Einführung in die Soziologie PDF
Document Details
Uploaded by ExaltedNeptunium
UNIBE
Christian Joppke
Tags
Summary
These lecture notes provide an introduction to sociology, covering topics such as the definition of sociology, its history, key concepts, and related disciplines. The material includes an overview of key figures and theories in sociology, and discussions on the subject's development and methodologies. This is a great resource for undergraduate sociology students.
Full Transcript
V: Einführung in die Soziologie Vorlesung 1: Was ist Soziologie? Begriffliche und historische Einführung Prof. Dr. Christian Joppke Lektüre: Kapitel 1 aus Joas/Mau (2020) (`Die soziologische Perspektive`) Überblick V1: V2: V3: V4: V5: V6: V7: V8: V9: V10: V11: V12: Was ist Soziologie? Begrifflich...
V: Einführung in die Soziologie Vorlesung 1: Was ist Soziologie? Begriffliche und historische Einführung Prof. Dr. Christian Joppke Lektüre: Kapitel 1 aus Joas/Mau (2020) (`Die soziologische Perspektive`) Überblick V1: V2: V3: V4: V5: V6: V7: V8: V9: V10: V11: V12: Was ist Soziologie? Begriffliche u. historische Einführung Elemente der Sozialstruktur: Institutionen u. Organisationen Wirtschaft, Markt, und Arbeit Soziale Ungleichheit: Klasse und Stratifikation Kollektives Handeln und soziale Bewegungen Kultur Politik, Herrschaft, Staat: Themen der politischen Soziologie Ethnizität, Nation, Rasse Migration und Integration Populismus Wie verändert COVID-19 unsere Gesellschaft? Globalisierung 2 Organisatorisches • Übungen: nur für Hauptfachstudenten (Sozialwissenschaften) • Übungsleiterinnen: Justyna King und Elisa Moor – Bei Fragen: bitte erst an obige richten! – [email protected] – [email protected] • Klausur: Multiple choice (auf Grundlage Folien) • Materialien: Folien (kurz und lang) plus Podcast; Textbuchlektüre stark empfohlen! 3 Textbuch • Joas/Mau (Hg.), Lehrbuch der Soziologie (4. Auflage, 2020) • Original: C.Calhoun, D.Light, S.Keller. Sociology (6. u. 7. Auflage, 1994 u. 1997) • Dt. Ausgabe: `Kollektivwerk` mit `hervorragenden Vertretern ihres Faches` (Joas, 3.Auflage, p.7). • Struktur: --US-Vorlage `eindeutschen` oder aber ignorieren; --5 `Schlüsselbegriffe` als Raster (Sozialstruktur; soziales Handeln; Kultur; Macht; funktionale Integration). • Anspruch: `gesicherte(r) Erkenntnisstand eines Faches` (Joas/Mau, p.6). • Vorlesung: Übernahme, ggfs. Kritik/Korrektur der Textbuchkapitel 4 Überblick: Vorlesung 1 • (1) Die `soziologische Perspektive` (Joas) • (2) Drei Definitionen der Soziologie: Simmel, Weber, Durkheim • (3) Nachbardisziplinen • (4) 5 `Schlüsselbegriffe` der Soziologie (Joas) • (5) Entstehung der Soziologie: Europa 1750-1850 • (6) Klassiker der Soziologie: Marx, Weber, Durkheim • (7) Neuere Entwicklungen: Niedergang von Gesellschaftstheorie; Aufstieg der Spezialsoziologien 5 (1) Die `soziologische Perspektive` (Joas) • `auf die sozialen Kräfte blicken, die menschliches Verhalten prägen` (Joas, p.27). • Dazu braucht es `soziologische Phantasie` (C.W.Mills): --`unsere Erfahrungen im Kontext der Ereignisse in unserer sozialen Umwelt wahrnehmen` (Joas 29); --`Muster wahrnehmen, die sich unserer… individuellen Erfahrung allein nicht erschliessen` (ibid.). • Mills, The Sociological Imagination (1959): --Doppelattacke auf `grand theory` (T.Parsons) u. `abstracted empiricism` (R.Merton) in US Soziologie --`grasp history and biography and the relations between the two within society` (Mills 1959: 6). • ABER: es gibt nur `soziologische Perspektiven` (im Plural) 6 (2) Drei Definitionen von Soziologie: Simmel, Weber, Durkheim • G.Simmel (Soziologie, 1908): `Formen der