Heterogenität in der Schule - PDF
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Universität Mannheim
M. Trautmann, B. Wischer
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This document examines heterogeneity in schools and educational organizations. It takes a different perspective than a purely pedagogical one, focusing on the challenges posed by diversity within schools as institutions. The text explores the challenges of organizing large-scale learning processes, the role of the school as a societal institution, and the impact of institutionalization on actors' actions.
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3 Heterogenität als schul- und organisationstheoretische Herausforderung Bislang haben wir uns mit schulischen Lehr-Lern-Prozessen und der Verfasstheit des deutschen Schulsystems aus einer normativ-pädagogischen Perspektive be- schäftigt: Wie ist schulisches Lernen zu gestalten, damit alle...
3 Heterogenität als schul- und organisationstheoretische Herausforderung Bislang haben wir uns mit schulischen Lehr-Lern-Prozessen und der Verfasstheit des deutschen Schulsystems aus einer normativ-pädagogischen Perspektive be- schäftigt: Wie ist schulisches Lernen zu gestalten, damit alle SchülerInnen opti- mal gefördert und Benachteiligungen von Personen bzw. Personengruppen ver- mieden werden? Auf welche Weise lassen sich Anerkennung und Wertschätzung von Verschiedenheit realisieren? Wie können Unterschiede produktiv genutzt werden? – so die Stoßrichtung dieser von den Bedürfnissen des einzelnen Kindes ausgehenden Reflexion, durch die die schulische Realität in vielerlei Hinsicht als problematisch und reformbedürftig markiert worden ist. In den nun folgenden Kapiteln nehmen wir eine Perspektive ein, die sich von einer solchen Betrachtung deutlich unterscheidet. Nicht mehr von den Inter- essen des einzelnen Kindes aus wird nun gedacht, sondern es wird danach ge- fragt, welche Herausforderungen aus Verschiedenheit entstehen, wenn man von der Schule als Institution und Organisation aus denkt: Welche Problemlagen und Anforderungen sind zu bewältigen, wenn, anders als im Hauslehrermodell früherer Zeiten, Massenlernprozesse zu organisie- ren sind? Welche Organisationsformen sind möglich, welche findet man vor? Und was folgt daraus für den Umgang mit Heterogenität? Was heißt es in engem Zusammenhang dazu, dass wir uns hier nicht mit privat organisierten Bildungs-, Lern- und Erziehungsangeboten beschäfti- gen, sondern mit Prozessen, die in der Schule als einer gesellschaftlichen (und staatlich kontrollierten) Institution stattfinden? In welcher funktionalen Beziehung steht Schule zur Gesellschaft? Was bedeutet Institutionalisierung schließlich für das konkrete Handeln der Akteure? Welche Rahmenregelungen und Vorgaben trifft man an? Welche Gestaltungsspielräume ergeben sich daraus für Lehrkräfte? Derartige Fragen sind Gegenstand schul- und organisationstheoretischer Überle- gungen, bei denen der gesellschaftliche Funktionszusammenhang der Schule und 69 M. Trautmann, B. Wischer, Heterogenität in der Schule, DOI 10.1007/978-3-531-92893-7_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 die Strukturprinzipien von Organisationen im Mittelpunkt stehen. Der Blick auf die pädagogische Praxis ist hier distanzierter und weniger intentional, als wir dies für die pädagogisch-normative Betrachtung rekonstruiert haben. Ein solcher Zugriff ist nun nicht ‚objektiver‘, ‚richtiger‘ oder ‚besser‘ als eine normativ- pädagogische Reflexion. Wir sehen darin vielmehr einen Perspektivwechsel, der andere Formen des Erkenntnisgewinns eröffnet: Es können Aspekte in das Blickfeld rücken, die aus einer reformorientierten Perspektive eher übersehen werden bzw. ausgeblendet bleiben. Zur Orientierung und Verdeutlichung seien dazu einige Beispiele vorangeschickt: Schule als Organisation und Institution: Gegen das Bild einer vor allem interaktional geprägten Lehrer-Schüler- (resp. Erzieher-Zögling-) Bezie- hung verweisen Organisations- und Institutionstheorien auf die formende Kraft und Besonderheit der Schule als sozialem Gebilde, als „öffentliche Einrichtung für Massenlernprozesse“ (Herrlitz 1994: 28). Dass Millionen von Kindern und Jugendlichen beschult werden müssen, hat ebenso Konse- quenzen für den Umgang mit Heterogenität wie die Vielzahl an Rechts- und Verwaltungsvorschriften (Stundentafeln, Lehrpläne, Schullaufbahnregulari- en, Klassenfrequenzen, Lehrerdeputat), die Koordination und Arbeitsteilung unter den Akteuren oder der materiale Rahmen (z.B. Finanzspielräume, Fragen der Steuerung und Qualitätssicherung, Schulhausarchitektur, Ein- bindung der Schule in das weitere Bildungssystem). Pädagogische Intentionalität vs. organisationales Handeln: Pädagogische Programme setzen – das wird uns im vierten Kapitel intensiver beschäftigen – auf die Wirkmächtigkeit von Ideen und Werten und auf das Handeln der einzelnen Akteure (vor allem LehrerInnen). Demgegenüber verschieben neuere Organisationstheorien die Aufmerksamkeit „von der Bedeutung in- dividueller Akteure und ihres Bewußtseins zu Kommunikations- und Hand- lungslogiken in Organisationen, die relativ unabhängig von den jeweils handelnden Personen bestehen bleiben“ (Gomolla/Radtke 2003: 78). Das Handeln in Organisationen – so die Prämisse – ist institutionell geregeltes und normiertes Handeln, das seine eigene Logik(en) entfaltet, denen man mit moralischen Appellen nur unzureichend beikommen kann. Aufgaben und Funktionen der Schule: In normativ-reformerischer Lesart wird Schule (oft ausschließlich) als eine Einrichtung beschrieben, die sich am Wohl der Heranwachsenden zu orientieren habe. Diese pädagogische Beschreibung der Schule kollidiert mit der Analyse ihrer gesellschaftlichen Funktionen und Aufgaben. Aus Sicht vieler Soziologen (z.B. Durkheim, Bourdieu), aber auch Schultheoretiker (z.B. Fend) gilt es als ausgemacht, dass Schule auch gesellschaftliche Reproduktionsfunktionen zu erfüllen hat, 70 d.h. auch einem anderen Imperativ gehorchen muss als dem der individuel- len Förderung und gleichberechtigten Anerkennung von Differenz. Grundsätzlich stecken hinter diesen Perspektiven vielfältige (und im Detail kei- neswegs konvergente) Theorien, die wir hier nicht im Einzelnen berücksichtigen können. Wir orientieren uns der Einfachheit halber an den Grundlinien der neuen Schultheorie von Helmut Fend, deren zentrale Prämissen wir zuerst knapp vor- stellen (3.1), um uns dann mit der Form, d.h. der Struktur und Organisation des Schulsystems (3.2) und hier besonders mit der Differenzierungsthematik zu beschäftigen. Neben einer Klärung zentraler Begriffe, Modi und Herausforde- rungen von Differenzierung steht dabei die in Deutschland heftig umstrittene Differenzierung nach Schulformen in der Sekundarstufe im Vordergrund. Im Anschluss wenden wir uns den gesellschaftlichen Funktionen des Schulsystems zu (3.3) und fragen, welche Konsequenzen sich daraus – gleichsam als Rahmung schulischen Handelns – ergeben. Abschließend versuchen wir zusammenfassend auszuloten, welche Problemlagen daraus für den Umgang mit Heterogenität in der Schule wie auch im Hinblick auf reformerische Kritik an der Schule und die entwickelten Gegenprogramme resultieren (3.4). 3.1 Das Bildungswesen als institutioneller Akteur der Menschenbildung – Grundzüge einer schultheoretischen Betrachtung von Helmut Fend Will man Schule gestalten bzw. verändern – so lässt sich der Ausgangspunkt der neuen Theorie der Schule von Fend (2006a, b; 2008) beschreiben –, dann setzt dies voraus, dass man sich mit den Funktionen und Funktionsmechanismen des Bildungssystems auseinandersetzt: „Erst wenn man das System versteht“ – so Fend (2008: 12) – „kann man eine Fehlfunktion beheben“. Das bedeutet: Auch mit einer stärker analytischen Perspektive können durchaus Gestaltungsabsichten verknüpft sein, diese müssen aber an einer bereits existierenden und historisch entstandenen ‚Wirklichkeit‘ ansetzen. Diese gilt es zuvorderst zu kennen und zu verstehen, um nicht Gefahr zu laufen, dass „aus dem – defizitären – Sein kurz- schlüssig das ideale Sollen abgeleitet wird“ (Fend 2006a: 15). Ein solcher Anspruch erfordert ein umfassendes und komplexes Theoriege- bäude, das wir nur ausschnitthaft skizzieren können. Fend bringt in seiner Kon- zeption zahlreiche Elemente (Theorien, empirische Befunde, historische Analy- sen) zusammen und betrachtet Schule bzw. das Bildungssystem in vielfältigen Facetten; die Auseinandersetzung reicht im Prinzip von der Entstehung von Schulen oder deren Gestalt im Mittelalter bis hin zur Frage nach Handlungsop- tionen und Effekten der Schüler-Lehrer-Beziehung im Klassenraum. Die zentra- 71 len Elemente und Überlegungen, mit denen Fend unter Rückgriff auf neuere, zumeist außererziehungswissenschaftliche Konzepte wie Systemtheorie, verste- hende Soziologie und Organisationstheorie das Bildungswesen ‚als institutionel- len Akteur der Menschbildung‘ konzeptionalisiert, lassen sich aber so zusam- menfassen: (1) Einen Ausgangspunkt zum Verständnis der Schule bilden Fragen nach deren Funktionen und Aufgaben, die Fend (1980) schon in seiner ersten Theorie der Schule ausgearbeitet hat und in seine neue Theorie weitgehend über- nimmt. Dabei ist zentral, dass neben pädagogische Aufgaben (wie Förde- rung von Handlungsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung) auch gesell- schaftliche Funktionen, d.h. soziale Reproduktionsleistungen, treten. Das Schulsystem wird als eine Instanz zur Lösung von Problemen rekonstruiert, die den Fortbestand der Gesellschaft betreffen, etwa in Bezug auf die not- wendig werdende Qualifizierung zukünftiger ArbeitnehmerInnen oder in Bezug auf die Verteilung der nachwachsenden Generationen auf die unter- schiedlichen Positionen in der Sozialstruktur (s. Abschnitt 3.3). Mehr noch als die Frage nach den Funktionen stehen Erklärungsangebote im Vordergrund, wie diese Funktionen und Aufgaben erfüllt bzw. wahrgenommen werden (vgl. Fend 2008: 15). (2) Dazu wird das Bildungssystem mehrebenentheoretisch konzeptionalisiert, d.h. als Ganzes in den Blick genommen. Fend untergliedert in eine Makro-, Meso- und Mikroebene und liefert so ein Ordnungsraster, um die Ebenen des schulischen Handelns systematisch unterscheiden zu können10. (3) Mit dem Konzept der Rekontextualisierung versucht Fend das Zusammen- spiel dieser Ebenen wie auch die Handlungslogik der Akteure und deren Ge- staltungsoptionen (und -restriktionen) theoretisch zu fassen: Handeln findet demnach auf unterschiedlichen (Verantwortungs-)Ebenen statt – von der Bildungspolitik bis hin zur konkreten Arbeit am Schüler. Eng verknüpft ist damit eine jeweils spezifische Handlungslogik, denn – dies ist eine wichtige Prämisse – die Akteure (wie LehrerInnen) agieren nicht als Privatpersonen, 10 Diese Ebenen bilden auch für unsere Ausführungen einen systematischen Bezugsrahmen: In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit der Makroebene – hier im Sinne der Organisation des Schulsystems. Im 4. Kapitel wenden wir uns der Frage nach den Gestaltungsoptionen auf der Mikroebene, also der konkreten Lehrerarbeit und dem Unterrichtshandeln, zu. Die Mesoebene – die Einzelschule als Handlungsebene – ist Gegenstand des 5. Kapitels. Hier wird die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten der Einzelschule durch administrative Steuerung im Mit- telpunkt stehen. 