Sprechen und Zuhören PDF
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Ulrike Behrens/Brigit Eriksson
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This document discusses speaking and listening skills in primary education. It explores the development of communication skills in primary school students and details the importance of these skills for success in the classroom and beyond. It also examines strategies for teaching these skills.
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43 4 Sprechen und Zuhören Ulrike Behrens/Brigit Eriksson Die Kultusministerkonferenz weist in ihren Bildungsstandards für das Fach Deutsch „Sprechen und Zuhören“ als eigenen Kompetenzbereich aus. Damit wird der Mündlichkeit im muttersprachlichen Unterricht eine Bedeutung beigemessen, die sie bis...
43 4 Sprechen und Zuhören Ulrike Behrens/Brigit Eriksson Die Kultusministerkonferenz weist in ihren Bildungsstandards für das Fach Deutsch „Sprechen und Zuhören“ als eigenen Kompetenzbereich aus. Damit wird der Mündlichkeit im muttersprachlichen Unterricht eine Bedeutung beigemessen, die sie bis dahin nur in den Fremdsprachen hatte. Ziel dieses Beitrages ist es, Lehrerinnen und Lehrern Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie ihren Unterricht verstärkt an den KMK-Bildungsstandards und den dort formulierten Kompetenzanforderungen ausrichten können. Bevor dazu – als Kernstücke dieses Artikels und auf der beiliegenden Material-CD – konkrete Unterrichts- und Aufgabenbeispiele dargestellt werden (Kapitel 4.2.4), geht es nach einer Einführung in die entsprechenden Bildungsstandards zunächst um die Bedeutung, die der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören im Unterricht der Primarstufe hat. Anschließend stellen wir auf der Grundlage der bislang noch raren empirischen Ergebnisse in einem knappen Überblick dar, welcher Entwicklungsstand der kommunikativen Kompetenzen in der Grundschule auf Schülerseite erwartet werden kann (Kapitel 4.2.1), und skizzieren allgemeine Merkmale eines kompetenzfördernden Unterrichts (Kapitel 4.2.2). Im Kapitel 4.2.3 erläutern wir den Begriff des Kompetenzmodells und stellen den Stand der Forschung bezogen auf das Sprechen und Zuhören dar. 4.1 Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören „Die Kinder entwickeln eine demokratische Gesprächskultur und erweitern ihre mündliche Sprachhandlungskompetenz. Sie führen Gespräche, erzählen, geben und verarbeiten Informationen, gestalten ihr Sprechen bewusst und leisten mündliche Beiträge zum Unterricht. Sie drücken ihre Gedanken und Gefühle aus und formulieren ihre Äußerungen im Hinblick auf Zuhörer und Situation angemessen, hören aufmerksam und genau zu, nehmen die Äußerungen anderer auf und setzen sich mit diesen konstruktiv auseinander.“ (KMK 2005, S. 8) Schon hier wird deutlich, dass Sprechen und Zuhören in ein Netz von Kompetenzen eingewoben ist, das nicht nur für die mündliche Kommunikation wichtig ist. So ist beispielsweise die Fähigkeit zur Konzentration und Auf- 44 Sprechen und Zuhören merksamkeitssteuerung von grundlegender Bedeutung für gutes Zuhören, aber auch für eine große Zahl weiterer psychischer Prozesse, seien sie sprachbezogen oder außersprachlich. Und die Forderung nach „demokratischer Kultur“ betrifft weit mehr als diesen einen Kompetenzbereich und das Fach Deutsch. Da Sprechen und Zuhören im Alltag typischerweise im Verbund auftreten, steht bei der Ausdifferenzierung der Standards in diesem Bereich das Gespräch an erster Stelle: Gespräche führen ■ sich an Gesprächen beteiligen ■ gemeinsam entwickelte Gesprächsregeln beachten ■ Anliegen und Konflikte diskutieren und klären Obwohl in diese Standards notwendig bereits umfassende Anforderungen an Sprechen und Zuhören einbezogen sind, werden beide Teilbereiche mit Untergliederungen selbst noch einmal aufgeführt. Die KMK unterstreicht damit, dass Sprechen und Zuhören durchaus unterscheidbare Kompetenzen sind, die im kompetenzorientierten Unterricht auch gezielt entwickelt werden können und sollten. Die Standards hierzu lauten im Einzelnen: Zu anderen sprechen ■ an der gesprochenen Standardsprache orientiert und artikuliert sprechen ■ Wirkungen der Redeweise kennen und beachten ■ funktionsangemessen sprechen: erzählen, argumentieren, informieren, appellieren ■ Sprechbeiträge und Gespräche situationsangemessen planen Verstehend zuhören ■ Inhalte zuhörend verstehen ■ gezielt nachfragen ■ Verstehen und Nichtverstehen zum Ausdruck bringen Es fällt auf, dass das Zuhören schwerpunktmäßig als Verstehen (von akustischem Material) aufgefasst wird. Dies hat zum einen mit der Tradition in den Fremdsprachen zu tun, in denen das Hörverstehen eine zentrale Rolle spielt. Zum anderen wird Zuhören aber auch analog zum Lesen gefasst, wo es ja auch wesentlich um Textverstehen – nur eben von schriftlichem Material – geht. Wir sind mit vielen Praktikern und Experten, die in schulischen Zuhörprojekten engagiert sind, der Auffassung, dass hier auch Grundlegenderes wie Konzentration und Aufmerksamkeit für Akustisches angesprochen sein sollte. Selbstverständlich bietet sich dafür die Zusammenarbeit mit anderen Fächern an, vor allem dem Musik-, aber auch dem Sachunterricht. Eine Sonderrolle in Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören 45 den Bildungsstandards nimmt das Szenische Spiel ein, das mit doppelter Zielsetzung verstanden werden kann: So kann das Szenische Spiel zum einen als methodisches Hilfsmittel zur Entwicklung