Studienskript Gesundes und Pathologisches Altern WiSe 2024-25 PDF

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Universität zu Köln

2024

Andres Oliva y Hausmann

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aging perception gerontology health

Summary

This document is a student script on healthy and pathological aging, covering topics such as changes in perception, sensorimotor limitations, cognitive aging, and dementia. It delves into how older adults interact with their environment, focusing on visual and physical barriers. The script also touches on cognitive processing of perceived information and its alteration with aging.

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Studienskript Gesundes und pathologisches Altern Andres Oliva y Hausmann Zentrum für Heilpädagogische Gerontologie Universität zu Köln 15.11.2023 30.9.2024 i Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis...

Studienskript Gesundes und pathologisches Altern Andres Oliva y Hausmann Zentrum für Heilpädagogische Gerontologie Universität zu Köln 15.11.2023 30.9.2024 i Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ii 1 Altere Menschen in Interaktion mit ihrer Umwelt: Visuelle und physische Barrieren im Wohnumfeld 1 1.1 Altersbedingte Veränderungen in der Wahrnehmung..................... 1 1.2 Person-Umwelt-Austausch.................................... 19 2 Sensomotorische Einschrankungen im Alter - Empirische Perspektiven und Alters- bilder 61 2.1 Bewegung im fortgeschrittenen Lebensalter.......................... 61 2.2 Körperliche Gesundheit aus der Perspektive der Altersmedizin................ 75 2.3 Altersbilder............................................ 101 3 Kognitives Altern, leichte kognitive Beeintrachtigung und demenzielle Erkrankungen145 3.1 Altersbedingte Veränderungen in grundlegenden kognitiven Funktionen.......... 145 3.2 Altersbedingte Veränderungen im Gedächtnis......................... 154 3.3 Leichte kognitive Beeinträchtigung und demenzielle Erkrankungen............. 176 4 Menschen mit geistiger Behinderung im Alter: Ansätze zum Erhalt von Lebens- qualitat und Wohlbefinden 223 4.1 Geistig behinderte Menschen im demographischen Wandel.................. 223 4.2 Herausforderungen für die Teilhabe älterer, geistig behinderter Menschen......... 248 Literaturverzeichnis 277 ii Kapitel 1 Altere Menschen in Interaktion mit ihrer Umwelt: Visuelle und physische Barrieren im Wohnumfeld 1.1 Altersbedingte Veränderungen in der Wahrnehmung Veränderungen in der Wahrnehmung gehören für Betroffene und ihrem sozialen Umfeld zu den hervor- stechensten Merkmalen der Alterung. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Wahrnehmung des eigenen Körpers, seiner Umgebung und der Interaktion des Körpers mit dieser Umgebung zu den zentralen, sinngebende Funktionen eines Menschen gezählt werden können. Altersbedingten Beeinträch- tigungen der verschiedenen Wahrnehmungsbereiche werden daher von Betroffenen als Einschränkung der Lebensqualität wahrgenommen (Brown and Barrett, 2011; Dalton et al., 2003; Lopez et al., 2011). Im Verlauf der Lebensspanne ist jeder Bereich der Wahrnehmung von altersbedingten Veränderun- gen betroffen, wobei sich die Art der Veränderung, der individuelle Zeitpunkt ihres Auftretens und die Auswirkungen auf das Verhalten eines Individuums erheblich unterscheiden können (Fischer et al., 2016). Eine Ursache für die Universalität altersbedingter Veränderungen in der Wahrnehmung besteht in phy- siologischen Veränderungen an Sinneszellen im Wahrnehmungsapparat, die im Verlauf der Lebensspanne auftreten. Rezeptoren sind hochspezialisierter Sinneszellen, deren verschiedene Typen jeweils für ein an- deres physisches oder chemisches Merkmal der Umwelt sensibel sind. Sie sind so aufgebaut, dass sie von einem Reiz der Außenwelt aktiviert werden und diese Aktivierung in strukturierter Form an das zentrale Nervensystem weitergeben können. Definition Der Begriff Rezeptor bezeichnet eine spezialisierte Zelle des Nervensystems, die von bestimmten chemischen oder physikalischen Merkmalen der Umgebung oder des Körpers aktiviert wird (Trepel, 1999, p. 87). Rezeptoren vermitteln allerdings lediglich Sinneseindrücke. Die eigentliche Wahrnehmung vollzieht sich erst im Zuge der Weiterverarbeitung der verschiedenen Sinnesreize. Dies tritt besonders deutlich beim Sehen zutage, der vielleicht komplexesten Form der Wahrnehmung. Sehen ermöglicht es einem Menschen, seine nahe und ferne Umgebung anhand von Lichtwellen zu erkennen und zu interpretieren. Die eigentliche Umwandlung der Lichtwellen in Sinnesreize formt dabei lediglich den Ausgangspunkt für komplexe, teils parallel verlaufende Verarbeitungsprozesse im Zentralen Nervensystem. Erst im Ergebnis dieser Prozesse sind Menschen zu einer fortgeschrittenen Analyse ihrer visuellen Umgebung in der Lage, die unter anderem die Unterscheidung von Formen oder das Erkennen von Gesichtern beinhaltet. Sehen und andere Formen der Wahrnehmung sind konstruktive Prozesse, keine abbildenden Vor- gänge (Stangl, 2018a). Die Fotografie ist also ebenso wenig eine geeignete Metapher für das Sehen wie eine Wasserwaage für den Gleichgewichtssinn oder eine Tonaufnahme für das Hören. Denn als Analogon für die menschliche Wahrnehmung beschreiben Fotoapparat, Wasserwaage oder Mikrofon lediglich die Funktionen der verschiedenen Wahrnehmungsorgane, nicht aber die Weiterverarbeitung ihrer Reize im Zentralen Nervensystem. 1 KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 2 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD In der Vergangenheit haben sich große Teile der gerontologischen Forschung darauf konzentriert, Einflüsse des Alterns auf die Sinnesorgane zu beschreiben und ihre Auswirkung auf die verschiedenen Wahrnehmungsfunktionen herauszuarbeiten. Die weitere Darstellung in diesem Abschnitt wird sich auf den Ergebnissen dieser Forschungslinie stützen. Zu beachten ist, dass Alterung auch die kognitive Ver- arbeitung der wahrgenommenen Informationen beeinflussen kann. Diese Alterungsprozesse werden im Abschnitt „Denken“ vertieft. Darüber hinaus sind auch verschiedene neuropsychologische Störungen der Wahrnehmung dokumentiert, die aus im Alter häufigen Erkrankungen resultieren können (bspw. Schlag- anfall). Derartige pathologische Veränderungen der Wahrnehmung sind fortgeschrittene Themen der kli- nischen Neuropsychologie und liegen außerhalb des Fokus dieses Textes.1 Im weiteren Verlauf dieses Abschnittes soll nun herausgearbeitet werden, wie sich Alterung auf die verschiedenen Wahrnehmungsquellen auswirkt. Die separate Darstellung der verschiedenen Quellen hat den Vorteil, dass spezifische Alterungseinflüsse auf die verschiedenen Sinnesapparate isoliert fokussiert werden können. Eine Gefahr dieser Darstellungsart besteht jedoch in der Erweckung des Eindrucks, die Konstruktion der Wahrnehmung durch Weiterverarbeitung der verschiedenen Sinneseindrücke könnte ebenfalls isoliert vonstattengehen. Stattdessen ist sensorische Integration der Regelfall: Wahrnehmung berücksichtigt meist mehrere Sinnesquellen gleichzeitig, oft in Verbindung mit Bewegungen des Körpers. Definition Der Begriff sensorische Integration bezeichnet die Fähigkeit, „Sinnesinformatio- nen aus den verschiedenen Sinnessystemen zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung zu verarbei- ten, damit Menschen sich rasch und automatisch anpassen und zweckmäßig handeln können“ (Stangl, 2018b). Es sind drei Formen der sensorischen Integration zu unterscheiden (Ruhnau, 1998; Ayres, 2013, 1972): Intrasensorische Integration tritt auf, wenn Informationen innerhalb desselben sensorischen Sys- tems geteilt werden. So tragen Informationen von beiden Augen zur visuellen Wahrnehmung von Tiefe bei. Intersensorische Integration tritt auf, wenn Informationen von mehreren sensorischen Systemen kombi- niert werden. Beispielsweise wird die Wahrnehmung des eigenen Körpers aus Informationen des Fühlens und der Propriozeption generiert. Schließlich beinhaltet sensomotorische Integration die unmittelbare Interaktion von sensorischen und motorischen Systemen. So wird beispielsweise ein akustischer Reiz räumlich lokalisiert, indem Kopfbewegungen mit Informationen der Sicht, des Hörens und der Kopflage kombiniert werden. Sehen Das Organ der Sicht ist das Auge. Es ist so strukturiert, dass es scharfes Sehen von nahen und fernen Objekten auch dann ermöglicht, wenn ein Mensch oder seine Umgebung sich bewegen. Die eigentliche Umwandlung von Lichtwellen in Nervenreize findet in den Fotorezeptoren statt. Diese lichtempfindlichen Sinneszellen gibt es in zwei Ausführungen: Stäbchenzellen sind spezialisiert auf die Wahrnehmung der Lichtintensität. Unabhängig von der Wellenlänge des Lichtes ermöglichen sie die Unterscheidung von hell und dunkel. Sie sind auch für Licht von sehr geringer Intensität sensibel und ermöglichen so die visuelle Wahrnehmung bei geringer Helligkeit, beispielsweise in der Dämmerung oder in der Nacht. Demgegenüber benötigen Zapfenzellen eine gewisse Grundhelligkeit zur akkuraten Unterscheidung von Licht unterschiedlicher Wellenlänge. Drei Subtypen sprechen auf Licht im blauen, grünen bzw. roten Bereich des Farbspektrums an. Gemeinsam ermöglichen sie das Farbsehen und damit eine nuancierte visuelle Analyse der nahen und fernen Umgebung eines Menschen (Trepel, 1999, p. 281). Definition Der Begriff Stäbchenzelle bezeichnet eine Fotorezeptortyp, der sensibel für un- terschiedliche Intensitäten von Lichtwellen des sichtbaren Farbspektrums ist. Demgegenüber sind Zapfenzellen nur sensibel für Lichtwellen eines bestimmten Teils des sichtbaren Farbspek- trums. Die Makula ist der einzige Teil der Netzhaut, der ausreichend mit Fotorezeptoren besiedelt ist, um scharfe, differenzierte Objekterkennung zu gewährleisten (zentrales Sehen). Die Peripherie der Netzhaut 1 Eine praxisnahe Einführung in die klinische Neuropsychologie bietet Goldenberg (2007). 