Wechselwirkung oder Vergesellschaftung, in gedanklicher Ablösung von den Inhalten` (p.20). --formale Soziologie: kleine u. grosse Gruppen, Hierarchie, Konkurrenz, Streit, Nachahmung (Mode), Raum,`Erweiterung der Gruppe u. die Ausbildung der Individualität` etc. --Analogie zur Geometrie (Form v. Materie, nicht deren Inhalte) --Gesellschaft `in statu nascendi` (`Verhältnisse`, nicht `Träger` oder `Inhalte` sind der Gegenstand der Soziologie) --Einfluss auf moderne Netzwerkanalyse 7 (2) Drei Definitionen von Soziologie: Simmel, Weber, Durkheim • M.Weber (Wirtschaft u. Gesellschaft, 1921): `…eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen u. dadurch in seinem Ablauf u. seinen Wirkungen ursächlich erklären will` (p.1). --Handeln: Verhalten plus subjektiver Sinn --soziales Handeln: `(seinem) gemeintem Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen` --Handlungstheorie; methodologischer Individualismus; verstehende Soziologie 8 (2) Drei Definitionen von Soziologie: Simmel, Weber, Durkheim • E.Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (1895): Soziologie als Wissenschaft der `soziale Fakten` (Maxime: `soziale Fakten als Dinge behandeln`). --soziale Fakten: extern, zwanghaft (bei Nichtbeachtung: u.a. Strafe, moralische Ablehnung, Missverstehen), unsichtbar (Formen der `Solidarität` via Rechtsformen messbar) --Soziologie als objektive Strukturtheorie (von subjektiven Vorurteilen und Ideologien freimachen); methodologischer Holismus; --Einfluss auf die moderne Systemtheorie (Parsons, Luhmann); --Ähnlichkeit zur `soziologischen Perspektive` (Joas) 9 (3) Nachbardisziplinen: Was Soziologie NICHT ist • Andere Sozialwissenschaften: --Volkswirtschaft (economics): Studium von Märkten und marktförmigen Beziehungen; --politische Wissenschaft: Studium von Staat und Politik; --Ethnologie/Anthropologie: ursprünglich das Studium nicht-entwickelter Gesellschaften (jetzt aber auch westlicher) --UND ANDERE! • Spezifisch für die Soziologie: sie ist unspezifisch --nicht auf `eine Dimension des sozialen Lebens` festgelegt (Joas, 28); --z.B.: Wirtschaftssoziologie, politische Soziologie, historischvergleichende Soziologie etc. 10 (4) Fünf `Schlüsselbegriffe`(Joas) 1. Sozialstruktur • • • • `Grundgerüst der sozialen Organisation einer Population`(Joas 30) `Muster von Beziehungen, Positionen, u. Mengen von Individuen` (ibid.): --Beziehungen: Institutionen (von mikro-zu makro, von `Ehe` zu `Bildungssystem`); --Positionen: Status und Rolle (`Mutter`,`Präsident`, `Pfarrer`); --Mengen: `Individuenmengen in verschiedenen Kategorien`(Joas 30): z.B. Bevölkerungsgrösse, Raten (x>65), Gruppengrössen (`Minderheiten`) Sozialstruktur vs. Personal (austauschbar) (Beispiel: Schumpeter`s `Klasse`) `Struktur bestimmt die Möglichkeiten, die den Individuen offen stehen, aber diese beinflussen auch die Struktur` (Joas 30) --`structuration` (A.Giddens): `(social structures) are reconstructed at every moment by the very `building blocks`that compose it—human beings like you and me` (Sociology, 6th ed., 2009: 9). 11 (4) Schlüsselbegriffe 2. soziales Handeln • M.Weber (Wirtschaft u. Gesellschaft 1921): ein subjektiv sinnhaftes Verhalten (Handeln), `welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird u. daran in seinem Ablauf orientiert ist` (p.1). --können auch Gruppen `handeln`? Joas: `ja`; Weber: `nein`; --`konstitutiver` aber nicht `exklusiver Tatbestand` der Soziologie; --nicht alles Handeln ist `soziales` Handeln; --nicht jede Art von `Berührung` ist `soziales Handeln; --Grenzfälle: `gleichmässiges Handeln mehrerer`; `massenbedingtes Handeln` (bloss reaktiv); `Nachahmung` (einer