von kommunikativen Kompetenzen eingesetzt werden, zum anderen stellt es aber auch einen eigenständigen Kompetenzbereich dar, in dem es um ästhetische und theatrale Ausdrucksmittel (Theater spielen) geht. Szenisch spielen ■ Perspektiven einnehmen ■ sich in eine Rolle versetzen und sie gestalten ■ Situationen in verschiedenen Spielformen szenisch entfalten Eine letzte Abteilung des Kompetenzbereiches Sprechen und Zuhören thematisiert die Reflexion von Lernprozessen. In diesem Kontext erörtern wir hier vor allem Aufgaben zur Reflexion kommunikativer Erfahrungen. Wir halten es für außerordentlich wichtig, auch das Nachdenken über mündliche Kommunikation und eigene Erfahrungen mit ihr zum Gegenstand des Unterrichts zu machen. Über Lernen sprechen ■ Beobachtungen wiedergeben ■ Sachverhalte beschreiben ■ Begründungen und Erklärungen geben ■ Lernergebnisse präsentieren und dabei Fachbegriffe verwenden ■ über Lernerfahrungen sprechen und andere in ihren Lernprozessen unterstützen Kinder erwerben ihre Sprache – manchmal auch derer zwei oder drei – im Lauf der ersten Lebensjahre scheinbar mühelos und gebrauchen sie mit der gleichen Unbekümmertheit und Natürlichkeit wie viele andere Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ebenfalls früh und ohne bewusstes Lernen erworben werden, wie z. B. bestimmte Bewegungsabläufe. Während im Vorschulalter die Sprache am spezifischen Alltag der Kinder ausgerichtet ist und in diesem individuellen Kontext unhinterfragt bleibt, werden die Kinder in der Grundschule mit einer neuen sozialen und kulturellen Situation konfrontiert, in der die mündliche Sprache neue Funktionalitäten zugewiesen bekommt. Diese sind sowohl für die schulische als auch für die außerschulische Kommunikation wichtig. Der mündliche Sprachgebrauch findet in der Schule in verschiedensten Hinsichten unter anderen Vorzeichen statt, als es viele Kinder von zu Hause gewohnt sind. Die Kinder treten vom vertrauten und privaten in den öffentlichen Sprachgebrauch über. Folgende Aspekte machen die kommunikative Herausforderung „Schule“ aus: 46 Sprechen und Zuhören ■ Sprachreflexion: Sprache wird zunehmend losgelöst vom unmittelbaren Handeln des Hier und Jetzt. Durch die mehr oder weniger bewusste Planung von zukünftigen und die Reflexion und Evaluation vergangener Sprachhandlungen bekommt die Sprache eine ungewohnte Eigenständigkeit. Die bisher durch subjektive und konkrete Erfahrung bestimmte Sprache wird objektiviert und damit auf ein anderes Bewusstseinsniveau gehoben. Sprache wird metasprachlich reflektiert und kontrolliert. Unterstützt wird dieser Prozess durch den parallel laufenden Schriftspracherwerb, der Sprache explizit vergegenständlicht. Im Bereich der Mündlichkeit zeigt sich diese Objektivierung z. B. im bewussten Rollenwechsel beim Rollenspiel oder in der Beurteilung des eigenen oder fremden Gesprächsverhaltens. ■ Soziale Einbindung: Schule findet in neuen sozialen Netzwerken statt. Die vertraute Familie mit all ihren spezifischen Verhaltensweisen wird ergänzt durch die Gruppe der Gleichaltrigen mit ihren eigenen sprachlichen, kulturellen und sozialen Herkunftsprägungen. Für viele Kinder bedeutet dies die erstmalige Einbindung in einen größeren sozialen Kontext und damit die Erfahrung, ein Kind unter vielen zu sein und in der Gruppe seine Rolle neu definieren zu müssen. Neben der Einordnung in die Gruppe erfolgt auch eine Neuorientierung im Hinblick auf die neue Bezugs- und Führungsperson der Lehrerin bzw. des Lehrers. In unterschiedlichen kommunikativen Gruppierungen, in Klassen-, Gruppen- oder Partnergesprächen sollen sich die Schüler zu positiven, den Dialog gestaltenden Partnern entwickeln. ■ Standardsprache: Für viele Kinder, v. a. Kinder mit Migrationshintergrund, ist Hochdeutsch nicht die Erstsprache. Die familiäre Umgebung einiger Kinder weist zudem eine größere Nähe zum Dialekt als zur Standardsprache auf. Die Hochdeutschkenntnisse der Kinder können bei Schuleintritt also beträchtlich variieren. ■ Mündlichkeit und Schriftlichkeit: In der Schule wachsen die Kinder in eine komplexe Sprachwelt hinein, die von einem Nebeneinander schriftlicher und mündlicher Sprache geprägt ist. Sie sind in allen Unterrichtsfächern mit den wechselnden Herausforderungen schriftlicher und mündlicher Unterrichtsphasen konfrontiert. Der Wechsel zwischen mündlichen und schriftlichen sprachlichen Tätigkeiten erfolgt oft schnell und mitunter unerwartet. Die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind oft unscharf; häufig überlagern sich mündliche und schriftliche Passagen, so z. B. dann, wenn ein schriftlicher Text gelesen und besprochen wird oder wenn ein Text gemeinsam in Partnerarbeit verfasst werden soll. ■ Sprachliche Muster, sprachliche Normen: Mündliche Sprache bekommt im schulischen Aufgabenkontext eine neue Qualität. Kinder erleben Sprache in einem neuen Gewand. Es gilt, der Lehrperson und den Mitschülerinnen und Mitschülern bewusst, aufmerksam und oft über längere Zeit zuzuhören und Kompetenzaufbau im Unterricht 47 dabei deren sprachliche Gewohnheiten zu berücksichtigen. Neben die Muster der Alltagssprache treten neue Textmuster wie z. B. das Vortragen, das Rollenspiel, das Beschreiben. In verschiedenen dialogischen Situationen lernen Kinder, sich zu behaupten, zu reflektieren, auf andere einzugehen. Zur Ausrichtung des eigenen sprachlichen Ausdrucks an den kommunikativen Gegebenheiten gehört auch die Auseinandersetzung mit den eingeforderten sprachlichen