1.1. ALTERSBEDINGTE VERÄNDERUNGEN IN DER WAHRNEHMUNG 3 außerhalb der Makula ist hingegen nur dünn und vornehmlich mit Stäbchenzellen besiedelt. Die Infor- mationen der peripheren Rezeptoren reichen für eine subtile Wahrnehmung der Umgebung nicht aus. Sie ermöglichen es aber, den Blickfokus durch Blick- oder Kopfbewegungen zielgerichtet auf andere Teile der Umgebung richten zu können (Gleitman, 1991, p. 178). Definition Der Begriff zentrales Sehen bezeichnet die differenzierte visuelle Wahrnehmung durch Fotorezeptoren der Makula. Demgegenüber bezeichnet peripheres Sehen die orientieren- de visuelle Wahrnehmung durch Fotorezeptoren außerhalb der Makula. Abbildung 11: Stäbchenzellen und Zapfenzellen sind auf der Netzhaut ( Retina) angebracht, welche die Innenseite des Auges auskleidet. Die überwiegende Mehrheit der Zapfenzellen befinden sich auf der Ma- kula, einem kleinen Feld im hinteren, zentralen Bereich der Netzhaut, durch den die Sehachse verläuft. In der Makula und insbesondere in ihrem vorwiegend mit Zapfenzellen besiedelten Zentrum ( Fovea) wird der überwiegende Teil der visuellen Informationen generiert, auf denen das Sehen aufbaut. Aus diesem Grund ist das Auge so konzipiert, dass der Fokus des Blickes immer auf die Makula fallen sollte (Gleitman, 1991, p. 178). Im Verlauf der Alterung nimmt die Sehschärfe ab. Die Fähigkeit eines Menschen, Muster und Konturen der Umwelt wahrnehmen zu können, verändert sich im Verlauf der Lebensspanne. Der Verlauf der Sehschärfe weist in der Regel die Form eines umgedrehten U auf: Bis zum Alter von 20 bis 30 Jahren nimmt die Sehschärfe zu. Im Alter von 30 bis 50 bliebt sie stabil, nimmt danach aber deutlich ab (Pitts, 1982). Der stärkste Rückgang tritt zwischen dem 60. und dem 80. Lebensjahr auf. Durchschnittlich erreicht ein Mensch im Alter von 85 Jahren nur noch 20 % der Sehstärke, die ihm mit 40 Jahren zur Verfügung stand (Weale, 1975). Definition Der Begriff Sehschärfe bezeichnet die Fähigkeit, feine Details von Objekten vi- suell wahrnehmen zu können (Bach and Kommerell, 1998). Eine wichtige Ursache für die Abnahme der Sehschärfe im fortgeschrittenem Alter ist die Alterung der Sehlinse. Grundsätzlich kann diese ein Leben lang wachsen, in dem sich neue Zellen an ihrer Ober- fläche ansammeln. Über den Großteil der Lebensspanne hinweg erfüllt dieses Wachstum eine wichtige KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 4 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD kompensatorische Funktion. So kann beispielsweise die erwachsene Linse durch Wachstum ihre Form ändern und so die Fokussierungskraft des Auges anpassen (Pierscionek et al., 2015). Im fortgeschrittem Alter kann es jedoch zu drei physiologischen Veränderungen der Augenlinse kommen, die nicht mehr durch Linsenwachsum kompensiert werden können und dann zu einem Rückgang der Sehschärfe beitragen. Als erstes ist hier eine verringerte Durchlässigkeit der Sehlinse zu nennen. Gerade in Folge lang- jähriger Wachstumsprozesse sind Linse und Hornhaut im hohen Lebensalter oftmals so dick geworden, sodass sie deutlich weniger Licht hindurchlassen, als noch in früheren Lebensjahren (Timiras, 1994). In der Folge ist die Helligkeit auf der Retina reduziert. Gerade bei geringer Helligkeit sind viele Betroffene dann weniger gut in der Lage, scharf zu sehen und Formen zu differenzieren. Zweitens verringert sich die Krümmung der Linse mit dem Alter, wodurch das Licht weniger stark gebündelt wird. Die herabgesetzte Bündelung beeinträchtigt die Sehschärfe, weil weniger Licht auf die Makula trifft. Zudem gelangt gestreutes Licht in andere Teile der Augenhöhle, sodass die Grundhellig- keit innerhalb der Augenhöhle zunimmt. Mit fortschreitendem Alter werden Menschen daher leichter geblendet durch starke Lichtquellen (Wolska and Sawicki, 2014). Dies wirkt sich vielfältig im Alltag aus. So wählen Ältere beim Lesen am Abend andere Lichtverhältnisse als Jüngere (Kristanto et al., 2018). Bei nächtlichen Fahrten mit dem Auto fühlen sich Ältere deutlich stärker von den Scheinwerfern ent- gegenkommender Autos oder von plötzliche Helligkeitsveränderungen in der Fahrzeugkabine geblendet (Anderson and Holliday, 1995). Schließlich wird Sehschärfe Älterer auch davon beeinflusst, dass sich mit steigendem Alter in der Sehlinse und in der Makula immer mehr Pigmente einlagern. Hierdurch wird Licht mit einer kurzen Wel- lenlänge gefiltert. Gelbliche Farbanteile werden mit fortschreitendem Alter von vielen Menschen daher stärker, bläuliche Farbanteile weniger stark wahrgenommen (Han et al., 2016). Die Auswirkungen auf die Sehschärfe sind allerdings ambivalent: Einerseits wird die Unterscheidung von Farben im grünblauen Bereich des Farbspektrums erschwert. Im Vergleich zu früheren Lebensjahren können grüne und blaue Objektedarum schlechter erkannt werden. Andererseits haben Vergleiche der Wahrnehmungsleistung von älteren Menschen mit unterschiedlichen Pigmentierungsmengen gezeigt, dass ein hoher Grad altersbe- dingter Pigmentierung mit einer vergleichsweise besseren visuellen Unterscheidungsfähigkeit einhergeht. Möglicherweise handelt es bei der Anreicherung von Pigmenten um einen physiologischen Schutzmecha- nismus, mit dem die oben genannte Streuung von Licht in der Augenhöhle kompensiert wird (Wooten and Hammond, 2002). Katarakt Eine pathologische Ursache für eine altersbedingte Abnahme der Sehschärfe kann eine Ka- tarakt sein. Dies bezeichnet eine krankhafte Trübung der Augenlinse, von der Menschen etwa ab dem 30. Lebensalter betroffen sein können (Duthie et al., 2007). Individuell variierte das Auftreten und die Entwicklung einer Katarakt deutlich. Bei etwa einem Drittel aller Menschen über 80 Jahre kommt es zu einer voll ausgeprägten Katarakt, die den vollkommenen Verlust des Augenlichtes nach sich ziehen kann, wenn sie nicht chirurgisch entfernt wird2. Ein wichtiger Risikofaktor für das Entstehen einer ausgeprägten Katarakt ist Diabetes mellitus (Duthie et al., 2007; Tripathi and Tripathi, 1983). Der alternden Augenlinse fällt es schwer, die Linsenkrümmung zu variieren. Die sogenannte Alterssichtigkeit (Presbyopie) wird ebenfalls von der altersbedingten Verdickung der Sehlinse verursacht. Im Falle der Alterssichtigkeit verliert die Linse so stark an Elastizität, dass es dem Augenmuskel schwerfällt, die Krümmung der Linse anzupassen. Nahe Objekte können dann nicht mehr genauso akkurat fokussiert werden wer ferne Objekte. Diese Einschränkung in der Nahsehschärfe ist für viele Betroffene das hervorstechenste Merkmal der Alterssichtigkeit. Die verringerte Nahsehschärfe kann die Ausführung von Alltagstätigkeiten im nahen Körperrraum erschweren. So fällt es beispielsweise vielen alterssichtigen Menschen das Lesen schwer (Koretz et al., 1989; Baumeister and Kohnen, 2008a). Eine weitere Alltagseinschränkung tritt in Situationen auf, die einen schnellen Wechsel von Nah- und Fernsicht erfordern. So können altersichtige Menschen beim Autofahren die Anzeigen oft nur noch unscharf erkennen. Besonders deutlich treten ihrer Einschränkungen aber zutage, wenn während der Fahrt von Fernsicht zur Nahsicht gewechselt werden soll, beispielsweise zum Ablesen der Geschwindkeitsanzeige. Bei vorliegender Alterssichtigkeit benötigt der Augenmuskel so lange für diese Umstellung, dass Betroffene 2 Toh et al. (2007) gibt eine Übersicht zur medizinischen Behandlung einer Katarakt. 1.1. ALTERSBEDINGTE VERÄNDERUNGEN IN DER WAHRNEHMUNG 5 in hektischen Verkehrssituationen darauf verzichten müssen, den Anzeigen in der Fahrerkabine Beachtung zu schenken (Martin and Kliegel, 2014, p. 131). Definition Ist die Anpassung der Linsenkrümmung so stark beeinträchtigt, dass Fokussieren in normaler Lesedistanz nicht mehr möglich ist, spricht man von Alterssichtigkeit (Presby- opie). In den meisten Fällen kann Alterssichtigkeit mit Hilfe individuell angepasster Zwei- oder Dreistär- kenbrillen zufriedenstellend korrigiert werden. Gelegendlich sind aber auch operative Eingriffe angezeigt (Baumeister and Kohnen, 2008b). Alterungsbedingt erscheinen Kontraste weniger prägnant. Auch die Fotorezeptoren sind von Alterungsprozessen betroffen. Ihre Anzahl nimmt mit zunehmendem Alter stetig ab. Zudem benötigen die verbleibenden Rezeptoren mit fortschreitender Alter immer länger, um sich nach einer Aktivierung soweit zu regenerieren, dass erneut sensorische Informationen generiert werden können (Meisami, 1994). Altersbedingte Veränderungen der Fotorezeptoren wirken sich vor allem auf die Wahrnehmung von Unterschieden zwischen hell und dunkel aus. Vielen Menschen fällt es im Alter gerade bei schlechten Lichtverhältnissen schwerer, Kontraste wahrzunehmen (Jackson and Owsley, 2000). Kontrasterkennung ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für die Wahrnehmung von Formen. Daher kann eine verringerte Kontrasterkennung den Alltag spürbar beeinträchtigen, wenn beispielsweise beim Treppensteigen die Formen verschiedener Treppenstufen nicht mehr schnell und effektiv unterschieden werden können (Startzell et al., 2000, p. 568). Eine weitere Folge von altersbedingten Veränderungen der Fotorezeptoren besteht darin, dass ältere Menschen länger als Jüngere brauchen, um sich an einen Wechsel zwischen hell und dunkel zu gewöhnen. Mit fortschreitenden Alter benötigt eine Stäbchenzelle, die durch einen hellen Lichtimpuls ausgelöst wurde, immer länger, um sich so weit zu erholen, dass sie erneut Lichtimpulse empfangen kann (Birren and Shock, 1950; Jackson et al., 1999; Tahir et al., 2017). Im Alltag tritt dies besonders deutlich zutage, wenn ein Mensch sich an ein bestimmtes Helligkeitsniveau gewöhnt hat und dann einem anderen Niveau ausgesetzt wird. Tritt ein Teenager beispielsweise aus einem hellen in einen dunklen Raum, benötigt er nur etwa 7 Minuten, um sich vollständig an die Dunkelheit zu gewöhnen. Menschen über 80 Jahre benötigen für diesen Gewöhnungsprozess mindestens vierzig Minuten (?). Makuladegeneration Etwa ab dem 50. Lebensalter kann eine krankhafte Veränderung in der Nähr- stoffversorgung der Netzhaut auftreten, welche vor allem die Funktion der Makula beeinträchtigt (Kliffen et al., 1997). Im letzten Stadium, der Makuladegeneration, kann dies zu einem völligen Verlust des zentra- len Sehens führen. Mit einer Prävalenz von 15 % bei Erwachsenen im Alter von über 85 Jahren (Patten, 2000) ist die Makuladegeneration die häufigste Ursache irreversiblen Sehverlustes im späteren Leben (Kaufman, 2009). Sie ist in vielen Fällen behandelbar, wenn sie in einem frühen Stadium entdeckt wird. Ein wichtiger Risikofaktor ist das Rauchen (Klein et al., 2008; Hammond Jr. et al., 1996). Im fortgeschritten Alter wird das nützliche Sichtfeld kleiner. Vor der Weiterleitung an das zentrale Nervensystem werden die Informationen beider Augen miteinander verschaltet, sodass ein gemeinsames Gesichtsfeld entsteht. Für die visuelle Wahrnehmung ist vor allem der Teil des Gesichtsfeldes bedeutsam, dessen Informationen von einem der beiden Makula-Areale stam- men. Dies wird auch als das nützliche Sichtfeld bezeichnet: Innerhalb des nützlichen Sichfeldes gelegene Elemente der Umwelt können erkannt und interpretiert werden, ohne den Kopf oder die Augen bewegen zu müssen. Es handelt sich also um den Teil des Gesichtsfeldes, der zu einem bestimmten Zeitpunkt für die Umsetzung von Alltagsaufgaben funktional ist. Je größer das nützliche Sichtfeld eines Menschen, desto schneller und effizienter funktioniert die visuelle Wahrnehmung (Coren et al., 1999). Definition Der Begriff nützliches Sichtfeld bezeichnet den Teil des Gesichtsfeldes eines Menschen, innerhalb dessen visuelle Informationen extrahiert werden können, ohne Kopf oder Augen zu bewegen (Ball et al., 2002). Alternativ wird auch im Deutschen oft der englische Begriff useful field of vision (UVOF) verwendet. KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 6 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD Mit fortschreitendem Alter verkleinert sich die Größe des nützlichen Sichtfeldes langsam, aber stetig (Sekuler et al., 2000). Dies führt dazu, dass im Verlauf der Alterung immer weniger Objekte erkannt und interpretiert werden können, ohne dass Augen oder Kopf bewegt werden müssten. Gerade in Situatio- nen, die schnelles