Fertigkeit; aber: Mode); --`Die Übergänge sind flüssig`: `Beeinflussung` vs. `sinnhafte Orientierung` (soziales Handeln ist `bewusstes` Handeln) 12 (4) Schlüsselbegriffe 3. Kultur • • • • • • `den Lebensstil von Menschen prägende Muster von Weisen des Denkens, Verstehens, Bewertens, u. Kommunizierens`(Joas 32). Das funktionale Äquivalent von Instinkt (A.Gehlen) Beispiele: Sprache, Moral, Technik, Fertigkeiten (allesamt nicht natürlich vorgefunden sondern durch `soz. Beziehungen` erlernt; Joas 32) 2 Kulturbegriffe: anthropologisch und humanistisch (Kunst, Musik, Literatur) --oder: Lebensweise (anthropologisch) vs. Subsystem (humanistisch) Dimensionen von Kultur: kognitiv (Fertigkeiten); moralisch (Werte); ästhetisch (humanistischer Kulturbegriff) Dialektik von `Ideen` und `Interessen`: `Interessen…, nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die `Weltbilder`, welche durch `Ideen` geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte` (M.Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1920, p.252). 13 (4) Schlüsselbegriffe 4. Macht • • • • M.Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft (1921): `jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance besteht` (p.28). --`Macht` ist `soziologisch amorph`(Weber) `Herrschaft`: `die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden` (Weber ibid.). --`soziologisch präziser` (Weber) --Herrschaft ist legitime Macht (rechtmässig) --innerhalb eines `Herrschaftsverbandes` (z.B. Staat) --mit oder ohne `Verwaltungsstab` (bürokratisch v. patrimonial). Direkte vs. indirekte Macht: letztere oft unbewusst, über die Formierung von Präferenzen (z.B. Werbung). --Grenzfall: ist `Einfluss` ipso facto `Macht`? (ähnlich: ist `Geld` `Macht`?) Macht wird von Personen, Gruppen/Organisationen, oder ganzen Gesellschaften ausgeübt. 14 (4) Schlüsselbegriffe 5. Funktionale Integration • • • • • `In einem funktional integrierten System wird jeder Teil von seinen Beziehungen zu den anderen Teilen beeinflusst und ist von ihnen abhängig` (Joas 36). Das Thema der Durkheimschen Soziologie: Wie ist `Integration` bzw. `soziale Ordnung` möglich? Ihre zentrale Metapher: Gesellschaft als Organismus (funktional differenziert; aus Teilsystemen bestehend; jedes Teilsystem erfüllt eine systemnotwendige Funktion). Wird manchmal von `sozialer Integration` unterschieden: wie Individuen in die Gesellschaft integriert sind (`sozial`) v. wie die Teile der Gesellschaft zusammenhängen (`funktional`). Fazit (Schlüsselbegriffe 1-5): --soziologische Theorien/Richtungen/Ansätze unterscheiden sich je nach Betonung von 1-5; --eklektische Liste, die zugleich erweitert u. reduziert werden könnte (erweitern: `soz. Wandel`; reduzieren: `funktionale Integration` ist hauptsächlich für eine Theorietradition zentral). 15 (5) Entstehung der Soziologie: Europa 1750-1850 • Der historische Kontext der Soziologie: die `doppelte Revolution` (`industrielle` und `demokratische`) (R.Nisbet, The Sociological Tradiiton, 1966) • 1. Industrielle Revolution: --von `Land` zu `Stadt` (Urbanisierung); das zentrale Thema der frühen US Soziologie (Chicago School); --von `verwandtschaftlich` in `arbeitsteilig` organisiert (funktional differenziert); --Armut und `soziale Frage` als Zentralthema der europäischen Soziologie; --Modernisierung und beschleunigter Wandel (Abkehr von Religion, Ent-Traditionalisierung, Ambivalenz von gesteigerter Mach- und Planbarkeit und Sinn- und Freiheitsverlust). 