72 sondern ihr Handeln wird als Auftragshandeln, als regelgeleitetes, normier- tes Handeln verstanden. Allerdings lassen sich Aufgaben bzw. Aufträge we- der nahtlos von einer höheren Ebene auf die nächste dirigieren, noch hat man es bei den schulischen Akteuren mit ‚Rollenmarionetten‘ zu tun. Das Konzept der Rekontextualisierung weist vielmehr auf Folgendes hin: Es gibt Vorgaben und Regeln für schulisches Handeln, und Entscheidungen auf der einen Ebene haben immer auch Auswirkungen auf die darunter liegenden. Gleichzeitig müssen diese Vorgaben aber von den einzelnen Akteuren inter- pretiert und an die konkret vorfindbaren Handlungsbedingungen adaptiert werden, was zu „bedeutsamen empirischen Variationen des faktischen ope- rativen Handelns“ führt (Fend 2006a: 175). Die Problembeschreibungen, die aus einer solchen Perspektive für den Umgang mit Heterogenität in der Schule resultieren, entfalten wir zuerst für zwei der hier genannten Bereiche: Der erste betrifft den Aufbau und die Organisation des Bildungswesens, seine Form, und zwar im Schwerpunkt auf der Makroebene (3.2). Im Anschluss greifen wir die Frage nach den gesellschaftlichen Funktio- nen der Schule auf (3.3). 3.2 Schule als ‚Einrichtung für Massenlernprozesse‘ – die Form des Schulsystems Eine Beschäftigung mit der Struktur, dem Aufbau – vereinfacht: der Form und Gestalt – eines Schulsystems betrifft zwar vielfältige Aspekte (wie Fragen der Steuerung oder ob Lehrpersonen verbeamtet sind); man stößt aber unmittelbar auch auf die Differenzierungsthematik, die im Heterogenitätsdiskurs einen zen- tralen Stellenwert besitzt. Differenzieren (=Unterschiede machen) stellt sich dann nämlich als konstitutives Merkmal der Schule heraus – und zwar bezogen auf die Organisation des Systems, die Binnenstruktur der Einzelschule und die Unterrichtsgestaltung gleichermaßen. So finden Unterscheidungsprozesse auf der Interaktionsebene statt, wenn LehrerInnen im Frontalunterricht unterschied- lich anspruchsvolle Fragen stellen oder sich SchülerInnen bzw. Schülergruppen ungleich zuwenden (einige mehr ermahnen, die anderen mehr ermuntern usw.). Für unsere Überlegungen entscheidender als solche Formen interaktionaler Differenzierung sind jedoch zuerst Prozesse der organisatorischen Differenzie- rung im Sinne der Konstruktion des Schulsystems und der Konstituierung von Lerngruppen: Wenn (wie in Deutschland für gegenwärtig mehr als zehn Millio- nen SchülerInnen) ein flächendeckendes Beschulungsangebot bereitzustellen ist, jedoch nicht alle dieselbe Schule besuchen können und man zur selben Zeit nicht 73 alles gleichzeitig lernen kann, dann sind Ein- und Zuteilungen von Lerngruppen, die Auswahl und Sequenzierung von Lerninhalten, die Einrichtung von Bil- dungsgängen u.Ä.m. unvermeidbar. Eine Lösung dieses Problems ist – als erste Variante organisatorischer Differenzierung – das im 19. Jahrhundert umfassend eingeführte Prinzip der Jahrgangsklasse als eine zeitlich gestaffelte Gliederung des Systems in aufeinander folgende Stufen. Da aber trotz dieser (auch umstrit- tenen) Ein- bzw. Zuteilung nicht alle eines Altersjahrgangs in derselben Schule bzw. Klasse lernen können, werden weitere Differenzierungen notwendig. Aus schultheoretischer Perspektive ist nun bedeutsam, dass entgegen den bislang vorgestellten pädagogischen Auffassungen keineswegs nur die Interessen und Bedürfnisse des einzelnen Kindes als Referenz gewählt werden müssen, sondern auch andere Aspekte als Bezugspunkt für Differenzierung – wie organi- satorische Kalküle oder gesellschaftliche Interessen – fungieren können: Differenzierung nach Leistungsfähigkeit lässt sich z.B. als eine organisato- risch sinnvolle Reduktion von Komplexität interpretieren: Sind die Lern- voraussetzungen der Schülerschaft in einer Schule oder Schulklasse in etwa vergleichbar – so die durchaus plausible Idee –, dann könnte dies zu einer Vereinfachung in der Angebotsstruktur führen, weil ein weniger großes Spektrum an Ausgangslagen zu berücksichtigen ist; man kann sich auf be- stimmte Bedürfnisse und bestimmte Schülerschaften spezialisieren. Ein anderer Bezugspunkt für Differenzierung könnten gesellschaftliche Interessen oder Erfordernisse des Beschäftigungssystems sein. Differenzie- rung muss nicht (allein) bei den Ausgangslagen der Lerner ansetzen, son- dern kann auch vom Ergebnis aus gedacht werden. Beispiele dafür wären frühzeitige Spezialisierungen für zukünftige Tätigkeitsfelder mit einem ho- hen gesellschaftlichen Bedarf, etwa Schulen mit sprachlichem oder natur- wissenschaftlich-technischem Schwerpunkt. Zweierlei sollte erkennbar werden: Aus schultheoretischem Blickwinkel geraten außerpädagogische Interessen und Funktionen in den Fokus, die mit pädagogi- schen Ansprüchen konfligieren können. Mit der Differenzierungsfrage wird gleichzeitig ein weites und komplexes Feld aufgemacht: Differenzierung kann nach unterschiedlichen Schülermerkmalen (wie Alter, Geschlecht oder Leis- tungsfähigkeit) und mit unterschiedlichen Zielen (Komplexitätsreduktion, Spe- zialisierung u.Ä.m.) erfolgen. Es kann also auf unterschiedlichen Ebenen und auf unterschiedliche Weise differenziert werden. Wir können im Folgenden nur auf 74 ausgewählte Aspekte näher eingehen.11 Mit Blick auf die Heterogenitätsthematik gilt es die Aufmerksamkeit besonders auf zwei Gesichtspunkte zu richten: (1) (Organisatorische) Differenzierung ist in aller Regel eine Reaktionsform auf Heterogenität: Die Einrichtung von Schulen und die Zusammenstellung von Lerngruppen erfolgt kaum nach dem Zufallsprinzip, sondern nach Kriterien, die Merkmale der Lerner – d.h. Heterogenitätsdimensionen – betreffen. Durch Differenzierung wird Heterogenität bzw. Homogenität (in einer Lerngruppe) dabei erst hergestellt. Zu fragen ist daher, welche Lernermerk- male aus welchen Gründen als Differenzierungskriterium fungieren und welche (dann auch problematischen) Ausgangslagen daraus resultieren. (2) Differenzierung schafft nicht nur spezifische Ausgangslagen (einen Status quo), sondern es werden auch gewollte und unbeabsichtigte Folgewirkungen produziert: Unterschiede, auf die man durch Differenzierung reagiert – durch Einteilung von Lerngruppen oder auch im Unterricht durch differen- zierte Lernangebote – verstärken in der Regel die Ausgangsunterschiede, be- inhaltet Differenzierung doch immer auch Ungleich-Behandlung. Zu fragen ist daher, welche Ziele mit Differenzierung verbunden sind und welche (auch unerwünschten Neben-)Wirkungen damit einhergehen (können). Dass differenziert werden muss, ist unvermeidbar; strittig ist jedoch, welche Kriterien und Prinzipien dabei in Anschlag gebracht werden sollen. Wir werden diese noch abstrakt bleibenden Hinweise in den folgenden Kapiteln konkretisie- ren, gehen aber zunächst auf einige grundsätzliche Begriffe ein, um eine Basis für eine vertiefende Problembeschreibung zu schaffen. 3.2.1 Strukturaufriss Differenzierung Für einen knappen Einblick in die Facetten von Differenzierung orientieren wir uns an einem Schema (s. Kasten 3.1), in der wir die wesentlichen Aspekte zu- sammengestellt haben: 11 Differenzierung und Differenzierungstheorien waren in den 1970er Jahren ein zentrales Thema schulpädagogischer Überlegungen. Wir meinen, dass viele der damals entstandenen, aber kaum noch rezipierten Publikationen auch für die aktuelle Debatte noch wertvolle Impulse set- zen können (z.B. Winkeler 1976; Keim 1977; Haußer 1981). 75 Differenzierungskriterien Man sieht zunächst, dass Differenzierung nach zahlreichen Kriterien betrieben werden kann und wir hier auf die bereits bekannten Schülermerkmale wie Alter, Geschlecht, Konfession oder individuelle Leistungsfähigkeit treffen. Wie bereits erwähnt (s. Kap. 2), besaßen und besitzen diese Merkmale als Ausgangskriteri- um für organisatorische Differenzierung historisch wie national vergleichend eine unterschiedliche Bedeutung. So gab und gibt es Mädchen- und Jungen- Schulen, d.h. ‚Geschlecht‘ kann noch als Differenzierungskriterium fungieren. Ebenso existiert noch Differenzierung nach ‚Religionszugehörigkeit‘, auf Schul- ebene durch Einrichtung spezieller Konfessionsschulen, oder durch Religionsun- terricht für eine ausgewählte Schülerschaft. Ähnliches gilt auch für das Ge- schlecht, wenn einige Fächer bewusst nicht koedukativ unterrichtet werden. Kriterien Leistung Konfession Geschlecht soziale Herkunft Lebensalter bes. Begabung Nationalität Interessen (...) manifest latent Schulsystem Makroebene Mesoebene Mikroebene (Interschul. Diff.): (Intraschul. Diff.): (unterrichtl. Diff.): Schultypen, -formen Klassen, Kurse, zus. Gruppen,- Einzel- Angebote arbeit Kasten 3.1: Facetten schulischer Differenzierung Das (nicht nur) im deutschen Schulsystem einschlägigste Kriterium ist ‚Leis- tung‘, die auf mehreren Ebenen als Maßstab für Zuweisung und Einteilung fun- giert: bei der Rückstellung vom Schulbesuch, beim ‚Sitzenbleiben‘, vor allem aber bei der Schülerverteilung auf unterschiedliche Schulformen nach Abschluss der Grundschule. Irritierend mag für Sie vermutlich sein, dass auch ‚soziale Herkunft‘ in der Liste möglicher Kriterien auftaucht. Zwar galt dieses Kriterium früher recht selbstverständlich als Bezugspunkt für Differenzierung; heute dage- 76 gen dürfte es kaum noch offiziell in Anschlag gebracht werden, da die Idee einer schichtspezifischen Schule weitgehend ihre Legitimation verloren hat. Manifeste und latente Differenzierung Dass soziale Herkunft als Kriterium dennoch nicht außer Kraft gesetzt ist, erklärt sich, wenn man die in das Schaubild aufgenommene, in den 1970/80er Jahren von einigen Autoren benutzte Unterscheidung von manifester und latenter Diffe- renzierung einbezieht: „Neben manifester, also organisatorisch offenkundiger Differenzierung“ – so Haußer (1981: 22) in seiner Theorie schulischer Differen- zierung – gelte es noch eine latente Differenzierung zu beachten, für die er zwei Varianten benennt: „Erstens kann ein manifestes Differenzierungskriterium latent ein anderes nach sich ziehen“ (ebd.). Als Beispiel nennt Haußer die Schulformen des tradi- tionellen Schulsystems, wo Schülerzuteilung nach Leistung (z.B. ins Gymna- sium) betrieben werde, damit gleichzeitig aber – und diese Aussage ist ja noch aktuell – auch mit einer Selektion nach sozialer Herkunft verbunden sei: „Wir sprechen dann von latenter Differenzierung nach sozialer Herkunft bei manifes- ter Differenzierung nach Leistung“ (ebd.). Ein anderes Beispiel wäre ‚Interesse‘ als Kriterium, wie man es bei Wahldifferenzierung oder oft auch bei der Schul- wahl antrifft. In beiden Fällen ordnen sich die Betroffenen selbst einem Lernan- gebot zu, mit dem Ergebnis, dass dies mit anderen Merkmalen – wie Leistungs- fähigkeit bei Wahlangeboten (z.B. Technikunterricht vs. zweite Fremdsprache) oder soziale Herkunft bei der Schulwahl – verbunden sein kann. Die zweite Variante bezieht Haußer auf die Schüler-Lehrer-Interaktion im Unterricht, davon ausgehend, dass es keinen undifferenzierten Unterricht geben könne: „Auch Frontalunterricht ist differenziert, nur eben nicht auf eine offen- kundig-organisatorische Art und Weise, sondern vielmehr im Sinne einer diffe- rentiellen Behandlung durch den Lehrer“ (ebd.). Durch soziale Interaktion im Unterricht (besondere Aufmerksamkeit, Lob und Tadel, Aufforderungen zur Mitarbeit etc.), die sich oft zu spezifischen „Behandlungsmustern gegenüber bestimmten Schülern und Schülergruppen“ verdichten würde, nehme ein Lehrer „laufend latente, d.h. ausschließlich interaktionale Gruppenbildungen vor“ (ebd.). Diese genannten Varianten verweisen auf eine letzte Unterscheidung hin- sichtlich der Ebenen, auf denen Differenzierung vorgenommen werden kann. Ebenen der Differenzierung In der schulpädagogischen Debatte findet sich bezüglich dieser Ebenen häufig nur eine Unterscheidung zwischen sog. äußerer und innerer Differenzierung (z.B. Holzbrecher 2008): Unter äußerer Differenzierung werden in aller Regel sämtliche institutionell vorgenommenen Maßnahmen gefasst, durch die Lern- 77 gruppen zumeist für einen längeren Zeitraum gebildet werden. Wie schon im ersten Kapitel dargestellt, sind dies die im aktuellen Diskurs kritisierten, d.h. pädagogisch unerwünschten Varianten von Differenzierung. Dem gegenüber gestellt wird die innere Differenzierung – oder auch Binnendifferenzierung – als eine pädagogisch geforderte, ‚gute‘ Form des Unterscheidens: SchülerInnen sollen innerhalb einer bestehenden Lerngruppe bzw. eines Klassenverbundes im Unterricht in kleinere Einheiten aufgeteilt werden, um jeweils passende Zugänge und Bearbeitungsmöglichkeiten in der gleichen Unterrichtssituation zu eröffnen. Wir selbst halten diese Gegenüberstellung jedoch für verkürzt und proble- matisch: Einmal, weil ausgeblendet wird, dass das Spektrum von Differenzie- rung weitreichender (gleichsam erheblich differenzierter) ist (s. Abschnitt 3.2.3). Viel grundsätzlicher verführen Polarisierungen aber auch zu entsprechend einsei- tigen Charakterisierungen, so etwa, wenn die eine Seite pauschal als problema- tisch, die andere hingegen als erwünscht markiert wird; oder wenn – wie Keim (1977: 9) schon in den 1970er Jahren kritisierte – die Formen innerer Differen- zierung (im Gegensatz zur äußeren Differenzierung) als allein in das Belieben des Lehrers gestellt erscheinen, ohne zu reflektieren, dass es zwischen den jewei- ligen Ebenen auch Zusammenhänge gibt. Um derartige Verkürzungen zu ver- meiden, haben wir uns an dem Mehrebenenmodell von Fend (2008) orientiert und übernehmen damit zugleich die dahinter stehenden Überlegungen zum Zu- sammen- und Wechselspiel der einzelnen Ebenen: Die Makroebene bezeichnet im hier gemeinten Sinne das Schulsystem, nimmt also den Aufbau, d.h. die grundsätzliche Konstruktionslogik in den Blick: Wie werden die einzelnen Schulen in eine systematische Ordnung zueinander gebracht? (Interschulische) Differenzierung ist dabei ein unver- zichtbares Gestaltungsprinzip, das aber in unterschiedlichen Varianten rea- lisiert werden kann. Während eine vertikale Differenzierung in Stufen – al- so nach Alter – ein historisch wie international weitgehend universell reali- siertes Prinzip zu sein scheint, bestehen erhebliche Unterschiede hinsicht- lich der horizontalen Differenzierung (s. Abschnitt 3.2.2). Die Mesoebene bezeichnet die Ebene der Einzelschule vor Ort. Es ist dies eine bei Schulstrukturfragen oft übersehene Ebene, obwohl man auch hier eine Vielfalt organisatorischer (intraschulischer) Differenzierung antrifft. Prominentes Beispiel ist – natürlich neben der Jahrgangsklasse! – die Fach- leistungsdifferenzierung, die man in der Regel an Gesamtschulen antrifft. Differenzierung findet aber auch durch Wahldifferenzierung oder bei der Einrichtung spezifischer Förderangebote statt (s. Kap. 5). 78 Die Mikroebene ist die Unterrichtsebene (innere Differenzierung). Auch hier gibt es diverse Varianten, Unterricht nach unterschiedlichen Kriterien gruppenadaptiv oder individualisierend zu gestalten (ausf. Kap. 4). Die drei Ebenen – so lässt sich mit Fend (2008) argumentieren – sind weder unabhängig voneinander, noch besteht zwischen ihnen eine deterministische Beziehung. Das bedeutet unter programmatischen Gesichtspunkten: Es gibt an unterschiedlichen Stellen Gestaltungsspielräume für bessere Differenzierungsva- rianten; gleichzeitig sind spezifische Restriktionen der Strukturvorgaben jedoch nicht zu übersehen. Deutlich machen wird dies eine Auseinandersetzung mit der Frage der Schulformdifferenzierung, d.h. der Organisation des Bildungssystems auf der Makroebene, die uns nun beschäftigen soll. 3.2.2 Vielfalt an Schulformen oder eine Schule für alle? Mit dieser Frage rückt der Modus interschulischer Differenzierung als zentrales Konstruktions- und Strukturprinzip eines Schulsystems in den Vordergrund, und damit die von allen Schulsystemen zu lösende Kernfrage nach dem Verhältnis von Einheitlichkeit und Differenzierung. Idealtypisch lassen sich zwei gegenläu- fige Strategien unterscheiden: Ein Schulsystem kann sich am Prinzip der Einheitlichkeit orientieren, also an einem Aufbau, bei dem alle Kinder und Jugendlichen möglichst lange in einer gemeinsamen Schule lernen. Es ist dies der integrative Strukturtyp, mit dem Ergebnis einer nicht sortierten, also einer in der Regel besonders heterogenen Schülerschaft. Die andere – in Deutschland noch dominierende – Variante besteht in einer Differenzierungsstrategie. Es gibt ein System aus unterschiedlichen, auch unterschiedlich wertigen Schultypen und -formen, auf die sich die Heran- wachsenden nach bestimmten Kriterien aufteilen bzw. aufgeteilt werden. Man spricht auch vom differenzierenden oder separativen Strukturprinzip, das im Ergebnis eher zu einer Homogenisierung von Schülerschaften und Lerngruppen (bezogen auf das Aufteilungskriterium) führt bzw. führen soll. Die Frage von Einheitlichkeit und Differenzierung – von Integration (resp. In- klusion) und Separation – ist seit jeher Gegenstand kontroverser pädagogischer, aber auch gesamtgesellschaftlicher Debatten. An ihr scheiden sich – nicht nur in Deutschland – gleichsam die ‚Geister‘, wie schon der amerikanische Erzie- hungswissenschaftler Yates Anfang der 1970er Jahre notierte: 79 „Eine […] bemerkenswerte Eigenschaft der Kontroverse um die Differenzierung ist ihre Tendenz, mit größerer Intensität emotionales Engagement hervorzurufen, als es angesichts der diskutierten Frage angemessen wäre. Vor- und Nachteile zweier in gegenseitigem Wettstreit stehender Unterrichtsmethoden lassen sich oft in einer At- mosphäre akademischer Gelassenheit diskutieren […]. Argumente zu diesem oder jenem Differenzierungsverfahren bewirken jedoch starre Fronten“ (1972: 19). Die Gründe für diese ‚starren Fronten‘ führen zur Konkretisierung einer in der Einleitung dieses Buches eingeführten Prämisse: Der schulische Umgang mit Heterogenität ist nicht allein ein technisches Problem (Wie lassen sich Massen- lernprozesse am effektivsten organisieren?). Und es spielen keineswegs nur pädagogische Argumente (Durch welche Variante werden alle SchülerInnen am besten gefördert?) eine Rolle, sondern auch ökonomische, politische oder recht- liche Argumente. Anhand der Schulformdifferenzierung zeigt sich im histori- schen Rückblick (z.B. Diederich/Tenorth 1997: 13 ff.; Oelkers 2006), aber auch bei aktuellen Debatten, dass mit dieser Kontroverse grundsätzliche gesell- schaftspolitische Präferenzen und gruppenspezifische Interessen verknüpft sind, was den gesellschaftlichen Umgang mit Vielfalt betrifft. Es ging früher, und es geht durchaus heute noch auch darum, gesellschaftliche Unterschiede (und Un- gleichheiten!) fortzuführen, zu legitimieren oder aufzuheben bzw. abzubauen. So orientierte sich Ende des 18. Jahrhunderts der Freiherr von Zedlitz (der damalige für den Aufbau des preußisch-deutschen Bildungssystems mitverantwortliche Justizminister) bei seinem Vorschlag zur Differenzierung des Schulsystems ganz selbstverständlich an dem Vorhandensein unterschiedlicher Stände: Da der Zweck der Schule – so seine Über- zeugung – darin bestünde, die Menschen für ihr zukünftiges Leben bezogen auf ihren jeweiligen Stand brauchbar zu machen, und deshalb „der Bauer anders als der künftige Gewerbe oder mechanische Handwerke treibende Bürger und dieser wiederum anders als der künftige Gelehrte oder zu höheren Ämtern des Staates bestimmte Jüngling unterrichtet werden“ müsse (von Zedlitz 1787: 3), seien für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entsprechende Schulen notwendig: eine Bauern-, eine Bürger- und eine Gelehr- tenschule. Differenzierung – so zeigt das Beispiel auch – wurde gleichsam von ihrem Ergebnis aus gedacht. Heute werden derartige Überlegungen zwar nicht mehr öffentlich angesprochen. Gleichwohl ist zu vermuten, dass der nach wie vor beobachtbare Wider- stand gegen eine möglichst ausgedehnte gemeinsame Schulzeit für alle Heranwachsenden – wie er sich etwa in Hamburg 2010 über einen Schulentscheid erfolgreich artikuliert hat – nicht zuletzt aus der Befürchtung der gut situierten Elterngruppen resultiert, „dass die Schulklasse“ – wie dies Diederich/Tenorth (1997: 113) formulieren – „wirklich im Klei- nen so sein könnte wie die Gesellschaft im Großen und Ganzen: heterogen, was die sozia- le Herkunft und die Lernvoraussetzungen angeht, pluralistisch bezüglich der Normen und Werte, von denen ihre Mitglieder überzeugt sind, und entsprechend konfliktreich im Zusammenleben – kurz: nichts für Sensible oder für Zeitgenossen, die sich nach Harmo- 80 nie und Einheit sehnen“ (ebd.: 113) – und nichts für solche, so kann man ergänzen, die ihr Kind von den ‚Schmuddelkindern‘ fernhalten bzw. eigene Privilegien sichern wollen. Wir kommen darauf noch zurück, wenden uns nun aber der Frage nach dem empirischen Wissen über die Effekte unterschiedlicher Differenzierungsmodelle zu. Dabei geht es einmal um eine Vertiefung bzw. Konkretisierung der Differen- zierungsthematik. Gleichzeitig verfolgen wir eine zentrale Argumentationslinie im aktuelle Reformdiskurs: die Kritik an der Differenzierung der deutschen Se- kundarstufe in verschiedene Schulformen und die Forderungen nach einem inte- grativen System, von dem man sich eine Beseitigung vieler Probleme verspricht. 3.2.3 Schulformdifferenzierung in empirischer Perspektive Fragen nach Effekten und Konsequenzen unterschiedlicher Organisationsmodel- le haben in Deutschland zwar als Gegenstand empirischer Forschung im interna- tionalen Maßstab eine noch recht kurze Tradition, im Kontext von deutscher Bildungsforschung selbst wurden solche und ähnliche Fragen jedoch mit ver- gleichsweise hoher Aufmerksamkeit belegt (s. Kasten 3.2). Dabei stand und steht die Diskussion um die separative (horizontale) Schulformdifferenzierung in der allgemeinbildenden Sekundarstufe I im Vordergrund. Ausgangspunkt waren die Debatten um die Einführung der Gesamtschule in den 1960/70er Jahren, die – der Deutsche Bildungsrat (1969: 31) – von nahezu „allen Sei- ten so stark unter ideologischen Gesichtspunkten geführt (würden), daß eine Rationali- sierung der Kontroverse durch objektive Untersuchungen der Wirkungen eines Ge- samtschulsystems dringend notwendig sei“. Neben der ‚Gesamtschulforschung‘ bzw. den durchgeführten Schulsystemvergleichen (vgl. z.B. Fend 1982) wurden ähnliche Fragen ab Mitte der 1980er Jahre auch im Rahmen der Integrationsforschung unter- sucht (z.B. Preuss-Lausitz 2002). Hier geht es gewissermaßen um den ‚verschärften‘ Fall von Heterogenisierung durch die, anfangs in Modellversuchen realisierte, Integra- tion von SchülerInnen mit besonderem Förderbedarf. In den letzten Jahren kommen außerdem etliche neuere Studien und Kontroversen in Zusammenhang mit PISA und Folgestudien hinzu (z.B. Köller 2004; Groehlich/Scharenberg/Bos 2009). Damals wie heute zielen solche Studien auf die Frage, in welcher Weise sich die (eher homogene oder heterogene) Zusammensetzung der Lerngruppe auf die SchülerInnen auswirkt, und zwar im Hinblick auf fachliche Leistungen (etwa Lesekompetenz, Mathematik- kompetenz) wie auch auf Persönlichkeitsaspekte (etwa das Selbstkonzept oder soziale Orientierungen). Daneben spielen auch andere Fragen, wie Durchlässigkeit, Chancen- gleichheit, Elternakzeptanz oder Lehrerarbeit, eine Rolle. Kasten 3.2: Empirische Zugänge zum Problem der Schulstruktur 81 Negative Effekte der Schulformgliederung Die Schulstruktur wirkt zwar nicht determinierend, wie wir mit dem Konzept der Rekontextualisierung argumentiert haben. Sie gibt aber sehr wohl einen Rahmen vor, der bestimmte Prozesse in Gang setzt oder begünstigt, zu bestimmten Wir- kungen führt bzw. spezifische Optionen eröffnet oder verschließt und durchaus weitergehende Dynamiken entwickelt. So könnte z.B. ein selektives Schulsystem eine „Entsorgungsmentalität“ (Fend 2004: 23) bei den LehrerInnen begünstigen, die „zu einem Abschieben in andere Schulformen und zu einem gehäuften Sit- zenbleiben führt“. Die Akteure finden eine Struktur vor, in der das Verbleiben in einem spezifischen Bildungsgang zu legitimieren ist (Schüler müssen unter Be- weis stellen, dass sie eines Bildungsgangs auch würdig sind; Lehrer müssen zeigen, dass sie dies auch richtig beurteilen), gleichzeitig besteht die Möglich- keit, diejenigen, die diesen Anforderungen