Handeln in einer sich bewegenden Umwelt erfordern, kann sich diese Verkleinerung des nützlichen Sichtfeldes als erhebliche Barriere erweisen. So konnte eine Kohortenstudie des Fahrverhaltens älterer Menschen nachweisen, dass eine Verkleinerung des nützlichen Sichtfeldes um mehr als 35 % zu einer Erhöhung des Unfallrisikos führt. Eine multivariate Analyse der Daten offenbarte hierbei, dass die Verkleinerung des nützlichen Sichtfeldes von wesentlicher Bedeutung für das erhöhte Unfallrisiko war. Während eine herabgesetzte Sehschärfe, ein niedrigeres Kontrastempfinden und der Befund einer Kata- rakt in den univarianten Analysen noch mit dem Unfallrisiko assoziiert waren, war in der multivariaten Analyse die Größe des nützlichen Sichtfeldes der einzige signifikante Prädiktor des Unfallrisikos (Cross et al., 2009). Fokus Rehabilitation: Fahreignung im fortgeschrittenen Lebensalter Im Zuge des demographischen Wandels ist die Fahreignung von Senioren ein Thema, das in der Öffent- lichkeit rege diskutiert wird. Wissenschaftlich betrachtet lassen sich zwei scheinbar gegensätzliche Befunde zur Führung von Kraftfahrzeugen im Alter festhalten: Auf der einen Seite weisen die Ergebnisse von Un- tersuchungen der Fahrleistungsfähigkeit darauf hin, dass diese mit fortschreitendem Lebensalter abnimmt. Systematische Beobachtungen des Fahrverhaltens älterer Menschen im Fahrsimulator und im tatsächli- chen Straßenverkehr zeigen, dass älteren Menschen häufiger Fahrfehler als Jüngeren unterlaufen, wenn sie in derselben Geschwindigkeit mit vergleichbaren Verkehrssituationen konfrontiert werden (Lee et al., 2003; Buld et al., 2006; de Waard et al., 2009; Kenntner-Mabiala et al., 2016). Definition Der Begriff Fahrleistung bezeichnet die Länge der Wegstrecke, die ein*e Ver- kehrsteilnehmer*in pro Jahr zurücklegt. Die Fahrleistungsfähigkeit bezeichnet das Vermögen zur zielgerichteten Steuerung eines Fahrzeuges auf dieser Strecke. Das Unfallrisiko bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, dass ein*e Verkehrsteilnehmer*in auf seiner jährlichen Wegstrecke in einen Unfall verwickelt wird (?). Altersbedingte Einschränkungen kommen besonders stark in schwierigen Fahrsituation zu tragen (Fahrten im Regen, auf einer Autobahn, nachts, allein oder auf stark befahrenen Straßen; einparken). Sie sind im vierten Lebensalter besonders ausgeprägt, wofür funktionale Einschränkungen in der Sicht und der Motorik verantwortlich sind (Owsley et al., 1999; Cross et al., 2009) (Spirduso et al., 2005, p. 191- 195). Zu einem besonders markanten Abfall der Fahrleistungsfähigkeit kann eine verringerte kognitive Leistungsfähigkeit führen, wie sie im Rahmen einer demenziellen Erkrankung auftritt (Pavlou et al., 2015; Lukas and Nikolaus, 2009; Rizzo et al., 1997). Auf der anderen Seite ist das Unfallrisiko von älteren Verkehrsteilnehmer*innen nicht höher als das Unfallrisiko Jüngerer, wenn andere wichtige Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Hierbei ist zu beachten, dass die tatsächliche Fahrleistung eines Menschen und seine Fahrgewohnheiten unabhängig vom Lebensalter einen starken Einfluss auf das Unfallrisiko ausüben. Routinierte Fahrer*innen verursachen äußerst selten einen Unfall, wenn sie sich auf vertrauten Wegen fortbewegen, wie beispielsweise auf der Fahrtstrecke zwischen Arbeitsplatz und Wohnung. Beachtet man bei der Berechnung des Unfallrisikos, dass ältere Menschen vergleichsweise selten ein Kraftfahrzeug führen und bei Fahrten mit einem Kraftfahrzeug häufig nur kurze Strecken zurücklegen, ist das bereinigte Unfallrisiko von Verkehrsteilnehmer*innen über 65 Jahre tendenziell sogar niedriger als das von Jüngeren (Rolison et al., 2014; Cicchino, 2015). Erst ab einem Lebensalter von 80 Jahren besteht ein erhöhtes Risiko zur Verursachung eines Unfalls, welche jedoch immer noch geringer ausfällt als das Risiko von Personen zwischen 18 und 26 Jahren (Lukas, 2018). Offenbar gelingt es vielen Senioren, ihr Fahrverhalten recht effektiv den altersbedingten Einschrän- kungen in der Fahrleistungsfähigkeit anzupassen. Zu vermuten ist, dass ihnen dies durch eine bedäch- tige, risikoarme Fahrweise und durch Vermeidung schwieriger Fahrsituationen gelingt (Spirduso et al., 2005; Ebnali et al., 2016, p. 194-195). Zudem weist eine relativ geringe Beeinträchtigung älterer Fahrer durch stark ablenkenden Umweltbedingungen darauf hin, dass Senioren sich während des Steuerns eines Fahrzeuges besonders effizient auf sicherheitsrelevante Teilaufgaben konzentrieren können (Fofanova and Vollrath, 2011; Thompson et al., 2012). 1.1. ALTERSBEDINGTE VERÄNDERUNGEN IN DER WAHRNEHMUNG 7 Alltagsrelevanz Für viele Menschen stellt das Auto ein zentrales Mittel für den Erhalt ihrer per- sönlichen Mobilität dar. Einen möglichen Wegfall dieses Verkehrsmittels nehmen viele Ältere als ernst- hafte Bedrohung ihrer Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftliches Leben wahr. Diese Wahrnehmung teilen insbesondere ältere Menschen, die in ländlichen Regionen leben, in denen das Netz öffentlicher Verkehrsmittel mangelhaft ausgebaut ist (Johnson, 2002). Der besondere Stellenwert des Führens eines Kraftfahrzeuges wird auch darin ersichtlich, dass im Zuge der Diagnostizierung einer demenziellen Er- krankung viele Betroffene gerade die Prognose einer Fahruntauglichkeit als besonders belastend (Lukas and Nikolaus, 2009). Interventionsansätze Ein Fahrsicherheitstraining zielt darauf ab, das Bewusstsein für das Verhalten in schwierigen Verkehrssituationen zu schärfen. Spezifische Trainings für Senioren unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Inhalte deutlich von Fahrsicherheitstrainings für jüngere Verkehrsteilnehmer*innen: Während bei Letzteren zumeist die Bewusstwerdung einer riskanten Fahrweise im Mittelpunkt steht, fo- kussieren Trainingsprogramme für Senioren Strategien zur Bewältigung konkreter Verkehrssituationen, wie beispielsweise das Gewähren der Vorfahrt bei der Einfahrt in eine unübersichtliche Kreuzung. Zudem beinhalten seniorenspezifische Trainings Auffrischungen für Regeln und Verhaltensrichtlinien, die vielen langjährigen Autofahrer*innen nicht (mehr) präsent sind (Owsley et al., 2004; Eby et al., 2003; Bédard et al., 2008). Spezifische Fahrsicherheitstrainings für Senioren können tatsächlich dazu beitragen, das Verkehrsverhalten der Teilnehmer*innen zu verbessern und das Unfallrisiko zu senken. Ein Vorrauset- zung besteht allerdings darin, dass das Training auch praktische Elemente beinhaltet, in dem die Senioren die geschulten Strategien und Regeln in die Tat umsetzen können (Korner-Bitensky et al., 2009). Eine andere Zielsetzung verfolgen virtuelle Fahrfähigkeitstrainings, die in einem Fahrsimulator durch- geführt werden. Hier geht es darum, die Handlungsschnelligkeit von Senioren im Verkehr durch wieder- holte, systematische Konfrontation mit virtuellen Verkehrssituationen zu verbessern. Die Ergebnisse von Pilotstudien weisen darauf hin, dass es mit einem derartigen Training tatsächlich gelingen kann, die Schnelligkeit in der Auswahl und Umsetzung motorischer Reaktionen von Senioren im Simulator, aber auch das tatsächliche Fahrverhalten im Straßenverkehr zu verbessern (Roenker et al., 2003; Kwon et al., 2016; Casutt et al., 2014; Unsworth and Baker, 2014). Hören Die Hörwahrnehmung beruht darauf, dass im Ohr akustische Schwingungen in Vibrationen übertragen werden. In der Folge können schwingungsempfindlichen Rezeptoren die Intensität und die Frequenz der akustischen Signale identifizieren und dem Zentralen Nervensystem melden. Die Hörschärfe nimmt im Alter ab. Mit fortschreitendem Alter treten im Hörapparat eine Reihe von physiologischen Veränderungen auf, die sich negativ auf das Hören auswirken. Einige der schwingungsempfindlichen Haarzellen auf der Basilar- membrane der Cochlea gehen verloren, ohne dass sie ersetzt werden könnten. Auch können Nervenzellen in den neurologischen Pfaden zu den Hörzentren des Zentralen Nervensystems altersbedingt verloren gehen (Meisami, 1994). Diese physiologischen Veränderungen führen zur Altersschwerhörigkeit, dem al- tersbedingten Rückgang der Fähigkeit zur akustischen Unterscheidung. Altersschwerhörigkeit kann bei einigen Menschen bereits mit 30 Jahren einsetzen, bei anderen tritt sie erst in der neunten Lebensdekade auf. Definition Der Begriff Altersschwerhörigkeit bezeichnet den altersbedingten Rückgang der Hörschärfe. Eine alternative Bezeichnung lautet Presbyakusis. Zu Beginn macht sich Altersschwerhörigkeit vornehmlich im hohen Frequenzbereich bemerkbar. So kann ein Mensch mit beginnender Altersschwerhörigkeit Schwierigkeiten haben, den Ton einer Pfeife oder das Signal einer Türklingel zu erkennen. Weil der hohe Frequenzbereich von Sprache kaum genutzt wird, ist das Sprachverständnis zu Beginn der Altersschwerhörigkeit unter normalen Bedingungen noch nicht betroffen. Erste Schwierigkeiten im Sprachverständnis zeigen sich bei fortschreitender Altersschwerhörigkeit vornehmlich dadurch, das undeutliche Sprachsignale größere Problemem bereiten als es bei normal hören- KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 8 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD Abbildung 12: Akustische Schwingungen werden vom äußeren Ohr eingefangen und an das Trommelfell weitergeleitet. Die Vibration dieser Schwingungsmembran wird von einer Kette kleiner Knochen ver- stärkt und zur Hörschnecke ( Cochlea) im Innenohr weitergegeben. Die Cochlea ist ein schwingungs- empfindliches Gebilde aus Membranen und flüssigkeitsgefüllten Röhren. Auf ihrer unteren Membrane ( Basilarmembrane) breiten sich die akustischen Schwingungen wellenartig aus ( akustische Welle). Die kleinen Haarzellen der Basilarmembrane vibrieren im Takt mit der akustischen Welle und wandeln die empfangenen Vibrationen in Nervensignale um. Je nach Ort und Anordnung der Haarzellen wird da- bei eine bestimmte Tonfrequenz aufgenommen. Auf diese Weise wird das gesamte hörbare akustische Spektrum aufgeschlüsselt, in Nervenreizen übersetzt und über den Hör-Gleichgewichtsnerv zum zentralen Nervensystem geleitet, wo es synthetisiert und interpretiert werden kann (Trepel, 1999, p. 296-305). den Menschen der Fall ist. Im späteren Verlauf der Altersschwerhörigkeit ist schließlich die Wahrnehmung des gesamten Hörspektrums beeinträchtigt. Dann fällt Betroffenen auch die Erkennung von deutlichen Sprachsignalen schwer. Auch die Unterscheidung von Geräuschen und die akustische Orientierung im Raum sind nur noch eingeschränkt möglich (Gates and Mills, 2005; Roth, 2015; Yamasoba et al., 2013; Peelle and Wingfield, 2016). Altersschwerhörigkeit ist im fortgeschrittenen Lebensalter weit verbreitet. So können schwerhörig- keitsbedingte Einschränkungen im Sprachverständnis bei etwa drei von vier Menschen jenseits des 70. Lebensjahres festgestellt werden (Yamasoba et al., 2013). Risikofaktoren für das Auftreten einer ausge- prägten Altersschwerhörigkeit sind eine regelmäßige Lärm-Exposition sowie das Rauchen. Schwerhörigkeit kann allerdings auch als Nebenwirkung von Medikamenten auftreten (Gates and Mills, 2005; Roth, 2015; Yamasoba et al., 2013). Individuell angepasst Hörgeräte und Cochlea-Implantate können dazu beitragen, die Folgen der Altersschwerhörigkeit zumindest teilweise zu kompensieren. Voraussetzung ist allerdings, dass die Betroffenen die Hörhilfen akzeptieren und als hilfreich zur Bewältigung von Alltagssituationen bewerten (Hickson et al., 2014; Ng and Loke, 2015). Fokus Rehabilitation: Akzeptanz von Hörgeräten In den meisten Fällen entwickelt sich Altersschwerhörigkeit über einen Zeitraum von vielen Jahren hin- weg. Die damit verbundenen Einschränkungen werden langsam adaptiert und sind vielen Betroffenen nicht unmittelbar bewusst. Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, dass nur eine Minderheit der altersschwerhörigen Menschen tatsächlich ein Hörgerät besitzt und auch tatsächlich nutzt. Die Nut- zungsrate variiert mit dem Schweregrad der Einschränkung und dem Alter der Betroffenen: Nur etwa jeder zwanzigste Mensch mit einer leichtgradigen Altersschwerhörigkeit nutzt ein Hörgerät. Die Hörgerä- teversorgung hochalter Menschen mit starke Altersschwerhörigkeit ist deutlich ausgeprägter. Doch auch in dieser Gruppe nutzt nur etwa die Hälfte der Betroffenen ein Hörgerät (Bainbridge and Ramachandran, 2014; Chien and Lin, 2012; Lin and Ferrucci, 2012; Hougaard and Ruf, 2011; Popelka et al., 1998). 1.1. ALTERSBEDINGTE VERÄNDERUNGEN IN DER WAHRNEHMUNG 9 Abbildung 13: Yamasoba et al. (2013) diagnostizierten im Rahmen einer Langzeitstudie zur Hörgesundheit in den Vereinigten Staaten einen Hörverlust bei etwa 3 von 4 Menschen im Alter von 80 Jahren und älter. Viele altersschwerhörige Menschen benötigen erst einen konkreten Anlass, um sich dafür zu ent- scheiden, ein Hörgerät anpassen zu lassen. Oft sind es wiederholte Hinweise durch den*die Partner*in, die einen älteren schwerhörigen Menschen zu diesem Schritt veranlassen (Vestergaard Knudsen et al., 2010). Auch nach der Anpassung des Hörgerätes spielt die soziale Unterstützung der Betroffenen eine wichtige Rolle für die Zufriedenheit mit dem Hörgerät. Ältere Menschen mit hoher sozialer Unterstüt- zung und solche, die in einer Partnerschaft leben, äußern sich zufriedener mit den Geräten als andere Nutzer*innen von Hörgeräten (Singh et al., 2015; Hickson et al., 2014). Möglicherweise erleben sozial ak- tive ältere Menschen vergleichsweise häufig Alltagssituationen, in denen sie von der Nutzung der Geräte tatsächlich profitieren können. Ältere Menschen, die über ein Hörgerät verfügen, können sich beträchtlich darin voneinander, wie intensiv sie es im Alltag nutzen (Tesch-Romer, 1997). So berichtete nur etwa jede*r vierte Teilnehmer*in einer populationsbasierten Befragung von hörgerätversorgten Älteren (49 bis 99 Jahre), die Hörgeräte länger als acht Stunden pro Tag zu tragen. Während die Mehrheit von einer täglichen Nutzungsdauer von einer bis acht Stunden berichtete, gab jede*r Achte an, die Hörgeräte weniger als eine Stunde oder nie zu tragen (Hartley et al., 2010). Die Gründe für eine geringe Nutzungsintensität liegen einerseits darin, dass die Geräte von einigen älteren Schwerhörigen als wenig gebrauchstauglich empfunden werden. Andere zweifeln den Nutzen an, den das Tragen von Hörgeräten im Alltag bieten kann (McCormack and Fortnum, 2013; Hickson et al., 2014; Ng and Loke, 2015; Kochkin, 2000). Zweifel am konkreten Nutzen von Hörgeräten im Alltag zeigten sich auch in Befragungen zur Zu- friedenheit: Etwa vier von fünf erwachsenen Nutzern von Hörgeräten geben an, mit diesen insgesamt zu- frieden zu sein (Hougaard and Ruf, 2011; Vestergaard Knudsen et al., 2010). Eine genauere Betrachtung offenbarte jedoch markante Unterschiede in spezifischen Alltagssituationen: So wird die Unterstützung durch die Hörgeräte in Konversationen mit einzelnen Menschen oder beim Fernsehen überwiegend als zufriedenstellend bewertet. Die Zufriedenheit fällt jedoch deutlich geringer aus, wenn nach der Unterstüt- zung in Konversationen mit großen Gruppen, beim Telefonieren oder in lauten Umgebungen gefragt wird (Hougaard and Ruf, 2011; Nabelek et al., 2006, 1991). Alltagsrelevanz Vergleiche mit unbeeinträchtigten Altersgenossen zeigen, dass Altersschwerhörigkeit zu einer deutlichen Verringerung der Lebensqualität führen kann (Dawes et al., 2015; Polku et al., 2018). Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Schwerhörende ernsthafte Schwierigkeiten in der Kom- munikation mit anderen Menschen erfahren. Sie verbringen auch weniger Zeit mit anderen als Unbeein- trächtigte (Tesch-Romer, 1997). Beginnen altersschwerhörige Menschen regelmäßig Hörgeräte zu nutzen, KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 10 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD sinken diese Kommunikationsschwierigkeiten schon nach wenigen Monaten auf ein alterstypisches Ni- veau (Tesch-Romer, 1997; Dawes et al., 2015). In der Folge verbessert sich auch die Lebensqualität der Betroffenen (Manrique-Huarte et al., 2016)3. Ein für Betroffene zufriedenstellendes Nutzungsprofil scheint jedoch nicht darin zu bestehen, die Hör- geräte ständig zu tragen. Vielmehr wird das Tragen des Hörgerätes entsprechend der jeweils ausgeübten Alltagstätigkeit variiert (Williger and Lang, 2013). Zufriedene ältere Nutzer*innen verstehen sich beson- ders gut darauf, ihr Hörgerät zielgerichtet einzusetzen, um Alltagssituationen mit hohen Anforderungen an die Hörfähigkeit zu meistern. Von den weniger zufriedenen Hörgerätenutzer*innen unterscheiden sie sich nicht nur ein besseres Hörerleben, sondern gerade auch weil es ihnen in vielen verschiedenen Hör- situationen erfolgreich gelingt, einen Mehrwert aus der Nutzung der Hörgeräte zu ziehen (Williger and Lang, 2015). Interventionsansätze Verschiedene Interventionsansätze habe es sich zum Ziel gesetzt, altersschwer- hörige Besitzer*innen von Hörgeräten zu einem intensiveren Einsatz der Geräte im Alltag zu bewegen. Die bisherigen Ausführungen sollten verdeutlicht haben, dass es hierbei nicht darum gehen sollte, das ständige Tragen der Geräte anzuregen. Vielmehr sollten entsprechende Interventionen darauf abzielen, einen proaktiven Nutzungsstil zu unterstützen, der an die individuellen Bedürfnisse des altersschwerhöri- gen Menschen angepasst ist. Ein entsprechender Interventionsansatz setzt darauf, die hörbezogene Gesundheitskompetenz von altersschwerhörigen Menschen zu steigern. Die Gesundheitskompetenz eines Menschen versetzt ihn in die Lage, mit gesundheitsbezogenen Informationen so umzugehen, dass er für seine Gesundheit förderli- che Entscheidungen treffen kann. Dies kann ein breites Informationsspektrum umfassen: Beispielsweise beinhaltet die hörbezogenen Gesundheitskompetenz eines*r altersschwerhörigen Hörgerätenutzers*in me- dizinisches Wissen um die Altersschwerhörigkeit, psychologisches Wissen über mögliche Kommunikati- onsschwierigkeiten, technische Kompetenz zum korrekten Gebrauch der Hörgeräte und alltagspraktische Erfahrungen zum Einsatz in konkreten Alltagssituationen. Definition Der Begriff Gesundheitskompetenz bezeichnet das Ausmaß, in dem ein Mensch dazu in der Lage ist, gesundheitsbezogenen Informationen zu erlange, zu verarbeiten und zu verstehen, um Entscheidungen zu treffen, die seiner Gesundheit förderlich sind (Committe on Health Literacy et al., 2004, p. 31-37). Auch im Deutschen wird alternativ häufig der englische Begriff Health Literacy verwendet. Nutzer*innen von Hörgeräten unterscheiden sich beträchtlich darin, wie ausgeprägt ihre hörbezogene Gesundheitskompetenz ausfällt (Desjardins and Doherty, 2009). Zielgerichtete Bildungsprogramme set- zen bei diese Befund an und vermitteln zentrale Grundlagen der hörbezogenen Gesundheitskompetenz. Die Ergebnisse von systematischen Wirksamkeitsstudien weisen darauf hin, dass dies tatsächlich eine positive Wirkung erzielen kann, wenn nicht einmalig geschult wird, sondern wenn Informationen alltagsgerichtet vermittelt und anlassbezogen wiederholt werden (Reese and Smith, 2006). Sowohl Gruppentrainings und Einzelberatungen (Boothroyd, 2007; Hickson et al., 2007; Chisolm et al., 2004; Lane, 2017) als auch multimediale Bildungsprogramme (Kramer et al., 2005; Ferguson et al., 2016) können effektiv dazu bei- tragen, die hörbezogene Gesundheitskompetenz zu steigern und eine intensivere Nutzung von Hörgeräte anzuregen. Ein alternativer Interventionsansatz besteht aus sogenannte Motivationsinterviews, bei denen ein*e Interviewer*in systematisch darauf hinarbeitet, die vorhandene Neigung einer Person zu einer Verhal- tensänderung zu stärken (Miller and Rollnick, 2013). Bezogen auf das Tragen von Hörgeräten zielt ein Motiviationsinterview zunächst darauf ab, gemeinsam mit dem altersschwerhörigen Menschen die bishe- rige Nutzung von Hörgeräten zu reflektieren. Im Weiteren werden dann Alltagssituationen hervorgehoben, in denen der Betroffene von den Hörgeräten schon zu profitieren meint. Zudem werden gemeinsam mit dem Betroffenen Strategien für Alltagssituationen erarbeitet werden, in denen die Nutzung der Hörgeräte eher schwerfällt (Aazh, 2016) 3 Anzumerken ist, dass die Verbesserung von Kommunikation und Lebensqualität in gleichem Maße mit Hörgeräten in einfacher Ausführung und in Premium-Ausführung erzielt werden kann (Cox et al., 2016). 1.1. ALTERSBEDINGTE VERÄNDERUNGEN IN DER WAHRNEHMUNG 11 Definition Der Begriff Motivationsinterview bezeichnet einen kollaborativen Konversati- onsstil, mit dem die vorhandene Neigung einer Person zugunsten einer Verhaltensänderung systematisch gestärkt wird (Miller and Rollnick, 2013, p. 12). Im Rahmen einer Pilotstudie boten Solheim et al. (2018) Motivationsinterviews begleitend zur techni- schen Anpassung von Hörgeräten an, zu denen altersschwerhörige Besitzer*innen von Hörgeräten ohnehin in regelmäßigen Abständen eingeladen werden. Im Ergebnis setzten die Teilnehmer*innen an den Moti- vationsinterviews ihre Hörgeräte tatsächlich dauerhaft verstärkt ein. Im Vergleich zu altersschwerhörigen Menschen, deren Hörgeräte ohne Motivationsinterview technisch angepasst worden waren, benannten sie mehr Alltagssituationen, in denen sie von den Hörgeräten zu profitieren verstanden (Solheim et al., 2018). Riechen und Schmecken Das Geschmackserleben eines Menschen beruht auf Informationen, die von einer Vielzahl unterschiedlicher Geschmacksrezeptoren produziert werden. Jeder Rezeptor ist für eine von sechs chemischen Substanz- gruppen sensibel: Rezeptoren für Süße erkennen Zucker, Aminosäuren und Alkohole. Rezeptoren für Salziges erkennen Mineralsalze. Rezeptoren für Saures erkennen saure Lösungen und organische Säuren. Rezeptoren für das Bittere erkennen Bitterstoffe. Rezeptoren für Umami erkennen Aminosäuren und Glutaminsäure. Rezeptoren für Fett erkennen freie Fettsäuren. Die verschiedenen Geschmacksrezeptoren sind im Mundraum jeweils als Bündel angeordnet, den Geschmacksknospen. Diese zwiebelförmigen Strukturen sind in die Mundschleimhaut eingebettet, vor- nehmlich an Zunge, Gaumensegel und Kehldeckel (Trepel, 1999, p. 309). Definition Der Begriff Geschmacksrezeptor bezeichnet einen Typ von Sinneszellen, der auf die Erkennung