16 (5) Entstehung der Soziologie: Europa 1750-1850 • 2. Demokratische Revolution --amerikanische vs. französische Revolution (politisch vs. sozial); --von Monarchie zu Demokratie --Novum: Einbindung der Gesellschaft in die Politik (z.T. chaotisch: Totalitarismus) --`Demokratie` von der klassischen Soziologie vernachlässigt (Ausnahme: Tocqueville) --ein Klassiker der neueren politischen Soziologie: S.M. Lipset, Political Man, 1959 (über die sozialen Voraussetzungen der Demokratie—Wohlstand stabilisiert die Demokratie) 17 (5) Entstehung der Soziologie: Europa 1750-1850 • Nicht das Thema der klassischen Soziologie: Kolonialismus und die `kulturellen Unterschiede` – Die `grossen Entdeckungen` bereits im 16.Jhdt. – `Nicht-Europa` ist das klassische Thema der Anthropologie – Klassische Soziologie ist eurozentrisch: unbewusste Identifizierung von `Europa` und `Moderne` (Ausnahme: M.Weber) – Andere Vorläufer von `Moderne`: Renaissance (15.Jhdt) und Reformation (16.Jhdt), ebenfalls nicht der Kontext der Entstehung der Soziologie. (6) Klassiker der Soziologie: Marx, Weber, Durkheim • Eigentümlichkeit der Soziologie: die Klassiker altern nicht (denn: kein Konsens was `Soziologie` ist) • Disziplinäre Vorläufer der Soziologie: Philosophie u. Nationalökonomie • Nicht mehr gelesen: August Comte (1798-1857) --`Soziologie` als positive Wissenschaft (`Sozialphysik`-Model der Naturwissenschaft) --Planbarkeit v. Gesellschaft auf der Basis soziologischen Gesetzeswissens --3 Stadien menschlichen Wissens: `religiös`, `metaphysisch`, `positiv` --Soziologie als `Königin` der Wissenschaften und Herz einer neuen `Religion der Menschheit` 19 (6) Klassiker der Soziologie: Marx, Weber, Durkheim • Karl Marx (1818-1883): --Philosoph, Ökonom, Journalist, Revolutionär --moderne Gesellschaft als `Kapitalismus` (Privateigentum u. `Ausbeutung`) --Klassentheorie u. Klassenkampf --`historischer Materialismus`: `Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber…nicht aus freien Stücken` (18. Brumaire, 1852) --westlicher Marxismus: kritische Soziologie (Einheit von Theorie und Praxis) 20 (6) Klassiker der Soziologie: Marx, Weber, Durkheim • Max Weber (1864-1920) --Jurist und Nationalökonom --zentrales Thema: `okzidentale Rationalisierung` --verstehende Soziologie u. Handlungstheorie; historisch- vergleichende Soziologie; Soziologie der Herrschaft; Religionssoziologie --vs. `Ökonomismus`: keine Festlegung auf eine zentrale Triebfeder der gesellschaftlichen Entwicklung (ökonomische, politische, u. kulturelle Faktoren bedingen sich wechselseitig) --`wertfreie` statt kritische Soziologie 21 (6) Klassiker der Soziologie: Marx, Weber, Durkheim • Emile Durkheim (1858-1917) --Philosoph und Pädagoge (doch, mit Weber, Begründer der akademischen Soziologie) --Themen: Wie ist soziale Ordnung/ Integration möglich? --Soziologie als Wissenschaft `sozialer Fakten` --3 Hauptwerke: Über die soziale Arbeitsteilung (1893) Der Selbstmord (1897) Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912) --moderne Gesellschaft als funktional differenziert; Einfluss auf Strukturfunktionalismus (T.Parsons) , Systemtheorie (N.Luhmann), und quantitative Soziologie 22 (7) Neuere Entwicklungen • Seit 1945: US-dominiert • Die Parsons`sche Synthese von Handlungs- und Strukturtheorie, und ihr Zerfall (Behaviorismus, rational choice, symbolischer Interaktionismus, Konflikttheorie, Systemtheorie, westlicher Marxismus etc.) • Trotz Bourdieu, Habermas, Luhmann Inc.: --Niedergang von `Gesellschaftstheorie` --Aufstieg von Spezialsoziologien im Verbund mit interdisziplinären Hybriden (Migration, Geschlechterforschung,`Nachhaltigkeit` etc.). • `Eindruck der Zersplitterung`: `als gebe es…kein einheitliches Fach mehr mit einem verbindlichen Zuschnitt der Fragestellungen, Theorien, u. Methoden` (Joas 52). • GENAU! 23