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V: Einführung in die Soziologie Vorlesung 4 Soziale Ungleichheit: Klasse und Stratifikation Prof. Dr. Christian Joppke Text und Übersicht • Text: Kapitel 10 aus Mau/Joas (2020), Soziale Ungleichheit und Sozialstruktur • Autoren: Steffen Mau und Roland Verwiebe Übersicht: 1.Von Stand zu Klasse: mod...

V: Einführung in die Soziologie Vorlesung 4 Soziale Ungleichheit: Klasse und Stratifikation Prof. Dr. Christian Joppke Text und Übersicht • Text: Kapitel 10 aus Mau/Joas (2020), Soziale Ungleichheit und Sozialstruktur • Autoren: Steffen Mau und Roland Verwiebe Übersicht: 1.Von Stand zu Klasse: moderne soziale Ungleichheit 2.Klasse als relationale Kategorie: Marx 3.Klasse als Stratifikation: Weber 4.Neuere Entwicklungen (Mittelklasse, Mobilität und citizenship, neue Ungleichheiten und Individualisierung) 5.Klasse als Lebensstil: Bourdieu 6.Rückkehr der materiellen Ungleichheit 2 1. Von Stand zu Klasse: moderne soziale Ungleichheit • Soziale Ungleichheit: `wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den `wertvollen Gütern` einer Gesellschaft regelmässig mehr erhalten als andere` (S. Hradil, in Mau/Joas 2020, S.349). • Vormoderne, ständische Ungleichheit: formal und offiziell (Ständegesellschaft: Adel, Klerus, 3.Stand) • Moderne Klassen-Ungleichheit: informell und inoffiziell, auf der Grundlage formaler Gleichheit (seit den demokratischen Revolutionen 1776 und 1789). • Oder: traditionell-ständische Ungleichheit ist politischrechtlich festgeschrieben; moderne Klassenungleichheit ist ökonomisch bedingt. 3 1. Von Stand zu Klasse: moderne Ungleichheit • Klassen sind nominell offen und nicht durch Geburt festgeschrieben (v. Kasten): `Jede Klasse gleicht…einem Hotel oder einem Omnibus, die zwar immer besetzt sind, aber von immer anderen Leuten` (J.Schumpeter, Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu, 1927: 171). • Faktische, nicht rechtliche Schliessung von Klassen durch Familienzugehörigkeit (Familie als `wahre(s) Individuum der Klassentheorie`; Schumpeter 1927, 158). • Sozialstruktureller Hintergrund: Kapitalismus und Marktgesellschaft (`Freiheit, Gleichheit, Bentham`, Marx); von persönlichen `HerrKnecht` Beziehungen zu anonymen Marktbeziehungen; die `doppelt freie` Lohnarbeit 4 2.Klasse als relationale Kategorie: Marx • `Klasse` signalisiert Stellung im Produktionsprozess: Eigentum v. Nicht-Eigentum an den Produktionsmitteln • Nur zwei Klassen: Kapitalisten v. Proletariat • Relation: formelle Gleichheit auf dem Arbeitsmarkt; aber Ausbeutung im Produktionsprozess • Nullsummen-Beziehung: eine Klasse ist ohne die andere nicht definierbar (die eine hat, weil die andere nicht hat) • Klasse-an-sich v. Klasse-für-sich: durch Klassenkampf und die `Schule der Fabrik` (Marx) werden aus objektiven Klassen subjektive Klassen • Motor der `Verelendung`: `Mit der…Masse des Elends (wächst) (die) Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse` (Marx, Das Kapital I, MEW 23, 790). 5 3.Klasse als Stratifikation: Weber • • • • • Klasse, Stand, und Partei als unabhängige `Phänomene der Machtverteilung innerhalb einer Gemeinschaft` (M.Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft, 1924, p.531). Klassen als gemeinsame Interessenlage aufgrund von gleichen oder ähnlichen Marktchancen: mehr als nur zwei (deshalb `Schicht` oder `Stratum`). Typische Kriterien: Beruf, Erziehung, Besitz und Einkommen. Besitzklassen, Erwerbsklassen, soziale Klassen (geschlossene Mobilität) (Weber) 4 soziale Klassen (Weber): Arbeiterschaft, Kleinbürgertum, besitzlose Intelligenz, Klasse der `Besitzenden u. durch Bildung Privilegierten` Klasse v. Stratum (Schicht): `Class is always a category for purposes of the analysis of the dynamics of social conflict and its structural roots, and as such has to be separated strictly from stratum as a category for purposes of describing hierarchical systems at a given point of time` (Ralf Dahrendorf, Class and Class Conflict in Industrial Societies, 1959, 76). 