Digital Health DLBDHDH01 PDF
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IU Internationale Hochschule
2023
Dr. Florian Koerber
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This document is a course book on digital health from IU Internationale Hochschule GmbH, 2023. It covers topics like digital health in Germany, big data, mobile health, and artificial intelligence applications in the healthcare industry. The content includes an introduction, detailed explanations of various topics, learning objectives, and a comprehensive table of contents.
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DIGITAL HEALTH DLBDHDH01 DIGITAL HEALTH IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19 D-86675 Buchdorf [email protected] www.iu.de DLBDHDH01 Versionsnr.: 001-20...
DIGITAL HEALTH DLBDHDH01 DIGITAL HEALTH IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19 D-86675 Buchdorf [email protected] www.iu.de DLBDHDH01 Versionsnr.: 001-2023-1020 Konzept: IU Internationale Hochschule GmbH Verfasser: Dr. Florian Koerber © 2023 IU Internationale Hochschule GmbH Dieses Lernskript ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Lernskript darf in jeglicher Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung der IU Internationale Hochschule GmbH (im Folgenden „IU“) nicht reproduziert und/oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Autor:innen/Herausgeber:innen haben sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, die Urheber:innen und Quellen der verwendeten Abbildungen zu bestimmen. Sollte es dennoch zu irrtümlichen Angaben gekommen sein, bitten wir um eine dementsprechende Nachricht. 2 INHALTSVERZEICHNIS DIGITAL HEALTH Einleitung Wegweiser durch das Studienskript . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Übergeordnete Lernziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Lektion 1 Digital Health in Deutschland und international 9 1.1 Digital Health: Definition, Hintergrund der Entwicklung und Standortbestimmung . 10 1.2 Digital Health in Deutschland, gesetzliche Regulierungen und Initiativen . . . . . . . . . . 14 1.3 Digital Health international, gesetzliche internationale Regulierungen und Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Lektion 2 Digitale Gesundheitsdaten und Big Data im Gesundheitswesen 2.1 2.2 2.3 2.4 27 Big Data: Definition, Hintergrund der Entwicklung und Standortsbestimmung . . . . . 28 Big Data: Methoden und Management in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Big-Data-Anwendungen im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Herausforderungen von Big Data im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Lektion 3 Mobile Health im Gesundheitswesen 47 3.1 3.2 3.3 3.4 48 51 56 60 Mobile Health: Definition, Hintergrund der Entwicklung und Standortbestimmung . Mobile Health: Methoden und Management in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mobile-Health-Anwendungen im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen von Mobile Health im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lektion 4 Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen 63 4.1 Definition und Arten von Künstlicher Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4.2 Funktionsweise und Algorithmen von Künstlicher Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 4.3 Praxisbeispiele und Anwendungen von der Künstlichen Intelligenz im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4.4 Herausforderungen bei der Anwendung von KI im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . 74 3 Lektion 5 Erweiterte Realität (XR) im Gesundheitswesen 79 5.1 Definition und Arten von erweiterter Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5.2 Funktionsweise der erweiterten Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 5.3 Praxisbeispiele und Anwendungen der erweiterten Realität (XR) im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5.4 Herausforderungen bei der Anwendung von erweiterter Realität im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Lektion 6 Digital Health als kulturelle Transformation der traditionellen Gesundheitsversorgung 95 6.1 Do-it-Yourself-Medizin: Neue Rollen- und Beziehungsgestaltung von Patient:innen und Ärzt:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 6.2 Fokus: Prävention und Lifestyle-Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 6.3 Value-Based Healthcare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 6.4 Personalisierte Medizin und Genomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 6.5 Gesellschaftliche Herausforderungen von Digital Health: Digital Health Divide und Equity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Verzeichnisse Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4 EINLEITUNG HERZLICH WILLKOMMEN WEGWEISER DURCH DAS STUDIENSKRIPT Dieses Studienskript bildet die Grundlage Deines Kurses. Ergänzend zum Studienskript stehen Dir weitere Medien aus unserer Online-Bibliothek sowie Videos zur Verfügung, mit deren Hilfe Du Dir Deinen individuellen Lern-Mix zusammenstellen kannst. Auf diese Weise kannst Du Dir den Stoff in Deinem eigenen Tempo aneignen und dabei auf lerntypspezifische Anforderungen Rücksicht nehmen. Die Inhalte sind nach didaktischen Kriterien in Lektionen aufgeteilt, wobei jede Lektion aus mehreren Lernzyklen besteht. Jeder Lernzyklus enthält jeweils nur einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt. So kannst Du neuen Lernstoff schnell und effektiv zu Deinem bereits vorhandenen Wissen hinzufügen. In der IU Learn App befinden sich am Ende eines jeden Lernzyklus die Interactive Quizzes. Mithilfe dieser Fragen kannst Du eigenständig und ohne jeden Druck überprüfen, ob Du die neuen Inhalte schon verinnerlicht hast. Sobald Du eine Lektion komplett bearbeitet hast, kannst Du Dein Wissen auf der Lernplattform unter Beweis stellen. Über automatisch auswertbare Fragen erhältst Du ein direktes Feedback zu Deinen Lernfortschritten. Die Wissenskontrolle gilt als bestanden, wenn Du mindestens 80 % der Fragen richtig beantwortet hast. Sollte das einmal nicht auf Anhieb klappen, kannst Du die Tests beliebig oft wiederholen. Wenn Du die Wissenskontrolle für sämtliche Lektionen gemeistert hast, führe bitte die abschließende Evaluierung des Kurses durch. Die IU Internationale Hochschule ist bestrebt, in ihren Skripten eine gendersensible und inklusive Sprache zu verwenden. Wir möchten jedoch hervorheben, dass auch in den Skripten, in denen das generische Maskulinum verwendet wird, immer Frauen und Männer, Inter- und Trans-Personen gemeint sind sowie auch jene, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder können. 6 LITERATUREMPFEHLUNGEN Hierbei handelt es sich um Standardwerke und vertiefende Literatur zum jeweiligen Kurs, die nicht klausurrelevant sind und nicht zwingend in den Datenbanken der Bibliothek verfügbar sein müssen. Vorhandene Titel sind mit einem Link versehen. ALLGEMEIN Biesdorf, S., Niedermann, F., Sickmüller, K. & Tuot, K. (2022). Digitalisierung im Gesundheitswesen: Die 42-Milliarden-Euro-Chance für Deutschland (Digital Technology). (Im Internet verfügbar.) Birkemeyer, R., Müller, A., Wahler, S. & von der Schulenburg, J.