altersgruppen bzw. Generationen hinweg: Gerade weil der Einzug digitaler Techniken und sozialer Medien in den Alltag weiter voranschreitet, sind Nutzende jeden Alters gefordert, ihre Kompetenzen beständig weiterzuentwickeln. ## 2 Das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt und sein Medienumgang Aus einer handlungsorientierten Perspektive heraus geht es vor allem darum, Medien, ihre Inhalte und Kommunikations- und Interaktionsstrukturen so in die eigene Lebensführung zu integrieren, dass sie deren Erweiterung dienen und diese nicht engführen. In der Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt übernehmen Medien in all ihren Ausformungen wichtige Funktionen. Das Konzept der interaktionistischen Sozialisationstheorie sieht die Menschen zu jeder Phase ihres Lebens als ihre eigenen Lebensvollzüge interpretierend und gestaltend an. Im Mittelpunkt steht das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt, das grundsätzlich in der Lage ist, selbstständig die Welt zu erkennen, zu reflektieren, Handlungsalternativen abzuwägen, sich auf andere Subjekte und deren Interessen zu beziehen und sich mit ihnen zu verständigen (Geulen 2005, S. 153). Sozialisation ist in diesem Sinne als Prozess anzusehen, bei dem nicht nur das Ergebnis zählt, sondern in dem Schritt für Schritt Fähigkeiten erworben und Kompetenzen erweitert werden. Die Orientierung in der Welt und ihre Interpretation ist die eine Seite des Sozial-Werdens in der Gesellschaft. Die andere Seite betrifft die stärker subjektiven Aspekte von Sozialisation: Im Handeln eignen sich Menschen Stück für Stück die Welt an. Die Lebenswelten sind dabei zentrale Orte der Vermittlung zwischen Subjekt und Gesellschaft. In der Lebenswelt wird "die Welt" von klein auf erfahren. Es werden soziale Beziehungen gestaltet, soziale Räume sowie die gegenständliche und die immaterielle, symbolische Welt angeeignet. Die Diskussion um Medienkompetenz bleibt in zweckrationaler Argumentation verhaftet, wenn nicht ein Bezug zu normativen Grundlagen hergestellt wird. Eine zentrale Zielsetzung handlungsorientierter Medienpädagogik lautet, knapp zusammengefasst, die Subjekte für eine souveräne Lebensführung mit Medien kompetent zu machen. Der Begriff der "alltäglichen Lebensführung" stellt die Handlungspragmatik des Alltags in den Vordergrund und ist der Versuch, das Handeln der Subjekte in Verbindung zu ihren lebensweltlichen Bedingungen in seiner Gesamtheit zu betrachten (Lange 2003; vgl. dazu ausführlich Paus-Hasebrink und Bichler 2008, S. 27). Mit dem Begriff der souveränen Lebensführung wird der Versuch unternommen, die Verbindung zwischen den notwendigen medienbezogenen Fähigkeiten und den Kompetenzen zur Bewältigung des Alltags herzustellen. Er erscheint anschlussfähig an einen ganzheitlichen Bildungsbegriff, wie er z. B. von Klafki vertreten wird: (Allgemein-)Bildung ist demnach " ein selbsttätig erarbeiteter und personal verantworteter Zusammenhang von drei Grundfähigkeiten" (Klafki 1990; zitiert in Baumgart 2007, S. 270) und umfasst (Wagner 2013). - die Fähigkeit zur Selbstbestimmung: Der Einzelne¹ verfügt über seine individuellen Lebensbeziehungen und Sinndeutungen im zwischenmenschlichen, beruflichen, ethischen und religiösen Bereich. - die Fähigkeit zur Mitbestimmung: Jeder hat Anspruch, Möglichkeit und Verantwortung für die Gestaltung der gemeinsamen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. - die Fähigkeit zur Solidarität: Dieser Anspruch auf Selbstbestimmung und Mitbestimmung ist nur dann zu rechtfertigen, wenn er mit Anerkennung der Rechte anderer sowie dem Einsatz für diejenigen verbunden ist, deren Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten eingeschränkt oder ihnen vorenthalten werden, und wenn der Versuch unternommen wird, für die Rechte jener einzutreten, die nicht über diese Rechte verfügen. In dieser Konzeption haben die Subjekte Ambitionen; je nach Entwicklungsstand, Motiv- und Interessenlagen bringen sie sich mit ihren Bedürfnissen in ihre jeweiligen Sozialräume ein. Die Bildungskonzeption von Klafki (1990) ist anschlussfähig an das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt als ein emanzipiertes, aktives Subjekt, das sich selbstbestimmt an gesellschaftlichen Diskursen kommunikativ beteiligt. Ziel für das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt ist also die Teilhabe an seiner engeren und weiteren Sozialwelt. Mit der Bedeutung, die der