nicht genügen, abzuschieben. Aus der Fülle derartiger Folgewirkungen greifen wir exemplarisch drei Aspekte auf: Verselbstständigungseffekte organisatorischer Differenzierung Allein die Existenz eines horizontal differenzierten Schulsystems kann zu pro- blematischen Folgen führen, weil die einzelnen Systeme (Schultypen, Einzel- schulen) Existenzsicherung betreiben (müssen) und auch um ‚gute‘ SchülerInnen konkurrieren. Beispiele dafür, dass Schülerrekrutierungen und -verschiebungen keineswegs nur das Ergebnis pädagogischer Motive sind, sondern auch schul(form-)spezifische Bestands- und Funktionserhaltungsinteressen wirksam werden, haben Gomolla/Radtke (2003) rekonstruiert. So wird die Sonderschu- le/Förderschule nicht allein deshalb mit SchülerInnen ‚versorgt‘, weil hier ‚be- sondere‘ Förderung betrieben wird, sondern sie besitzt gegenüber dem Regel- schulsystem auch eine Entlastungsfunktion, und sie braucht Förderschüler, um existieren zu können. Es sind dies Prinzipien, die ähnlich auch für die Schüler- verteilungen auf die weiterführenden Bildungsgänge nach der Grundschule grei- fen. Neben Interessen, vermeintlich schwierige SchülerInnen abzuweisen (sofern die vorgeschriebenen Klassengrößen gesichert sind!), kann es gleichzeitig auch umgekehrte Effekte in Bezug auf leistungsstarke SchülerInnen geben: Für die Realschulen bestehe zum Beispiel – so Gomolla/Radtke (ebd.: 235) – „bei der Entscheidung, leistungsstarke SchülerInnen auf das Gymnasium zu empfehlen, ein Dilemma. Schülerverschiebungen (Abschöpfen von Schülern durch die Gymnasien) werden an den Realschulen als Niveauverlust erlebt, bei dem man die für die Abgrenzung zur Hauptschule wichtigen leistungsstarken SchülerInnen ungern gehen lässt“. Kurz: Mit einzelnen Schulformen gehen pädagogisch höchst unerwünschte Wirkungen einher. 82 Kumulation von Problemen am unteren Ende Zwar sind für viele Grundsatzfragen zu Vor- und Nachteilen des integrativen oder separierenden Strukturprinzips die Befunde kaum generalisierbar und ein- deutig. Allerdings stimmen eine Reihe von Untersuchungen doch darin überein, dass gerade schwächere SchülerInnen eher von integrativen Systemen profitieren bzw. dass eine Homogenisierung von Lerngruppen zu problematischen Effekten am ‚unteren Ende‘ führt. Ungünstige Kompositionseffekte auf den Unterricht und die Unterrichtsergebnisse – so Helmke/Weinert (1997: 96) in ihrer Übersicht zur Lehr-Lern-Forschung – „treten verstärkt auf, wenn sich in Schulklassen eine größere Anzahl von Schülern mit Verhaltens- Erziehungs- und/oder Lernpro- blemen findet“. Untermauern konnte diese Problematik auch Schümer (2004) durch eine differenziertere Analyse der PISA-Daten. Die Forscherin weist nach, dass besonders in Hauptschulen die Schülerleistungen noch einmal schlechter als erwartet ausfallen. Sie spricht deshalb von einer „doppelten Benachteiligung“, weil SchülerInnen, „die unter ungünstigen sozialen und kulturellen Bedingungen aufwachsen und dementsprechend häufig Schulschwierigkeiten haben, (...) noch einmal benachteiligt werden, wenn sie extrem ungünstig zusammengesetzten Schülerpopulationen angehören“ (ebd.: 105). Zur Interpretation bieten sich meh- rere Erklärungen an: Ungünstige Schulerfahrungen können das Selbstvertrauen, aber auch die Lernmotivation deutlich vermindern und so ein eher schwieriges Lernmilieu (Disziplinprobleme, Absenzen, Gewalt) begünstigen. Denkbar sind auch Erwartungseffekte auf Lehrerseite: Man traut den SchülerInnen kaum etwas zu und unterrichtet auf niedrigem Niveau. Soziale Selektion bei Übergangsentscheidungen Dass schulischer Bildungserfolg in Deutschland eng mit der sozialen Herkunft verknüpft ist, wurde schon mehrfach angesprochen. Zwar gibt es dafür unter- schiedliche Deutungen, jedoch gewinnt gerade die frühe Übergangsauslese nach der Grundschule diesbezüglich in mehrfacher Hinsicht an Erklärungskraft. Ein- mal scheinen, wie Lehmann/Peek (1997) in ihrer Hamburger Studie feststellen konnten, bei der von LehrerInnen erteilten Übergangsempfehlung sozial privile- gierte Schülergruppen eher zu profitieren: Je niedriger der Bildungsabschluss des Vaters, desto höher mussten die Testleistungen eines Kindes sein, um eine Gym- nasialempfehlung zu erhalten. Neben dieser Beeinflussung der Übergangsemp- fehlung durch subjektive Lehrertheorien (vgl. Pohlmann 2009) wird jedoch auch von unterschiedlicher Nutzung sozialer Aufstiegsmöglichkeiten ausgegangen: Eltern aus bildungsfernen Schichten entscheiden sich bei gleicher Begabung ihrer Kinder seltener für gymnasiale Bildungsgänge als jene aus bildungsnahen Milieus, was – so eine Theorie (rational-choice-Modelle, vgl. Boudon 1981) – mit unterschiedlichen Kosten-Nutzen- und Risiko-Abwägungen erklärt wird. 83 Man spricht hier auch von sog. sekundären (auf Entscheidungen beruhenden) Ungleichheiten, im Unterschied zu sog. primären Disparitäten, die durch her- kunftsbedingt ungleiche Fähigkeiten und Leistungen entstehen. Überlegenheit integrativer Systeme? Es gibt also eine ganze Reihe guter Gründe, alle SchülerInnen in einer einzigen Schulform zu unterrichten, d.h. auf Differenzierung in Haupt- und Sonderschu- len, Realschulen, Gymnasien usw. zu verzichten. Reicht es nun aber aus, auf das integrative Strukturprinzip zu setzen, um die geschilderten negativen Aspekte zu vermeiden bzw. zu reduzieren? Gundel Schümer (2008) hat sich in einer Reanalyse der PISA-Daten 2000 mit dieser Frage auseinandergesetzt. Ihr Beitrag ist für unsere Thematik deshalb so interessant, weil die Forscherin explizit bei der im aktuellen Diskurs häufig vertretenen These ansetzt, „das hohe Niveau der Leistungen in Ländern mit ega- litären Schulsystemen zeige, dass diese dem vergleichsweise selektiven, hierar- chisch gegliederten deutschen Schulsystem überlegen sei“ (ebd.: 52). Ihre Be- funde lassen sich so zusammenfassen: Ein einfacher Ländervergleich zwischen Leistungsergebnissen und Schul- struktur zeigt, dass kaum systematische Zusammenhänge bestehen: Es gibt Länder (wie Österreich, Tschechien, die Niederlande, Belgien oder Frank- reich), die zwar eine recht selektive Struktur haben, aber überdurchschnitt- lich gut abschneiden. Umgekehrt findet man Länder (z.B. Griechenland, Portugal, Spanien, Polen und die Vereinigten Staaten) mit wenig Selektion und unterdurchschnittlichen Leistungsergebnissen. Ähnliches gilt auch für den sog. sozialen Gradienten, der angibt, wie eng Leistungen mit der sozialen Herkunft der Schüler zusammenhängen: „Si- gnifikant über dem OECD-Durchschnitt liegende Werte der sozialen Gra- dienten findet man nicht nur in Ländern mit selektiven Schulsystemen son- dern auch in Ländern mit durchschnittlichen oder nicht-selektiven Syste- men; und signifikant unter dem OECD-Durchschnitt liegende Werte kom- men keineswegs nur in nicht-selektiven Schulsystemen vor“ (ebd.: 53). Diese Ergebnisse weisen also darauf hin, dass es – wie Schümer (ebd.: 59) selbst resümiert – deutlich zu kurz greift, „Länderunterschiede in den Leistungen und im Ausmaß ihres Zusammenhangs mit der sozialen Herkunft der Schüler mono- kausal – unter Hinweis auf die Schul- und Unterrichtsorganisation – zu erklä- ren“. Dies war bereits eine zentrale Erkenntnis aus den groß angelegten Begleit- 84 untersuchungen zur Gesamtschule der 1970er Jahre: Die Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen einer Systemvariante, so das wohl am häufigsten zitierte Ergebnis, waren in der Regel größer als die Unterschiede zwischen der Gesamt- schule und dem gegliederten System (vgl. Fend 1986). Ähnlich lesen sich die Befunde der empirischen Lehr-Lern-Forschung, in der diese Frage auf der Unter- richtsebene untersucht worden ist. So bilanzierten Helmke/Weinert (1997: 93) die vorrangig internationale Forschung zu den Vor- und Nachteilen leistungsho- mogener und -heterogener Lerngruppen für die Leistungsentwicklung: „Es gibt weltweit eine große Anzahl von Untersuchungen, aber kein einheitliches Be- fundmuster, weil die Effektivität der Fähigkeits- und Leistungsgruppierung von zu vielen Bedingungsfaktoren beeinflusst wird“. Dass eine alleinige Analyse von Struktureffekten grundsätzlich zu grob ist, scheint also evident und dürfte mit Blick auf die schultheoretische Konzeption von Fend auch nicht überraschen. Das heißt aber auch: Ein Systemwechsel allein ist noch keine hinreichende Lösungsstrategie; vielmehr scheint man gut beraten, sich genauer mit den jeweiligen Optionen und Gegebenheiten auseinanderzuset- zen. Einige weiterführende Perspektiven dazu seien im Folgenden aufgezeigt. (1) Länderspezifische Unterschiede Für internationale Vergleiche, die in der aktuellen Debatte einen hohen Stellen- wert besitzen, sind immer auch Einflussfaktoren zu berücksichtigen, die ihren Ursprung außerhalb des Bildungswesens haben (vgl. Fend 2004): Länderunter- schiede bezüglich der sozioökonomischen Situation, kultureller Traditionen oder der soziokulturellen Bevölkerungszusammensetzung sind z.B. Faktoren, die für die Leistungsentwicklung oder die Ausprägung des Sozialgradienten Relevanz entfalten können. (2) Latente Differenzierung Bezogen auf die Schulstrukturfrage ist im Blick zu haben, dass in der Regel eine deutlich größere Varianz besteht, als dies eine einfache Gegenüberstellung von zwei Strukturtypen nahe legt. Notwendig wird etwa eine kritische Prüfung, ob und inwieweit es nicht auch in integrativen Systemen andere, nämlich indirekte Wege von Differenzierung gibt, die gleichfalls zu einer Homogenisierung von Lerngruppen beitragen. In Anlehnung an Schümer (2008: 54) seien einige ‚Se- lektionsverfahren‘ näher ausgeführt: Es können große sozioökonomische Differenzen zwischen verschiedenen Schuleinzugsgebieten bestehen, d.h. es kann eine latente Differenzierung stattfinden. Ein solcher Mechanismus kommt in Deutschland etwa im Pri- marbereich zum Tragen: Einerseits gilt hier die Schülerschaft noch als sehr 85 heterogen, weil die Grundschule alle Kinder eines Wohngebietes aufnimmt. Weil es aber – vor allem in größeren Städten – Wohngebiete mit privilegier- ten und weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen gibt, macht sich dies auch in der Zusammensetzung der jeweiligen Grundschulklassen bemerk- bar. Lehmann und Peek (1997) haben dies eindrucksvoll für die Stadtgebie- te Hamburgs belegt: Ein Leistungstest am Ende des 4. Jahrgangs zeigte, dass zwar in allen Klassen große Leistungsheterogenität besteht, sich dies aber in den verschiedenen Stadtteilen auf höchst unterschiedlichem Niveau bewegt: Die „leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler in den benachtei- ligten Regionen [erreichen] etwa den Stand der leistungsschwächeren Schü- lerInnen in den am meisten bevorzugten Gebieten“ (ebd.: 53). Ein zweiter Faktor sind Privatschulsysteme, wie man sie in größerem Aus- maß z.B. in Frankreich, Großbritannien oder in den USA findet. In Deutsch- land nehmen konfessionell gebundene Schulen diese Funktion teilweise wahr. Sie basieren zumeist auf Elternentscheidungen und schulseitigen Auswahlprozeduren und können dann zu heiklen Effekten führen, wenn das Prinzip einer Schule für alle bewusst unterlaufen wird, bestimmte Schulen gemieden und auf diese Weise leistungsstarke SchülerInnen aus dem staat- lichen System ‚gezogen‘ werden (vgl. Zymek/Richter 2007). Diese Diffe- renzierungsvariante scheint in Deutschland, obgleich noch relativ moderat ausgeprägt, im Kommen zu sein, wenn man die Zuwachsraten betrachtet: Berichtet wird eine Steigerung der Schülerschaft an privaten Schulen um 25% zwischen 1996/97 und 2006/07 (vgl. Autorengruppe Bildungsbericht- erstattung 2008: 65). Ähnliche Effekte verbinden sich mit der Wahl von Schulen mit besonderen Schwerpunkten oder attraktiven Angeboten: Beispiele sind Schwerpunkte in den Fremdsprachen (Certilingua, Europaschulen, bilinguale Zweige in ver- schiedenen Sprachen), im naturwissenschaftlichen Bereich, in Informatik, im (reform-)pädagogischen Profil. Dieses Prinzip greift dann, wenn eine Schule so attraktiv ist, dass die Bewerberlage die tatsächlich vorhandenen Plätze übersteigt, so dass die Schule auswählen und sich auf besonders pri- vilegierte/leistungsstarke Schülergruppen stützen kann (s. auch Kap. 5). Schließlich sind die Modi von intraschulischer Differenzierung genauer in den Blick zu nehmen. Wir gehen darauf noch ein, weisen aber schon darauf hin, dass man hier wieder manifeste, aber auch latente Differenzierung an- trifft: Manifeste Formen sind z.B. Varianten der Fachleistungsdifferenzie- rung (tracking oder setting – s.u.). Latente Differenzierung findet man hin- gegen häufig bei Wahl- und Interessen-Differenzierung; so ist etwa die Wahl einer zweiten Fremdsprache eng verknüpft mit Leistungsmerkmalen. 