Normen: Nicht alles, was in einem familiären Alltagskontext akzeptiertes Sprachverhalten ist, kann auch im schulischen Kontext bestehen. Es gilt, die Wortwahl anzupassen, sich im Gespräch an Regeln zu halten, sich verständlich und korrekt auszudrücken. Kommunikation findet in der Schule also unter neuen Vorzeichen statt. Die Vermittlung zwischen diesen kommunikativen Anforderungen und den individuellen Vorerfahrungen der Kinder gelingt dann besonders gut, wenn nahtlos an der bisherigen Lebenswelt der Kinder angeknüpft werden kann. Das ist jedoch manchmal kaum möglich. Für den Bereich des mündlichen Sprachgebrauchs bedeutet das, die Kinder behutsam in die neuen Kommunikationssituationen einzuführen und sie mit passenden, anspruchsvollen Lernsituationen und Lernaufgaben so zu fördern, dass sie ihre Zuhör-, Sprech- und Gesprächskompetenz ausbauen können. Gut entwickelte mündliche Sprachkompetenzen sind die Grundlage für eine stabile, personen- und sachorientierte Kommunikationsfähigkeit, die als eine der wesentlichen Schlüsselqualifikationen für das Privat- und Berufsleben gilt. 4.2 Kompetenzaufbau im Unterricht Die Didaktik der Mündlichkeit steckt noch in den Kinderschuhen. Abgesehen von einzelnen Wortschatzerhebungen und einigen Studien zur Erzählkompetenz ist der Stand mündlicher Kompetenzen bei Schuleintritt wenig erforscht. Zur Erstellung eines umfassenden Curriculums ist noch viel Forschungs- und Entwicklungsarbeit nötig. Besonders dringlich sind Anstrengungen in den Bereichen ■ Beurteilung mündlicher Sprachleistungen, ■ Entwicklung des mündlichen Spracherwerbs von der Vorschule bis zum Mittleren Schulabschluss, ■ Stellenwert des Übens, ■ Typologie mündlicher Textsorten für die Schule als Grundlage für eine Didaktik, die die sprachlichen Potenziale der Schülerinnen und Schüler erkennt und darauf gezielt aufbaut. 48 Sprechen und Zuhören 4.2.1 Entwicklung von Schülerkompetenzen im Bereich Sprechen und Zuhören Bei Schuleintritt bringen viele Kinder eine gut entwickelte Alltagssprache mit, auf der die Schule aufbauen kann. Es fällt jedoch schwer, allgemeine, für alle Kinder zutreffende Entwicklungslinien aufzuzeichnen, weil die Gesellschaft zunehmend heterogene sprachliche Prägungen erzeugt. Im Brennpunkt stehen hier Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder aus bildungsfernen Familien, die häufig mangelhafte Kompetenzen und Erfahrungen in der Schulsprache mitbringen. Diverse Studien belegen, dass für viele der Leistungsunterschiede bei Schuleintritt die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler maßgeblich verantwortlich ist. Die Grundschule muss also nicht nur individuelle Kompetenzen fördern, sondern auch Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern ausgleichen – eine anspruchsvolle Zielsetzung. Erschwerend wirkt, dass Schulen und Schulklassen oft eine geringe Durchmischung von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher sozioökonomischer Herkunft und damit unterschiedlicher Leistungsvoraussetzungen aufweisen. Leistungsmessungen bei Schuleintritt zeigen, dass Kinder aus bildungsnahen Familien beim Schuleintritt in der Regel besser lesen und rechnen können und vor allem über einen viel größeren Wortschatz verfügen als Kinder aus bildungsfernen Familien. Schulen mit einem hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern aus sozial benachteiligten Familien starten bereits zu Beginn der Schulzeit auf einem durchschnittlich niedrigeren Kompetenzniveau und können den Rückstand ohne besondere Maßnahmen kaum aufholen (vgl. Moser 2005). Die Schülerinnen und Schüler der Grundschule lassen sich auch entwicklungspsychologisch nicht in einer Gruppe zusammenfassen. Während die 6bis 8-jährigen Kinder (1. und 2. Klasse) am Übergang vom Vorschulalter zum Schulalter stehen, sind die 9- bis 10-Jährigen (3. und 4. Klasse) bereits schulisch sozialisiert, befinden sich an der Schwelle zur Pubertät und entwickeln sich in Richtung Mittelschule bzw. Sekundarschule. Verschiedene Studien zeigen, dass Schulanfängerinnen und Schulanfänger gegenüber der Institution Schule mehrheitlich positiv eingestellt sind: Sie gehen gern zur Schule, schätzen ihre eigenen Kompetenzen hoch ein und fühlen sich sozial gut integriert. Allerdings gehen diese hohen Werte bereits im Verlauf des ersten Schuljahres kontinuierlich zurück. Gründe für den Abfall des Selbstkonzepts und der Lernfreude in den ersten Schuljahren können unter anderem darin liegen, dass die Kinder durch ihre Erfahrungen im Unterricht und mit der Beurteilungspraxis die eigene Leistungsfähigkeit zutreffender einschätzen können. Gerade im Bereich der mündlichen Sprachkompetenz ist das Selbstkonzept aber von entscheidender Bedeutung. Im mündlichen Sprachgebrauch kommt die Per- Kompetenzaufbau im Unterricht 49 sönlichkeit stark ins Spiel: Kann ich gut reden? Komme ich an? Werde ich verstanden? Bin ich interessant? Nimmt man mich ernst? Kann ich mich durchsetzen? Bin ich zu schüchtern, zu laut, zu wenig fordernd? Die Verletzlichkeit beim mündlichen Handeln ist groß. Die mündliche Sprachentwicklung verläuft deswegen gerade dann besonders positiv, wenn die Einbettung in den sozialen Kontext Schule gut gelingt und wenn das Unterrichtsklima von einer wohlwollenden, vertrauensbildenden, aufmerksamen Haltung aller Beteiligten geprägt ist. Was bedeuten diese soziokulturellen und entwicklungspsychologischen Aspekte für die Entwicklung der mündlichen Kompetenzen in der Grundschule? Grundschulkinder bringen