Medienumgang sukzessive im Heranwachsen gewinnt, wird die Frage virulent, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten notwendig sind, um "gut" mit Medien umgehen zu können im Sinne des oben eingeführten Bildungsbegriffes. Anschlussfähig an die Klafki'sche Bestimmung von Bildung ist folgende Definition von Medienkompetenz als ein Bündel von Fähigkeiten, um auf der Basis, strukturierten zusammenschauenden Wissens und einer ethisch fundierten Bewertung der medialen Erscheinungsformen sich Medien anzueignen, mit ihnen kritisch, genussvoll und reflexiv umzugehen und sie nach eigenen inhaltlichen und ästhetischen Vorstellungen zu gestalten, in sozialer Verantwortung sowie in kreativem und kollektivem Handeln" (Schorb und Wagner 2013, S. 21). Dieses Begriffsverständnis weist erstens der Orientierung im Medienhandeln eine zentrale Bedeutung zu, verweist zweitens auf die Selbstbestimmung der Subjekte und impliziert drittens, dass im Medienhandeln Potenziale ausgeschöpft werden können, um an der gesellschaftlichen Kommunikation zu partizipieren und Gesellschaft mitzugestalten. ## 3 Charakteristika der Handlungsrepertoires mit sozialen Medien Medienkompetenz wird über die gesamte Lebensspanne im Zuge der Sozialisation fortentwickelt. Auf das Kindes- und Jugendalter ist ein besonderes Augenmerk zu legen, da Heranwachsende erst im Laufe ihres Aufwachsens kognitive und sozial-moralische Fähigkeiten entwickeln, die ihnen ermöglichen, Medien inklusive ihrer Inhalte und Strukturen wahrzunehmen, zu bewerten und einzuschätzen. In diesem Kapitel stehen daher die Heranwachsenden und ihre Wege, mit Medien - insbesondere den sozialen Medien umzugehen, im Mittelpunkt. Gleichwohl sind viele Aspekte auch im Erwachsenenalter weiterhin relevant. Die sogenannten sozialen Medien bringen zunächst vielerlei Potenziale zur Ausweitung der Handlungsrepertoires des gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts mit sich (siehe auch die einführenden Texte von Schmidt und Taddicken sowie Taddicken und Schmidt in diesem Band). Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass das Ausschöpfen dieser Potenziale unter den gegebenen strukturellen Gesellschaftsbedingungen kein leichtes Unterfangen darstellt. ### 3.1 Grenzen selbstbestimmten Handelns Die Attraktivität der sozialen Medien, insbesondere der sozialen Netzwerkdienste und Messenger, ist gerade für Heranwachsende damit zu erklären, dass das Streben nach Autonomie, also die Suche nach selbstbestimmten Freiräumen und nach dem Wunsch, sich zur Geltung zu bringen, und gleichzeitig das Streben nach sozialer Einbettung in der eigenen Peergroup wichtige handlungsleitende Themen ab dem beginnenden Jugendalter darstellen und dafür die sozialen Medien ideale Kommunikations- und Interaktionsstrukturen bieten (Abb. 1). Seine Grenzen findet dieses auf Selbstbestimmung gerichtete Handeln der Subjekte in vier Punkten: - Im Handeln der anderen, die durch ihre medialen Aktivitäten wiederum potenziell Einfluss nehmen können. - In den Interessenlagen Dritter, die z. B. durch Datenauswertung im Hintergrund Profile ihrer Nutzerschaft anlegen, deren Zweck für die Nutzenden nicht offengelegt wird (Erhöhung der Bindung an ihre Angebote, personalisierte Werbung etc.). - In der Rahmung durch bestimmte mediale Inszenierungsformen, z. B. wenn bestimmte Formen der Selbstpräsentation in Profilen zu einer Art Code für bestimmte Gruppen werden. - In rechtlichen Aspekten, z. B. dem Urheberrecht, das der freien Verwendung von Massenmedialen Inhalten deutliche Schranken setzt, was gerade für Jugendliche schwer nachzuvollziehen ist und sie diese als Einschränkung wahrnehmen. Deutlich wird dabei, dass das Handeln mit sozialen Medien in besonderer Weise mit den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen verknüpft ist und nicht nur aus der subjektorientierten Perspektive zu betrachten ist. Neben den beschriebenen Möglichkeiten für die Erweiterung des eigenen Handelns durch soziale Medien wird auch deutlich, dass dieses Handeln aktuell unüberbrückbare Ambivalenzen in sich birgt: Gerade dort, wo subjektiv Selbstwirksamkeit erfahren wird, muss gleichzeitig auch kritisch hinterfragt werden, welche Normierungen in medialen Räumen stattfinden (z. B. Kutscher 2014). Das Handeln auf sozialen Medien ist häufig mit der Onlineveröffentlichung von Inhalten oder auch von Ausschnitten der eigenen Person verbunden. Selbstpräsentative Medienhandlungen finden