auf die Erkennung chemischer Substanzen in Mund und Rachen spezialisiert ist (Trepel, 1999, p. 309). Eine alternative Bezeichnung lautet gustatorische Rezeptorzelle. Sowohl das Riechen als auch das Schmecken nehmen im fortgeschrittenen Lebensalter ab (Fukunaga et al., 2005; Schiffman and Graham, 2000; Ship, 1999). Eine verringerte Sensibilität ist in beiden Berei- chen etwa ab dem 60. Lebensjahr zu erwarten. In den weiteren Lebensjahren folgt ein stetiger Rückgang, der im Riechen stärker ausgeprägt ist als im Schmecken (Schiffman, 2009). Der Rückgang im Riechen und im Schmecken geht allerdings auf andere physiologische Ursachen zurück: Das Riechen fällt schwerer, weil es mit fortschreitendem Alter stets weniger gut gelingt, olfaktorische Rezeptoren zu ersetzen (?). Demgegenüber bleiben Funktion und Ersatz gustatorischer Rezeptoren bis ins hohe Alter hinein unbeein- trächtigt. Eine altersbedingte Verdichtung der Mundschleimhaut führt dazu, dass mit fortschreitendem Alter immer weniger chemische Substanzen die Rezeptoren überhaupt erreichen können (Mistretta, 1984). Im hohen Alter verändert sich das Erleben von Lebensmitteln. Geschmack und Geruch bestimmen unmittelbar, wie ein Mensch die Aromen von Lebensmitteln er- lebt. Altersbedingte Einschränkungen in der Wahrnehmung von Geschmack und Geruch können dazu beitragen, dass Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter einen geringeren Appetit entwickeln und in- folgedessen weniger Nahrung zu sich nehmen (Schiffman and Graham, 2000). Zu beachten ist, dass eine altersbedingt verringerte Durchlässigkeit der Mundschleimhaut nicht die Differenzierung unterschiedli- cher Geschmäcker erschwert, sondern das Geschmackserleben insgesamt zu dämpfen scheint (Mingioni et al., 2017; De Graaf et al., 1996). Ein gedämpftes Geschmackserleben wirkt sich bei den meisten älteren Menschen zunächst nicht auf den Appetit aus. Dieser kann auch durch die soziale Funktion des Essens aufrechterhalten werden. Essen und Trinken sind Bestandteile vieler ritualisierter Interaktionen in Familie, Freundes- und Bekanntenkreis. Mit fortschreitendem Alter gewinnt dieser soziale Aspekt des Essens für den Erhalt des Appetits eines KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 12 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD Abbildung 14: Die Geschmacksknospe enthält Bündel von Geschmackssinneszellen. Der Eintrittskanal in die Geschmacksknospe wird Geschmackspore genannt. Durch die Geschmackspore können chemikalische Substanzen zur Geschmacksknospe gelangen und spezialisierte Geschmackssinneszellen aktivieren. Die Basalzellen leiten diese Aktivierung über den afferenten Nerv an das Zentrale Nervensystem weiter. Al- terungsbedingt nimmt die Durchlässigkeit der Geschmacksporen im hohen Alte ab. In der Folge gelangen weniger Substanzen zu den Rezeptoren. Das Geschmackserleben ist herabgesetzt. Abbildung 15: Die Veränderungen des Geruchs- und Geschmackserlebens im hohen Alter tragen dazu bei, dass sich negativer Stress bei älteren Menschen besonders schnell auf das Essverhalten auswirken und zu einer Mangelernährung beitragen kann. Soziale Unterstützung kann eine schützende Pufferfunktion erfüllen: Bei älteren Menschen mit hoher sozialer Unterstützung ist das Risiko vergleichsweise gering, dass sich Stressoren negativ auf die Nahrungsaufnahme auswirken (Mcintosh et al., 1989). 1.1. ALTERSBEDINGTE VERÄNDERUNGEN IN DER WAHRNEHMUNG 13 Menschen an Bedeutung, während die Genuss- und Sättigungsfunktion des Essens in den Hintergrund tritt (Devine, 2005; Mcintosh et al., 1989). Das verminderte Erleben von Lebensmittelaromen wirkt sich darum oft erst dann negativ auf das Essverhalten eines älteren Menschen aus, wenn sich seine Lebensumstände unvorteilhaft ändern. So können Verwitwung (Vesnaver et al., 2015; Shahar et al., 2001), Einsamkeit (Ramic et al., 2011), Depressivität (Bailly et al., 2015), der Umzug in eine stationäre Einrichtung (Duggal and Lawrence, 2001) oder auch eine Behinderung der Kaumotorik (Nyberg et al., 2014) zu einer radikalen Veränderung der Essgewohnheiten führen, die einen Rückgang von Appetit, Nahrungsaufnahme und Körpergewicht nach sich ziehen können. Auch vielen Bewohner*innen von stationären Pflegeeinrichtungen ist die soziale Funktion und das Aussehen des Essens wichtiger ist als seine Genuss- und Sättigungsfunktion. In stationären Pflegeein- richtungen ist daher eine appetitliche Präsentation des Essens von großer Bedeutung für den Erhalt des Appetits der Bewohner*innen. Auch soziale Aktivitäten, welche die Pflegebedürftigen in die Zubereitung von Speisen einbinden, können hierzu beitragen. So können in einer Koch- oder Backgruppe erfahre- ne Hausfrauen und -männer vertraute Speisen gemeinsam zubereiten. In Schnibbel- und Schälgruppen können auch Personen mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen in die Speisenzubereitung einge- bunden werden. Saisonbedingte Aktionen, wie beispielsweise Marmelade-Kochen, können als Anlass für biographische Gedächnisarbeit dienen (Projektteam der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“, 2014). Körpergefühl Im fortgeschrittenen Lebensalter kann sich das Körpergefühl eines Menschen erheblich verändern. Vor- nehmlich setzt sich das Körpergefühl aus den Informationen zweier sensorischer Quellen zusammen: Die Sensorik der Haut ermittelt Informationen zu Berührung, Vibration, Temperatur und Schmerz, welche die Grenzen des eigenen Körpers verdeutlichen. Die Sensorik der Gelenke und Muskeln vermittelt Infor- mationen zur Lage des Körpers im Raum, welche die Haltung des Körpers innerhalb seiner Umgebung bewusstmachen. Beide Aspekte des Körpergefühls unterliegen im Verlaufe der Alterung spezifischen Ver- änderungen, die dazu beitragen, dass sich der Körper in verschiedenen Phasen des Lebens anders anfühlt. Sensorik der Gelenke und der Muskeln Muskeln, Sehnen und Gelenke sind mit spezialisierten Sinneszellen versehen. So genannte propriozeptive Rezeptoren sind sensibel für die Dehnung von Muskeln und Sehnen, für die Geschwindigkeit der Muskel- kontraktion bzw. für die Neigung der Gelenke (Shaffer and Harrison, 2007). Zusammengenommen liefern diese sensorischen Informationen einen wichtigen Beitrag zum Körpergefühl eines Menschen. Einerseits kann die Position des Körpers im Raum und die Lage der Körperteile zueinander wahrgenommen werden (Propriozeption). Andererseits kann die Bewegung des eigenen Körpers wahrgenommen und erst dadurch bewusst kontrolliert werden (Kinästhesie). Definition Propriozeption bezeichnet die Wahrnehmung der Körperlage im Raum bzw. der Lage von Körperteilen zueinander. Kinästhesie bezeichnet die Wahrnehmung der eigenen Be- wegung (Buser, 2007, p. 93). Während Befunde zu altersbedingten Einflüssen auf die Kinästhesie widersprüchlich sind, zeigen Untersuchung zu Propriozeption, dass es Menschen mit fortschreitendem Alter immer schwerer fällt, die Ausrichtungen der Gelenke ausschließlich anhand von propriozeptiven Informationen zu bestimmen. Die verschiedenen Körperregionen sind von diesem altersbedingten Rückgang jedoch unterschiedlich be- troffen: Der Einschränkungen in der Propriozeption scheinen an distalen Gelenken ausgeprägter als an proximalen Gelenken und an den unteren Extremitäten ausgeprägter als an den oberen Extremitäten auszufallen. Definition In der Anatomie bezeichnet proximal eine Lage zum Körperzentrum hin. Distal bezeichnet eine Lage vom Körperzentrum weg. An distalen Körperregionen tritt die verringerte Sensibilität für die Ausrichtung der Gelenke vor allem dann auf, wenn die Gelenke nicht mit dem Körpergewicht belastet sind. Offenbar liefert ein mit KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 14 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD dem Körpergewicht belastetes Gelenk so starke propriozeptive Informationen, dass es älteren Menschen ähnlich gut wie jüngeren gelingen kann, die Ausrichtung des Gelenkes zu bestimmen (Bullock-Saxton et al., 2001; Pickard et al., 2003; Verschueren et al., 2002). Sensorik der Haut Die Haut ist ein wichtiges sensorisches Organ, in dem viele Mechanorezeptoren enthalten sind. Mecha- norezeptoren sind hochspezialisierte Sinneszellen, die sensibel für verschiedene Formen der mechanischen Beanspruchung sind. Rezeptoren des gleichen Rezeptortyps reagieren jeweils nur auf bestimmte Arten der Beanspruchung. Pacinische Körperchen reagieren auf Vibrationen innerhalb des Gewebes und auf kurze Wechsel im mechanischen Status der Haut. Meissner-Körperchen sind sensitiv für leichte Berührungen und Vibrationen. Merkel-Körperchen erkennen Berührungen auf der Oberfläche der haartragenden Haut. Ruffini-Körperchen bestimmen die Dehnung der Haut (Trepel, 1999, p. 312). Eine weitere Form von Rezeptorzellen, die in der Haut vorkommen sind freie Nervenenden. Sie dienen der Erkennung von po- tenziell schädlichen Einflüssen. Je nach Nerventyp sind sie sensibel für die Temperatur, die Konzentration bestimmter Chemikalien auf der Haut oder für Schmerz (Trepel, 1999, p. 312). Definition Der Begriff Mechanorezeptor bezeichnet einen Typ von Rezeptoren, der sensibel für mechanische Beanspruchung ist. Mit fortschreitendem Alter verändert sich der physiologische Aufbau der Haut. Die Haut wird dün- ner und durchlässiger. Das Wachstum der Hautzellen und der Nährstofftransfer innerhalb der Hautzellen verlangsamen sich. Die Thermoregulation wird weniger effektiv (Duthie et al., 2007). Zusammengenom- men beeinflussen diese Veränderungen die sensorischen Funktionen der Haut negativ. Die Empfindung von Berührung, Vibration, Temperatur und Schmerz wird allgemein gedämpft (Kenshalo, 1977). Auch einige Typen der Hautrezeptoren sind vom Alterungsprozess betroffen (Lundy-Ekman, 2007, p. 107). Pacinische Körperchen und Meissner-Körperchen werden mit zunehmenden Alter weniger sensibel und nehmen in ihrer Anzahl deutlich ab. Mit Erreichen des 80. Lebensjahres weisen sie nur noch ein Drittel ihrer ursprünglichen Dichte auf (Cauna, 1958; IWASAKI et al., 2003). Demgegenüber bleibt die Funktion von Merkel-Körperchen vom Alter unbeeinflusst. Die Sensorik für Vibration und Berührung schwindet daher im Alter nicht vollständig. Sie wandelt sich qualitativ: Kräftige Berührungen werden ebenso gut wahrgenommen wie in früheren Jahren. Leichter Druck und leichte Vibrationen auf der Haut werden von vielen älteren Menschen hingegen kaum noch wahrgenommen (Meisami, 1994; Verillo, 1979; Weisenberger, 1996). Nachlassen der taktilen Wahrnehmungsschärfe Der altersbedingte Rückgang im Gefühl für leich- ten Druck und leichte Vibrationen wirkt sich auch auf das Vermögen zur bewussten Erkennung und Unterscheidung von Berührungen aus (taktile Wahrnehmungsschärfe). Dies trat besonders deutlich in Untersuchungen zur Sensorik der Finger zutag. Im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen müssen Berüh- rungen an den Fingerspitzen etwa ein Fünftel breiter sein, damit Senioren sie überhaupt wahrnehmen können (Tremblay et al., 2003). Auch ist bei Älteren zwei- bis dreimal mehr Druck erforderlich, um eine Berührung sicher erkennen zu können (Bruce, 1980). Definition Der Begriff taktile Wahrnehmungsschärfe bezeichnet die Fähigkeit, mit der Haut Berührungen bewusst zu erkennen und unterscheiden zu können. Unabhängig vom untersuchten Körperteil scheinen ältere Erwachsene besondere Schwierigkeiten mit der räumlichen Differenzierung von Berührungen haben. Mit fortschreitender Alterung müssen zwei Be- rührungen immer weiter auseinanderliegen, um überhaupt als unterschiedliche Berührungen wahrgenom- men werden zu können (Stevens et al., 2003; Wickremaratchi and Llewelyn, 2006). Ein altersbedingter Abbau der taktilen Wahrnehmungsschärfe zeigt sich auch in der Wahrnehmung von Vibrationen (Perry, 2006). Der altersbedingte Abbau der taktilen Wahrnehmungsschärfe scheint bei proximalen Körperteilen langsamer fortzuschreiten als bei distalen Körperteilen (Stevens and Choo, 1996; Merchut and Toleikis, 1990). Berührungen und Vibrationen an Rumpf und Schulter können also im Verlauf der Lebensspanne länger differenziert und identifiziert werden als Berührungen und Vibrationen an Füßen und Händen. 