bei Schuleintritt in der Regel eine gut entwickelte Erstsprache mit, in der sie die Alltagskommunikation zumeist situationsangemessen und fließend bewältigen können. Die basalen alltagssprachlichen Fähigkeiten – in der Spracherwerbsforschung „BICS“ (basic interpersonal communication skills) genannt – genügen schulischen Anforderungen nicht und müssen in der Grundschule zu „CALP“ (cognitive/academic language proficiency) ausgebaut werden. „CALP“ steht für die Fähigkeit, anspruchsvolle Situationen und Aufgaben, wie sie die Schule einfordert, sprachlich erfolgreich bewältigen zu können. Dass Kinder durchaus fähig sind, mit unterstützenden Maßnahmen auch komplexere sprachliche Aufgaben zu bewältigen, belegen Untersuchungen zum Diskutieren in der Primarstufe – ein Lerngegenstand, der bisher jugendlichen Lernenden vorbehalten war. 4.2.2 Merkmale des kompetenzfördernden Unterrichts im Bereich Sprechen und Zuhören Die vorliegenden KMK-Standards haben zum Ziel, die mündliche Ausdrucksfähigkeit der Kinder zu stärken und zu entwickeln, sodass sie erfolgreich am öffentlichen Leben teilnehmen können. Anders als beim Erwerb der schriftlichen Kompetenzen Schreiben und Lesen, der sich an sichtbaren Texten orientieren kann, ist der Erwerb der mündlichen Sprachkompetenzen an das flüchtige Medium der oralen Sprache gebunden. Mündliche Sprache als Lernobjekt hatte und hat deswegen einen schwierigen Stand in der Schule. Sie muss mit erhöhter Anstrengung in der Klasse sichtbar gemacht werden. Damit eine erfolgreiche Lerntradition im Bereich der Mündlichkeit entstehen kann, muss sich der Unterricht zunehmend an folgenden Anforderungen ausrichten (Erard/Schneuwly 2005: S. 73 ff.): 50 Sprechen und Zuhören ■ Orientierung an den Normen der gesprochenen Sprache: Die Förderung der mündlichen Sprachkompetenz erfordert eine bewusste Orientierung an den Normen der gesprochenen Sprache. Lehrpersonen brauchen eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der gesprochenen Sprache, damit sie nicht unbewusst Anforderungen stellen, die dem schriftlichen Sprachgebrauch zugehören, für den mündlichen jedoch unangebracht sind, wie z. B. das Vermeiden von Satzabbrüchen oder das Einfordern von „ganzen Sätzen“. Lehrpersonen sind auch für den mündlichen Sprachbereich ein wichtiges Vorbild für die Schülerinnen und Schüler. ■ Beobachtung und Analyse von mündlichen Texten: Die im Unterricht fokussierten mündlichen Texte sollten möglichst authentisch, d. h. an realen öffentlichen Kommunikationssituationen orientiert sein. Durch die Beobachtung und Analyse von mündlichen Texten werden deren Regularitäten und Besonderheiten präsent und sichtbar gemacht. ■ Erarbeitung eines akustischen Textkorpus: Wir sind es gewohnt, im Klassenzimmer Bücher zugänglich zu machen, es werden Lesebücher eingesetzt und Sammlungen schriftlicher Texte der Schülerinnen und Schüler erstellt. Im Bereich der Mündlichkeit gibt es dagegen keine vergleichbare Tradition. Auf dem Lehrmittelmarkt erscheinen zwar zunehmend Sammlungen von Hörtexten, diese weisen jedoch immer noch ein eher eingeschränktes Spektrum mündlicher Texte auf. Während der literarische Bereich gut abgedeckt ist, fehlen andere authentische Texte aus dem öffentlichen Lebensbereich wie z. B. Interviews, Vorträge, Debatten fast gänzlich. Eine Sammlung von mündlichen Texten sollte möglichst unterschiedliche Textsorten zu unterschiedlichen Situationen und Themen beinhalten. Auch sollten Texte von Schülerinnen und Schülern nicht fehlen, wie sie z. B. in der Umsetzung verschiedener Aufgabenideen in diesem Band entstehen. ■ Erstellung eines mündlichen Portfolios: Jede Schülerin und jeder Schüler sollte in der Schule wiederholt die Gelegenheit bekommen, von der eigenen mündlichen Sprachproduktion Audio- und Videoaufnahmen zu machen und diese über längere Zeit zu sammeln. Damit gelingt es, der Flüchtigkeit der gesprochenen Sprache entgegenzuwirken, Gesprochenes festzuhalten und damit zu objektivieren. Nicht nur schriftliche Texte durchlaufen verschiedene Arbeitsphasen – auch mündliche Texte können brainstormartig entworfen, aufgebaut, überarbeitet und evaluiert werden. Dazu braucht es aber das Registrieren der Zwischen- und Endprodukte des Prozesses. Es könnten etwa individuelle Portfolios von mündlichen Texten erstellt werden, die eine Grundlage für die individuelle Lernarbeit bilden und die die Kinder über die verschiedenen Schulstufen begleiten. Die Portfolios geben Einblick in die Lernfortschritte, indem ein Vergleich von früheren und aktuellen Produkten ermöglicht wird. Die registrierten mündlichen Produkte Kompetenzaufbau im Unterricht 51 sind auch für die Lehrpersonen Grundlage für gezielte Fördermaßnahmen. Im Folgenden gehen wir in einem kurzen Überblick auf die wichtigsten Teilkompetenzen mündlicher Interaktion, Rezeption und Produktion ein. Zu anderen sprechen In der Grundschule gehören zu diesem Bereich traditionellerweise die Formen Erzählen, Vortragen, Berichten, Erklären und Beschreiben. Von diesen fünf Formen ist das Erzählen die im Unterricht beliebteste und bekannteste, gleichzeitig aber in Fachkreisen am häufigsten kritisierte Form. Kritisiert wird v. a. der Erzählkreis, dessen Lernwert infrage gestellt wird. Zu häufig wird hier unreflektiert eine Erzählsituation geschaffen, in der weder das Thema interessant und ansprechend ist noch die Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler genügend geklärt sind. Anspruchsvolles Erzählen nennt folgende Ziele: mit