in einem weiter gefassten Sinne als Artikulation immer dann statt, wenn das Subjekt sich anderen gegenüber zu erkennen gibt mit Facetten seiner Identität und damit mit seinen Eigenschaften, Fähigkeiten und Interessen, aber auch mit seinen Meinungen, Einstellungen, Bewertungen und persönlichen Wertbezügen (Wagner und Brüggen 2013). In der medialen Interaktion mit anderen findet das eigene Handeln auch seine Grenzen im Gegenüber, das mit seinen Handlungsweisen die kommunikative Situation genauso mitbestimmt - dies kann im Sinne kooperativen Austauschs geschehen, aber auch in Richtung eines die Selbstbestimmung unterminierenden Handelns, z. B. das Hochladen von Bildern, ohne die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Personen zu wahren. Das Agieren mit und auf sozialen Medien findet außerdem für viele Nutzende häufig in kommerziellen Strukturen statt. Das bedeutet in erster Linie, mit der Preisgabe persönlicher Informationen die "Eintrittskarte" für kostenfreie Angebote zu erlangen, wie dies in der Regel bei den beliebten sozialen Netzwerkdiensten der Fall ist. Die Nutzung dieser kommerziellen Netzwerkdienste basiert auf einer ungleichen Geschäftsbeziehung zwischen den Einzelnen und den Anbietern, in der die Subjekte Facetten ihres Selbst in medialen Räumen präsentieren. Gerade diese Art der Artikulation kennzeichnet Social-Media-bezogene Handlungsformen, die eine potenzielle Verwertung dieser Daten für verschiedene Zwecke durch für die Einzelnen nicht mehr erkennbare Akteure zur Folge haben, wie verschiedene Analysen zu Big Data zeigen (Christl 2014). Nicht zuletzt wird durch Datenauspählskandale deutlich, wie wenig transparent für die Einzelnen ist, wer Zugriff auf welche Datenströme hat und wie diese vom Subjekt zu kontrollieren wären. Soziale Medien bieten also auf der einen Seite Potenziale und auch Anreize für die Subjekte, sich auf verschiedenste Art und Weise zu artikulieren und zu interagieren. Im Handeln mit und über soziale Medien, das gekennzeichnet ist durch eine Verzahnung von Rezipieren, Kommunizieren, Spielen und Produzieren sowie der Veröffentlichung eigener Werke, wird die Auseinandersetzung zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt auf komplexe Weise vollzogen, die die Spielräume für das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt erweitern können. Auf der anderen Seite stehen intransparente Strukturen, in denen für die Subjekte völlig unklar bleibt, welche Akteure oder programmierte Automatismen ihre Handlungsspielräume in (enge) Grenzen verweisen. Dieses grundlegende Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach selbstbestimmtem Handeln und den Begrenzungen durch andere Akteure oder bestimmte Rahmenbedingungen (Abb. 1) ist für eine Diskussion um eine souveräne Lebensführung in mediatisierten Lebenswelten und für die darauf bezogene Entwicklung von Medienkompetenz zentral. ## 3.2 Orientierung als zentrale Herausforderung Orientierungen verstanden als grundlegende und situationsübergreifende Maßstäbe für das eigene Handeln werden benötigt, um Sinn im Alltag herstellen und Bewältigungsanforderungen in der Lebensführung nachkommen zu können (Paus-Hasebrink 2005). Die Verschränkung von medienvermittelter Kommunikation, der Rezeption medialer Inhalte und der produktiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst verweist darauf, dass Orientierung nicht allein an das Verhältnis des Subjekts zu Inhalten gebunden ist, sondern im sozialen Raum vollzogen und zunehmend mit medialen Quellen und kommunikativen Strukturen verbunden wird. Nicht zuletzt sind Orientierungen nicht losgelöst vom sozio-kulturellen Milieu und der Lebenswelt zu denken. Gerade der eher ästhetisch-erlebnisorientierte Umgang von Jugendlichen mit Medien ist geprägt von Wahrnehmungskonventionen des sozialen Umfelds und sozio-kulturellen Codierungen. Orientierungen entstehen also in einem komplexen Wechselspiel der Interaktion mit dem sozio-kulturellen Umfeld, der Aneignung von relevanten Sozialräumen und der Aneignung von (medienvermittelten) Inhalten (Wagner 2013). Orientierung in Bezug auf soziale Medien ist auf zwei Ebenen zu differenzieren: - Erstens ist es für die Entwicklung der personalen Identität notwendig, Bewertungsmassstäbe für das eigene Handeln zu gewinnen, z. B. an welchen Werthaltungen und Normen das Handeln mit und im Social Web ausgerichtet werden soll. - Zweitens ist Orientierung zentral für die Entwicklung