86 Neue bzw. bleibende Differenzierungsprobleme in integrativen Systemen Uns soll abschließend noch das Problem beschäftigen, dass auch bei einer Ab- schaffung der Schulformgliederung die angesprochenen Probleme nicht ver- schwinden, sondern an anderen Stellen wieder auftauchen können. Auch wenn wir damit unsere selbst gewählte Systematik verlassen und uns schon der Me- soebene zuwenden, vertiefen wir dieses Problem exemplarisch an der hitzigen US-amerikanischen Debatte um das tracking. Ein Blick in die USA kann zunächst zeigen, dass die Debatte um Heteroge- nität und Differenzierung in Deutschland kein Solitär ist, sondern auch in ande- ren Ländern schon seit längerem, und zwar sehr kontrovers geführt wird. Oakes (2005), auf die wir uns im Folgenden stützen, spricht hier sogar von ‚Tracking Wars‘. Was steckt dahinter? Es ist zwar so, dass die US-amerikanische High School vom Anspruch eine Schule für alle sein will und soll; nichtsdestotrotz (bzw. auch aus diesem Grund!) findet man dort vielfältige Differenzierungspraktiken auf Einzelschul- ebene, die im Prinzip ähnliche Effekte haben wie die Sortierung von SchülerIn- nen in separate Schulformen: So ordnen die meisten US-amerikanischen Schulen ihre SchülerInnen über standardisierte Tests und Beratungen bzw. ordnen diese sich zunehmend selbst (choice) unterschiedlichen (und unterschiedlich wertigen) Klassen und Kursen zu. Deren Bezeichnungen sind zwar zunächst ‚unverdäch- tig‘ (vocational, general, academic oder college-prep, honors, gifted, basic usw.), ihnen liegt aber meist eine latente Einteilung in leistungsstarke, durch- schnittliche und schwache Schülergruppen zugrunde. Die genauen Sortierungs- mechanismen und -kriterien unterscheiden sich im stark lokal verankerten Schul- system der USA im Einzelnen sehr: Manche Schulen sortieren in feste Schul- zweige (ähnlich den Kooperativen Gesamtschulen in Deutschland), andere nur in einzelnen Fächern (wie bei der Fachleistungsdifferenzierung an deutschen Ge- samtschulen). Wieder andere verfügen zwar über keine manifesten, wohl aber über latente Platzierungsmechanismen. Eine beträchtliche Variation gibt es au- ßerdem nach Ausmaß der Differenzierung (alle Fächer? nur einige Fächer für nur einige Zeit? welche Fächer überhaupt?), nach Flexibilität und Mobilität der Zu- weisungen und nach dem Entscheidungsträger. Die wenigsten verteilen ihre SchülerInnen überhaupt nicht auf verschiedene ‚tracks‘. Wo liegt das Problem, wenn Schulen – was sie doch sollen! – als Antwort auf Differenzen, die ihre SchülerInnen mit in die Schule bringen, diesen unter- schiedliche Lerngelegenheiten anbieten? Oakes’ Argumente, die sie auf der Grundlage empirischer Studien formuliert, erinnern an die Befunde von Schümer zur doppelten Benachteiligung von ausgelesenen Schülerschaften: Die Qualität der Lernmöglichkeiten erweist sich in den lower tracks als geringer als in den 87 higher tracks; und die Chancen, in einen von diesen tracks zu gelangen, sind schichtenspezifisch ungleich verteilt. Tracking ist, mit anderen Worten, ein Äquivalent für die deutsche Schulformdifferenzierung in einem integrativen System mit ähnlich negativen Folgen: Es benachteiligt die ohnehin schon Be- nachteiligten. Der sich anschließenden Frage, ob intraschulisches tracking im Vergleich weniger schlecht als die interschulische Schulformdifferenzierung ist, kann Oakes nicht nachgehen, da ihr die Vergleichsgruppe fehlt. Auch wir wollen diese zweifellos wichtige Frage nicht weiter vertiefen, sondern auf zwei hier sichtbar werdende Dilemmata hinweisen: Natürlich gibt es die Möglichkeit, auf äußere Differenzierung nach Leistung – ob in Schulformen oder Fachleistungskursen – ganz zu verzichten. SchülerIn- nen könnten durch ein einfaches Losverfahren in Lerngruppen eingeteilt werden. Gelöst wäre so aber nur ein Teilproblem. Wie dargestellt, treten benachteiligende Effekte auch in Form latenter Differenzierung – etwa bei Wahl- und Interessen- differenzierung – auf: Ungleichheit der Angebote (ob selbst gewählt oder aus pädagogischen Gründen verordnet) führt zu Unterscheidungen, die sowohl ho- mogenisieren und Ausgangsunterschiede weiter verstärken, als auch unterschied- liche Anschlussmöglichkeiten eröffnen bzw. verschließen können. Wollte man die damit verbundenen Probleme vermeiden, müsste man im Prinzip alle zu dem gleichen Angebot zwingen, was aber in Zielkonflikte führt: Einerseits sollen Interessen und Bedürfnisse – so ja gemeinhin das pädagogische Postulat – der Subjekte berücksichtigt, ja in den Mittelpunkt gestellt werden: SchülerInnen sollen zu ihnen passende Lerngelegenheiten geboten werden; und SchülerInnen sollen auswählen können! Andererseits führen genau diese Wahlmöglichkeiten zu ungleichen (ungleichwertigen) Kompetenzen und Abschlüssen. Wahlfreiheit und das Recht auf passende Angebote und individuelle Profilierung stehen also gegen Normierung und (Angebots-)Gleichheit. In engem Zusammenhang dazu steht ein weiteres Dilemma, das wir schon kurz gestreift hatten: Differenzierungspraktiken gleich welcher Art hängen auch von gesellschaftlichen Grundüberzeugungen ab. Diese manifestieren sich nicht zuletzt in den Interessen von Eltern, die für ihre Kinder natürlich nur das Beste und sich ihre Rechte darauf nicht nehmen lassen wollen. Der Zielkonflikt zwi- schen Freiheit und Gleichheit – so lässt sich aus der nachfolgenden Einschätzung von Zymek/Richter (2007) zur regionalen Schulentwicklung schließen – setzt sich bis hin zur Frage freier Elternentscheidung fort: „In deutschen Großstädten haben sich die Schulformen zu einem stark ausdifferen- zierten und unterschiedlich sozial vernetzten Spektrum von Schulen entwickelt. In- tegrierte Schulmodelle scheinen nur dann den Tendenzen zur sozialen Segregation entsprechend ihrem sozialräumlichen Umfeld entgehen zu können, wenn sie als So- litärschulen in einem relativ homogenen Umfeld angesiedelt sind, wie das heute in 88 vielen Kleinstädten und suburbanen Räumen der Fall ist. Dies könnte einer der Gründe sein, warum in Ländern (wie z.B. den skandinavischen), in denen die große Mehrheit der Bevölkerung in solchen Siedlungsstrukturen lebt, sich integrierte Schulmodelle durchsetzen und akzeptiert werden. In Ländern und Regionen, die von stark segregierten urbanen Strukturen mit einer differenzierten Berufs- und Sozial- struktur geprägt sind, würde die Einführung integrierter Schulformen nur dann die Hoffnung auf den Abbau von Bildungsungleichheiten rechtfertigen können, wenn gleichzeitig alle - bislang durch Verfassungsrecht garantierten - Freiheiten auf die Errichtung von privaten und konfessionellen Schulen abgeschafft und eventuell auch noch die Mischung der Kinder aus verschiedenen Wohnvierteln in integrierten Schulen – etwa durch ‚bussing‘ – erzwungen würde. Eine solche Schulpolitik er- scheint unrealistisch“ (ebd.: 343). Insgesamt, so möchten wir unsere Einschätzung bezüglich der in diesem Kapitel thematisierten Makrostruktur bilanzieren, scheint es alles andere als einfach, aus einer wissenschaftlichen Perspektive mögliche Wirkungen und Nebenwirkungen einer Schulstrukturreform, wie sie der Reformdiskurs fordert, abzuschätzen. Zwar sind die Argumente für die Forderung, alle SchülerInnen in einer einzigen Schulform zu unterrichten, d.h. auf eine horizontale Schulformdifferenzierung zu verzichten, evident. Es gibt aber zahlreiche Strategien (wie Privatschulen, Schu- len mit besonderem Profil), durch die sich Konzepte einer Schule für alle unter- laufen lassen. Wichtig ist uns der abschließende Hinweis, dass für Argumente bezüglich der Vor- und Nachteile der Strukturtypen unterschiedliche Ziele (und unterschiedliche Schülergruppen) in Anschlag gebracht werden können und müssen: (1) Für bestimmte Schülergruppen, vereinfacht: für die Leistungsstarken (und für die LehrerInnen, die sie unterrichten!) mögen aus früher Übergangsaus- lese und getrennten Schulformen keine Nachteile (bzw. sogar Vorteile, vgl. z.B. Baumert/Köller 1998) erwachsen. Probleme werden aber dann sichtbar, wenn man das gesamte Spektrum von Effekten und von Schülerschaften, al- so die Nachteile etwa für Leistungsschwächere, einbezieht. (2) Die Frage der optimalen Leistungsförderung für alle ist nur ein mögliches Ziel für Differenzierung (und schulische Förderung), das durchaus in Kon- flikt mit dem Ziel des Leistungsausgleichs geraten kann. Man könnte gesell- schaftlich in Kauf nehmen wollen, dass die Stärkeren weniger gut gefördert werden, wenn die Schwächeren und Benachteiligten von der gewählten Schulstrukturkonstellation einen Vorteil haben und ihre (geringeren) Chan- cen dadurch verbessern können. 89 Wer der Meinung ist, dass besonders die Leistungsstärksten die Gesellschaft voranbringen (und dann auch die Schwächeren stützen können), der wird weiter- hin für eine möglichst frühe Trennung votieren, allenfalls das Selektionsverfah- ren zugunsten einer wirklichen Auswahl nach Verdienst (merit) optimieren wol- len. Wer diese Überzeugung nicht teilt und dagegen glaubt, dass Chancengleich- heit das höherwertige Ziel ist oder sich für eine egalitäre Gesellschaft ausspricht, wird sich für das längere gemeinsame Lernen aussprechen. Man sieht auch hier: Bei der Differenzierungs- und Heterogenitätsthematik geht es ganz zentral um Zielfragen und Wertentscheidungen, die den gesellschaftlichen Umgang mit Unterschieden betreffen. 