stimmlichen Mitteln und mit Gestik gestalten; spannend und interessant erzählen; sinnvoll aufbauen und gut strukturieren; einen Höhepunkt gestalten. Für das Vortragen, Berichten, Erklären und Beschreiben kommen weitere Zielformulierungen dazu: den Vortrag vorbereiten, die Themenwahl begründen, den Inhalt mit Anschauungsmaterial verdeutlichen, Einleitung und Schluss auf Zuhörende ausrichten, abwechslungsreich vortragen, fließend, ausdrucksvoll und deutlich sprechen, die Körpersprache angemessen einsetzen, Rückfragen beantworten. Die Schülerinnen und Schüler müssen dabei auch lernen, neben der Sprache, der Mimik und der Gestik zusätzliche nichtsprachliche Mittel wie Bilder, Filme o. Ä. einzusetzen. In einer zunehmend multimedialen Umwelt ist dieser Aspekt ganz wesentlich mit der mündlichen Kompetenz verschränkt. All diese Aspekte sind als Teilkompetenzen beschreibbar, die ausdrücklich benannt und gezielt geübt werden können. So kann man dem Eindruck entgegenwirken, dass manche „es eben draufhaben“, und stattdessen die Lernfähigkeit der Kinder in den Mittelpunkt stellen. Verstehend zuhören Dem Zuhören wurde bis vor wenigen Jahren sowohl in Lehrplänen als auch im Unterricht der Grundschule wenig Beachtung geschenkt, obwohl Schülerinnen und Schüler einen Großteil ihres Unterrichtslebens zuhörend verbringen. Die Bedeutung des Hörens und Zuhörens als zentrale Lernvoraussetzungen für den Schriftspracherwerb und für das erfolgreiche Bewältigen der kommunikativen Anforderungen innerhalb und außerhalb der Schule ist vielfach nachgewiesen. Die basalen (Zu-)Hörkompetenzen müssen vor allem in der Vorschule und den Anfängen der Grundschule gefördert werden. Hierzu 52 Sprechen und Zuhören zählen das Unterscheiden von verschiedenen, auch nichtsprachlichen Lauten, das Zuordnen gleicher Laute zueinander, das Fokussieren auf einen bestimmten Laut usw. Beim Zuhören kommt der Aufmerksamkeitssteuerung eine wichtige Funktion zu. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, ihr Zuhören auf das Wesentliche zu fokussieren und Unwesentliches zu „überhören“. Damit erfolgreiches Zuhören allen Schülerinnen und Schülern – auch jenen mit Konzentrationsschwächen – gelingen kann, muss der Schulraumgestaltung und möglichen Lärmimmissionen mehr Aufmerksamkeit zukommen. Neben der Förderung des aufmerksamen und differenzierenden Zuhörens sollen die Schülerinnen und Schüler der Grundschule altersangemessene Hörtexte global und im Detail verstehen lernen. Dabei geht es nicht nur um das Verstehen der wichtigsten Informationen, sondern auch um das Erkennen von Informationslücken und das Nachfragen bei Unklarheit. Stimmen, Sprechweisen und Gestik von Sprechenden gilt es zu identifizieren und deren Situation und Emotionen angemessen einzuschätzen. Zum guten Hörverstehen gehört auch die Fähigkeit, mit dem, was man einem Text abgewinnt, in ein emotionales Verhältnis zu treten. Schülerinnen und Schüler bekommen die Möglichkeit, sich mit Personen und Sachverhalten zu identifizieren, sie zu akzeptieren oder zu negieren. Bereits in der Grundschulzeit sind Kinder fähig, Gehörtes zu interpretieren, zu beurteilen und aus Gehörtem Schlüsse zu ziehen. Zu Unrecht wurden diese reflexiven Zuhör-Tätigkeiten bisher in den Lehrplänen erst am Ende der Grundschulzeit bzw. in der Mittelschule erwartet. Gekonntes Zuhören verlangt weiter den Einsatz geeigneter, das Verstehen unterstützender und das Gespräch fördernder Arbeitsmethoden wie die inhaltliche Vorbereitung auf das Zuhören, das Notizennehmen während des Zuhörens oder das Nachfragen im Gespräch. In Bezug auf die Textsorten der Hörtexte verweisen wir auf schulische und außerschulische, dialogische und monologische Formen. Unterrichtsgespräche und Unterrichtsanweisungen bilden das tägliche Übungsfeld, neben dem weitere narrative und deskriptive Formen wie Interviews, Diskussionen, Hörspiele, Reportagen, literarische Texte, Sachtexte, Vorträge, Lesungen u. a. m. Berücksichtigung finden. Hörverstehen soll nicht nur an speziell gefertigten Hörtexten, sondern auch an authentischen Sendungen aus Radio und Fernsehen und vor allem auch in der Unterrichtskommunikation geübt werden. Authentische Hörtexte führen die Schülerinnen und Schüler in echte Zuhörsituationen, in denen das Hörverstehen wenig konfektioniert ist und in denen von ihnen erwartet wird, dass sie ihre Aufmerksamkeit auch bei Schwierigkeiten (Hintergrundgeräuschen, unverständlichen Wörtern usw.) auf die benötigte Information richten können. Kompetenzaufbau im Unterricht 53 Gespräche führen Zuhören und Sprechen sind für die Gesprächsführung gleichermaßen bedeutsam. Als übergreifende soziale und personale Kompetenz ist die Interaktionsfähigkeit in den Lehrplänen und Curricula wichtigstes Ziel mündlicher Sprachförderung, wobei beachtet werden muss, dass sich die Unterrichtskommunikation von außerschulischen Settings häufig stark unterscheidet. Wichtig ist, dass Kinder und Lehrpersonen miteinander einen lernförderlichen Umgang pflegen. Dazu gehören auch ganz grundlegende Kompetenzen, die die Verständigung erst ermöglichen, wie z. B. „sich verständlich ausdrücken“, „mit angemessener Lautstärke und deutlich sprechen“, „aktiv zuhören“, „auf Fragen eine Antwort geben“. Die Schülerinnen und Schüler lernen zunehmend, Gespräche eigenständig zu steuern und eigenes und fremdes Gesprächsverhalten zu reflektieren. Es gelingt ihnen im Lauf der Grundschulzeit immer besser, selbstständig themenund lösungsorientierte Gespräche zu führen