6 3. Klasse als Stratifikation • functional stratification theory (Kingsley Davis u. Wilbert Moore, Some Principles of Stratification, 1945): Soz. Ungleichheit ist notwendig, um die `wichtigsten Positionen mit den qualifiziertesten Personen füllen zu können`. • `wichtigste Positionen` variieren mit dem `dominanten Wertesystem` einer Gesellschaft: Krieger und Priester in traditionalen (kriegerischen) Gesellschaften; Wissenschaftler, Ingenieure, Manager in modernen (wissensbasierten) Gesellschaften. • Problem: die `funktionale Bedeutung` von Berufen ist schwer bestimmbar; wenn Topmanager u. Banker signifikant mehr verdienen als Hochschullehrer, ist dies durch ihre höhere Stellung im `dominanten Wertesystem` begründet? 7 3. Klasse als Stratifikation • • • • • • Aehnlich Talcott Parsons, An Analytical Approach to the Theory of Social Stratification (1949): Stratifikation als `hierarchy of prestige` (je nach den zentralen Werten einer Gesellschaft) Würde es `Klassen` geben, selbst wenn `equality of opportunity` herrscht? Ja, solange es Familien gibt: `The class status of an individual is that rank in the system of stratification which can be ascribed to him by virtue of those of his kinship ties which bind him to a unit in the class structure` (ibid.) Parsons` Beispiel: Eine `Hausfrau` u. `Mutter`, die nicht am formalen Beschäftigungssystem teilnimmt, übernimmt den Klassen-Status ihres Ehemannes. Ergo: Klassen sind durch Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen zugewiesene Positionen; selbst in einer meritokratischen Gesellschaft muss es `Klassen` geben. 8 4. Neuere Entwicklungen (a): Klassendifferenzierung u. Mittelklasse • Statt Marxscher Polarisierung von Kapital und Arbeit: • Das Kapital differenziert sich in `Eigentum` und `Kontrolle` (A.Berle/G.Means, The Modern Corporation and Private Property, 1932) • Keine allgemeine Dequalifizierung der Arbeit: `The proletarian, the impoverished slave of industry who is indistinguishable from his peers in terms of his work, his skill, his wage, and his prestige, has left the scene…In his place we find a plurality of status groups whose interests often diverge` (Dahrendorf, 1959, 51). 9 4. Neuere Entwicklungen (a): Mittelklasse • Das grösste Problem für die Marxsche Theorie: die Mittelklasse • `neuer Mittelstand` (Emil Lederer, J.Marschak, 1926): Angestellte u. Beamte • Mentalität: `zwischen den Klassen` u. innerlich zersplittert; individualistisch u. aufstiegsorientiert; politisch apathisch; anfällig für Faschismus • `Eine Klasse leugnet mit Entrüstung, Klasse zu sein u. führt einen erbitterten Klassenkampf gegen Wirklichkeit und Idee des Klassenkampfs` (Theodor Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, 1949). 10 4. Neuere Entwicklungen (a): Mittelklasse • Helmut Schelsky`s nivellierte Mittelstandsgesellschaft (1953): `soziale Nivellierung in einer verhältnismässig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist, d.h. durch den Verlust der Klassenspaltung und Hierarchie gekennzeichnet wird` • C.W.Mills, White Collar (1955): Die `kleinen Angestellten` als `politische Eunuchen`; • `Den materiellen Nöten des Industriearbeiters des 19. Jhdt. entsprechen im 20. Jhdt. die seelischen Nöte der kleinen Angestellten. Der kleine Mann von heute scheint nirgendwo einen festen Halt zu haben, nichts woran er sich klammern könnte, um seinem Leben Ziel u. Inhalt zu geben` (Mills, 19f). 