1.1. ALTERSBEDINGTE VERÄNDERUNGEN IN DER WAHRNEHMUNG 15 Abbildung 16: Mechanozeptoren und freie Nervenenden sind hochspezialisierte Sinneszellen der Haut (Trepel, 1999, p. 312), deren Funktion in unterschiedlicher Form von Alterung betroffen ist. Steigen der Schmerzschwelle Mit fortschreitendem Alter sinkt die Fähigkeit der Haut zur Erken- nung von mechanischer Überbelastung. In der Folge steigt die Schmerzschwelle: Bei älteren Menschen ist eine deutlich stärkere mechanische Überbelastung erforderlich, bevor die Schmerzrezeptoren dem Zen- tralen Nervensystem Schmerz signalisieren (Marini et al., 2012). Eine altersbedingte Veränderung der Schmerzschwelle ist jedoch nicht bei jeder Art von Schmerz in gleichem Ausmaß festzustellen. Während die Wahrnehmung von Druckschmerzen bei vielen Menschen ab der siebten oder achten Lebensdeka- de stark herabgesetzt ist, verbleibt die Schwelle für Hitzeschmerz bis ins hohe Lebensalter hinein auf demselben Niveau (Lautenbacher et al., 2005; Guergova and Dufour, 2011; Lautenbacher et al., 2017). Definition Der Begriff Schmerzschwelle bezeichnet die niedrigste Stärke eines potenziell schmerzhaften Reizes, der als schmerzhaft empfunden wird (IASP Task Force on Taxonomy, 1994). Da es sich bei der Schmerzwahrnehmung um ein wichtiges Warnsystem zur Gefahrenabwehr han- delt, kann die altersbedingt herabgesetzte Schmerzschwelle im Alltag schnell negative Konsequenzen nach sich ziehen: Weil mehr mechanische Überbelastung erforderlich ist, bis ein Schmerz erkannt wird, kann ein Schmerzstimulus in vielen Fällen auch länger Schaden anrichten. Denn erst nachdem eine Berüh- rung als schmerzhaft klassifiziert worden ist, können geeignete Maßnahme gegenüber der Schmerzursache eingeleitet werden (?). Fokus Rehabilitation: Chronische Schmerzen Obwohl die Schmerzwahrnehmung im Alter generell eher nachlässt, sind ältere Menschen deutlich häufiger als jüngere Menschen von chronischen Schmerzen betroffen (Cegla and Horlemann, 2018). Als chronische Schmerzen werden andauernde Schmerzen bezeichnet, die seit mehr als sechs Monaten bestehen und denen keine unmittelbare biologische Ursache (mehr) zugeordnet werden kann (Katz et al., 2015). Betroffen sind vornehmlich Senioren, die übergewichtig sind oder an chronischen Erkrankungen der Muskulatur bzw. der Gelenkknochen leiden (Patel et al., 2013; Vecchiet, 2002). Gerade bei Senioren im „vierten Lebensalter“ (80 Jahre und älter) können chronische Schmerzen auch im Zusammenhang mit unerkannten Frakturen an der Wirbelsäule auftreten (Kado, 1999). Die genaue Verbreitung chronischer Schmerzen in der älteren Bevölkerung ist allerdings nur schwer zu bestimmen. Geläufige Messinstrumente zur Erfassung von chronischen Schmerzen können mit vie- KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 16 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD len älteren Menschen nicht reliabel eingesetzt werden, sodass eine konsensuelle Erfassung chronischer Schmerzen in der älteren Bevölkerung aktuell nicht möglich ist (Gagliese, 2009; Scherder et al., 2009). Schätzungen der Prävalenz gehen davon aus, dass zumindest jeder fünfte (Breivik et al., 2006), viel- leicht aber auch jeder zweite Mensch (Patel et al., 2013) im Alter von über 65 Jahren von chronischen Schmerzen betroffen ist. Die Ergebnisse von Untersuchungen in Pflegeheimen weisen darauf hin, dass die Prävalenz bei pflegebedürftigen älteren Menschen noch einmal deutlich höher ausfallen dürfte (Roy and Thomas, 1986). Chronische Schmerzen gehen oft einher mit depressiven Symptomen. Die genaue Kausalität dieser Komorbidität ist undeutlich: Auf der einen Seite entwickeln viele ältere Menschen depressive Symptome, nachdem sie begonnen haben, an chronischen Schmerzen zu leiden. Auf der anderen Seite sind ältere Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, weitaus empfindlicher für Schmerzen als andere Men- schen. Daher werden bei älteren Depressionspatienten auch vergleichsweise häufig chronische Schmerzen diagnostiziert (Gagliese and Melzack, 1997). Alltagsrelevanz Chronische Schmerzen können die Lebensqualität älteren Menschen erheblich beein- trächtigen. Im Alltag wirken sich chronische Schmerzen insbesondere auf die Mobilität und auf das soziale Leben aus. Betroffene neigen dazu, sich in der eigenen Wohnung aufzuhalten und vor sozialen Aktivitäten zurückzuziehen. In vielen Fällen werden sportliche Aktivitäten und Hobbies eingeschränkt oder aufgege- ben (Williamson and Schulz, 1992; Bernfort et al., 2015). Langfristig anhaltende chronische Schmerzen bedrohen zudem die selbstständige Lebensführung älterer Menschen. Denn langfristig Betroffene können dauerhaft an Appetitlosigkeit oder körperlicher Inaktivität leiden, was ihre körperliche Leistungsfähigkeit schädigen kann (Sugai et al., 2017). Chronische Schmerzen stehen zudem in einem Wechselverhältnis mit dem Schlafverhalten. Ältere Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden, haben oftmals fortdauernde Schwierigkeiten erholsamen zu schlafen. Anhaltende Schlafproblem senken ihrerseits die Schmerzschwel- le älterer Menschen und können somit eine vorhandene Schmerzsymptomatik verstärken (Frohnhofen, 2018). Interventionsansätze Grundsätzlich können auch im fortgeschrittenen Alter medikamentöse Schmerz- therapien chronische Schmerzen so weit lindern, dass das Alltagsleben Betroffener nicht oder nur wenig eingeschränkt ist (Reid et al., 2015; Drebenstedt, 2018). Allerdings sind viele ältere Menschen mit chroni- schen Schmerzen zurückhaltend in der Aufnahme einer medikamentösen Schmerztherapie (Breivik et al., 2006; Tse et al., 2010). Auch kann eine medikamentöse Schmerztherapie mit Nebenwirkungen verbunden sein, die ihrerseits zu Einschränkungen im Alltag oder in der Lebensqualität führen. Älteren Schmerzpatienten können daher auch nichtmedikamentöse Schmerztherapien in Anspruch nehmen. In der Praxis sind diese zumeist multimodal ausgelegt. Abhängig von den individuellen Bedürf- nissen der Betroffenen können u. a. Physiotherapie, Ergotherapie, Akupunktur manuelle Therapie und verhaltenstherapeutische Interventionen Bestandteile einer nichtmedikamentösen Therapiekonzeptes sein (Lunde et al., 2009; Drebenstedt, 2018). Aufgrund der erforderlichen individuellen Passung sind allge- meingültige Aussagen zu Wirksamkeit dieser Therapien schwierig zu treffen. Kleinere Studien in Pflege- und Altersheimen weisen darauf hin, dass eine nichtmedikamentöse Multimodaltherapie zumindest bei ausgewählten Betroffenen zur Linderung chronischer Schmerzen (Kalinowski et al., 2015; Manias et al., 2011) und zu einer Reduktion der medikamentösen Therapie beitragen kann (Ellis et al., 2017). Ein verhältnismäßig neuer Ansatz zur nichtmedikamentösen Schmerztherapie stellt die Achtsam- keitsmediation dar. Achtsamkeitsmediation zielt darauf ab, Teilnehmer*innen neue Perspektiven zur ei- genen Schmerzbewältigung zu eröffnen. Als Ausgangspunkt der Mediation dienen Aktivitäten des täglichen Lebens; wie atmen, sitzen, liegen oder gehen. Im Zuge der Mediation erlernen Teilnehmer*innen mentale Techniken, um die Ausführung dieser Aktivitäten so anzureichern, dass sie sich ihrer eigenen Wahrneh- mungen, Gedanken und Emotionen bewusst werden (Morone et al., 2008; Zeidan et al., 2012; Day et al., 2014). Definition Der Begriff Achtsamkeitsmediation bezeichnet einen bewussten mentalen Pro- zess, in dem eine Person lernt, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, um physische Entspan- nung und mentale Ruhe zu fördern (Gertz and Culbert, 2009). 1.1. ALTERSBEDINGTE VERÄNDERUNGEN IN DER WAHRNEHMUNG 17 Populationsbasierte Untersuchungen zur Wirksamkeit von Achtsamkeitsmediation mit älteren Schmerz- patienten stehen gegenwärtig noch aus. Erste Untersuchungen mit ausgewählten Senioren weisen gleich- wohl auf positive Effekte hin: Möglicherweise kann die Mediation tatsächlich auch im hohen Lebensalter dazu beitragen, den erlebten Schmerz zu verringern, besser zu schlafen, die Lebenszufriedenheit zu ver- bessern und eine selbstständige Lebensführung aufrecht zu erhalten (Morone et al., 2008; Cassidy et al., 2012; Rosenzweig et al., 2010). Gleichgewichtssinn Das Ohr ist ein vielseitiges sensorisches Organ, dass nicht allein für die akustische Wahrnehmung sondern auch für den Gleichgewichtssinn von Bedeutung ist. An verschiedenen Membranen und flüssigkeitsgefüll- ten Röhren sind eine Vielzahl propriozeptiver Rezeptoren angesiedelt, der Vestibulärapparat. Der Vestibu- lärapparat ist darauf spezialisiert, die Lage und die Bewegung des Kopfes im Verhältnis zur Schwerkraft zu erkennen. Diese Informationen sind eine zentrale, jedoch nicht die einzige sensorische Quelle des Gleich- gewichtssinns: Die Wahrnehmung von Gleichgewicht kommt zustande, in dem Informationen zur Lage und Bewegung des Kopfes mit visuellen Informationen zur Umgebung und mit propriozeptiven Informa- tionen zur Lage der verschiedenen Körperteile miteinander in Bezug gesetzt werden (Horak et al., 2009). Zudem ist zu beachten, dass sensomotorische Integration ein integraler Bestandteil der Gleichgewichts- wahrnehmung ist. Denn auch Informationen zur Bewegung der Gliedmaßen und des Körpers im Raum sowie die motorischen Pläne aktueller Bewegungen gehen in die Wahrnehmung des Gleichgewichts ein (Cullen, 2012). Der Gleichgewichtssinn liefert Informationen zur Lage und Beschleunigung des Körpers im Raum, welche auch die Weiterverarbeitung anderer sensorischer Quellen beeinflussen. Beispielsweise setzt eine akkurate räumliche Analyse der visuellen Umgebung das Wissen um die Neigung des Kopfes und die Bewegungen des Körpers voraus (Ferrè and Haggard, 2016). Noch enger ist der Gleichgewichtssinn mit einigen motorischen Systemen verbunden (Fisher et al., 1991). So ist es den Augenmuskeln nur durch eine enge Verschaltung mit dem Gleichgewichtssinn möglich, die Stabilität des Blickes auch während der Bewegungen des Kopfes aufrechtzuerhalten (Vestibulookulärer Reflex ). Definition Der Vestibulookulärer Reflex (VOR) bezeichnet durch Informationen