und auszuwerten, wobei sie lernen, in Diskussionen zu argumentieren, eigene Meinungen zu vertreten und andere Meinungen einzuschätzen. Zur Profilierung mündlicher Gesprächsfähigkeit im Unterricht gehört auch die Auswahl für die Grundschule relevanter Gesprächsarten und Gesprächsinhalte. In den Lehrplänen der Grundschule werden wiederum am häufigsten das Erzählen, aber auch das Diskutieren und das Klassengespräch oder der allgemeine Informationsaustausch, seltener das Interview oder das Krisengespräch aufgeführt, obwohl die beiden zuletzt genannten Gesprächsformen auch in der Grundschule realisiert werden können. Mündliche Gespräche kommen in allen Fächern zum Tragen. Entsprechend vielfältig können die gewählten Themen sein: Neben Sach- und Alltagsthemen, sprachlichen und literarischen Themen werden auch Themen gesetzt, die mit dem Unterrichtsund Schulgeschehen direkt zu tun haben. Sie bieten eine gute Gelegenheit zur Schülerpartizipation. Hierfür haben sich besondere Gesprächs- und Organisationsformen wie der Klassenrat oder das Schülerparlament herausgebildet. Szenisch spielen Es gibt viele Formen mündlicher Kommunikation, die man im weitesten Sinn zum Szenischen Spielen zählen kann. Sie beinhalten einerseits reproduktive Formen wie das Vorlesen, Rezitieren oder das Darstellende Spiel, bei denen von einer bestehenden Textvorlage ausgegangen wird. Andererseits zählt man die produktiven Formen wie z. B. die szenische Improvisation oder das Rollenspiel dazu, bei denen die Texte mehr oder weniger ad hoc gestaltet werden. Wer gestaltend und wirkungsorientiert spricht, beachtet neben einer stimmigen sprachlichen Strukturierung besonders auch Aspekte des nonverbalen 54 Sprechen und Zuhören Auftritts (Blickkontakt, Mimik, Gestik, Medieneinsatz u. a.) und der akustischen Präsentation (Atmung, Aussprache, Betonung, Tempo, Pausen usw.). Für die Gestaltung von Lernsequenzen im Bereich der mündlichen Sprachförderung gibt es auf dem Markt einige sehr geeignete didaktisch-methodische Materialien. Sie weisen ein breites Spektrum auf – von der kleinen mündlichen Form, wie z. B. der Artikulationsübung, bis zum anspruchsvollen Projektunterricht als Sprachhandeln. Alle Formen haben ihre jeweils spezifische Funktion vor dem Hintergrund der Skizzierung anspruchsvoller Aufgabenstellungen, wie sie im Kapitel 4.2.4 dargestellt werden. 4.2.3 Kompetenzmodelle im Bereich Sprechen und Zuhören Im Folgenden soll es um die Frage gehen, welche Erkenntnisse über die Entwicklung von Kompetenzen im Bereich der Mündlichkeit vorliegen. In diesem Zusammenhang ist die Rede von sogenannten Kompetenzmodellen. Ein Kompetenzmodell bildet einerseits Vorstellungen darüber ab, aus welchen Teilaspekten sich eine bestimmte Kompetenz „zusammensetzt“, und auch darüber, wie diese Komponenten miteinander verbunden sind. Andererseits beschreibt ein solches Modell, in welchen Entwicklungszügen sich die Kompetenz und ihre Teilaspekte (normalerweise) beim einzelnen Menschen herausbilden und weiterentwickeln. Schließlich machen Kompetenzmodelle Aussagen über verschiedene Fähigkeitsniveaus auf einem bestimmten Entwicklungsstand. Ein vereinfachtes Beispiel: Um laufen zu lernen, muss ein Kind 1. über eine hinreichend kräftige Bein- und Rumpfmuskulatur verfügen, 2. seine Grobmotorik koordinieren und 3. das Gleichgewicht halten können. All diese Komponenten haben eigene, voneinander unterscheidbare Entwicklungszüge, die aber parallel laufen und sich in ihrem Fortschreiten auch gegenseitig beeinflussen. Die Beschreibung der Komponenten stellt einen Maßstab dar, nach dem die gesunde Entwicklung eines Kindes beurteilt werden kann. Lernt ein Kind das Laufen nicht in der erwarteten Lebensphase, so kann man auf der Grundlage eines solchen Modells Ursachen (etwa eine Erkrankung des Innenohrs mit Folgen für den Gleichgewichtssinn oder eine muskuläre Schwäche) identifizieren und auf dieser Grundlage Hilfe planen. Mithilfe empirischer Befunde werden Kompetenzmodelle bestätigt und verfeinert. Übertragen auf den Bereich der Mündlichkeit bedeutet das: ■ Ein Kompetenzmodell zum Sprechen muss Teilfähigkeiten des Sprechens von der verständlichen Artikulation und richtigen Aussprache bis hin zum Beherrschen von rhetorischen Möglichkeiten und der Planung und Reflexi- Kompetenzaufbau im Unterricht 55 on eigener Sprechhandlungen abbilden. Idealerweise beschriebe es außerdem, in welcher Weise verschiedene Entwicklungsstände aufeinander aufbauen, ab wann ein Aussprachefehler beispielsweise nicht mehr altersgerecht ist. In diesem Zusammenhang stellt sich selbstverständlich auch die Frage, welcher Einfluss etwa der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit zuzuschreiben ist. ■ Ein Kompetenzmodell zum Zuhören beschriebe entsprechend verschiedene Voraussetzungen guten Zuhörens. Dazu gehört sicher Grundlegendes wie ein funktionierender Hörapparat ebenso wie die Fähigkeit zur Konzentration und Aufmerksamkeitssteuerung. Eltern und Erziehende tragen in der Regel intuitiv der Tatsache Rechnung, dass sich auch diese erst entwickelt, indem sie etwa zu kleinen Kindern sehr viel direkter sprechen (z. B. durch Hinhocken, Blickkontakt halten, namentliches Ansprechen usw.) als zu älteren Kindern. Eine Komplikation beim Eintritt in Kindergarten und Schule ist erfahrungsgemäß, dass Kinder erst lernen müssen, „mitgemeint“ zu sein, wenn zur ganzen Gruppe gesprochen wird. Die Kompetenz des Zuhörens erweitert sich also u. a. in dem Maße, in dem sich die