3.3 Schule im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang Soziologisch motivierte Analysen der Schule – dies soll uns nun im Weiteren beschäftigen – kommen gegenüber pädagogischen Reflexionen zu einem durch- aus anderen Ergebnis, was die Aufgaben bzw. genauer: die Funktionen der Schu- le in der modernen Gesellschaft betrifft. Zwar gibt es im Detail unterschiedliche Konturierungen solcher gesellschaftlichen Funktionen. Als unstrittig gilt aber, dass das Bildungssystem resp. die Schule eine Institution ist und als solche auch auf die dauerhafte Bewältigung von Kernaufgaben einer Gesellschaft ausgerich- tet ist. Klassisch – und schon in der ersten Fendschen Theorie der Schule kon- zeptionalisiert – werden drei gesellschaftliche Funktionen herausgearbeitet: Die Qualifikationsfunktion dient der Reproduktion kultureller Systeme. Hier geht es darum, die heranwachsende Generation durch die Vermittlung von Grundkompetenzen ‚gesellschaftsfähig‘ zu machen und auch für die not- wendigen Qualifikationen für das Beschäftigungssystem zu sorgen. Die Selektions- oder auch Allokationsfunktion dient der Reproduktion der Sozialstruktur über die Verteilung der heranwachsenden Generation auf die Positionen in der Gesellschaft. Die Legitimations- oder auch Integrationsfunktion zielt auf die Reprodukti- on von Normen, Werten und Deutungen, die zur Sicherung des politischen Systems – kritisch gewendet: zur Sicherung der Herrschaftsverhältnisse – erforderlich sind. Für die Frage des Umgangs mit Heterogenität ergeben sich aus diesem Funkti- onsmodell eine Reihe von Implikationen, die in unseren bisherigen Darstellun- gen im Prinzip schon immer als Problemhorizont aufgespannt waren. So hatten wir für die Frage nach den Referenzen für Differenzierung darauf aufmerksam 90 gemacht, dass hier neben eine pädagogische Zielstellung auch Qualifikationsan- sprüche der Gesellschaft bzw. des Arbeitsmarktes in Anschlag gebracht werden können, was sich nun in Kenntnis der gesellschaftlichen Funktionen noch einmal genauer konkretisieren lässt: Die Frage, was die Individuen lernen müssen, um autonom und handlungsfähig zu sein, und wie Schule zu organisieren ist, damit dies für die heterogenen Subjekte optimal zu erreichen ist, lässt sich auch anders stellen: Welche Qualifikationen werden auf dem Arbeitmarkt benötigt? Oder wie können Schülerströme so in unterschiedliche Berufslaufbahnen kanalisiert wer- den, dass genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen? Um an dieser Stelle einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Wenn wir uns mit derartigen Implikationen des gesellschaftlichen Funktionszusam- menhangs auseinandersetzen, heißt dies nicht, diese Erfordernisse absolut zu setzen bzw. ihnen eine Vorrangstellung gegenüber den pädagogischen Aufgaben einzuräumen. Auch in der Schultheorie von Fend (1980/2006a) wird explizit mitgedacht, dass Schule eine gesellschaftliche und eine pädagogische Institution ist. Uns kommt es im Weiteren darauf an, genauer auszuloten, welche Perspekti- ven auf Schule man gewinnt, wenn man sie unter dem Blickwinkel ihrer Einbin- dung in die oben genannten Reproduktionsansprüche betrachtet. Dabei gilt ähn- lich wie für die Differenzierungsthematik, dass sich mit dieser Perspektive ein Feld eröffnet, das hier nur ausschnitthaft beleuchtet werden kann. Da uns über- dies die mit den gesellschaftlichen Funktionen verbundenen Implikationen spe- ziell für das Lehrerhandeln noch im nächsten Kapitel beschäftigen werden, möchten wir Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf eher grundsätzliche Überlegun- gen richten. Wir konzentrieren uns dazu im Folgenden auf die Selektions- bzw. Alloka- tionsfunktion, die – so unsere These – für die Heterogenitätsthematik die ge- wichtigeren Probleme entfaltet. Zwei Aspekte gilt es dabei zu unterscheiden: Unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs geht es um eine Zuteilung (=Allokation), die für die Umwelt – konkret die Gesell- schaft – erbracht werden muss: die Voraussetzung für eine Platzierung der nachwachsende Generation auf (ungleichwertige) soziale Positionen. Und dabei gilt, wie wir noch sehen werden: Für die Umwelt ist nicht entschei- dend, wie innerhalb des Schulsystems zugeteilt wird; entscheidend ist, dass am Ende der Schulzeit unterschiedliche Berechtigungen für weitere Lauf- bahnen zugeteilt worden sind. Selektion bezieht sich auf systeminterne Operationen der Unterscheidung und Auswahl von SchülerInnen nach dem Modus besser/schlechter bzw. geeignet/ungeeignet innerhalb des Bildungssystems. Hierzu stehen vielfälti- ge Verfahren und Instrumente innerhalb und außerhalb des Unterrichts zur 91 Verfügung: Lob/Tadel, alle Arten von Leistungsdiagnosen und -zertifikaten, Auswahlgespräche, Prüfungen usw. In Deutschland steht insbesondere die Selektion am Ende der Grundschulzeit als Verfahren in der Kritik. Ausgehend von dieser Unterscheidung stellen sich nun eine ganze Reihe von Fragen, die wir nachfolgend ein wenig genauer in den Blick nehmen wollen: Welche Rolle spielt die Allokation für die Gestaltung schulischer Bildungsgän- ge? Ist Selektion ein notwendiges Element von Schule? Welche Wirkungen und Nebenwirkungen entfalten die konkreten Selektionsverfahren? 3.3.1 Allokation und Heterogenität Ausgangspunkt für die hier thematisierte gesellschaftliche Funktion ist der Um- stand, dass begehrte Güter und Positionen (wie Status und Einkommen) nur begrenzt (nicht für alle und jederzeit in gleicher Höhe) zur Verfügung stehen. Es muss deshalb ein Modus gefunden werden, diese auf Personen und umgekehrt zuzuteilen. Daraus erwachsen Verteilungsfragen: „Moderne Gesellschaften sind […] hochgradig funktionsteilige Gesellschaften. Aber die verschiedenen Funktionen bilden kein Gefüge von Aufgaben, Tätigkeiten und Möglichkeiten auf gleicher Ebene, sondern sie sind in allen real existierenden mo- dernen Gesellschaften weitgehend hierarchisch abgestuft, bilden ein System von Über- und Unterordnungen, von sehr verschiedenen Möglichkeiten, zu Besitz und Wohlstand, zu Einfluss, Entscheidungs- und Machtausübungsmöglichkeiten zu kommen“ (Klafki 2002: 48; Herv. i. Original – M.T./B.W.). Da Herkunft und Abstammung als Verteilungsprinzip in sozial und marktwirt- schaftlich organisierten Demokratien nicht mehr als legitim gelten – gleichwohl sie faktisch durchaus immer noch eine wichtige Rolle spielen –, ist der Schule die Aufgabe zugewachsen, diese Verteilung qua Leistungsauslese mitzugestal- ten. Weithin anerkannte Norm ist hier das sog. meritokratische Prinzip, d.h. die Idee, dass die besten Plätze in der Gesellschaft denjenigen zustehen, die die Besten im Sinne der verdientermaßen Leistungsfähigsten sind; die anderen müs- sen sich mit weniger guten Plätzen begnügen.12 Die Schule, so könnte man auch sagen, wird so in modernen Gesellschaften zur zentralen „sozialen Dirigierungsstelle und bürokratischen Zuteilungsappara- 12 Dass diese Norm selbst alles andere als eindeutig und unproblematisch ist sowie in der Praxis vielfältig unterlaufen wird, wird bei näherer Überlegung schnell ersichtlich. Kritiken hinsicht- lich Diskriminierung und einer sozialen, nicht leistungsabhängigen Selektion setzen sie jedoch voraus. 92 tur von Lebenschancen“ (Schelsky 1957: 17), indem sie wie auch immer defi- nierte Leistungsdifferenzen für gesellschaftliche Anschlussunterscheidungen (z.B. Wer darf studieren?) sichtbar macht bzw. sichtbar machen muss: Es müs- sen Verfahren gefunden werden, mit denen sich Leistungsfähigkeiten bzw. -differenzen feststellen und attestieren lassen; Prüfungen, Tests, Zensuren u.Ä.m. sind hier die aus dem Schulalltag hinlänglich bekannten Instrumente, mit denen diese Anforderung auf operativer Ebene zum Ausdruck kommt. Die funktionalen Erfordernisse sind aber noch weiter reichend. Denn entscheidend ist auch, dass das leistungsorientierte Allokationssystem als rechtmäßig erachtet wird. Es ist dies ein Aspekt, der im engen Zusammenhang zur Legitimationsfunktion steht: Es gilt im Grunde zu legitimieren, dass knappe Güter überhaupt ungleich verteilt werden, dabei das Leistungsprinzip als regulative Idee fungiert und die Schule diese Leistungen auch richtig feststellen kann. Es liegt auf der Hand, dass man über diese Anforderungen eine Perspektive auf die Funktionsweisen, aber auch auf die Strukturprinzipien der Schule ge- winnt, die für unser Thema folgengreich sind. Wir gehen auf zwei Aspekte eher schlaglichtartig als systematisch ein. (1) Ungleichheit als Ziel und Strukturprinzip Konsequenzen ergeben sich einmal für die Kernfrage nach dem Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz, die ja im Reformdiskurs einen prominenten Stel- lenwert besitzt. Unterschiede – so die Prämisse – sollen in der Schule nicht als besser oder schlechter bewertet, sondern anerkannt und konstruktiv bearbeitet werden. Diese geforderte Anerkennung von Differenz gerät aber unübersehbar mit Ansprüchen in Konflikt, die aus der Allokationsfunktion resultieren. Sowohl auf der Interaktionsebene (der Schüler-Lehrer-Beziehung, s. Kap. 4) wie auch auf struktureller Ebene liegt nämlich als funktionales Prinzip nahe, dass Un- gleichheiten im Sinne von Ungleichwertigkeiten quasi immer schon eingebaut sind bzw. eingebaut sein müssen: Unterschiede zwischen SchülerInnen (zumin- dest sofern sie sich in unterschiedlichen Leistungen manifestieren) können unter allokativen Gesichtspunkten nur schwerlich als gleichwertig anerkannt und ein- gestuft werden, sind sie doch die Grundlage für die Zuweisung ungleichwertiger Berechtigungen. Man könnte auch sagen: Besser-Schlechter-Klassifikationen von Schülerleistungen sind einerseits das Ziel, gleichzeitig aber auch funktionale Systemelemente, die sich nicht umstandslos außer Kraft setzen lassen. Dies führt zu unterschiedlichen Problemlagen, die man im Hinblick auf die im Reformdis- kurs geäußerte Schulkritik und -programmatik im Hinterkopf haben sollte: Für Lehrkräfte folgt daraus eine doppelte bzw. eine äußerst ambivalente Aufgabenstruktur, denn sie sind gewissermaßen Anwalt und Richter zu- 93 gleich: Sie müssen (und wollen) den Einzelnen bestmöglich fördern; sie müssen aber auch (ob sie das nun wollen oder nicht!) die erbrachten Leis- tungen vergleichend bewerten, d.h. an einem einheitlichen Maßstab messen und immer wieder abschließend in eine Rangfolge bringen. Dies macht nicht nur ein kompliziertes Ausbalancieren von an sich kaum miteinander zu vereinbarenden Aufgaben notwendig, sondern erschwert zweifellos eine Anerkennung von Differenz ganz erheblich. Schärfen lassen sich aber auch die bereits diskutierten Differenzierungs- dilemmata, macht der Allokationsaspekt doch aufmerksam auf den engen Zusammenhang zwischen schulisch erworbenen Qualifikationen und Be- rechtigungen auf der einen Seite, und der Zuordnung zu beruflichen Lauf- bahnen und damit verknüpften sozialen Positionen auf der anderen Seite. Denn werden Qualifikationen auf der Leistungsebene in einen gesellschaft- lichen Tauschwert überführt, dann stellt sich für jede Differenzierungsmaß- nahme die Frage, welche Anschlüsse bzw. Ausschlussmöglichkeiten damit einhergehen. Englischsprachiger Sachfachunterricht und Sprachfördermaß- nahmen für Migranten, oder theoretisches und praktisches Lernen sind etwa gesellschaftlich und mithin auch schulisch nicht gleichwertig! Es ist dies ein Dilemma zwischen Durchlässigkeit und spezieller Förderung bzw. Speziali- sierung, mit dem sowohl integrative wie auch differenzierte Systeme zu kämpfen haben (vgl. Diederich/Tenorth 1997: 110 ff.). (2) Absicherung und Verinnerlichung des Leistungsprinzips Interessante Perspektiven eröffnen sich auch, wenn man die gleichfalls erforder- liche Legitimation des Allokationssystems einbezieht: Die letztlich festgestellten Unterschiede dürfen nicht als diskriminierend oder privilegierend, sondern müs- sen als Ergebnis selbstverantworteter ungleicher Leistungen bzw. ungleicher Leistungsfähigkeit erscheinen. Zudem geht es noch grundsätzlicher, wie mit der Legitimationsfunktion angedeutet, um die Erzeugung von solchen Einstellungen und Orientierungen, die die dahinter stehende Leistungsideologie stützen. Die Spielregeln des Verteilungsprinzips müssen mitgelernt und es muss die Über- zeugung angebahnt werden, dass ‚jeder seines Glückes Schmied ist‘ bzw. dass jeder, der es nicht schafft, selbst die Verantwortung dafür trägt. Hier haben nun vor allem soziologisch orientierte Analysen der Schule dar- auf aufmerksam machen können, dass es im Hinblick auf solche Anforderungen – wie Absicherung und Verinnerlichung des Leistungsprinzips – aufschlussreich ist, schulische Strukturen auch in einen Zusammenhang mit ihrer Funktion zu stellen. Die Grundidee besteht vereinfacht darin, dass nicht etwa die von Lehr- kräften im Unterricht intendierten und initiierten Lernprozesse die Erziehungs- wirklichkeit der Schule prägen, sondern die strukturellen Bedingungen der Schu- 94 le selbst eine zentrale Einflussgröße für soziales Lernen, d.h. für die Einübung und Verinnerlichung von Werten und Normen, sind (s. Kasten 3.3). Strukturelle Bedingungen der Schule als zentrale Größe für Sozialisationswirkungen wurden in der deutschen Schulforschung in den 1970er Jahren als ein zentraler For- schungsschwerpunkt entdeckt. Die Idee geht zurück auf den amerikanischen Struktur- funktionalismus, dessen Vertreter – vor allem Talcott Parsons (1968) und Robert Dreeben (1968) – die Schule als ein gesellschaftliches Subsystem interpretierten, des- sen spezifische Strukturen und Anforderungen die SchülerInnen auf ihr zukünftiges