der sozialen Identität, z. B. mit welchen Akteuren aus dem mediatisierten sozialen Umfeld der Kontakt gepflegt wird, welche Regeln es dabei zu beachten gilt und welche Werthaltungen und Normen hinter bestimmten Artikulationen und Verhaltensweisen der anderen liegen. Gerade auf der Ebene der sozialen Identität ist auch zu reflektieren, wie das Subjekt gesellschaftliche Partizipation realisiert, welche Ressourcen im sozialen Umfeld und in den medienbezogenen subjektiven Fähigkeiten, aber auch in den gegebenen medialen Strukturen dafür zur Verfügung stehen. Gerade ab dem beginnenden Jugendalter sind die Peers, primär verstanden als Gleichgesinnte, häufig mehr oder weniger Gleichaltrige (Harring et al. 2010), wichtige Koordinaten in den Sozialräumen der Heranwachsenden. Die Interaktions- und Kommunikationsangebote der sozialen Medien erweitern die sozialen Netze der Heranwachsenden und konstituieren ihre Sozialräume mit, z. B. indem darüber Beziehungen gepflegt werden (siehe auch die Beiträge von Krämer et al. sowie von Kneidinger in diesem Band). Peers waren und sind wichtige Quellen für die Informationsaneignung, was mit der Durchdringung des Alltags mit digitalen Techniken noch an Bedeutung gewinnt. Wenn übergreifende Orientierungspunkte der klassischen Massenmedien weniger greifen, werden gerade jene personalen Quellen, denen man vertraut, zu einem wichtigen Faktor in der Aneignung von medialen Inhalten und beim Erschließen neuer medialer Strukturen. Zu wissen, von welchen Akteuren im sozialen Netzwerk Inhalte stammen, wie diese einzuschätzen und zu bewerten sind, wird somit zur übergreifenden Orientierungsaufgabe, die für Heranwachsende wie Erwachsene gleichermaßen von Bedeutung ist. ## 4 Kompetenzen für eine souveräne Lebensführung auf und mit sozialen Medien Medienkompetenz meint nicht die Beherrschung von Funktionen, die die Medien bieten, sondern die Tauglichkeit der Medien für die Lebensgestaltung im individuellen und im sozialen Raum bestimmen zu können. Diese Reflexion wiederum basiert unter anderem auf der Fähigkeit, das eigene Leben an Normen und Werten auszurichten. Mediale Inhalte bieten einerseits Orientierungen für die Lebensbewältigung an und vermitteln andererseits in vielen Bereichen exklusiv Wissen. Daher ist es notwendig, die Kompetenz zu entwickeln, Medien zu bewerten und bewusst anzunehmen oder auch abzulehnen. Im folgenden Abschnitt werden die Dimensionen von Medienkompetenz differenziert und auf soziale Medien bezogen. Nur ein Teil der Fähigkeiten zur Entwicklung von Medienkompetenz kann über das alltägliche Handeln erworben werden. Die Kontexte des Kompetenzerwerbs, die insgesamt in der Sozialisation eine Rolle spielen, müssen daher auch in Bezug auf die Diskussion von Medienkompetenz berücksichtigt werden. ### 4.1 Dimensionen von Medienkompetenz Medienkompetenz umfasst keinen messbaren Katalog von Wissen und Verhalten, sondern bezeichnet ein Bündel an "Kenntnissen, Fähigkeiten und Bereitschaften bzw. Wissen, Können und Einstellungen (einschließlich von Wertorientierungen), die als Dispositionen für selbständiges Urteilen und Handeln in Medienzusammenhängen gelten" (Tulodziecki 2011, S. 23). In diesem Verständnis ist Medienkompetenz ein Konstrukt, das pädagogische Ziele in den drei Dimensionen Wissen, Bewerten und Handeln umfasst. Diese Dimensionen bilden gleichsam die Rahmung von Medienkompetenz (Schorb 2005; Theunert 2009). Mit ihnen soll verdeutlicht werden, dass - Medien kognitiv angeeignet werden, als Wissen um Medien und als Wissen, welches die Medien darbieten, - es gegenüber der Vielfalt des medialen Angebotes die Notwendigkeit einer besonnenen Wahl gibt, die auf der Grundlage einer Bewertung der Medien im subjektiven wie im kollektiven Kontext beruht und - Medien von den Menschen im Handeln angeeignet werden und zugleich Mittel und Mittler kommunikativen Handelns sind. Diese drei Dimensionen gelten für eine Auseinandersetzung mit Medien insgesamt und werden im Folgenden für soziale Medien weiter ausdifferenziert.