situativen Anforderungen verändern. Auch hier spielen zusätzlich allgemeine Fähigkeitsaspekte wie etwa soziale Kompetenz und Einfühlungsbereitschaft eine Rolle. ■ Ein Kompetenzmodell zur Gesprächsführung schließlich müsste Vorstellungen über die verschiedenen Aspekte gelingender Interaktion zwischen mehreren Personen abbilden. Dabei ist ein Gespräch ohne Zweifel mehr als das Sprechen und Zuhören verschiedener Akteure mit fortwährendem Rollentausch. Es sind z. B. kulturelle Konventionen des Sprecherwechsels oder der Redeweise zu beachten, verschiedene Arten des Gesprächs zu beherrschen usw. Zudem kann bei der Analyse von Gesprächskompetenzen nicht vom kommunikativen Zweck abstrahiert werden: Will ein Kind jemanden überzeugen, dann muss es im Dialog anders agieren als beim Erzählen. Den Bildungsstandards der KMK liegen offensichtlich solche Vorstellungen von den jeweiligen Kompetenzen zugrunde, ohne dass sie jedoch selbst schon als theoretische Kompetenzmodelle ausformuliert wären. Ein Kompetenzmodell zum Zuhören Im Rahmen der Beschäftigung mit den Bildungsstandards, nicht zuletzt auch aufgrund der Notwendigkeit, Aufgaben zur Testung von Schülerfähigkeiten zu entwickeln, ist das Ungleichgewicht der Forschungsstände zu den verschiedenen Kompetenzbereichen offenbar geworden: Im Gegensatz zu Bereichen wie Lesen und Schreiben gibt es bislang nur wenige, in der Regel nicht empirisch unterfütterte Modelle für die Bereiche Sprechen und Zuhören. Eine Aus- 56 Sprechen und Zuhören nahme bildet allein der Bereich Gesprächsführung. Hier liegen verschiedene Modellvorstellungen aus der Gesprächslinguistik vor. Infolgedessen ist es schwierig, auf wissenschaftlicher Grundlage ■ Defizite im Mündlichen als alterstypisch vs. problematisch einzuordnen, ■ ggf. ihre Ursachen zu identifizieren und ■ geeignete Lern- und Fördermaßnahmen anzubieten. Eine Ausnahme bilden Arbeiten aus dem Bereich der Sprachheilpädagogik. Die Gründe für diesen „weißen Fleck“ auf der Landkarte sprachbezogener Kompetenzen sind sicherlich vielfältig. Sie liegen einerseits besonders für das Zuhören im forschungstechnischen Bereich: Während beim Sprechen (produktive) Äußerungen von Kindern aufgezeichnet und ausgewertet werden können, sind die (rezeptiven) Zuhör- und Verstehensprozesse nicht direkt beobachtbar. Erst im Verbund mit Sprechen, also indirekt über Äußerungen des Kindes, oder mit Schreiben (z. B. im Zuhörtest, aber auch in bestimmten Alltagssituationen) kann ermittelt werden, ob jemand „richtig“ gehört hat. Während zumindest für die frühe Sprechentwicklung Modelle in Form von „Meilensteinen“ des Spracherwerbs vorliegen (etwa: vom Lallen über Silbenwiederholungen zu Einwortäußerungen, Mehrwortäußerungen, Sätzen usw.), endet die Beschreibung der Entwicklung des Hörens in der Regel bereits kurz nach der Geburt. Befunde beziehen sich vorwiegend auf das Wiedererkennen von im Mutterleib gehörten Geräuschen, Stimmen und ganzen Texten im frühen Säuglingsalter. Diese Befunde weisen alle darauf hin, dass das Hören der mit Abstand am frühesten entwickelte Sinn ist. Fast scheint es jedoch, als wäre es mit der Ausbildung eines funktionierenden Hörapparates fertig entwickelt und könnte spätestens bei Schuleintritt schlicht vorausgesetzt und im Unterricht als vorhanden unterstellt werden. Während das Hören zunächst tatsächlich „nichts weiter“ voraussetzt als einen physiologisch funktionierenden Hörapparat, ist das Zuhören ein überaus komplexer psychologischer (Konstruktions-)Prozess. Margarete Imhof unterscheidet vier Determinanten dieses Prozesses (Imhof 2003, S. 54): ■ ■ ■ ■ Bildung und Aufrechterhaltung einer Intention zur Selektion, Wahrnehmung und Verarbeitung der Sprechermerkmale, Wahrnehmung und Verarbeitung des sprachlichen Inputs, Wahrnehmung und Verarbeitung der Situationsmerkmale. Die Teilprozesse haben jedoch keine feste Reihenfolge, sondern werden, möglicherweise vollkommen unsystematisch, genau so eingesetzt, wie es das Verstehens-Ziel erfordert – und genau so lange, bis man zumindest subjektiv das Gefühl hat, verstanden zu haben. Je nach Konstellation und Intention der Beteiligten kann dabei das wörtliche Verstehen eines Ausdrucks (z. B. einer Kompetenzaufbau im Unterricht 57 Adresse) entscheidend sein oder die gezielte Entnahme einer einzelnen Information (z. B., ob es morgen regnen wird) oder die Einfühlung in die Befindlichkeit eines Sprechers unabhängig von dessen Wortwahl usw. Legt man diese Determinanten zugrunde, dann ist offensichtlich, dass die Kinder gerade mit Beginn der Schulzeit vor ungewohnten akustischen, sozialen und kommunikativen Herausforderungen stehen, die eine eigene Komplikation bei der Bewältigung der schulischen Anforderungen darstellen und schon deswegen im Unterricht thematisiert werden müssen. So werden beispielsweise Handlungsaufforderungen bis zum Schuleintritt tendenziell direkt an das einzelne Kind adressiert, und das Verstehen und Nichtverstehen wird wesentlich von Erwachsenen überprüft und begleitet. In der Schule müssen Kinder – häufig unter akustisch schwierigen Bedingungen – allgemein formulierte Anweisungen auf sich selbst beziehen und ohne direkte äußere Verständniskontrolle umsetzen. Dies wirft zwar ein Schlaglicht auf die Vielfalt der Aspekte, die bei der Schulung und Förderung des Zuhörens im Unterricht einbezogen werden können. Ein Gesamtmodell der Zuhörkompetenz ist jedoch erst noch zu entwickeln. Ein Kompetenzmodell zum Sprechen Wie schon erwähnt, ist die frühe Sprechentwicklung