Rollenhandeln als Erwachsene vorbereiten. Während Analysen dieses Typs den Er- werb von leistungs- und konkurrenzorientierten Verhaltensmustern als notwendig be- trachteten, waren andere Ansätze dezidiert schul- und gesellschaftskritisch angelegt (z.B. Tillmann 1976): Schule wurde hier zwar gleichfalls als Erfahrungsfeld rekonstru- iert, das durch die institutionalisierten Abläufe und Beziehungsstrukturen zur Ein- schleifung von Verhaltensorientierungen (wie Konkurrenz, Leistungsorientierung) führt; man stand diesem ‚heimlichen Lehrplan‘ aber ablehnend gegenüber. Kasten 3.3: Heimlicher Lehrplan der Schule Folgt man dieser Perspektive, dann erscheinen einige der im Heterogenitätsdis- kurs kritisierten Strukturprinzipien in einem etwas anderen Licht: Gerade die auf unterschiedlichen Ebenen anzutreffenden Formen der Normierung – sei es die Homogenisierung von Lerngruppen, sei es die formale Gleichbehandlung von SchülerInnen – besitzen so gesehen durchaus eine wichtige Funktion, wie dies etwa Fend (1980: 46) veranschaulicht: „Im Schulsystem ist in der Form unterschiedlich hoher Schulabschlüsse [...] Un- gleichheit eingebaut. Im Verlauf seiner Schulzeit lernt der Schüler, diese Ungleich- heit zu akzeptieren, indem er das Regelsystem der Zuordnung zu unterschiedlichen Leistungspositionen und deren Verfahren (Prüfungen) zu akzeptieren lernt. Ihm wird tagtäglich vorgeführt, daß Unterschiede in der formellen Belohnung auf Unter- schiede in der Leistung zurückzuführen sind. Mit dieser Erzeugung von Ungleich- heit wird das entsprechende Erklärungsmuster mitgeliefert: es ist auf die jeweilige Anstrengung und Begabung des Schülers zurückzuführen, welche Positionen er er- reicht. Wer begabt ist und sich anstrengt, der steigt auf, wer unbegabt ist und sich wenig anstrengt, der bleibt unten. Dem Prozeß der Internalisierung solcher Interpre- tationsmuster auf der Basis der strukturellen Gestaltung des Schulwesens entspricht der Aufbau eines entsprechenden Selbstbildes: selbst der degradierte Schüler fühlt sich schließlich gerecht behandelt, da er sich als wenig begabt, als wenig fleißig und an Höherem uninteressiert einschätzt.“ 95 Aus diesen Überlegungen möchten wir im Hinblick auf die Reformvorstellungen zur Heterogenitätsthematik zweierlei festhalten: (1) Es sollte deutlich geworden sein, dass eine Betrachtung der gesellschaft- lichen Funktionen – hier gezeigt für die Allokationsfunktion – zu einem er- weiterten Verständnis schulischer Organisationsaktivitäten führen kann: Zentrale Aspekte der Schulkritik auch im Heterogenitätsdiskurs, wie Schü- lerklassifizierungen oder Prinzipien der Normierung und formalen Gleich- behandlung, sind aus schultheoretischer Perspektive nunmehr nicht als ein Betriebsunfall bzw. als ein überflüssiges Übel zu betrachten. Vielmehr sind sie als strukturelle Elemente rekonstruierbar, die mit dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang der Schule verknüpft sind. Dies bedeutet nicht, dass damit eine pädagogische Kritik an diesen Funktionsprinzipien unbe- gründet oder gar unzulässig wäre. Es gibt nicht nur zahlreiche unerwünschte Nebenwirkungen, die sich mit guten Gründen kritisieren lassen, sondern es gehört ja zum legitimen Anspruch der Pädagogik, die Interessen von Kin- dern und Jugendlichen im Blick zu haben und sie gegen schulisch- gesellschaftliche Vereinnahmungen zu verteidigen. (2) Dennoch bleiben wichtige Rückfragen an die Reformempfehlungen beste- hen. Denn da es sich bei der Allokationsfunktion einschließlich der damit verbundenen Verfahren um strukturelle Elemente handelt, können sie nicht einfach verschwinden bzw. außer Kraft gesetzt werden. Es bedarf zumindest funktionaler Äquivalente: „Die Zuweisung von Personen zu Positionen“ – so dazu Terhart (2001: 107) – „ist für jede Gesellschaft ein Problem; mo- derne Gesellschaften bearbeiten dieses Problem u.a. (!) anhand des Bil- dungswesens bzw. des hierin eingeschlossenen Berechtigungssystems. Ver- liert dies an Bedeutung oder wird es dysfunktional, so stellt sich die Frage [...], wie denn das Selektionsproblem gelöst wird“. Welche Alternativen und auch Gestaltungsspielräume hinsichtlich der auf Allo- kation zielenden Selektionsverfahren – also der Unterscheidungsprozesse inner- halb des Schulsystems – denkbar sind, soll uns abschließend beschäftigen. 3.3.2 Alternativen und Gestaltungsoptionen hinsichtlich der Selektion In Anlehnung an die Differenzierungsthematik könnte man sagen: Dass gesell- schaftliche Positionen (und knappe Güter) irgendwie auf die nachwachsende Generation zugeteilt werden müssen, ist unstrittig. Strittig und durchaus variabel sind indes die Verfahren und Strategien, mit denen die Zu- und Verteilung vor- 96 genommen wird. Veränderbar ist einmal die Rolle, die das Schulsystem bei die- ser Verteilung grundsätzlich besitzt bzw. besitzen soll. Daneben gibt es Gestal- tungsalternativen, was das Vorgehen innerhalb des Schulsystems selbst betrifft. (1) Auslagerung der Alloktionsfunktion – Selektion wird überflüssig Uns soll zuerst die Frage beschäftigen, ob und inwieweit sich das Schulsystem nicht von seiner Beteiligung an der Allokation gänzlich verabschieden könnte. Diese Frage ist nahe liegend, wenn man die problematischen, und gerade im Heterogenitätsdiskurs so scharf kritisierten Folgewirkungen bedenkt. Ähnlich wie für den Modus schulischer Differenzierung ist dazu ein Blick auf andere Bildungssysteme hilfreich, weil es tatsächlich unterschiedliche Varianten hin- sichtlich des Stellenwerts der Schule im gesellschaftlichen Allokationsprozess wie auch der dabei eingesetzten Verfahren gibt. Fend (2008: 96ff.) unterscheidet bei einer international vergleichenden Be- trachtung diesbezüglich zwei Typen von Prüfungssystemen (s. Kasten 3.4): „be- rechtigungsorientierte (terminale) und auswählende (elektive) Systeme. In termi- nalen Systemen, zu denen Fend auch das deutsche Prüfungssystem zählt, „ver- mittelt die abgebende Schule das Recht, in nachfolgende Bildungsgänge einzu- treten“ (ebd.: 96). Ein klassisches Beispiel ist das deutsche Abitur, mit dem das Recht zugesprochen wird, im Prinzip irgendetwas und irgendwo zu studieren. In elektiven Systemen sind es hingegen die nachfolgenden Institutionen, die ihre Klienten auswählen. Der Schulabschluss gilt nur als eine Voraussetzung, sich bei nachfolgenden Einrichtungen zu bewerben, die dann ihrerseits über Aufnahme- prüfungen entscheiden, wer aufgenommen wird und weitermachen darf. Für unsere Frage nach Alternativen zur Allokationsfunktion der Schule ist nun bedeutsam, dass diese Systemunterschiede Spielregeln für das ‚Schulehal- ten‘ nach sich ziehen, die auch für den Umgang mit Heterogenität folgenreich sind. So bestätigen die Ausführungen von Fend die besonderen Problemlagen terminaler Systeme, gerade was Formen der Normierungen betrifft: „Baut ein Bildungswesen auf terminalen Prüfungsregelelementen auf, dann muss ei- ne inhaltliche Planung realisiert werden, die streng darauf achtet, dass den gleichen Berechtigungen […] auch gleiche inhaltliche Anforderungen und Leistungen ent- sprechen. Willkürliche oder individuelle Anspruchsniveaus in der Schulklasse und Schule geraten in eine problematische Zone, da sie dem Gerechtigkeitsprinzip wi- dersprechen. […] Es erfordert einen detaillierten Bildungsplan, darauf abgestimmte Lehrwerke und glaubwürdige Verfahren, dass in Prüfungen an verschiedenen Stand- orten etwa gleich viel verlangt wird“ (ebd.: 96f.). In elektiven Systemen kann man diesbezüglich deutlich gelassener sein, da die aufnehmende Institution die Anforderungen festlegt und noch einmal prüft: Leh- 97 rer können etwa – wie im Reformdiskurs für Konzepte heterogenitätssensibler Lernkultur gefordert (s. Kap. 4) – eher als Coach und Lernbegleiter agieren, sind sie doch anders als im deutschen Schulsystem nicht Anwalt und Richter zu- gleich. Und auch eine förderorientierte Haltung ist hier insofern sogar besonders nahe liegend, weil Leistungserfolge so leichter auch als eigener Erfolg betrachtet werden können: Der Stolz einer Lehrperson oder einer Schule kann darin liegen, „möglichst viele Schüler so weit gebracht zu haben, dass sie hohen externen Ansprüchen genügen“ (ebd.: 356). Allerdings haben elektive Systeme, hätte also auch die zunehmende Entbindung der Schule von ihrer Beteiligung an sozialer Allokation, ihren Preis. So resümiert Fend: „In Bildungssystemen mit rein elektiven Prüfungsregelungen ist allerdings auch zu beobachten, dass die Schule an Bedeutung verliert und Lehrpersonen weniger wich- tig werden. Zweitschulen (s. Japan, Korea, Taiwan, Schweiz) als ‚paukende Ergän- zungsschulen‘ bekommen einen hohen Stellenwert. Wird es gleichzeitig möglich, die Schulen frei zu wählen, dann kristallisieren sich Eliteschulen heraus, die von den Ressourcen her die Lernbedingungen optimieren können. Daneben leiden eher schwache Schulen vor sich hin“ (ebd.: 356f.). Man kann sich auch auf folgendes Gedankenexperiment einlassen: Stellen Sie sich vor, Noten würden für die gesamte Schulzeit nicht zugelassen; jeder bekäme bei hinreichender zeitlicher Teilnahme den gleichen Schulabschluss, unabhängig von den besuchten Kursen – ‚bestanden‘, ohne weitere Spezifizierung oder Prü- fung. Dies wäre ein Schulsystem, das fast keine allokativen Hinweise kennt, allerdings mit Folgen, die ebenfalls zu bedenken wären: Allokation und Selekti- on würden völlig den nachfolgenden Betrieben und Universitäten überlassen und die Frage ist, ob man das will. Zu bedenken wäre mindestens dreierlei: Es würde sich einmal ein starker Einfluss der betrieblichen und universitären Zugangsprü- fungen auf das schulische Curiculum einstellen. Die Selektion würde im Prinzip pädagogisch nicht geschultem Personal überlassen und im Effekt dann u.U. schlechter ausgeführt als bisher. Und schließlich würde das Schulsystem gesell- schaftlich unwichtiger, da es für die Grundfunktion der Allokation seine Bedeu- tung verlieren würde (vgl. auch Terhart 2001). 98 Terminale (abgebende) Systeme Elektive (aufnehmende) Systeme schulinterne Prüfungen mit Berechti- externe Prüfungen als Zulassungsentschei- gungsfolgen de der nachfolgenden Bildungsinstitutio- nen (Schulen, Firmen, Universitäten) strenge Standardisierung notwendig Anforderungen werden von außen – als zu (zentrale Steuerung, Vergleichbarkeit, erwartende Aufnahmeprüfungen – defi- ähnliche inhaltliche Anforderungen) niert Platzierungsfrage wird stärker innerhalb Platzierungsfrage wird stärker außerhalb der Schule entschieden der Schule entschieden Kasten 3.4: Idealtypische Unterscheidung unterschiedlicher Prüfungssysteme nach Fend 2008: 95ff. (2) Alternativen innerhalb des Systems – Verzögerung der Selektion Während sich elektive Prüfungssysteme als eine Variante darstellen, bei der die Allokationsfunktion aus dem Schulsystem weitgehend ausgelagert ist, gibt es auch Gestaltungsspielräume, wenn man es bei der Allokationsfunktion der Schu- le grundsätzlich belässt. Darauf verweist nicht zuletzt die seit Jahrzehnten inten- siv geführte Auseinandersetzung um Reformen in der Leistungsbeurteilung, für die Lernberichte als Alternative zur Leistungsbeurteilung durch Ziffernnoten das prominente Beispiel sind (z.B. Beutel 2008). Programmatisch zielen Lernberich- te auf eine Vermeidung der negativen Folgen traditioneller Leistungsbewertung (soziale Vergleiche, eindimensionaler Leistungsbegriff, Entmutigung und Selbstwertbeeinträchtigung bei schlechten Noten). Im Gegenzug werden Förder- aspekte besonders akzentuiert: Die für jede/n SchülerIn individuell verfassten Berichte gelten als besonders geeignet, um Lernfortschritte differenziert und ermutigend rückmelden zu können. Kurz: Verbalbeurteilungen werden gewis- sermaßen vom Selektions- zum Förderinstrument. Was ist davon zu halten? Zunächst einmal findet man nicht nur im Ausland, sondern auch in Deutschland eine solche Praxis der Lernberichte