des Gleich- gewichtssinns eingeleitete unwillkürliche Augenbewegungen, mit denen der Blick trotz Eigen- bewegung des Körpers auf ein bestimmtes Objekt fixiert bleiben kann. Die Ausführung komplexer Bewegungsfolgen oder die Bewegung im Dunkeln bedingt eine unmittel- bare neurologische Verschaltung von Haltungskontrolle und Köperlagegefühl, durch welche die Spannung der Haltungsmuskulatur beständig der Wahrnehmung des Körpers im Verhältnis zur Schwerkraft anpasst werden kann (Day and Reynolds, 2005). Altersbedingte Veränderungen am Vestibulärapparat Beginnend mit dem 40. Lebensjahr beginnt die Leistungsfähigkeit des Vestibulärapparates bei vielen Menschen abzunehmen. Hierfür sind verschiedene physiologische Ursachen dokumentiert. Einerseits gehen mit fortschreitendem Alter propriozeptive Rezeptoren im Innenohr verloren, die nicht ersetzt werden können. Schätzungen gehen von einem Verlust von 20 bis 40 % im Verlauf der Lebensspanne eines Menschen aus (Ochs et al., 1985). Gerade im hohen Lebensalter gehen zudem viele Neuronen in den Nervenbahnen verloren, die den Vestibulärapparat mit dem Zentralen Nervensystem verbinden (Matheson et al., 1999; Lopez et al., 1997). In der Folge können im Innenohr erzeugte sensorische Informationen nicht mehr weiterverarbeitet werden und stehen der Wahrnehmung des Gleichgewichts nicht mehr zur Verfügung. Da der Vestibulärapparat nicht die einzige sensorische Quelle des Gleichgewichtssinnes ist, ist eine Kompensation des altersbedingten Rückgangs seiner Funktion oft über viele Jahre möglich (Matheson et al., 1999). Dies kann beispielsweise durch ein stärkeres Vertrauen auf visuelle Informationen zur Kör- perlage erfolgen. Gelingt die Kompensation nicht mehr, beginnen Betroffene regelmäßig Schwindel und Benommenheit zu verspüren, wenn sie stehen oder sich bewegen. Je nach Altersgruppe berichten zwischen 8 und 30 % der älteren Menschen davon, regelmäßig diese Symptome zu erfahren (Cooper, 2013). KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 18 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD Als besonders störend wird es empfunden, wenn betroffene ältere Menschen eine Bewegung ihrer Umwelt wahrnehmen, obwohl tatsächlich sie selbst sich bewegen. Ursache hierfür ist eine Degeneration der Nervenbahnen vom Vestibulärapparat zu den Augenmuskeln, welche die Effizienz des vestibulookulären Reflexes reduziert. Es gelingt dann nicht immer akkurat, den Blick trotz Eigenbewegung des Körpers auf ein bestimmtes Areal des visuellen Feldes zu fixieren. Dies wird vom Zentralen Nervensystem als Bewegung der Umgebung fehlinterpretiert (Paige, 1992). Als Folge können die Stabilität im Stand und das Gleichgewicht während einer Bewegung eingeschränkt sein (Kerber et al., 2006). Presbyastasis Die beschriebene altersbedingte Störung des Gleichgewichtssinnes kann so stark ausfallen, dass Betroffene erhebliche Einschränkungen in ihrem Alltag erfahren. Dieses Störungsbild wird Presbyastasis genannt (Kennedy and Clemis, 1990). Neben häufigem Schwindel und Unwohlsein leiden Betroffene an einer stark verringerten Fähigkeit, dass Gleichgewicht im Stehen oder während einer Bewegung aufrechtzuerhalten. Eine wiederkehrende Bedrohung besteht darin zu stürzen (Duncan et al., 1992; Ring et al., 1989). Im Vergleich zu Altersgenossen mit erhaltenem Gleichgewichtssinn besteht ein 12-fach erhöhtes Sturzrisiko (Agrawal et al., 2009). Definition Presbyastasis bezeichnet eine altersbedingte Störung des Gleichgewichtssinnes, welche die selbstständige Bewältigung der Aktivitäten des täglichen Lebens einschränkt (Cooper, 2013). Viele erfahren das ständige Schwanken und die damit verbundene Gefahr als eine erhebliche Ein- schränkung ihres Alltags (Lasisi and Gureje, 2010). Die Folge kann eine andauernde Sturzangst sein, welche Betroffene dazu veranlasst, die Aktivitäten des täglichen Lebens erheblich einzuschränken. Ur- sache einer Presbyastasis ist in den meisten Fällen eine Unstimmigkeit in der Alterung von Vestibu- lärapparat, visueller Wahrnehmung und Propriozeption. Sensorische Informationen dieser drei Quellen sind bei Betroffenen so widersprüchlich, dass sie nicht mehr miteinander in Einklang gebracht werden können. Verschiedene Faktoren können zur Verschlimmerung des Störungsbildes beitragen: eine geringe Stärke oder Beweglichkeit der Beine, kardiovaskuläre oder neurologische Erkrankungen, Nebenwirkungen bestimmter Medikament und eine verringerte Fähigkeit zur Ausführung gleichzeitiger Aufgaben (Cooper, 2013). Fragen zur Reflexion I. Was sind die wichtigsten Merkmale der Wahrnehmung im fortgeschrittenen Lebensalter? II. Viele ältere Menschen nehmen im Alltagsleben altersbedingte Einschränkungen im Sehen als beson- ders hinderlich wahr. Finden Sie zu jeder der beschriebenen Einschränkungen in der visuellen Wahrneh- mung eine Alltagssituation, in der sich die Einschränkung als hinderlich erweisen könnte. Wie würden Sie mit der Situation umgehen? III. Welche Sinneseindrücke machen den Gleichgewichtssinn aus und wie arbeiten die verschiedenen Sinne zusammen? Welche Folgen kann es haben, wenn diese Zusammenarbeit altersbedingt nicht mehr möglich ist? IV. Altersbedingte Veränderungen in der Wahrnehmung wirken sich stark auf den Alltag aus. Nehmen Sie einmal die Alltagsfähigkeit Kuchen backen. Arbeiten Sie heraus, welche Wahrnehmungskanäle beim Backen eine Rolle spielen könnten. Wie könnten sich altersbedingte Veränderungen auswirken? Welche Adaptionsmöglichkeiten Möglichkeiten haben Betroffene? KAPITEL 1. ALTERE MENSCHEN IN INTERAKTION MIT IHRER UMWELT: VISUELLE UND 28 PHYSISCHE BARRIEREN IM WOHNUMFELD Penger, S., Oswald, F. Wahl, H.-W. (2023): Altern im Raum am Beispiel von Wohnen und Mobilität. In: Hank, K., Wagner, M., Zank, S. (Hrsg.). (2023). Alternsforschung: Handbuch für Wissenschaft und Studium. Nomos Verlagsgesellschaft mbH Co. KG. https://doi.org/10.5771/9783748938095 Penger, S., Oswald, F. & Wahl, H.-W. (2023): Altern im Raum am Beispiel von Wohnen und Mobilität. In: Hank, K., Wagner, M., & Zank, S. (Hrsg.). (2023). Alternsforschung: Handbuch für Wissenschaft und Studium. Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. https://doi.org/10.5771/9783748938095 XVI. Altern im Raum am Beispiel von Wohnen und Mobilität Susanne Penger, Frank Oswald & Hans-Werner Wahl Abstract Im vorliegenden Kapitel soll das Thema Altern im Raum am Beispiel empirischer Befunde aus den Themenbereichen Wohnen und außerhäusliche Mobilität näher betrachtet werden. Selbstver­ ständlich sind sozial-räumliche Bezüge im Alternsprozess vielfältig und nicht auf diese hier eher analytisch zu verstehenden Schwerpunkte zu begrenzen. Daher sollen einführend Raumbezüge im Alternsprozess generell aus konzeptueller Sicht thematisiert werden, bevor dann die Themen Wohnen und Mobilität im Fokus stehen. Keywords: Wohnen, Mobilität, ökologische Gerontologie, Person-Umwelt-Austausch, Nachbar­ schaft 1. Altern im Raum – Konzeptuelle Grundlegung Altern findet auf der einen Seite zu einem quantitativ sehr bedeutsamen Teil in der Wohnung statt, was in manchmal zu „aktivitätseuphorischen“ Darstellungen des „neuen Alterns“ vergessen wird. Auf der anderen Seite spricht aber auch viel dafür, dass der quantitativ geringere Anteil der außerhäusli­ chen Mobilität an der gesamten Tageswachzeit hochbedeutsam sein kann. Schon eine Viertelstunde Spazierengehen im Quartier kann einem alten Menschen mit schwerwiegenden chronischen Einbu­ ßen und seiner Umwelt vermitteln: „Ich bin noch am Leben“; „Ich kann noch rausgehen“, „Ich sehe noch, was Ihr anderen so macht“. Altern im Raum spielt sich also immer in der Wohnung und außerhalb der Wohnung ab. Einerseits kann das Verhältnis von Mensch und Raum im Alternsprozess aus Sicht einer eher interdis­ ziplinär angelegten Ökologischen Gerontologie betrachtet werden (z.B. Chaudhury & Oswald, 2019; Rowles & Bernard, 2013; Scharlach & Diaz Moore, 2016; Wahl & Gitlin, 2007; Wahl & Oswald, 2016). Andererseits zeigen auch verschiedene disziplinäre Zugänge, dass ein Blick auf Altern im Raum hilfreich für das Alternsverständnis ist, beispielsweise aus Sicht der Biogerontologie (z.B. Austad, 2009; Campisi, 2005), Psychologie (z.B. Diehl et al., 2012; Wahl, 2017), Soziologie (z.B. Phillipson, 2007; Wanka & Oswald, 2020), Sozialen Gerontologie (z.B. Antonucci et al., 2009; Hoppman & Gerstorf, 2009) oder Medizin/Pflegewissenschaft (Tudor-Locke et al., 2013), wenngleich mit teilweise unterschiedlichem Fokus auf Umwelt und Person. Die Beschreibung von Person-Umwelt-Austausch­ prozessen bei älteren Menschen, insbesondere von Wohnen und Mobilität, erfolgt dabei häufig mit dem Fokus entweder auf Handlungs- oder auf Erlebensprozessen. Abbildung 16.1 gibt einen Überblick über beide Facetten des Wechselspiels von Handeln und Erleben in Person-Umwelt-Austauschprozes­ sen sowie deren Rahmenbedingungen, Ressourcen und Entwicklungsfolgen. Rahmenbedingungen sind dabei vor allem die biografische Entwicklung (Lebenslauf), etwa die sich im Laufe des Lebens 411 https://doi.org/10.5771/9783748938095 Generiert durch Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, am 25.09.2023, 14:20:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Susanne Penger, Frank Oswald & Hans-Werner Wahl herauskristallisierten Wohnbedürfnisse. Des Weiteren sind Handlungs- und Erlebensprozesse stets auch in historisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet. Die heute beispielsweise zur Verfügung stehenden „neuen“ Wohnformen für ältere Menschen (siehe dazu weiter unten) haben den Blick auf die Bedeutung des traditionellen Wohnens im Privathaushalt, aber auch auf Wohnen im Heim verändert. Ziel unseres Modells ist es, all diese oftmals in der Wohn- und Mobilitätsforschung nebeneinanderstehenden Komponenten ausdrücklich integrativ zu sehen (Claßen et al., 2014; Wahl & Oswald, 2016) (Abbildung 16.1) Prozesse des Person-Umwelt Folgen der Austausches Entwicklung Erleben Belonging Identität Ressourcen seitens der Wohlbefinden Person und der Umwelt Gutes Verhalten Agency Autonomie Altern Lebenslauf Historische Einbettung Abbildung 16.1: Rahmenmodell zum Person-Umwelt-Austausch im höheren Alter. Quelle: Wahl et al., 2012: 308; deutsche Übersetzung erweitert nach Oswald & Wahl, 2016a: 115 In dem in Abbildung 16.1 wiedergegebenen Rahmenmodell zum Person-Umwelt-Austausch im hö­ heren Alter werden zwei Prozessklassen unterschieden: Einerseits geht es in Anlehnung an Überle­ gungen von Wahl, Iwarsson und Oswald (2012) um erlebens- und emotionsbezogene Prozesse der Bewertung, Bedeutungszuschreibung und Bindung bzw. Verbundenheit mit der Umwelt, was als „Belonging“ bezeichnet wird. Konzepte wie Umweltzufriedenheit, Umweltidentität und Umweltver­ bundenheit lassen sich diesen Prozessen ebenso zuordnen wie möglicherweise erlebter Umweltstress. Neben Belonging-Prozessen existieren Prozesse des „Agency“, worunter Handlungen der Aneignung, Nutzung, Auseinandersetzung und Veränderung, z.B. von risikoreichen Umweltaspekten (z.B. Einbau einer bodengleichen Dusche zur Reduktion eines Sturzrisikos) sowie unmittelbar handlungssteuernde Einstellungen verstanden werden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Prozessklassen be­ steht also darin, dass bei „Belonging“ keine Zielorientierung vorliegt, sondern die „Befriedigung“ bzw. Zielerreichung in den Prozessen selbst liegt (z.B. „In diesem Haus fühle ich mich ganz geborgen“). 