-M. (2020). A cost-effectiveness analysis model of Preventicus atrial fibrillation screening from the point of view of statutory health insurance in Germany. Health economics review, 10(1), 16. Koerber, F., Maier, L., Gansen, J. & Rottenkolber, D. (2023). Digital Market Access: Die neue Realität von digitalen Geschäftsmodellen auf dem deutschen Gesundheitsmarkt. In C. Stummeyer, A. Raab & M. E. Behm (Hrsg.), Plattformökonomie im Gesundheitswesen (S. 143–173). Springer Fachmedien Verlag. http://search.ebscohost.com.pxz.iubh.de:8 080/login.aspx?direct=true&db=edssjb&AN=edssjb.978.3.658.35991.1.9&site=eds-live &scope=site 7 ÜBERGEORDNETE LERNZIELE Im aktuellen Kontext des demografischen Wandels, steigender Kosten im Gesundheitswesen und der weltweit begrenzten Verfügbarkeit von Ressourcen im Gesundheitswesen bietet Digital Health neue Chancen und Herausforderungen. Digital Health ist ein wachsendes und dynamisches Konzept, das die Nutzung digitaler Technologien für die Prävention und Erhaltung von Gesundheit bedeutet. Gemäß der Definition der Weltgesundheitsorganisation umfasst Digital Health im weiten Sinne die elektronische Gesundheit eHealth einschließlich mHealth sowie den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, Big Data und Genomik für Gesundheitszwecke. Der Kurs liefert einen Überblick über die wichtigsten gesetzlichen und gesellschaftlichen Initiativen, Technologien und Anwendungsgebiete für Digital Health im Gesundheitswesen einschließlich der transformativen Einflüsse von Digital Health auf Gesundheitssysteme. 8 LEKTION 1 DIGITAL HEALTH IN DEUTSCHLAND UND INTERNATIONAL LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion wirst Du in der Lage sein, ... – den Begriff Digital Health im nationalen und internationalen Kontext zu definieren. – die wichtigsten gesetzlichen Regelungen im Bereich Digital Health im deutschen Gesundheitswesen zu benennen. – die aktuellen Entwicklungen im Kontext der Digitalisierung des Gesundheitswesens aufzuzeigen. – internationale Regulierungen und Initiativen zum Thema Digital Health zu beschreiben und deren Bedeutung einzuordnen. 1. DIGITAL HEALTH IN DEUTSCHLAND UND INTERNATIONAL Einführung MRT steht für die Magnetresonanztomographie und ist ein bildgebendes Verfahren in der medizinischen Diagnostik. Bei jeder Neuaufnahme in einer Praxis muss erneut angegeben werden, ob eine Arzneimittelunverträglichkeit vorliegt. MRT-Aufnahmen müssen auf einer DVD von einer Praxis zur nächsten getragen werden. Rezepte können nicht einfach per Handy von zu Hause eingereicht werden, um das Medikament am selben Tag nach Hause geliefert zu bekommen. Dieser Status quo der Gesundheitsversorgung lässt sich mit dem Einsatz von digitalen Technologien verbessern. Gleichzeitig bergen Technologien auch immer ein Risiko, wenn sie missbräuchlich oder unbedacht eingesetzt werden. Dies gilt insbesondere, wenn es sich um ein so hohes Gut wie Gesundheit handelt. Digital Health bewegt sich in diesem Spannungsfeld von Nutzen und Risiken digitaler Technologien im Gesundheitswesen. Und zwar nicht nur aus Sicht der Patient:innen, sondern aller relevanten Akteure des Gesundheitssystems auf Mikroebene (z. B. Leistungserbringer), Mesoebene (z. B. GKV-SV) und Makroebene (z. B. Gesetzgebung im Bundestag) – national sowie international. In dieser Lektion werden die Hintergründe des Begriffs Digital Health beleuchtet, warum er so eine hohe Relevanz für Gesellschaften hat und wie Gesundheitssysteme weltweit damit umgehen. 1.1 Digital Health: Definition, Hintergrund der Entwicklung und Standortbestimmung Digital Health ist ein relativ neues Gebiet, sodass zunächst eine begriffliche Eingrenzung vorgenommen wird, um in der Folge einen Überblick über den aktuellen Stand in Deutschland zu geben. Begriffsbestimmung Es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt verschiedene Ansätze, um den Begriff Digital Health zu definieren und von anderen verwandten Begriffen wie eHealth oder mobile health (mHealth) abzugrenzen (Fatehi et al., 2020). Die meisten Definitionen eint, dass Digital Health als der umfassendste Begriff die anderen beiden Termini inkludiert oder sich aus 10 diesen ergibt (Chan, 2021; World Health Organization, 2019). In diesem engen Sinn wird Digital Health überwiegend über die technologischen Aspekte bzw. deren Einfluss auf die Gesundheit von Patient:innen definiert. Demzufolge liegt der Schwerpunkt des Begriffs eHealth auf den zugrunde liegenden Informations- & Kommunikationstechnologien (IKT), die es ermöglichen, verschiedene Teile des Gesundheitswesens miteinander zu vernetzen, um Daten auszutauschen und darauf basierende Anwendungen zu entwickeln (World Health Organization, 2019; Cowie et al., 2016). Hierzu zählen z. B. die technische Infrastruktur für den Datentransfer ebenso wie tragbare Geräte, welche über Sensoren Gesundheitsdaten erfassen. Aufgrund der Eigenschaft tragbarer Geräte mobil zu sein, wird diese Untermenge von eHealth auch als mHealth oder mobile health beschrieben. Dementsprechend inkludiert eHealth den Begriff. Informations- & Kommunikationstechnologien (IKT) eine Kombination aus Informationstechnik (IT), der Verarbeitung elektronischer Daten, und Telekommunikation (TK), der Übertragung von Daten über eine räumliche Distanz Abbildung 1: Begriffsbestimmung Digital Health Quelle: Florian Koerber, 2023, in Anlehnung an Cowie et al., 2016, S. 63–66; World Health Organization, 2021, S. 39–41. Digital Health beinhaltet über IKT hinaus weitere Technologien, z. B. aus den Bereichen Big Data, Künstliche Intelligenz, Genomik und erweiterter Realität. Digital Health ist somit ein interdisziplinäres Feld. Der Schwerpunkt des Begriffs liegt auf der Nutzung von Tech- 11 nologien zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung selbst und stellt damit die Gesundheit der Patient:innen in den Vordergrund (Fadahunsi et al., 2021; Fatehi et al,. 2020; D’Onofrio, 2022). BEISPIEL 1 PREVENTICUS Preventicus, die GWQ ServicePlus AG und die Servicegesellschaft des Bundesverbands der niedergelassenen Kardiologen haben das virtuelle Versorgungskonzept „RhythmusLeben“ initiiert, das sich an Patient:innen mit erhöhtem Risiko (z. B. durch höheres Lebensalter, Bluthochdruck, Diabetes etc.) auf Vorhofflimmern richtet, was oft die Vorstufe zu einem Schlaganfall darstellt. Patient:innen überwachen zu Hause regelmäßig per App ihre Werte und können sich bei Auffälligkeiten an eine:n kooperierende:n Kardiolog:in in ihrer Nähe wenden, um die Messungen zu diskutieren. Diese:r stattet sie bei Bedarf mit einem telemetrischen EKG-System aus, um auf dessen Basis eine genaue Diagnose samt Therapieempfehlung zu stellen (Preventicus GmbH, 2022). In einem weiter gefassten Sinn beschreibt Digital Health ein sich neu entwickelndes Paradigma in der Gesundheitsversorgung. Kennzeichnend für diesen kulturellen Wandel ist, dass die Rolle der Patient:innen in der Gesundheitsversorgung durch die orts- und zeitunabhängige Verfügbarkeit von relevanten Daten gestärkt wird. Bertalan Meskó definiert Digital Health in diesem Sinne als “the cultural transformation of how disruptive technologies that provide digital and objective data accessible to both caregivers and patients leads to an equal level doctor-patient relationship with shared decision-making and the democratization of care“ (Meskó et al., 2017, o. S.). Perspektiven auf Digital Health Videokonsultationen der Besuch einer virtuellen