² Wissen umfasst Funktions- und Strukturwissen. Unter Funktionswissen sind in erster Linie die instrumentell-qualifikatorischen Fertigkeiten und Kenntnisse zu fassen, die dem Umgang mit Medien, z. B. als Hard- und Software, vorausgesetzt sind. Das meint beispielsweise jenes Wissen, das die Einzelnen benötigen, um User-Profile in den sozialen Medien zu erstellen und entsprechende Privatsphäre-Einstellungen in den jeweiligen Angeboten zu bedienen. Diese grundlegenden Fertigkeiten bestimmen jedoch nur die Möglichkeit, nicht aber die Qualität der Medienaneignung. Im weiteren Sinne, bezogen auf die Präsentationen der Medien, ist unter Funktionswissen auch ästhetisches Wissen zu fassen, das erlaubt, die gestalterischen Möglichkeiten der Medien zu entschlüsseln und zu nutzen. Dem Strukturwissen kommt eine herausragende Bedeutung im Kontext heutiger hochkomplexer Mediensysteme zu. In Bezug auf soziale Medien geht es z. B. um die technischen Netzwerkstrukturen, in die Medieninhalte wiederum eingebunden sind oder z. B. gemeinschaftlich erstellt werden. Das Wissen über die Eigenschaften dieser Strukturen, ihre Beschaffenheit, ihre Akteure und auch über die Eigentümer dieser Netze sowie deren politisch-ökonomischen Interessen sind zentrale Bestandteile des Strukturwissens. Bewerten umfasst im Kontext von Medienkompetenz die Fähigkeiten, die hinter den medialen Phänomenen liegenden Interessen zu erkennen sowie mediale Angebote, Strukturen und Techniken kritisch zu reflektieren (vgl. zur Medienkritik ausführlich Niesyto 2009). Die kognitive Analyse wird der Bewertung der Medien zugrunde gelegt. So ist es z. B. mit Blick auf die sozialen Medien notwendig, aufzudecken, wie die auf einer Netzwerkplattform angezeigten Inhalte auch durch Personalisierungsalgorithmen gefiltert werden und so in lokale und globale Netzwerkstrukturen und Interessen eingebunden sind. Die ethisch-kritische Reflexion von inhaltlichen Angeboten und medientechnischen Strukturen bildet eine weitere wichtige Grundlage einer umfassenden Medienaneignung. Diese Reflexion beinhaltet als normative Zielstellung für die Subjekte, aus der Konsum-Rolle in die Rolle von gestalterisch Tätigen zu wechseln. Sowohl Techniken als auch Inhalte sind in den sozialen Medien nicht deterministisch festgelegt, sondern variabel gestaltbar. Je nachdem, ob ökonomische, ökologische, private oder soziale Interessen dominieren, erweist sich auch ihre Gestaltung als unterschiedlich. Die Fähigkeiten zur ethischen Bewertung, eingebunden in ein soziales Wertgefüge, ermöglichen es den Subjekten, sich an gesellschaftlich relevanten Diskursen zu beteiligen. Einfluss kann nur nehmen, wer die Strukturen, in die sein Leben eingebettet ist, erkennt und die daraus resultierenden individuellen und sozialen Folgen für sich und seine Lebenswelt ableiten kann. Im Handeln realisieren sich Wissen und Bewertung als selbstbestimmtes und zielgerichtetes mediales Tun der Menschen. Sie verarbeiten reflektiert mediale Inhalte und Präsentationen, kommunizieren medienvermittelt, gestalten und veröffentlichen selbstbestimmt eigene Inhalte und Werke, und können zudem an medial vermittelten Diskursen partizipieren. Auf die inhaltliche und ästhetische Gestaltung ist an dieser Stelle besonderes Augenmerk zu legen: Sie braucht geistigen Freiraum, um Fantasie und Kreativität zu entwickeln. Das Schöpferische des Gestaltungsprozesses liegt darin, die eigenen Fähigkeiten zu entdecken, mit anderen zu kooperieren, Fähigkeiten der anderen anzuerkennen und technische und auch inhaltliche Möglichkeiten der (sozialen) Medien bewusst auszuwählen und zu nutzen sowie Anerkennung zu erleben. ### 4.2 Kontexte des Kompetenzerwerbs Es erscheinen mehrere Kontexte der Sozialisation für den Erwerb von medienbezogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten relevant, in denen das Subjekt vor dem Hintergrund individueller Fähigkeiten und seinem Entwicklungsstand entsprechend agiert. Diese Fähigkeiten werden zum einen informell im alltäglichen Medienhandeln angeeignet, zum anderen braucht gerade der Erwerb von Reflexionsfähigkeiten die Anregung durch Bezugspersonen, die Orientierung bieten und mit denen im Interaktionsprozess die Welt mit ihren mediatisierten Strukturen erfahrbar gemacht wird. Familiären Bezugspersonen sowie Fachkräften kommt hier eine besondere Rolle zu. ### 4.2.1 Familie als erster Zugangsort zu Medien Zu nennen ist zunächst die Familie als wichtiger Sozialisationsraum für das alltägliche Medienhandeln. Die Familie ist in der Regel der erste Ort, an dem sich Kinder Medien aneignen. Die Familienmitglieder - Eltern und Geschwister – setzen implizit oder explizit Impulse, um Kinder an Medien heranzuführen. Die Familie bietet somit den ersten Bezugsrahmen zur Haltung gegenüber Medien. Dort können beispielsweise digitale Medien als für die Bildung förderlich