durchaus vor. Zwischenzeitlich etabliert haben sich etwa Verbalbeurteilungen in den Schuleingangsjahren, aber auch in der Sekundarstufe gibt es einen Einsatz solcher Verfahren (s. Kap. 5), auch wenn dies nicht die Regel ist. Die Vorzüge, aber auch Probleme wollen wir kurz an einem Beispiel – der Bielefelder Laborschule – konkretisieren. Es handelt sich hier um eine Versuchsschule des Landes NRW, in der – vereinfacht ge- sagt – ein pädagogisches Konzept realisiert ist, das dem im aktuellen Reformdiskurs gezeichneten Bild der Schule schon ideal entspricht (z.B. Thurn/Tillmann 1997): Die Laborschule nimmt Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit auf, 99 verzichtet auf äußere (Leistungs-)Differenzierung und setzt mit ihren pädagogischen Prinzipien ganz auf das einzelne Kind und seine individuellen Besonderheiten. Zentrales Element sind die Lernberichte, die Zensuren und Notenzeugnisse ersetzen, denn – so heißt es bei von der Groeben/Rieger (1991: 262): „Unterschiede anerkennen: Das kann nur gelingen, wenn Leistungen nicht an normierten Maßstäben gemessen werden. Darum hat die Laborschule […] ein eigenes Beurteilungssystem und damit zugleich ein besonde- res pädagogisches Mittel, vielleicht das wichtigste, der Individualisierung“. Wie nun eine eigene Evaluationsstudie zeigen kann (vgl. Wischer 2003), lassen sich diese mit den Lernberichten verknüpften Hoffnungen zunächst weitgehend bestätigen: Die befragten LaborschülerInnen der Jahrgänge sechs und acht attestieren ihren LehrerIn- nen eine im Vergleich zu den ebenfalls in die Untersuchung einbezogenen SchülerInnen von Gymnasien und Gesamtschulen eine deutlich höhere, auf den Einzelnen ausgerichtete Förderorientierung, bewerten die Lernkultur mithin als deutlich heterogenitätssensibler. Kurz: Die Ergebnisse sprechen dafür, dass der Verzicht auf Selektionsmodi gewisserma- ßen für Veränderungen im Umgang mit Heterogenität förderlich, wenn nicht gar zentrale Voraussetzung wäre. Gleichzeitig lässt sich hier aber auch eine zentrale Grundproblema- tik aufzeigen: Die Laborschule kann zwar sehr lange auf eine vergleichende Leistungsbe- urteilung verzichten, nicht außer Kraft gesetzt werden kann aber die Allokationsfunktion selbst. Die Schule ist – wie andere Schulen in Deutschland – in ein terminales System eingebunden und muss am Ende des 10. Schuljahres ihre Schüler mit unterschiedlichen resp. ungleichwertigen Abschlüssen entlassen. Dies führt dazu, dass ab Jahrgang neun auch an der Laborschule vergleichende Bewertungsverfahren und Zensurenzeugnisse zum Einsatz kommen. Und dies erklärt möglicherweise auch, dass man dann für die Einschät- zungen der LaborschülerInnen des 10. Jahrgangs auf aus der Forschung zum Regelschul- system bekannte Effekte (wie leistungsabhängiges Selbstvertrauen oder Schülerkonkur- renz) stößt (ebd.: 259ff.). Das Beispiel sollte deutlich machen: Es gibt mit Blick auf die Allokationsfunkti- on durchaus einen Gestaltungsspielraum für eine – ganz im Sinne des Reform- diskurses – bessere pädagogische Praxis. Analytisch betrachtet läuft dieser Ge- staltungsspielraum aber in erster Linie darauf hinaus, dass berechtigungsrelevan- te Situationen, Klassifikationen und Dokumentationen entschärft bzw. Selektio- nen möglichst lange hinausgezögert werden. Das spricht zwar nicht gegen For- derungen nach alternativen Varianten13, gleichwohl sollte man im Hinterkopf haben, dass man sich damit immer (noch) – zumindest in Deutschland – in einem System bewegt, das nach wie vor allokative Funktionen besitzt. 13 Natürlich ist zu berücksichtigen, dass auch Lernberichte von sehr unterschiedlicher Qualität sein können bzw. auch hier mit Problemen (stigmatisierende Beschreibungen, ‚verklausulierte‘ Noten, standardisierte Bausteine etc.) zu rechnen ist. 100 3.4 Fazit und Diskussion ausgewählter Probleme Wir haben in diesem Kapitel herausgearbeitet, dass man zu einer durchaus ande- ren Problembeschreibung kommt, wenn man die Fragen des Umgangs mit Hete- rogenität nicht aus einem pädagogischen Blickwinkel, sondern aus einer schul- und organisationstheoretischen Perspektive betrachtet. Der Blick sollte dafür geweitet sein, dass schulisches Lernen institutionalisiertes Lernen ist, also in eine institutionelle Struktur – einen Organisationsapparat – eingebunden ist, der Massenlern- prozesse überhaupt erst möglich macht, gleichzeitig aber eine spezifische Logik des Handelns entfaltet; die Schule als gesellschaftliche Institution keineswegs allein nur pädagogi- schen Interessen und Absichten folgt, also nur pädagogische Aufgaben wahrzunehmen hat, sondern auch in einen gesellschaftlichen Funktionszu- sammenhang eingebunden ist. Beide Merkmale schulischen Lernens führen – so haben wir an einigen Beispie- len gezeigt – einerseits zu Folgeproblemen14, an denen man sich auch im Hete- rogenitätsdiskurs abarbeitet. Andererseits handelt es sich aber in beiden Fällen um strukturelle Probleme, für die zumindest äquivalente Lösungen gefunden werden müssen. Welche Probleme bzw. kritischen Rückfragen man hier bezüg- lich der Reformempfehlungen zum Umgang mit Heterogenität im Blick haben sollte, möchten wir noch einmal zusammenfassend diskutieren. (1) Differenzierung als Notwendigkeit und Problem Betrachten wir zuerst die Differenzierungsthematik, die uns vor allem in Bezug auf die Makroebene, also im Hinblick auf die Organisation des Schulsystems beschäftigt hat. Grundsätzlich bedarf es einer bestimmten Form (eines Organisa- tionsapparates), um Massenlernprozesse organisieren zu können. Dies ist mit Erfordernissen wie Normierung und Vereinheitlichung verknüpft, die von den Interessen des einzelnen Subjekts abstrahieren bzw. damit in Konflikt geraten können. Das bedeutet: Die optimale Form der Schulorganisation lässt sich nicht allein an den Bedürfnissen der lernenden Subjekte bemessen, sondern ist immer auch als eine Kompromisslösung, d.h. als ein Resultat von Abwägungsprozessen unterschiedlicher Aspekte zu denken. 14 Sie führen auch zu Vorteilen bzw. lassen sich als Errungenschaften interpretieren, worauf wir hier aber nicht weiter eingehen können (z.B. Herrlitz 1994; Diederich/Tenorth 1997). 101 Unstrittig ist, dass die konkrete Organisationsform variabel ist und das deutsche Schulsystem mit seiner Bevorzugung des Differenzierungsprinzips in internatio- naler Perspektive nicht der Regel, sondern eher einer Ausnahme entspricht. Wie mithilfe empirischer Forschung knapp dargestellt, greift es zwar zu kurz, pau- schal von einer Überlegenheit des integrativen Strukturtyps zu sprechen. Gleichwohl sind mit dem Differenzierungsmodus nach Schulformen substanziel- le Probleme verbunden, die diesen begründet in Frage stellen können. Darauf haben nicht nur die PISA-Ergebnisse bzw. die dadurch hervorgerufenen Debat- ten aufmerksam machen können. Hier sehen wir auch einen wichtigen Verdienst des Reformdiskurses um Heterogenität, der diese Problematik aufgegriffen und damit (wieder) zum Thema gemacht hat. Es bleiben aber Probleme: Gerade anhand der Schulstrukturfrage lässt sich gut aufzeigen, dass auch im Detail noch so gut begründete Argumente für Veränderungen nicht unmit- telbar überzeugend oder anschlussfähig sein müssen für die Ebenen, auf de- nen solche Reformen dann beschlossen werden können (und müssen). Die Schulstrukturfrage obliegt der Bildungspolitik, und damit einer anderen Ent- scheidungs- und Handlungslogik. Nicht nur auf die besseren pädagogischen Argumente kommt es an, sondern es geht um Wählerstimmen, was eine Ak- zeptanz bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen voraussetzt. Ob es hier ‚nur‘ an einer Aufklärung im Hinblick auf die Vorteile gemeinsamen Ler- nens fehlt oder man es doch eher mit Privilegiensicherung der Mittelschicht zu tun hat: Mit einer Umstellung auf ein für alle verbindliches, integratives System lassen sich offenbar – so legt es nicht nur das Beispiel Hamburg na- he – trotz langjähriger Debatten und guter Argumente nach wie vor kaum Wählerstimmen gewinnen. Daneben gilt es auch die Alternativen – hier konkret den integrativen Struk- turtyp – auf den Prüfstand zu stellen. Folgt man unserer Argumentation, dass Bildungssysteme komplex sind, Organisationen eine eigene Dynamik entfalten und zahlreiche Varianten von latenter Differenzierung existieren, dann ist auch hier mit Problemen zu rechnen: Als Vorgriff auf das nächste Kapitel sollte man etwa im Blick haben, dass durch einen Verzicht auf äu- ßere Differenzierung die auch dahinter stehende Komplexitätsproblematik nicht gelöst, sondern nur auf eine andere Ebene – den Unterricht – verla- gert, und dabei sogar noch gesteigert wird. Daraus erwachsen Anforderun- gen an das Lehrerhandeln, deren Einlösbarkeit durchaus mit einiger Skepsis zu betrachten ist. Kurz: Alternativen – dies zeigen auch die internationalen Erfahrungen – sind möglich, sie haben aber auch ihren Preis. 102 (2) Selektion als Notwendigkeit und Problem Hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktionen der Schule haben wir die Selekti- ons- bzw. Allokationsfunktion exemplarisch genauer betrachtet. Hier gilt einmal ähnlich wie für die Differenzierung, dass Allokationsprozesse unterschiedlich gestaltet werden können: Auswahlentscheidungen können stärker an die abneh- menden Institutionen delegiert und berechtigungsrelevante Entscheidungen kön- nen intern möglichst lange hinausgeschoben werden. Dabei bleibt es durchaus notwendig, und ist mit Blick speziell auf die Heterogenitätsthematik auch folge- richtig, die Selektionsverfahren innerhalb der Schule zu kritisieren. Wir denken jedoch weniger an das Argument, dass diese Verfahren ‚unpädagogisch‘ wären. Entscheidender ist, dass das dahinter stehende meritokratische Prinzip voraus- setzt, dass Berechtigungen nach Verdienst und Leistung zu verteilen sind. Genau dies ist aber im deutschen Schulsystem in besonderer Weise ja eben nicht der Fall: Schulische Leistungen und zertifizierte Leistungserfolge werden keines- wegs nur nach selbst zu verantwortendem Verdienst vergeben, sondern hängen in hohem Maße von solchen Faktoren ab, die der Einzelne nicht zu verantworten hat (vgl. ausf. Kroning 2007). Es stellen sich aber folgende Rückfragen: Wir haben keinen Zweifel, dass die Reformdebatte hervorragend geeignet ist, auf diskriminierende bzw. privilegierende Mechanismen der schulischen Zuteilung von Berechtigungen aufmerksam zu machen. Hinweise darauf gehören schließlich zum argumentativen Kern, auf dem die Reformforde- rungen aufruhen. Skeptisch sind wir allerdings, ob die im aktuellen Re- formdiskurs eingenommenen Reflexionsperspektiven tatsächlich geeignet sind, diese Problematik auch angemessen einzufangen bzw. bearbeitbar zu machen. Hier ist an eine Problematik zu erinnern, die wir bereits im zweiten Kapitel diskutiert haben: Zwar wird mit Chancenungleichheit, und dies auch mittels soziologischer Kategorisierungen argumentiert; durch den am einzelnen Kind orientierten Förderblick lösen sich die mit Chancengleich- heit verknüpften Fragen und Probleme aber weitgehend auf. So ist auffällig, dass man (anders als in der Debatte der 1970er Jahre) kaum noch Hinweise auf kompensatorische Maßnahmen findet. Dies führt zu einem grundsätzlichen Problem: In der aktuellen Debatte wer- den vorrangig die systeminternen Selektionsprozesse, nicht aber deren Funktionen für umweltrelevante Allokation reflektiert. Man könnte auch sa- gen: Die Kritik an Selektion wird zwar oft an dem ‚Wie‘ festgemacht, wir haben aber den Eindruck, dass man sich viel mehr daran abarbeitet, dass in der Schule überhaupt selektiert wird. Wir wagen deshalb die These, dass die massive Kritik in einem deutlich tiefer gehenden Unbehagen der Pädagogik begründet ist. Luhmann/Schorr (1988: 275 ff.) als soziologische Außenbe- 103 obachter haben sich mit dem Problem dieses Unbehagens der Pädagogik an der Selektionsfunktion ausführlich besc