ausführlich untersucht worden. In Form von „Meilensteinen“ werden Entwicklungsschritte von den ersten Lautäußerungen des Kindes bis hin zur Sprachbeherrschung beschrieben. Auch für den Bereich des Sprechens gilt jedoch, dass er aus entwicklungspsychologischer Perspektive ungefähr mit dem Schuleintritt als abgeschlossen gilt. Dies trifft aber nur für die Sprachbeherrschung im familiären Rahmen zu, nicht für das Gesamtspektrum mündlicher Möglichkeiten. Auch in diesem Fall gilt allerdings, dass wegen erheblicher Schwierigkeiten bei der Datengewinnung und -analyse nur wenig empirisch gestützte Erkenntnisse vorliegen. Ein Kompetenzmodell zur Gesprächsführung In den Bildungsstandards ist die „Gesprächskompetenz“ als eigenständig und vom Sprechen und Zuhören abgrenzbar dargestellt. Damit wird zu Recht hervorgehoben, dass es hier um mehr geht, als um eine bloße Aneinanderreihung von Sprech- und Zuhörakten. In Gesprächen jeder Art müssen die Beteiligten jeweils gleichzeitig planen, wahrnehmen und produzieren. Sprechende müssen z. B. neben ihrem eigenen Redebeitrag auch die Reaktionen und Signale der Zuhörenden im Blick behalten, die Entwicklung der Gesamtsituation beobachten und die eigene Aktivität all dem fortwährend anpassen. Faktisch handelt es sich also bei jedem Gespräch um die interaktive Konstruktion von Text und Sinn, was hohe Anforderungen nicht nur an die Gesprächsbeteiligten, sondern auch an die Erforschung dieses Komplexes stellt. 58 Sprechen und Zuhören Im Anschluss an die überaus informative Expertise von Konrad Ehlich (2005) benennt Michael Becker-Mrotzek eine Reihe von Teilqualifikationen zur Gesprächsführung, wie z. B. die folgenden: ■ Laute unterscheiden und produzieren, ■ aus dem Sprachgebrauch anderer deren Handlungsziele erkennen und angemessen darauf reagieren, ■ Sprache für eigene Ziele einsetzen, ■ ein Lexikon mit Bedeutungsvorstellungen ausbilden und anwenden, ■ komplexe, grammatikalisch korrekte Sätze und Satzfolgen produzieren und rezipieren, ■ Strukturen der formalen sprachlichen Kooperation nutzen, d. h. sich der gesellschaftlich entwickelten Muster und Schemata der Kommunikation bedienen (z. B. Erzählen), ■ sich auf eine bestimmte Form des regelmäßigen Sprecherwechsels einlassen, ■ in verschiedenen sozialen, vor allem institutionellen Kontexten sprachlich angemessen handeln (vgl. Becker-Mrotzek 2008, S. 58). Es fällt auf, dass hier einige Aspekte integriert sind, die auch direkt dem Zuhören oder Sprechen zugeordnet werden können. Tatsächlich wird aus Sicht der Gesprächsanalyse gelegentlich bestritten, dass eine Trennung (von Zuhören – Sprechen – Gesprächsführung), wie sie in den Bildungsstandards (und auch in diesem Beitrag) vorgenommen wird, überhaupt möglich oder sinnvoll ist. Wir unterstreichen zwar ausdrücklich die kommunikative Vernetzung der unterschiedlichen Teilfertigkeiten im Gesamtzusammenhang „Gespräch“, halten es aber dennoch für sinnvoll, sie auch isoliert zu betrachten, insbesondere dann, wenn es darum geht, sie zu unterrichten und zu üben oder ggf. Fördermaßnahmen zu planen. In einer komplexen Grafik fasst Becker-Mrotzek die Teilaspekte der Gesprächsfähigkeit zusammen. Dabei kommen zusätzlich zu sprachspezifischem verschiedene Arten von Wissen in den Blick, die für die kompetente Teilnahme am Gespräch unerlässlich sind. Eine ausführliche Diskussion des Modells ist an dieser Stelle nicht möglich. Es wird aber deutlich, wie vielfältig die Fähigkeiten und Wissensarten sind, die von den Beteiligten in gelingende Gesprächssituationen eingebracht werden müssen. Wenn man diese Einzelkomponenten versuchsweise in konkretes Wissen und konkrete Fähigkeiten von Grundschulkindern in bestimmten Situationen übersetzt, lassen sich von dort aus Übungen oder Lernaufgaben entwickeln, die jeweils auf die betreffende Teilkompetenz abzielen. Kompetenzaufbau im Unterricht 59 Schwierigkeitsfaktoren Dauer kurz lang Funktion einfach komplex Beteiligte wenige viele Thema bekannt unbekannt Institutionelles Wissen Pragmatisches Wissen Pragmatisch-diskursive Verständnisund Produktionsfähigkeit Basale Rezeptions- und Formulierungsfähigkeit Teilfähigkeiten Ausprägung Abb. 1: Becker-Mrotzek 2008, S. 62 So kann z. B. „pragmatisch-diskursive Verständnis- und Produktionsfähigkeit“ als Lerngegenstand für Kinder der Primarstufe konkret bedeuten, sich in einer bestimmten Situation über die eigenen Ziele klarzuwerden und sie im Gespräch einzubringen oder die Ziele und Wünsche eines anderen zu ermitteln (analog etwa zum Standard: Anliegen und Konflikte diskutieren und klären). Möchte eine Lehrperson diesen Aspekt im Unterricht zum Thema machen, könnte sie z. B. ein Rollenspiel konstruieren, in dem den Spielern und Spielerinnen verschiedene oder einander partiell ausschließende Pläne für einen Wochenendausflug zugeschrieben werden, die sie jedoch nicht verraten dürfen. Die anderen hätten etwa die Diskussion zu beobachten und zu raten, wer wahrscheinlich was unternehmen möchte. Zusammenfassend ist zu sagen, dass ein ausformuliertes Kompetenzmodell für den mündlichen Sprachgebrauch bislang nicht vorliegt. Es gibt aber in unterschiedlichen Disziplinen bereits Vorstellungen über Teilaspekte des jeweiligen Bereichs, die als Grundlage für die Entwicklung kompetenzorientierten Unterrichts genutzt werden können. Im Folgenden werden einige Übungen und Aufgabensequenzen zu den drei Bereichen vorgestellt, die in einem kompetenzorientierten Unterricht eine Rolle spielen könnten.