wahrgenommen, Unterhaltungsmedien hingegen als pure Zeitvergeudung angesehen werden etc. Familiäre Bezugspersonen übernehmen zudem mit ihrem eigenen Medienumgang eine wichtige Vorbildrolle gerade für jüngere Kinder. Sie setzen den Rahmen dafür, welche Medien wie bewertet werden, welches Wissen über Medien vermittelt wird und welchen Stellenwert Medien insgesamt im familiären Alltag spielen. Gerade für den Gebrauch sozialer Medien spielen die älteren Geschwister eine wichtige Rolle: Zumeist sind sie mit dem Internet schon erfahrener, und die Eltern betrauen die älteren Geschwister durchaus mit medienerzieherischen Aufgaben, gerade wenn es um den Umgang mit Computern und um den Umgang mit dem Internet geht (Wagner et al. 2013). ### 4.2.2 Peers als Orientierungspunkte in sozialen Medien Die Peers, verstanden als Gleichgesinnte, gewinnen in den sozialen Medien nochmal an Bedeutung sowohl für Heranwachsende als auch für Erwachsene. Bereits ab dem Kindergarten spielen andere Kinder eine Rolle für die Medienaneignung, z. B. was die Ausbildung medialer Vorlieben betrifft. Spätestens am Ende der Kindheit wird die Peergroup ein wichtiger Bezugsraum für die Medienaneignung von Heranwachsenden. Dies steht im engen Zusammenhang mit der zunehmenden Selbstständigkeit der Kinder und ihren altersgemäßen Entwicklungsaufgabe, die sich in einem zunehmenden Autonomiestreben und einer Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen äußert. Die Peergroup schafft Orientierung für das, was kinder- und jugendkulturell "in" oder "out" ist. Dies äußert sich z. B. in bestimmten Kleidungsstilen, in Musikvorlieben oder in weiteren medienkulturellen Interessenlagen (Serien und Filme, Computerspiele etc.). Die orientierenden Funktionen des Elternhauses verlagern sich also ein Stück in Richtung der Peergroup, die vor allem durch ähnliche Interessenlagen strukturiert wird (vgl. Abschn. 3.2). Gerade soziale Medien stützen die Verbindung zu den Peers. Sie werden vor allem deswegen auch gerne genutzt, weil darüber soziale Einbettung hergestellt wird und die Verbindung zum Freundeskreis letztendlich nie abreißt, solange man online ist. Die Peers werden aber auch im Erwachsenenalter zu einem immer wichtigeren Kontext des Kompetenzerwerbs. Die Erfahrung sozialer Einbettung, die Generierung von Wissen und die Orientierung im erweiterten sozialen Umfeld on- wie offline bilden dabei die zentralen Motivlagen, sei es zum Austausch mittels Erklärvideos zu den verschiedenen Themen oder zum Gewinnen wie zur Weitergabe eigener und fremder Expertisen. ### 4.3 Skepsis und Distanz vieler Bildungseinrichtungen gegenüber sozialen Medien Den Bildungsinstitutionen, die die Heranwachsenden zu durchlaufen haben, kommt ebenfalls eine wichtige Rolle für den Kompetenzerwerb zu. Der Einsatz digitaler Medien in Betreuungseinrichtungen für Kinder im Kleinkind- bis Vorschulalter wird allerdings kontrovers diskutiert. Übergreifend ist festzuhalten, dass bei Erziehern eher Skepsis gegenüber der Befassung mit Medien in ihren Einrichtungen und als Bestandteil ihrer beruflichen Praxis herrscht (z. B. Neuß 2013). Auch für das deutsche Schulsystem kann nach wie vor festgehalten werden, dass Medienhandeln in der Freizeit und in der Schule meist nur wenig miteinander zu tun haben (z. B. Kammerl und Mayrberger 2011). Mediale Vorlieben von Kindern und Jugendlichen werden von Lehrkräften häufig ignoriert. Es stehen jene Medien im Vordergrund, die die Lehrplanziele im engeren Sinn erfüllen helfen (z. B. klassische Office-Anwendungen oder Recherchen im Internet). Der Umgang mit sozialen Medien, vor allem in Bezug auf potenzielle Fähigkeiten zur mediatisierten Kommunikation, ist im Schulkontext meist überhaupt nicht gewünscht oder sogar mit Nutzungsverboten belegt. Den Fähigkeiten, die die Heranwachsenden in derartigen informellen Kontexten erworben haben, wird zumeist keine Beachtung geschenkt (Kammerl und Mayrberger 2011). Für die Ausbildung können kaum generalisierende Aussagen getroffen werden, da die Ausbildungsberufe zu vielfältig sind, um dies übergreifend zu beantworten. ## 5 Herausforderungen für die Subjekte und für die Felder des Kompetenzerwerbs Für die Subjekte wird das Sich-Orientieren zu einer der zentralen Anforderungen in Bezug auf Medien insgesamt und insbesondere in Bezug auf soziale Medien (siehe Abschn. 