Sprechstunde unter Zuhilfenahme von IKT 12 Patient:innen sind offensichtlich willens, digitale Technologien auch im Bereich der Gesundheitsversorgung zu nutzen, wenn sie einen Mehrwert bieten. So wurden beispielsweise während der Coronapandemie die Rahmenbedingungen für die Bereitstellung von Videokonsultationen in Deutschland verbessert (McKinsey und Company, 2021). Ärzt:innen konnten während der Pandemie unbegrenzt Videosprechstunden anbieten und abrechnen und waren nicht auf eine maximale Quote von 30 Prozent der Sprechstunden limitiert. Das Risko von Neuinfektionen wird durch Videokonsultationen reduziert, da sich die Anzahl der Kontakte verringert. Für Patient:innen ergibt sich ein zusätzlicher Mehrwert in weniger Warte- und Anfahrtszeiten. In der Folge stiegen die Nutzungszahlen von weniger als 3.000 in 2019 auf 2,67 Mio. im Jahr 2020. Gleichzeitig besteht auch weiterhin eine gewisse Skepsis, wie eine Umfrage zeigt, der zufolge fast jede:r vierte Patient:in befürchtet, dass Ärzt:innen sich in einer virtuellen Sprechstunde kein vollumfängliches Bild machen können. Fast jede:r Zweite fürchtet um Datenschutz und -sicherheit der sensiblen Gesundheitsdaten. Dieses Beispiel zeigt, dass die Abwägung von Mehrwert und Risiko aus Sicht der Patient:innen für die Annahme von Digital Health auschlaggebend ist. Aus Sicht des Gesundheitssystems besteht ein wichtiger potenzieller Mehrwert von Digital Health darin, die Gesundheitsversorgung effizienter erbringen zu können, da es zum Ziel hat, mit den begrenzten Ressourcen möglichst viel Gesundheit zu kreieren. Die Unternehmensberatung McKinsey errechnet, dass das deutsche Gesundheitswesen beim Einsatz aller verfügbaren digitalen Technologien 42 Mrd. Euro im Jahr 2021 hätte einsparen können (Biesdorf et al., 2022). Das sind rund 10 Prozent der Gesamtausgaben für Gesundheit in Deutschland im Jahr 2021 (Destatis, 2022). Das Einsparpotenzial verteilt sich demnach auf sechs Bereiche: • • • • • • Effizienz Die Effizienz ist der Quotient aus bewertetem Output, dem Ergebnis, und bewertetem Input, dem Mitteleinsatz. Sie gibt Auskunft über die Wirtschaftlichkeit des Mitteleinsatzes. Onlineinteraktionen, Patientenselbstbehandlung, Patienten-Self-Service, Arbeitsabläufe/Automatisierung, Ergebnistransparenz/Entscheidungsunterstützung sowie papierlose Daten. Vor dem Hintergrund stetig steigender Ausgaben für Gesundheit, bei einer gleichzeitig stetig sinkenden Menge von vollen Beitragszahlenden für die Krankenkassen, ist Digital Health also ein zentrales Element für ein auch zukünftig finanzierbares Gesundheitssystem hoher Qualität. BEISPIEL 2 PREVENTICUS Eine gesundheitsökomische Analyse des Versorgungskonzepts „RythmusLeben“ hat gezeigt, dass es im Vergleich zum analogen Versorgungsstandard nicht nur mehr Gesundheit schafft, sondern außerdem weniger Kosten für das Gesundheitssystem verursacht (Birkemeyer et al., 2020). Ein wesentlicher Treiber ist hierbei, dass durch die Verbesserung der Überwachung des Gesundheitszustands mehr Risikopatient:innen diagnostiziert und in der Folge medikamentös therapiert werden können, was zu einer Reduktion der Schlaganfälle führt. Die Ärzteschaft hat eine ähnlich differenzierte Perspektive auf Digital Health wie die Patient:innen. Das jährlich im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigung durchgeführte „Praxisbarometer Digitalisierung“ kommt für das Jahr 2021 zu dem Ergebnis, dass 74 Prozent aller Praxen in Deutschland digitalen Innovationen gegenüber mindestens teilweise aufgeschlossen sind. Gleichzeitig arbeiten weiterhin 73 Prozent der befragten 2.833 Ärzt:innen nahezu komplett oder mehrheitlich in Papierform. Als Gründe hierfür werden vor allem ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis aufgrund hoher Umstellungskosten genannt. Außerdem gibt eine Mehrheit an, dass sie Sicherheitslücken und Fehleranfälligkeit der EDV-Systeme von einer Digitalisierung abhalten. Es kann spekuliert werden, ob das reifere Alter der deutschen Praxisärzt:innen bei der Bewertung von Kosten und Nutzen digitaler Innovationen eine Rolle spielen mag. So sind 36,1 Prozent der Hausarztpraxisinhaber:innen bereits über 60 Jahre. Sicher ist, dass in den nächsten zehn Jahren viele Ärzt:innen in den Ruhestand gehen werden, was den bereits 13 bestehenden Ärztemangel verstärken wird. Digitale Innovationen wie Preventicus, die die Patient:innen befähigen, Gesundheitsversorgung buchstäblich per Handy in die eigene Hand zu nehmen, können dazu beitragen, diese Herausforderung zu bewältigen. 1.2 Digital Health in Deutschland, gesetzliche Regulierungen und Initiativen Digital Health steht in Deutschland auf verschiedenen Säulen. Allgemein lässt sich sagen, dass sich die Entwicklung in diesem Bereich seit 2018 stark beschleunigt hat. So wurde die Digitalisierung während der Ära des Gesundheitsministers Jens Spahn (2018–2021) weiter vorangetrieben und viele gesetzliche Initiativen auf den Weg gebracht. Seitdem hat das Thema insgesamt stark an Relevanz gewonnen und steht regelhaft auf der politischen Agenda. Im Jahr 2022 wird z. B. das „Gesundheitsdatennutzungsgesetz“ vorbereitet, welches sich unter anderem mit der wichtigen Abwägung von Risiken und Nutzen von Gesundheitsdaten auseinandersetzt. Gematik, elektronische Gesundheitskarte & Telematikinfrastruktur SGB V Das fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) ist die rechtliche Grundlage, auf der das System der Gesetzlichen Krankenversicherung operiert. Interoperabilität Fähigkeit zum Austausch von Daten zwischen verschiedenen IT-Systemen Datenschutz Rechtbegriff, dessen Umsetzung sicherstellen soll, dass Daten nicht missbräuchlich verwendet werden und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie das Persönlichkeitsrecht nicht verletzt werden 14 Der deutsche Gesetzgeber hat das Nutzenpotenzial von Digital Health ursprünglich früh erkannt, was sich daran zeigt, dass bereits 2003 mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-Modernisierungsgesetz) und durch die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) der Aufbau einer digitalen Infrastruktur gesetzlich beschlossen wurde. Hierfür wurde im Jahr 2005 die „Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte“ gegründet, kurz Gematik. Die Gematik ist ein zentraler Akteur für Digital Health in Deutschland, da sie die Voraussetzung für einen sicheren Austausch von Gesundheitsdaten im Rahmen der sogenannten Telematikinfrastruktur (TI) schaffen soll (§ 311 SGB V). Die TI kann man sich als digitale Datenautobahn vorstellen, an die für die Gesundheitsversorgung relevante Akteure (z. B. Krankenkassen, Arztpraxen, Krankenhäuser, Patient:innen etc.) Anschluss haben und so miteinander kommunizieren können. Hierfür veröffentlicht die Gematik beispielsweise Verzeichnisse für Standards, um die Interoperabilität zwischen verschiedenen IT-Systemen zu ermöglichen. Außerdem stellt sie sicher, dass der Datenschutz und die Datensicherheit gewährleistet sind, indem sie die Anforderungen für die verschiedenen Bausteine der TI definiert und deren Einhaltung durch Zulassung überprüft. Die eGK fungiert als Berechtigungsnachweis der Patient:innen für gesundheitliche Leistungen im Rahmen des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung (§ 291a, b SGB V). Hierzu müssen die sogenannten Versichertenstammdaten