11 4. Neuere Entwicklungen (a): Mittelklasse • Daniel Bell`s Postindustrial Society (1973): `theoretisches Wissen` als neue Produktivkraft • New Class: Wissenschaftler, Techniker, Verwaltungsexperten, u. Kulturschaffende; • Doch: ohne `gemeinsame Interessen`, weil über privaten u. öffentlichen Sektor verstreut • Keine `Technokratie`: die `new class` ist nicht politisch dominant; `vergleichsweise liberale politische und soziale Einstellung…u. Forderung nach sozialem Wandel` (ibid.). 12 4. Neuere Entwicklungen (b): Mobilität und Citizenship • Was Marx ausserdem übersah: Institutionalisierung von sozialer Mobilität im Erziehungs- und Ausbildungssystem • Resultat: Konkurrenz ersetzt Klassenkampf • `Instead of advancing their claims as members of homogenous groups, people are more likely to compete with each other as individuals for a place in the sun` (R.Dahrendorf, 1959, 60). 13 4. Neuere Entwicklungen (b): Citizenship • T.H.Marshall, Citizenship and Social Class (1949): gleiche Bürgerrechte (citizenship rights) neutralisieren Klassenungleichheit • Schrittweise Durchsetzung von civil, political, social rights (18-20.Jhdt; Beispiel England) • «Krieg» zwischen Klassenungleichheit u. sozialen Bürgerrechten im 20.Jhdt.: «Social rights in their modern form imply an invasion of contract by status, the subordination of market price to social justice, the replacement of the free bargain by the declaration of rights» 14 4. Neuere Entwicklungen (b): Citizenship • Ausserdem: secondary system of industrial citizenship (Marshall); d.h. Mitbestimmung, Streikrecht, etc. • Resultat: Institutionelle Trennung v. industriellem u. politischem Konflikt (Gewerkschaften v. Parteien); Institutionalisierung des Klassenkonfliktes • `Democratic class struggle` (S.M.Lipset, Political Man, 1959): `A fight without ideologies, without red flags, without May Day parades` (p.445). 15 4. Neuere Entwicklungen (c): neue Ungleichheiten u. Individualisierung • Von vertikaler Klassenungleichheit zur horizontalen «Disparität von Lebensbereichen» (C.Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, 1969) • Der Wohlfahrts- u. Interventionsstaat integriert Arbeit u. Kapital, grenzt aber produktionsferne Sphären und Gruppen aus: • `Der Bruch, der in den früheren Phasen zwischen den grossen Positionsgruppen verlief, verlagert sich gleichsam in die Individuen hinein; sie sind mit Teilen ihrer Lebenstätigkeit in `privilegierte` Funktionsbereiche eingespannt, während andere Teile den unterprivilegierten Bereichen zugehören` (Offe, 178). • Neue Ungleichheit kristallisiert sich in (politisch impotenten) `Situationsgruppen`: Arbeitslose, Alte, Jugendliche, Kriminelle, etc. 16 4. Neuere Entwicklungen: Neue Ungleichheiten • Aehnlich J.Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.2, 1981: `Es entsteht eine Konfliktlinie zwischen dem Zentrum der am Produktionsprozess unmittelbar beteiligten Schichten, die ein Interesse daran haben das kapitalistische Wachstum als Grundlage des sozialstaatlichen Kompromisses zu verteidigen, und einer bunt zusammengewürfelten Peripherie auf der anderen Seite` (577). • Disparitäten zwischen System und Lebenswelt (Habermas) als Ausgangspunkt der neuen sozialen Bewegungen. 17 4. Neuere Entwicklungen (c): Individualisierung • `Individualisierung`: Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse, 1983 • Motoren: Arbeitsmarkt (Bildung, Mobilität, u. Konkurrenz); steigender Wohlstand; Freizeit- und Konsumkultur • Diagnose: `Wegschmelzen` subkultureller Klassenidentitäten; Enttraditionalisierung ständisch eingefärbter Klassenlagen; `Diversifizierung u. Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen` • Fahrstuhleffekt: objektive soziale Ungleichheit (bezüglich Geld, Macht, Prestige, Bildung) bleibt konstant; sie kann aber—vor allem aufgrund gestiegenen Wohlstands—nicht länger als gruppenspezifisches Schicksal erfahren werden. 18 5. Klasse als Lebensstil: Bourdieu • Pierre Bourdieu, La distinction (1979) • Kulturalistische Klassentheorie; Zusammenführung von Weber`s Begriffen Klasse und Stand (letzterer als auf der Grundlage von Ehre und Distinktion begründete Gemeinschaft) • Seine Frage ist an Marx orientiert: wie wird aus einer `Klasse an sich` eine `Klasse für sich`? • Seine Antwort ist Weberianisch: der Kampf um Macht und Ehre ist unaufhebbar; Klassen sind Aggregate geteilter Lebenschancen; Lebensstile (nicht: ein revolutionäres Cogito) vermitteln zwischen objektiver Klassenlage und subjektiver Wahrnehmung • Pointe: Klassenkampf ist nicht auf Wirtschaft u. Politik beschränkt, sondern wird in der Kultur ausgetragen. 19 5. Klasse als Lebensstil: Bourdieu • Erweiterter Kapitalbegriff: • Ökonomisches Kapital (Geld, Besitz) • Kulturelles Kapital (Wissen, Kompetenzen) --inkorporiert (Habitus) --institutionalisiert (Titel) • Soziales Kapital (Beziehungen) • Diese Aufsplitterung erlaubt --die Unterscheidung von Volumen und Struktur von Kapital; --intra-Klassenunterschiede werden sichtbar (e.g. kulturell vs. ökonomisch herrschende Klasse) 20 5. Klasse als Lebensstil: Bourdieu • Zwei Klassenkämpfe: --reproduktiver: wird im Erziehungssystem ausgetragen (Kampf um Titel); Klassen in Familien u. Individuen dissoziiert; Klassenreproduktion nicht via Besitzübergabe sondern Erlangung von Titeln; die Kinder der Bourgeoisie gewinnen wegen der Unsichtbarkeit (`Brillianz`, `Talent`, `Leichtigkeit`) ihres `inkorporierten` kulturellen Kapitals --P.Bourdieu u. J.C.Passeron, The Inheritors (1979) 21 5. Klasse als Lebensstil: Bourdieu • • • Zwei Klassenkämpfe: --der `wahre` Klassenkampf ist der um kulturell-ästhetische Distinktion; wird innerhalb der `herrschenden Klasse` ausgetragen --P. Bourdieu, La distinction (1979) Drei Klassen, drei Lebensstile: Bourgeoisie (herrschende Klasse) --`Sinn für Distinktion`: man hat, ohne erworben zu haben; von `Notwendigkeit` entfernt, deshalb genuin `ästhetisch` --ökonomische Bourgeoisie (rive droit) v. kulturelle Bourgeoisie (rive gauche), als `beherrschte Fraktion` innerhalb der herrschenden Klasse; --`bürgerlich` vs. `intellektuell` (Le Figaro v. Le Monde; Oper v. Avantgarde; Impressionismus v. moderne Kunst etc.) 22 5. Klasse als Lebensstil: Bourdieu • Mittelklasse --sie hat, weil sie erworben hat; bzw. sie will werden --`Bildungsbeflissenheit`, `Bluff`, `being for others` (E.Goffman) --zukunftsorientiert: Präferenz für jogging u. Fitness (die `Bourgeoisie` spielt Golf); aufgeschobene Befriedigung 23 5. Klasse als Lebensstil: Bourdieu • Arbeiterklasse (populäre Klasse) --vom Kampf um Distinktion ausgeschlossen --`Notwendigkeitsgeschmack` (Inhalt u. Funktion wichtiger als Form) --z.B. `gutes` Essen ist `viel` Essen --Virilität u. Muskelkraft (Fussball statt Laufen) --keine oppositionelle Gegenkultur, sondern resignativer Selbstausschluss (`das ist nicht für uns`) 24 6. Rückkehr der materiellen Ungleichheit • Von Bourdieu beeinflusst: Kulturalismus der Ungleichheitsforschung • Z.B.: Milieu, Lebenslage, Lebensstil, Erlebnisgesellschaft etc. • Sozialstruktureller Kontext: gestiegener Wohlstand, Bildungsexpansion, Massenkonsum, u. Mobilität (1950s bis 1980s) • Aber: Globalisierung (post-1989) macht materielle Ungleichheit erneut relevant • T.Piketty: Die reichsten 1% sind immens reicher geworden; Einkommen und Wohlstand der Mittelklassen dagegen stagnieren bzw. sinken. 25

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