3.2). Alltägliches Handeln ist immer enger mit mediatisierten Kommunikations- und Interaktionsformen sowie mit der ständigen Präsenz von Teilöffentlichkeiten verbunden. Damit erstreckt sich Orientierung für die Subjekte nicht mehr nur auf die Bewertung medialer Inhalte in Bezug auf die Passfähigkeit für die eigene Lebensführung und für das Durchblicken der medialen Strukturen, was seit jeher Bestandteil des Konzepts von Medienkompetenz bildet. Orientierung in mediatisierten gesellschaftlichen Strukturen wird sowohl in Bezug auf die eigene Person als auch auf die Verortung im sozialen Raum zur zentralen Anforderung. Zudem wird unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen der "Kontrollverlust" (Seemann 2014), d. h. die Unterminierung selbstbestimmten Handelns in OnlinemedienUmgebungen, zur Alltagserfahrung für die Subjekte (siehe Kap. 2.1). Damit stellen sich neue Fragen nach dem, was das Subjekt an Fähigkeiten für eine souveräne Lebensführung aktuell benötigt und wie das skizzierte Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach selbstbestimmtem Handeln auf der einen Seite und den Reglementierungen, die durch Akteure mit kommerziellen und machtpolitischen Interessen Realität sind, auf der anderen Seite, bewältigt werden kann. Herausforderungen stellen sich dabei für die Subjekte selbst und auch für die Felder, in denen Kompetenzen für eine souveräne Lebensführung erworben werden. ### 5.1 Das handlungsfähige Subjekt unter Druck Die Herausforderungen, vor denen Subjekte in Bezug auf den Kompetenzerwerb stehen, lassen sich zu vier Hauptaspekten bündeln: Subjekte sollten Strukturwissen erwerben, Integrität für die eigene Person herstellen, den Druck zur medialen Selbstpräsentation austarieren sowie die partizipativen Optionen mediatisierter gesellschaftlicher Strukturen ausschöpfen. ### 5.1.1 Strukturen durchblicken Die Grundlage, um mit den beschriebenen Ambivalenzen zwischen der Erfahrung von Selbstwirksamkeit und sozialer Einbettung und der potenziellen Unterminierung selbstbestimmten Handelns durch Dritte umzugehen, liegt im Durchblicken von Strukturen, was weiterhin und für soziale Medien im Besonderen hervorzuheben ist. Um Orientierung zu erlangen, ist Strukturwissen in folgenden Bereichen zentral: - Wissen über die Optionen, die Medien, ihre Inhalte und Strukturen bieten, sowohl zur Kommunikation, Interaktion und zur Vernetzung mit anderen (z. B. Funktionsweisen der sozialen Netzwerkdienste) als auch zum Wissenserwerb und zur Unterhaltung (z. B. kann YouTube als Informationsmedium und Unterhaltungsmedium gleichermaßen dienen) - Wissen über Anbieter, die Akteure und deren kommerzielle wie machtpolitische Interessenlagen (z. B. Verbindungen in den Eigentumsverhältnissen etablierter sozialer Medien, z. B. zwischen Facebook und WhatsApp) - Wissen über Geräte und Anwendungen sowie deren Funktionsweisen (z. B. Algorithmen und das Einspeisen automatisierter Inhalte) - Wissen über Alternativen, z. B. dezentrale Technologien und Verschlüsselungssoftware Dieses Wissen bezieht sich nicht mehr nur auf isolierte Anwendungen, sondern mehr und mehr darauf, wie mediale Kommunikations- und Interaktionsräume durch bestimmte Bedingungen gerahmt werden. So gelten beispielsweise auf Computerspielplattformen unter Umständen andere Verhaltensregeln oder "Codes of Conduct" als auf Netzwerkplattformen, z. B. was die Selbstpräsentation angeht. Die genannten Bereiche sind weniger als Katalog, sondern vielmehr als Dimensionen zu verstehen, die für Strukturwissen relevant erscheinen. Immer klarer tritt zutage, dass die Einzelnen die Komplexität medialer Strukturen kaum durchblicken können. Umso wichtiger werden die kooperative Zusammenarbeit und der Austausch über dieses Wissen, das nur mehr gemeinschaftlich erarbeitet werden kann. Derartiges Strukturwissen bildet die Basis für eine kritische Reflexion und Bewertung vorgegebener Strukturen, die im Sinne der Medienaneignung als umfassenden Prozess auch die kritische Bewertung der genutzten Medien, Inhalte und Strukturen einschließt. ### 5.1.2 Integrität für die eigene Person herstellen Medienhandeln, das die Artikulation und die Onlineveröffentlichung eigener Werke über soziale Medien mehr und mehr einschließt, erfordert, die Konsequenzen des eigenen Handelns in Bezug auf eine (teil-)öffentliche Darstellung der eigenen Person und der eigenen Artikulationen sowie möglicher Auswertungen der preisgegebenen Daten durch Dritte abzuschätzen (Schorb und Wagner 2013). Als Teilnehmende in Online-Öffentlichkeiten geht es für die