auf der eGK gespeichert sein. Dazu gehören: • Persönliche Daten: Name, Geburtsdatum, Anschrift, Geschlecht sowie • Angaben zur Krankenversicherung: Krankenkasse, Krankenversichertennummer, Versichertenstatus, Tag des Beginns des Versicherungsschutzes, Zuzahlungsstatus. Außerdem hat sie den Zweck, „bestimmte gesundheitsspezifische Daten durch Erhebung zu speichern, deren Verarbeitung zu ermöglichen und eine interdisziplinäre Nutzung der Daten zu gewährleisten“ (Jorzig & Sarangi, 2020). So können relevante Informationen wie Arzneimittelunverträglichkeiten oder Allergien auf der eGK als sogenannte Notfalldaten gespeichert werden. In Notfällen, aber auch bei normalen Arztbesuchen, können die behandelten Ärzt:innen diese Informationen dann auslesen. Um Zugriff auf die Daten der eGK zu erhalten, müssen sie sich zuvor mittels ihres elektronischen Heilberufsausweises gegenüber der eGK des:der Versicherten als Berechtigte identifizieren (Bundesministerium für Gesundheit, 2022a). Datensicherheit Die Datensicherheit bezieht sich auf den physischen Schutz der Daten, z. B. vor Vernichtung oder Diebstahl. Datensicherheit ist somit eine Voraussetzung für Datenschutz. Am Beispiel der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur zeigt sich, wie lange es dauern kann, bis sich digitale Innovationen im deutschen Gesundheitswesen durchsetzen. So begann die tatsächliche Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte an die Versicherten erst im Jahr 2010 und zehn Jahre nach der legislativen Einführung, im Jahr 2013, hatten erst rund 70 Prozent der Versicherten eine elektronische Gesundheitskarte erhalten. Erst seit 01.01.2015 gilt ausschließlich die eGK und seit 2020 werden schrittweise medizinische Anwendungen wie das Speichern von Notfalldaten ermöglicht. Die elektronische Patientenakte (ePA) Im Laufe eines Lebens werden große Mengen medizinischer Daten generiert und auf unterschiedlichen Medien an verschiedenen Orten gespeichert: auf einer DVD der radiologischen Praxis, auf dem PC der Hausarztpraxis, in der Akte des Krankenhauses. Patient:innen und medizinisches Fachpersonal können also nicht immer und überall auf diese Daten zugreifen, um darauf basierend gesundheitsrelevante Entscheidungen zu treffen. In der Folge kann es zu suboptimalen Therapieentscheidungen oder unnötigen Doppeluntersuchungen kommen. Dies soll sich mit der Einführung der ePA ändern: Sie soll eine der Kernanwendungen der TI werden und Patient:innen ermöglichen, auf ihre medizinischen Daten aus verschiedenen Bereichen der Gesundheitsversorgung zuzugreifen und diese mit Leistungserbringern zu teilen. So sind alle relevanten medizinischen Daten an einem Ort auffindbar und (elektronisch) verwertbar. Die ePA ist somit eine der zentralen Big-DataQuellen im Gesundheitswesen. Sie ist mit 17 Prozent (7 Mrd. Euro) für den größten Anteil des mit der Nutzung von Digital Health assoziierten Einsparpotenzials verantwortlich (Biesdorf et al., 2022). Der Einsatz einer ePA wird mit folgenden Verbesserungen assoziiert (Jorzig & Sarangi, 2020): • • • • • • • Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung, mehr Evidenzbasierung von Behandlungen und Behandlungsmaßnahmen, Erhöhung der Patientensicherheit, Optimierung der Koordinationsmöglichkeit der individuellen Versorgung, Erhöhung von Rechtzeitigkeit und Angemessenheit von Interventionen, Verkürzung von Durchlaufzeiten in der Diagnostik, Optimierung von Konsilen und Vereinfachung der Einholung von Zweitmeinungen sowie • verbesserte Datenlage für die Forschung. 15 Konsil Austausch zwischen medizinischen Fachgruppen bzw. Fachpersonal mit dem Ziel, die bestmögliche Entscheidung für Patient:innen zu treffen Die Einführung einer ePA wurde für Deutschland im Januar 2016 mit dem sogenannten eHealth-Gesetz zum 01.01.2019 beschlossen. Da sich der Ausbau der TI allerdings verzögerte, konnte dieser Termin nicht gehalten werden. Stattdessen wurde mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) im Mai 2019 der gesetzliche Anspruch der Versicherten auf eine ePA ab dem 01.01.2021 geschaffen. Seitdem wird die ePA schrittweise eingeführt und jedes Jahr sollen neue Funktionalitäten hinzukommen sowie weitere Leistungserbringer bzw. Datenquellen angeschlossen werden (Gematik GmbH, 2023). Das elektronische Rezept (e-Rezept) Der Grundstein für das elektronische Rezept wurde im August 2019 mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) gelegt, in dem der grobe zeitliche Fahrplan definiert wurde. Demnach musste die Gematik bis zum 30.06.2020 die technischen Spezifikationen für die Umsetzung veröffentlichen. Das PatientendatenschutzGesetz (PDSG) konkretisierte 2020 dahingehend, dass die flächendeckende Einführung des e-Rezepts ab 2022 erfolgen sollte (Bundesministerium für Gesundheit, 2022b). Vorteile des e-Rezepts Verordnungen Anderes Wort für Rezept; wird im Fachjargon auch als „Muster 16“ bezeichnet. Wie der Name des initialen Gesetzes bereits andeutet, verspricht man sich von der Digitalisierung des Rezepts unter anderem eine Erhöhung der Patientensicherheit. So können auf Basis der Verordnungen automatisch Medikationspläne und Erinnerungen für Patient:innen mit chronischen und multiplen Erkrankungen erstellt werden, die eine Vielzahl unterschiedlicher Medikamente einnehmen müssen. Da diese teilweise von unterschiedlichen Ärzt:innen verschrieben werden, ist es wichtig, hier den Überblick zu behalten, damit Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten vermieden werden können. Das e-Rezept bildet außerdem die Grundlage dafür, dass im Rahmen von telemedizinischen Behandlungen Verordnungen auch aus der Distanz ausgestellt und eingelöst werden können. So kann im Krankheitsfall nach einer Videokonsultation ein digitales Rezept ausgestellt und bei einer Onlineapotheke eingelöst werden, die es zu den Patient:innen nach Hause liefert. So muss z. B. für die Medikation eines Infekts nicht im kranken Zustand das Haus verlassen werden. Funktionsweise des e-Rezepts Bei der digitalen Ausstellung des e-Rezepts durch den Arzt bzw. die Ärztin wird dieses verschlüsselt und über einen bundesweiten und einheitlichen Server erstellt. Die Patient:innen erhalten über die Gematik-App Zugriff auf das e-Rezept und können dieses hierüber oder über eine Dritt-App aufrufen und einlösen. 16 Abbildung 2: Der Prozess zur Ausstellung und Einlösung eines e-Rezepts Quelle: Florian Koerber, 2023. 17 Telemedizin Telemedizin bezeichnet im Allgemeinen die Erbringung medizinischer Leistungen unter Überbrückung einer räumlichen oder zeitlichen Distanz zwischen Leistungserbringern und Patient:innen oder auch zwischen Leistungserbringern. Telemedizin ermöglicht somit eine zeitlich und örtlich unabhängige Patientenversorgung (Marx et al., 2021). Die denkbaren Anwendungen auf der Grundlage von Informations- und Kommunikationstechnologien lassen sich dabei in drei Kategorien einteilen: Telekonsil Durchführung eines Konsils unter Zuhilfenahme von IKT • Teletherapie: Erbringung medizinischer Leistungen von medizinischem Fachpersonal zu Patient:innen, z. B. während einer Videosprechstunde zur Diagnose einer Bronchitis; • Telekooperation: Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonal untereinander, z. B. im Rahmen eines Telekonsils während einer OP; • Telemonitoring: kontinuierliche Erhebung relevanter medizinischer Parameter im Alltag der Patient:innen durch Sensoren und Weiterleitung dieser an medizinisches Fachpersonal, z. B. durch eine digitale Waage. Der Einsatz dieser Anwendungen wird im Allgemeinen mit einer Verbesserung der Versorgungsqualität und -effizienz verbunden (Lux et al., 2017). So können mittels Videokonsultationen beispielsweise auch Patient:innen versorgt werden, die immobil sind oder in Regionen leben, in denen die (Fach-)Arztdichte gering ist. Durch die Nutzung von Telekonzil und Telemonitoring verbessert sich die Datenlage und Verfügbarkeit für medizinische Entscheidungen, was zu besseren Ergebnissen für Patient:innen führen kann, insbesondere bei Patient:innen mit chronischen Erkrankungen. Eine Studie aus dem Jahr 2021 untersucht die gesundheitlichen und ökonomischen Effekte einer durch Telemonitoring unterstützten Behandlung von Patient:innen mit chronischer Herzinsuffizienz und vergleicht diese mit dem üblichen Versorgungsstandard (Rabbe et al., 2021). Nach 36 Monaten wiesen die Patient:innen mit Telemonitoring eine erhöhte Überlebenswahrscheinlichkeit auf und verursachten geringere Kosten für das Gesundheitssystem. 18 Abbildung 3: Gesundheitsökonomische Analyse von Telemonitoring Quelle: Florian Koerber, 2023, in Anlehnung an Rabbe et al., 2021. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) entschied 2020, dass Telemonitoring bei Herzinsuffizienz zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung erstattungsfähig ist. Die entsprechenden Abrechnungsziffern wurden im Dezember 2021 geschaffen. Chronische Herzinsuffizienz ist somit die erste Indikation, für die umfangreiches Telemonitoring in Deutschland möglich ist. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) Der gemeinsame Bundesauschuss (G-BA) ist das höchste Entscheidungsgremium im deutschen Gesundheitssystem. Die rechtlichen Grundlagen für die Teletherapie wurden in Deutschland erst kurz vor der Coronapandemie im Jahr 2018 auf dem 121. Deutschen Ärztetag geschaffen. Auf diesem wurde die Änderung des § 7 der Musterberufsordnung der Ärzte beschlossen, die zuvor eine ausschließliche Fernbehandlung ohne vorherigen Erstkontakt zwischen Ärzt:innen und Patient:innen untersagt hatte (§ 7 Abs. 4 MBO-Ä). In der Folge wurde im Jahr 2019 auch eine Vergütung für Videokonsultationen verhandelt, sodass Ärzt:innen diese Leistungen auch gegenüber den Krankenkassen abrechnen konnten. In der Kombination mit dem Vorteil des reduzierten Infektionsrisikos während einer Videosprechstunde führte dies dann während der Pandemie zu einem sprunghaften Ansprung von Teletherapie (McKinsey und Company, 2021). 19 Digitale Gesundheits- und Pflegeanwendungen (DiGA/DiPA) Regelversorgung Leistungen, die regelhaft durch die gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden Medizinprodukt Apparate, Gegenstände, Stoffe und auch Software, die zu therapeutischen oder diagnostischen Zwecken für Menschen verwendet werden, zählen als Medizinprodukte. Evidenz Dies ist ein wissenschaftlicher Nachweis, der z. B. in Form von klinischen Studien erbracht werden kann. Morbidität bezeichnet den Schweregrad bzw. die Last einer Krankheit, die sich z. B. durch Ausprägung der Symptome oder Dauer der Erkrankung ergibt Adhärenz Einhaltung der vorgegebenen Verwendung von medizinischen Maßnahmen, z. B. regelmäßiger Einnahme der Tabletten Im Rahmen des sogenannten Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) wurde in Deutschland im Dezember 2019 eine Weltpremiere eingeführt: die „App auf Rezept“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2020). Die Apps auf Rezept, offiziell digitale Gesundheitsanwendungen oder kurz DiGA genannt, sollen als vierte Säule neben Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln die Regelversorgung von Patient:innen in Deutschland ergänzen (McKinsey und Company, 2021). Zentraler Gedanke ist hierbei die Patientenzentriertheit. So sollen Patient:innen in die Lage versetzt werden, durch die Nutzung der DiGA ihren Gesundheitszustand selbst zu managen, ohne dass Leistungserbringer ein Teil des Versorgungskonzepts sind. DiGA können demnach für die „Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen“ (§ 33a SGB V) eingesetzt werden. Ein Beispiel hierfür ist die DiGA „Kalmeda“, welche Patient:innen mit einem Tinnitus dabei unterstützt, durch Verhaltensänderungen die Krankheitslast zu reduzieren. Die Darreichung der Inhalte bzw. die Hauptfunktion kann dabei als App erfolgen, wie bei Kalmeda, muss es aber nicht, solange sie digital erfolgt. Voraussetzung für die Zulassung als DiGA ist eine positive Prüfung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Hierfür müssen die Produkte unter anderem nachweisen, dass sie ein Medizinprodukt der Klasse I oder IIa sind und den Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit gerecht werden. Außerdem müssen die Hersteller Evidenz nachweisen, die darlegt, dass das Produkt einen positiven Versorgungseffekt generiert. Die Evidenz kann sich entweder in einem medizinischen Nutzen, wie einer Veränderung der Morbidität, oder einer patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserung widerspiegeln. Letztere inkludieren: • • • • • • • • • Koordination von Behandlungsabläufen, Ausrichtung der Behandlung an Leitlinien und anerkannten Standards, Adhärenz, Erleichterung des Zugangs zur Versorgung, Patientensicherheit, Gesundheitskompetenz, Patientensouveränität, Bewältigung krankheitsbedingter Schwierigkeiten im Alltag sowie Reduzierung der therapiebedingten Aufwände und Belastungen der Patient:innen und ihrer Angehörigen. DiGA sind erstattungsfähig und können analog zu Arzneimitteln von Leistungserbringern verschrieben oder durch Krankenkassen auf Anfrage von Patient:innen freigeben werden. Innerhalb von zwei Jahren hat sich der DiGA-Markt sehr dynamisch entwickelt und vor allem Start-ups haben dutzende Anwendungen entwickelt, welche die Versorgung von Patient:innen in den respektiven Indikationen verbessern sollen (Koerber et al., 2023). Ob der Neuheit der DiGA gibt es in diesem Bereich einen großen Bedarf an Forschung, im Rahmen derer der Einfluss dieser neuen Produktklasse auf das Gesundheitssystem untersucht wird. Die digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) sind in vielerlei Hinsicht das Äquivalent der DiGA im Bereich der Pflege. Sie wurden im Rahmen des Digitale-Versorgung-und-PflegeModernisierungs-Gesetz (DVPMG) im Jahr 2021 eingeführt und sind seitdem im SGB XI 20 kodifiziert. Während DiGA sich an Patient:innen richten, sollen die DiPA von Pflegebedürftigen, pflegenden Angehörigen/Ehrenamtlichen oder auch vom ambulanten Pflegedienst eingesetzt werden. Auch bei den DiPA muss die Hauptfunktion der Anwendung digital sein. Sie sollen die Anwender:innen bei der „Haushaltsführung unterstützen und die häusliche Versorgungssituation des Pflegebedürftigen stabilisieren“ oder dazu beitragen „Beeinträchtigungen der Selbständigkeit [sic!] oder der Fähigkeiten des Pflegebedürftigen zu mindern oder einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit entgegenzuwirken“ (§ 40a SGB XI). Auch die Anträge für eine Zulassung als DiPA werden durch das BfArM geprüft, wobei sich die Zulassungsvoraussetzungen zwischen DiPA und DiGA unterscheiden. Tabelle 1: DiPA und DiGA im Vergleich DiPA verbesserte