Subjekte darum, diese Öffentlichkeiten zu differenzieren und einzuschätzen; sie sind gefordert, Ambivalenzen auszuloten, die im alltäglichen Medienhandeln entstehen können: So trägt z. B. der Wunsch nach Feedback zur eigenen Person und den eigenen Werken, die online veröffentlicht werden, auch das Risiko in sich, von anderen abgewertet oder diffamiert zu werden, wenn die eigenen Artikulationen Menschen gezeigt werden, die böswillige Absichten verfolgen. Hier gilt es, Wege zu finden, den Aufforderungscharakter medialer Strukturen sowie soziale Zwänge, die durch das Handeln z. B. der Peergroup entstehen, zu durchschauen und das eigene Verhalten und das Handeln der anderen in Bezug auf die Konsequenzen für die Integrität der eigenen Person abzuschätzen. Integrität für die eigene Person herzustellen, erlangt heute zunehmend Bedeutung im Rahmen des Medienhandelns im Social Web und wird zu einer zentralen Herausforderung. Dazu gehört das Abschätzen von Konsequenzen des eigenen Medienhandelns und die Bewertung des Handelns der Interaktionspartner online. Das Ich im Sozialen bildet zugleich das Ich in technischen Strukturen in mediatisierten Räumen, in denen eine Kontrolle über die Gesamtsituation nicht zu realisieren ist. So ist die Kommunikation mit anderen über Netzwerkdienste oder Messenger wie WhatsApp immer auch damit verbunden, sich in technischen Strukturen zu bewegen, die wiederum dem Anspruch auf selbstbestimmtes Handeln (siehe Abschn. 3.1) Grenzen setzen. Die Aufgabe, eine kohärente Identität (Keupp 2005) auszubilden, wird damit noch komplexer als bisher. ### 5.1.3 Mit dem Aufforderungscharakter medialer Selbstpräsentation umgehen Die Verschiebungen im Gefüge von Öffentlichkeit und Privatheit haben Konsequenzen für den Prozess der Sozialisation. Wenn Privates online öffentlich gemacht wird, ist es gleichzeitig auch dokumentiert. Der lapidare Satz, "Das Netz vergisst nichts" hat gerade für die Identitätsarbeit der Subjekte u. U. erhebliche Konsequenzen, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzuschätzen sind. Es ist die Frage zu stellen, wie und in welcher Form das Ausloten bzw. Überschreiten von Grenzen heutzutage möglich ist, ohne dass die Nutzer der sozialen Medien nachhaltige Konsequenzen zu befürchten haben. Dies beinhaltet auch den Umgang mit medialen Ereignissen, in denen dazu aufgefordert wird, sich in Extremsituationen zu begeben oder sich durch das eigene Verhalten selbst Schaden zuzufügen und dies medial zu dokumentieren. Die mediale Selbstdarstellung wird bereits von Kindheit an zur Selbstverständlichkeit. Sich selbst und den eigenen Interessen, Gefühlslagen und Beziehungen Ausdruck zu verleihen, ist für viele Bestandteil ihres Alltags. Dies verändert - so die These - auf lange Sicht gesehen den Prozess des Aufwachsens sowie des Zusammenlebens insgesamt. Gleichzeitig entwickeln sich aber auch Werthaltungen in der Gesellschaft weiter. Am Beispiel medialer Selbstpräsentation werden Ambivalenzen der alltäglichen mediatisierten Lebensführung besonders deutlich. So bietet der Selbstausdruck mit und über Medien auf der einen Seite Potenziale für Ermächtigungserfahrungen, z. B. eine eigene Expertise zu einem bestimmten Thema zu haben (wie in den bereits erwähnten Erklärvideos auf YouTube deutlich wird). Auf der anderen Seite sind aktuell vor allem die Trends des quantified self und des self tracking, die der Optimierung des Selbst und der eigenen Leistung dienen, einer kritischen Betrachtung zu unterziehen (Reißmann 2014). Kutscher (2014) diskutiert dies unter Bezug auf Foucault als Subjektivierung: Auf den ersten Blick selbstbestimmte Handlungen können sich bei einer detaillierteren Analyse als Handlungsweisen herausstellen, die die Autonomie unterminieren (S. 73). Je stärker sich Medienhandeln über soziale Medien auf mobilen Endgeräten individualisiert erweist, desto schwieriger wird die Einschätzung von außen, ob dieses Handeln einer souveränen Lebensführung zuträglich ist oder nicht. Das Beispiel des Sexting³ veranschaulicht, wie durch diese medialen Handlungsweisen einerseits Körperlichkeit selbstbewusst erfahren werden kann und sie andererseits auch missbraucht werden können, um andere abzuwerten und zu erniedrigen (Döring 2014, S. 56-58). Das Abschätzen der Konsequenzen des eigenen Handelns sowie eine Reflexion des Umgangs miteinander und der zugrunde liegenden Werte und Normen gewinnen vor diesem Hintergrund enorm an Bedeutung