Versorgung von Pflegebedürftigen, Unterstützung von pflegenden Angehörigen/ehrenamtlich Pflegenden oder Stabilisierung der häuslichen Pflegesituation pflegerischer Nutzen in mindestens einem von sieben Bereichen DiGA Zielsetzung Zweck Verbesserung des Gesundheitszustands, der Lebensqualität oder Entlastung der Erkrankten durch Verfahrensund Strukturverbesserungen positiver Versorgungseffekt (medizinischer Nutzen und/oder Verfahrensund Strukturverbesserung) Pflegebedürftige in der häuslichen Versorgung (allein oder mit Angehörigen, Pflegenden oder Pflegedienst) Nutzende Aufnahme nur mit vorliegender Studie möglich, keine Aufnahme zur Erprobung Studienlage vorläufige Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis möglich, zwölf Monate zur Evidenzerbringung Preis Herstellerpreis im ersten Jahr (limitiert durch Höchstbeträge & Schwellenwerte), danach erfolgt Preisverhandlung Kostenträger GKV, Sachleistungsanspruch des Versicherten Zugangsweg Verordnung über Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen oder per gesicherter Diagnose direkt über die GKV max. 50 Euro/Monat inkl. Unterstützungsleistungen, verhandelte Vergütungsbeträge gelten ab Listung Pflegekasse, Erstattungsanspruch der Pflegebedürftigen Pflegekasse entscheidet über Anspruch pflegebedürftiger Person auf eine DiPA nicht zwingend zertifiziertes Medizinprodukt, muss Anforderungen an Datenschutz/-sicherheit und Qualität erfüllen §§ 40a, 40b SGB XI Medizinprodukt gesetzl. Grundlage Patient:innen Medizinprodukt Klasse I & IIa nach MDR, muss Anforderungen an Datenschutz/-sicherheit und Qualität erfüllen § 33a SGB V Quelle: Florian Koerber, 2023. 21 1.3 Digital Health international, gesetzliche internationale Regulierungen und Initiativen Weltweit arbeiten eine Vielzahl von Ländern an der Digitalisierung ihrer Gesundheitssysteme, wobei der Grad der Digitalisierung zu einem gegebenen Zeitpunkt variiert. Die Bertelsmann Stiftung hat 2018 einen Index veröffentlicht, der dazu beitragen sollte, den Status quo der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens in einen internationalen Kontext einordnen zu können (Thiel et al., 2018). Zu diesem Zweck wurden 17 in verschiedenen Dimensionen ähnliche Länder anhand dreier Kategorien miteinander verglichen: Politische Aktivität, technische Umsetzung und Fähigkeit zur Datenintegration und -nutzung sowie tatsächliche Nutzung und Austausch von relevanten Daten. Estland führte den Index 2018 mit 82 Punkten an, während Deutschland mit 30 Punkten auf dem vorletzten Platz landete. Heute sähe das Ranking sicher anders aus, da seit 2018 viele Elemente des Index in Deutschland eingeführt worden sind, die es damals in Estland schon gab, wie eine ePA oder das e-Rezept. Auch kann man über die Vergleichbarkeit der Länder streiten, wenn man bedenkt, dass Estland ca. 1,3 Mio. Einwohner:innen aufweist (Stand 2021). Gleichzeitig wird in der Methodik der Studie deutlich, dass es bereits internationale Initiativen gibt, welche die Interoperabilität sowie internationale Transferierbarkeit von Daten gewährleisten. Interoperabilität beschreibt die Fähigkeit von IT-Systemen miteinander zu interagieren. Wenn auf einer eGK beispielsweise ein Datensatz über Allergien gespeichert ist, dann sollte jedes Arztinformationssystem diese Daten auch gleichermaßen auslesen können, unabhängig davon, von welchem Hersteller das System programmiert wurde. Aus diesem Grunde legt die Gematik in Deutschland Standards fest. Interoperabilität ist aber nicht nur innerhalb eines Gesundheitssystems nützlich, sondern auch zwischen verschiedenen Gesundheitssystemen, da Menschen mobil sind und auch Krankheiten keine Ländergrenzen kennen. Letzteres wurde besonders in der Coronapandemie deutlich, während derer die Verfügbarkeit neuer Daten maßgeblich die (Gesundheits-)Politik und das tägliche Leben beeinflusst hat. Internationale Initiativen zur Interoperabilität Damit Daten zwischen unterschiedlichen Systemen sinnvoll ausgetauscht werden können, muss einerseits die semantische Interoperabilität gewährleistet sein. Beide Systeme sollen also die Daten auf dieselbe Weise interpretieren. Wenn z. B. auf einer Gesundheitskarte in den Notfalldaten eine 1 in einem spezifischen Feld dafür steht, dass eine Allergie vorliegt, dann sollte dies auch im auslesenden System so interpretiert werden und nicht etwas das Gegenteil. Idealerweise ist dies auch dann der Fall, wenn die Karte beispielsweise in einem anderen Land ausgelesen wird. SNOMED CT („Systematised Nomenclature of Medicine Clinical Terms“) ist ein international anerkanntes und verbreitetes System zur medizinischen Dokumentation, dessen Ziel es ist, medizinische Sachverhalte unabhängig von einer Muttersprache abzuspeichern (Gaudet-Blavignac et al., 2021). Die EU unterstützt die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der Nutzung in ihren Ländern, um zukünftig die semantische Interoperabilität innerhalb der EU zu gewährleisten. In Deutschland wird der 22 Standard, welcher von einer Non-Profit-Organisation bereitgestellt wird, bereits verwendet, z. B. um Anwendungen auf Grundlage der TI zu definieren, und wird von den Behörden empfohlen (BfArM, 2023d). Ein weiterer Aspekt ist die syntaktische Interoperabilität, welche sicherstellt, dass einzelne Informationseinheiten in den Daten erkannt werden. Wenn in einer Gesundheitskarte beispielsweise im spezifischen Feld „Allergie gegen Penicillin“ eine 1 codiert ist, dann sollte das auslesende System in Estland die 1 ebenfalls in diesem Feld setzen und nicht etwa im Feld „Allergie gegen Aspirin“. Fast Healthcare Interoperability Resources (FHIR) ist ein internationaler Standard, der die syntaktische Interoperabilität im Gesundheitswesen gewährleisten soll. Seit der Einführung im Jahr 2011 hat sich der Einsatz von FHIR stark verbreitet und es wird davon ausgegangen, dass die Nutzung weiter zunimmt (Lehne et al., 2019). Der europäische Gesundheitsdatenraum Die Interoperabilität der Gesundheitssysteme in Europa zu verbessern ist auch ein zentrales Element der EU-Initiative „European Health Data Space“ (EHDS), des europäischen Gesundheitsdatenraums. Am 03.05.2022 wurde es der EHDS von der europäischen Kommission im Rahmen eines Verordnungsentwurfs vorgestellt als: „health-specific data sharing framework establishing clear rules, common standards and practices, infrastructures and a governance framework for the use of electronic health data by patients and for research, innovation, policy making, patient safety, statistics or regulatory purposes“ (Europäische Kommission, 2022). Der Gesetzgeber intendiert, die nationalen Gesundheitssysteme innerhalb der EU ab 2025 im Rahmen des EHDS enger miteinander zu verknüpfen, um einen besseren Austausch von Gesundheitsdaten zu ermöglichen. Neben der Interoperabilität und Datenqualität soll auch eine gemeinsame Infrastruktur geschaffen werden, auf deren Grundlage die Daten europaweit ausgetauscht werden können. Auf dieser Basis soll einerseits die Mobilität der europäischen Bürger:innen erhöht werden, da sie leichter zusammen mit ihren Gesundheitsdaten umziehen können, und andererseits die Grundlage für europäische DigitalHealth-Anwendungen, wie einem europäischen e-Rezept, sowie länderübergreifender Forschung ermöglicht werden. Der letzte Punkt spielt z. B. bei der Erforschung von seltenen Erkrankungen eine Rolle, da sie teilweise so selten sind, dass die nationalen Datenquellen nicht ausreichen, um Schlussfolgerungen über die Natur der Krankheit sowie Wirksamkeit von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu ziehen. Global Digital Health Das Nutzenpotenzial von Digital Health existiert nicht nur in einzelnen Ländern oder Ländern mit weit entwickelten Gesundheitssystemen, sondern kann im Gegenteil insbesondere auch aus einer globalen Perspektive betrachtet werden. Einer breiten Definition zufolge beschäftigt sich Global Health mit der Verbesserung der Gesundheit und der Verwirklichung der gesundheitlichen Chancengleichheit für alle Menschen weltweit (Koplan et al., 2009). Ein wichtiger Aspekt ist also die gesundheitliche Ungleichheit zu reduzieren, die z. B. durch den fehlenden Zugang zu einer adäquaten und bezahlbaren Gesundheitsversorgung oder hochwertigen Gesundheitsinformationen verursacht wird. Andere 23 Autor:innen fügen hinzu, dass sich Global Health mit medizinischen und gesundheitlichen Fragen beschäftigt, die eine globale Auswirkung haben und daher auch globaler Lösungen bedürfen (Chen et al., 2020). Ein naheliegendes Beispiel für Letzteres ist die Coronapandemie, deren Eindämmung signifikanter internationaler Zusammenarbeit bedurfte, z. B. im Bereich der Früherkennung neuer Virusvarianten. Gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kann Digital Health die Ziele von Global Health unterstützen: Strategic and innovative use of digital and cutting-edge information and communications technologies will be an essential enabling factor towards ensuring that 1 billion more people benefit from universal health coverage, that 1 billion more people are better protected from health emergencies, and that 1 billion more people enjoy better health and well-being. (WHO, 2021) Dies kann durch verschiedene Faktoren erreicht werden, wie etwa: • • • • besserer Zugang zur relevanten Gesundheitsinformationen, besserer Zugang zu medizinischem Fachpersonal, bessere Ausbildung von medizinischem Fachpersonal oder auch Unterstützung bei gesundheitsrelevanten Entscheidungen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Projekt MomConnect, welches das globale Problem der Sterblichkeit werdender Mütter adressiert (Jahan et al., 2020). Die Verbesserung der Gesundheit von Müttern ist ein wichtiges Global-Health-Ziel, das sich in den 2030er Zielen für nachhaltige Entwicklung widerspiegelt, die von allen 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen unterstützt werden. Müttersterblichkeit und schlechte Versorgung von Müttern konzentrieren sich in der Regel auf unterversorgte Regionen, wobei 99 Prozent der Müttersterblichkeit in sogenannten Entwicklungsländern auftritt. Die höchste Müttersterblichkeitsrate von 66 Prozent ist in Afrika südlich der Sahara zu verzeichnen. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Müttersterblichkeit in einigen Regionen Afrikas, insbesondere in Südafrika, schrittweise zurückgegangen. Trotz dieser Verbesserungen blieb die Müttersterblichkeitsrate in Südafrika hinter den für 2015 gesetzten Millenniumsentwicklungszielen zurück (Seebregts et al., 2018). BEISPIEL MOMCONNECT MomConnect ist eine mHealth-Initiative, die vom südafrikanischen Gesundheitsministerium ins Leben gerufen wurde, um die Gesundheit von Müttern und die Schwangerschaftsbetreuung auf nationaler Ebene zu verbessern. Die Zielgruppe von MomConnect sind Frauen, die schwanger sind und ein Kind erwarten. Das Programm hat drei Stufen: Registrierung von schwangeren Frauen in einem nationalen Schwangerschaftsregister, wöchentliche informative Textnachrichten und ein interaktiver Helpdesk. 24 Nach der Registrierung werden wöchentlich SMS-Nachrichten an die Nutzerinnen gesendet. MomConnect sendet je nach Schwangerschaftsstadium der Nutzerinnen bestimmte Arten von Informationen und sendet auch nach der Geburt weitere Texte, bis das Kind ein Jahr alt ist. Die Nachrichten decken ein breites Spektrum an Inhalten ab, einschließlich, aber nicht beschränkt auf, Ernährung, Diät, Drogenkonsum, Warnzeichen für medizinische Probleme, fötale Entwicklung, postnatale Pflege und soziale Unterstützung. Das Programm umfasst auch eine interaktive Helpdesk-Funktion, über die Endnutzerinnen Fragen zur vorgeburtlichen, mütterlichen und kindlichen Gesundheit stellen. Helpdesk-Mitarbeitende können häufig gestellte Fragen beantworten, während registrierte Krankenschwestern auf spezifische Fragen reagieren. Das Beispiel von MomConnect verdeutlicht, wie Digital Health dazu beitragen kann, die globale Ungleichheit mit Hinblick auf den Zugang zu Gesundheitsressourcen zu reduzieren. ZUSAMMENFASSUNG Digital Health inkludiert die Nutzung verschiedener Technologien zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und kann auch als kulturelle Transformation verstanden werden, welche z. B. das Verhältnis zwischen Patient:innen und Ärzt:innen neu definiert. Datenschutz und Datensicherheit sind Voraussetzung für Nutzbarkeit und Akzeptanz digitaler Lösungen aufgrund der Sensibilität von Gesundheitsdaten. In Deutschland wurde Digital Health seit 2018 stark vorangetrieben und durch gesetzliche Vorgaben in die Gesundheitsversorgung integriert. Die Telematikinfrastruktur ist ein zentrales Element für den sicheren Austausch von Gesundheitsdaten und die Vernetzung der verschiedenen Akteure. Telemedizin, e-Rezept und digitale Therapien sind heute schon Realität der Gesundheitsversorgung. Die Digitalisierung der Gesundheitssysteme ist eine globale Entwicklung. Die Vernetzung nationaler Gesundheitssysteme zur Lösung globaler Herausforderungen bedarf gemeinsamer technischer Standards zur Gewährleistung von Interoperabilität. Digital Health kann insbesondere auch dazu beitragen, die globale Ungleichheit der Nutzbarkeit medizinischen Fortschritts zu reduzieren. 25 LEKTION 2 DIGITALE GESUNDHEITSDATEN UND BIG DATA IM GESUNDHEITSWESEN LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion wirst Du in der Lage sein, ... – den Begriff Big Data im Kontext des Gesundheitswesens einzuordnen. – die wesentlichen Methoden und Managementansätze zur Nutzung von Big Data zu erörtern. – die Möglichkeiten, die sich aus der Nutzung von Big Data ergeben, einzuschätzen und anhand konkreter Beispiele darzustellen. – den Einsatz von Big Data kritisch zu reflektieren und konkrete Herausforderungen zu benennen. 2. DIGITALE GESUNDHEITSDATEN UND BIG DATA IM GESUNDHEITSWESEN Einführung Eine der größten Einschränkungen in der Vergangenheit der Medizin war die begrenzte Möglichkeit des menschlichen Gehirns, Zusammenhänge in Erkrankungen zu erkennen, zu verarbeiten und zu speichern. Big Data kann helfen, wenn es darum geht, Informationen über verschiedene Parameter hinweg zu aggregieren. DNA, Proteine, Zellen, Gewebe – all diese Informationen können in Informationssystemen in Zusammenhang gebracht und analysierbar gemacht werden. Dabei gilt: Je mehr Informationen zusammengetragen werden, desto besser werden auch die Vorhersagemodelle und das Verständnis darüber, wie eine Krankheit funktioniert. Big Data bezieht sich also auf die Verwendung großer, komplexer Datensätze als Grundlage für die Entscheidungsfindung. Einer der Hauptvorteile des Einsatzes von Big Data besteht darin, Muster und Trends sichtbar machen zu können, die mit herkömmlichen Methoden gar nicht oder nur schwer zu erkennen wären. Auf diesem Weg können Erkenntnisse gewonnen werden, die zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung beitragen und die Effizienz der Gesundheitsversorgung verbessern. Data-Mining-Techniken Verfahren zur Extraktion von wertvollen Informationen aus großen Datenmengen Ein Krankenhaus möchte beispielsweise die Zahl der Wiedereinweisungen von Patient:innen mit Herzinsuffizienz verringern. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist die Analyse der elektronischen Patientenakte von Patient:innen, die mit der Diagnose Herzinsuffizienz entlassen wurden. Das Krankenhaus könnte Data-Mining-Techniken einsetzen, um Muster und Trends in den Daten zu erkennen, welche Patient:innen am ehesten wieder eingewiesen werden und welche Faktoren, wie z. B. die Einhaltung der Medikamenteneinnahme oder fehlende Nachsorge, mit Wiedereinweisungen zusammenhängen. In der Konsequenz könnte zukünftig bei der Entlassung von Patient:innen auf diese kritischen Aspekte besonders geachtet werden, um die Wiedereinweisungen zukünftig zu reduzieren. Die Nutzung von Big Data im Gesundheitswesen birgt jedoch auch einige Herausforderungen. Dazu gehören Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit sowie der Bedarf an Fachwissen und Infrastruktur für die Speicherung, Verarbeitung und Analyse großer Datensätze. 2.1 Big Data: Definition, Hintergrund der Entwicklung und Standortsbestimmung Wie das Beispiel in der Einleitung zeigt, können Daten dazu genutzt werden, die Gesundheitsversorgung effizienter zu erbringen und noch mehr an den tatsächlichen Bedürfnissen bzw. Problemen der Patient:innen auszurichten, das Gesundheitssystem also patien- 28 tenzentrierter und im Idealfall auf den Einzelfall zugeschnitten, also personalisiert, zu gestalten. Außerdem versuchen Gesundheitssysteme weltweit, ihre Strukturen mehr und mehr danach auszurichten, die besten Gesundheitsergebnisse zu erzielen. Ein Paradigma, das auch als value-based healthcare, also wert-basierte Gesundheitsversorgung, beschrieben wird (Porter & Teisberg, 2006). Um diese Art der patienten- und wertbasierten Gesundheitsversorgung umsetzen zu können bedarf es sehr großer Datenmengen (Huang et al., 2015). Die Möglichkeit der Generierung großer Datenmengen wird dabei durch die Weiterentwicklungen im Bereich der Datenerhebung und -verarbeitung stetig kostengünstiger (Dinov, 2016). So haben die technischen Entwicklungen im Bereich der Genanalyse beispielsweise dazu geführt, dass die Kosten für die Sequenzierung eines Gens von $ 100.000.000 im Jahr 2001 auf $ 1.000 im Jahr 2021 gesunken sind (Wetterstrand, 2021). In der Konsequenz wachsen die Datenmengen im Gesundheitswesen rasant an. Die Kombination aus steigendem Bedarf an und kostengünstiger Beschaffung von großen Datenmengen hat die Relevanz von Big Data im Gesundheitswesen in den letzten Jahren stark ansteigen lassen, wie ein Blick in Google Trends darlegt. Aus der Abbildung ist ersichtlich, dass die Suchbegriffe „Big Data im Gesundheitswesen“ seit Anfang 2013 immer häufiger abgefragt wurden. Abbildung 4: Anzahl Suchanfragen „Big Data im Gesundheitswesen“ 2010–2020 Quelle: Google Trends, 2023. Es gibt viele Definitionen von Big Data, jedoch keine allgemein gültige. Baro et al. haben 2015 eine Literaturrecherche zur Definition von Big Data durchgeführt und eine absolute Definition vorgeschlagen, wonach ein Datensatz nur dann als großer Datensatz bezeichnet werden kann, wenn der Logarithmus, Log (n∗p), größer oder gleich 7 ist (Baro et al., 2015). Ein Bericht des US-Kongresses im August 2012 erklärt Big Data dagegen als “large volumes of high velocity, complex, and variable data that require advanced techniques and technologies to enable the capture, storage, distribution, management, and analysis of the information” (SA, 2018, S. 58). Da sich die Technologien und Techniken laufend weiterentwickeln, ist letztere eine relative Definition, welche die Bezeichnung Big Data von den gegebenen Umständen abhängig macht. 29 Charakteristika von Big Data Eine gewisse Einigkeit herrscht in der Literatur bezüglich der grundsätzlichen Charakteristika, die Big Data aufweist. Man spricht im Englischen auch von den „6 Vs“ (SA, 2018), welche auf ursprünglich 3 Vs zurückzuführen sind. Die drei ursprünglichen „Vs“ von Big Data • Volume (Volumen): Volumen beschreibt die große Menge an Daten, mit denen im Kontext von Big Data gearbeitet wird. Aktuell werden im Gesundheitswesen Daten in Terabytes, Petabytes oder Exabytes gespeichert. Es wird erwartet, dass die Gesamtheit der klinischen Datensätze in Zukunft auf Zettabyte oder Yottabyte ansteigen wird. Hieraus zeigt sich die Relativität des Attributs „groß“, denn es hängt von dem aktuellen Stand der technischen Entwicklung ab, ab welcher Größe Datensätze als „groß“ beschrieben werden. • Variety (Vielfalt): Vielfalt der Daten im Gesundheitswesen entsteht durch unterschiedliche Datengrundlagen und deren Unabhängigkeit voneinander. Daten können grundsätzlich in strukturiert oder unstrukturiert eingeteilt werden. Strukturierte Daten umfassen beispielsweise Laborergebnisse, klinische Daten oder Sensordaten. Sie lassen sich üblicherweise gut in Tabellen mit definierten Bezeichnungen darstellen und in relationalen Datenbanken speichern. Unstrukturierte Daten sind hingegen freie Textdaten ohne exakten Aufbau, wie handschriftliche Notizen, medizinische Bilder, Entlassungsberichte und Gesundheitsdaten aus sozialen Medien und Mobiltelefonen. 90 Prozent der Big Data im Gesundheitswesen sind unstrukturiert. Semi-strukturierte Daten weisen Elemente beider Kategorien auf, also beispielsweise medizinische Bilder, die einen Datums- und Ortsstempel tragen. 30 Abbildung 5: Strukturierte vs. unstrukturierte Daten Quelle: Florian Koerber, 2023. • Velocity (Geschwindigkeit): Der Aspekt Geschwindigkeit in der Beschreibung von Big Data bezieht sich auf die Geschwindigkeit, mit der Daten generiert, erfasst, verwaltet und verarbeitet werden. Viele Big-Data-Anwendungen im Gesundheitswesen erfordern eine Generierung und Verarbeitung in Echtzeit oder nahezu Echtzeit, was bedeutet, 31 dass die Daten so schnell wie möglich verarbeitet werden müssen, um sie nutzen zu können. Ein Beispiel ist die Überwachung von Patient:innen mithilfe von Sensoren, welche die Vitalwerte aufzeichnen und die Daten in Echtzeit an die Krankenhaus-IT übertragen, sodass das medizinische Personal bei Abweichungen sofort reagieren kann. Die Geschwindigkeit der Generierung von Daten steigt mit der Anzahl von datengenierenden Quellen, z. B. durch tragbare Sensoren. Die drei zusätzlichen, neuen Vs von Big Data • Veracity (Wahrhaftigkeit): Wahrhaftigkeit bezieht sich auf die Korrektheit und Zuverlässigkeit der Daten. In Big-Data-Umgebungen werden oft Daten aus vielen verschieden Quellen erfasst, die unterschiedliche Qualitäten aufweisen können. Veracity bezieht sich darauf, dass sichergestellt werden muss, dass die Daten valide, korrekt und zuverlässig sind, um verlässliche Ergebnisse zu liefern. Der Aspekt der Veracity ist besonders wichtig, da die Entscheidungen, die auf Big-Data-Analysen basieren, oft Auswirkungen auf die Geschäftsprozesse oder sogar auf das Leben von Menschen haben können. Wenn beispielsweise die Daten, die