412 https://doi.org/10.5771/9783748938095 Generiert durch Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, am 25.09.2023, 14:20:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. XVI. Altern im Raum am Beispiel von Wohnen und Mobilität Bei „Agency“ werden hingegen stets Ziele verfolgt (z.B. „Ich will alles dafür tun, um hier wohnen zu bleiben“). Beide Prozesse hängen ab von Ressourcen seitens der Person und der Umwelt. Unter Ressourcen seitens der Person sind körperliche und geistige Fähigkeiten ebenso gemeint wie der Gesundheitszu­ stand, der Bildungsstand, die kognitive Leistungsfähigkeit oder grundlegende psychische Haltungen und erworbene Strategien zur Auseinandersetzung mit der Situation. Ressourcen seitens der Umwelt umfassen alle räumlich-dinglichen, technischen oder sozialen Bedingungen der unmittelbaren Le­ bensumwelt sowie die ökonomischen Rahmenbedingungen. Ferner wird im Rahmenmodell angenommen, dass Umweltprozesse zu bestimmten Folgen der Ent­ wicklung im Alternsverlauf führen. Der hier avisierte Zeitverlauf bezieht sich auf einen analytischen Ausschnitt eines grundsätzlich zyklischen Geschehens. So können die hier genannten Folgen von Person-Umwelt-Austausch auch gleichzeitig als Ausgangsbedingungen (bzw. Ressourcen) verstanden werden. Zu betonen sind hier vor allem zwei grundlegende Aspekte, die den beiden eben thematisier­ ten Prozessgruppen innewohnen. Zum Ersten ist davon auszugehen, dass Belonging-Prozesse vor allem zur Aufrechterhaltung von Identität bzw. identitätsrelevanter Persönlichkeitsaspekte im höheren Lebensalter beitragen. Die Frage „Wer bin ich?“ wird nicht zuletzt auch aus Antworten mit unmittel­ barem Umweltbezug wie „Ich wohne jetzt im Heim“ oder „Ich wohne noch in meinen eigenen vier Wänden“ beantwortet. Allerdings ist festzustellen, dass Aspekte des „Belonging“ in Bezug auf ältere Menschen eher selten thematisiert werden. Zum Zweiten wird angenommen, dass „Agency“-Prozesse des Person-Umwelt-Austauschs in entschei­ dender Weise die Autonomie im Alter beeinflussen. In diesem Zusammenhang ist an Arbeiten zur Alltagskompetenz zu denken, in denen neben sozialen auch räumlich-dingliche sowie technische und mediale Umwelten als wesentlich betrachtet werden bzw. deren Veränderung nachweislich zur Optimierung von Alltagsaktivitäten des Wohnens und der Mobilität auch bei eingeschränkten Kom­ petenzen beiträgt (Diehl & Willis, 2003; Gitlin et al., 2001; Wahl et al., 1999). Schließlich kann angenommen werden, dass beide Umweltprozesse mitsamt den Folgen auf der Ebene von Identität und Autonomie auch Auswirkungen auf das subjektive Wohlbefinden haben. Dies gilt es gerade auch vor dem Hintergrund der Vielfalt möglicher Wohnbedingungen vom privaten bis zum institutionellen Wohnen zu beachten. Betrachten wir nun vor dem Hintergrund dieser konzeptuellen Anmerkungen einige Aspekte und exemplarische Befunde zum Wohnen und zur Mobilität im Alter, vornehmlich aus Projekten mit eigener Beteiligung und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. 2. Wohnen im Alter Wohnen umfasst Wohnbedingungen, -prozesse und -folgen. Dabei sollte Wohnen breit gefasst werden und sowohl die eigenen „vier Wände“ als auch die Nachbarschaft, das Quartier, den Stadtteil oder die Gemeinde, in der man lebt, einschließen und sich damit auch mit dem Konzept außerhäuslicher Mobilität überschneiden. 413 https://doi.org/10.5771/9783748938095 Generiert durch Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, am 25.09.2023, 14:20:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Susanne Penger, Frank Oswald & Hans-Werner Wahl 2.1 Begriffsbestimmung und -variationen Wohnen bezeichnet den lebenslangen Austauschprozess zwischen Menschen und ihrer unmittelbaren Umwelt auf physischer, psychischer und sozialer Ebene. Die Frage nach der Bedeutung des Wohnens kann daher sehr grundsätzlich und ohne Bezug zu einem bestimmten Lebensalter oder einer Disziplin beantwortet werden. So rückt manchmal der räumliche Aspekt der Struktur und Beschaffenheit von Wohnungen (vor allem Ökologische Gerontologie und Geografie), ein anderes Mal der soziale Aspekt des Austausches und gemeinsamen Lebens (vor allem Soziale Gerontologie und auch räumlich orientierte soziale Netzwerkforschung) und noch einmal anders der Aspekt der lebenslangen Bindung von Personen an ihre Wohnumwelten (Lebenslauf- und Biografieforschung) in den Vordergrund. Im Folgenden werden zunächst allgemeine Wohnbedingungen, dann alltägliches Handeln in der Wohnumwelt (z.B. die Auseinandersetzung mit Barrieren) beschrieben. Danach wird auf Facetten des Wohnerlebens eingegangen, bevor wir uns insgesamt den Folgen des Wohnens (Selbstständigkeitser­ halt, Wohlbefinden) zuwenden. 2.2 Daten zum Wohnen im Alter Die Bedeutung der unmittelbaren Wohnumwelt für Menschen im höheren Alter ergibt sich schon aus der Häufigkeit der jeweiligen Wohnformen und der damit einhergehenden Aufenthaltsdauer im unmittelbaren Wohnbereich. Eine Auswertung des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA) von Daten des Bundesverbands Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen ergibt, dass knapp 93% älterer Personen in Deutschland im Alter über 65 Jahre in privaten Wohnungen lebt (Kremer-Preiß, 2012; siehe Abbildung 16.2). Dies wird im Wesentlichen auch durch Zahlen der Pflegestatistik aus 2017 bestätigt, die dabei von 33,8% privaten Einpersonenhaushalten und von 66,2% Mehrpersonen­ haushalten, in der Regel Zweipersonenhaushalten ausgeht und von nur 4,3% über 65jährigen in stationären Pflegeeinrichtungen (Tesch-Römer & Engstler, 2020). Alten- und Pflegeheim 4% Betreutes Wohnen 2% Pflegewohngruppen < 1% Gemeinschaftliches Wohnen < 1% Traditionelle Altenwohnung 1% Normale Wohnung 93% Abbildung 16.2: Wohnformen älterer Menschen in Deutschland. Quelle: Kremer-Preiß, 2012: 555. Viele Einpersonenhaushalte werden von alleinlebenden Frauen geführt, die in der Regel nach Ver­ witwung ihren Haushalt selbstständig weiterführen. Neuere Auswertungen deuten dabei auch auf Bestrebungen nach Selbstständigkeit bei der bisher empirisch wenig beachteten Gruppe alleinleben­ der Männer (nach Verwitwung) hin (z.B. Wolf, 2016). Die Bedeutung alternativer und innovativer, 414 https://doi.org/10.5771/9783748938095 Generiert durch Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, am 25.09.2023, 14:20:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. XVI. Altern im Raum am Beispiel von Wohnen und Mobilität insbesondere gemeinschaftlicher Wohnformen deutet sich nach Daten des Wohnatlasses derzeit mit ca. 27.000 Personen in ca. 900 Wohnprojekten bundesweit zunächst erst an und wird sich womöglich in der Zukunft noch deutlicher zeigen (KDA, 2014; Otto et al., 2012; Schulz-Nieswandt et al., 2012; Wahl & Steiner, 2014). Nur knapp 4% der Personen über 65 lebt in institutionellen Kontexten in Ge­ stalt von Alten- und heute vor allem Pflegeheimen (Kremer-Preiß, 2012). Jenseits des 80. Lebensjahres steigt dieser Anteil zwar auf ca. 11% an; das heißt aber auch, dass 89% der älteren Menschen im Alter von 80 und mehr Jahren in Deutschland privat wohnen. Dies ist insofern bedeutsam, als von einer zahlenmäßigen Verdopplung der heute etwa drei Millionen über 80-Jährigen in Deutschland (3,5% der Bevölkerung) auf etwa acht Millionen bis zum Jahre 2050 auszugehen ist, was gleichzeitig einer Verdreifachung ihres relativen Bevölkerungsanteiles auf dann etwa 11% der Bevölkerung entspricht. Wichtig erscheint der Hinweis, dass auch ein großer Teil der Personen mit Demenz (ca. 75%) in priva­ ten Wohnungen und nicht in Heimen lebt (Claßen et al., 2014). Dennoch ist davon auszugehen, dass durch den weiteren signifikanten Anstieg hochaltriger Menschen sowie, damit verbunden, der Anstieg an demenziell erkrankten sehr alten Menschen, die Inanspruchnahme von stationären Wohnformen in Zukunft bedeutsam ansteigen wird (Schneekloth & Wahl, 2009). Die Datenlage zu Wohnbedingungen zeigen, dass davon auszugehen ist, dass drei Viertel aller Senio­ renhaushalte Stufen und Schwellen beim Zugang zur Wohnung haben, dass zwei Drittel aller Senio­ renhaushalte keinen schwellenfreien Zugang zur Terrasse haben, dass 20–30% ihre Bewegungsflächen im Bad oder die Türbreite als zu eng bewerten, und dass nur 15% aller Seniorenhaushalte bodenglei­ che Duschen haben (Kremer-Preiß, 2012). Auch die Daten des Deutschen Alterssurvey (Erhebung in 2014; Nowossadeck & Engstler, 2016) zeigen, dass barrierereduzierte Wohnungen in Deutschland wenig verbreitet sind. Unter den 40–85-Jährigen lebten in 2014 nur 2,9% in einer barrierereduzierten Wohnung. Für die vermutlich besonders durch Wohnbarrieren betroffene Gruppe der Personen im Alter von 80 und mehr Jahren zeigt eine vom Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres) und dem Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) durchgeführte bundesweit repräsentative Querschnittsbefragung hochaltriger Menschen in Privathaushalten und Heimen (D80+ „Hohes Alter in Deutschland“) ebenfalls sehr geringe Anteile von Wohnungen ohne Barrieren (9,1%). Am häufigsten liegt die Barriere fehlender Handläufe oder einem Treppenlift vor (63,9%) und 45,2% berichten über Schwellen größer als 2 cm, selten sind hingegen Türen, die weniger als 80 cm breit sind (11,6%) (V. Oswald & Wagner, 2022). Hochaltrige, die auf Gehhilfen angewiesen sind, berichten seltener über Barrieren, was für eine erfolgreiche Passung mit Wohnbedingungen spricht. Zudem sind 76,1% der Befragten der Auffassung, dass sie in ihrer Wohnumgebung gut zu Fuß unterwegs sein können (ebd.). Insgesamt ist also einerseits das Wohnen im Alter facettenreicher geworden, andererseits geben objektive Wohnmerkmale weiterhin Anlass zur Sorge und legen den Schluss nahe, dass raumbezogene Präventionspotenziale noch zu wenig genutzt werden. Subjektive Bewertungen älterer Menschen hinsichtlich ihres Wohnens sind ganz überwiegend sehr positiv ausge­ prägt. 415 https://doi.org/10.5771/9783748938095 Generiert durch Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, am 25.09.2023, 14:20:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Susanne Penger, Frank Oswald & Hans-Werner Wahl 2.3 Handlungsbezogene Aspekte des Wohnens im Alter Nutzung und Gestaltung des Wohnens. Handlungsbezogene Aspekte des Wohnens und zugehörige Handlungsintentionen (Agency) beschreiben die Nutzung, Gestaltung und Auseinandersetzung mit der bzw. die erlebte Kontrolle über die alltägliche Wohnumwelt. Zur Nutzung ist anzumerken, dass der Anteil an Tageszeit, die im Wohnbereich verbracht wird, mit dem Alter zunimmt. Objektive GPS/GIS Tracking-Daten aus Deutschland über einen Zeitraum von vier Wochen erbrachten für eine Gruppe von 141 teilweise kognitiv beeinträchtigt und teilweise nicht beeinträchtigten Männern und Frauen im Alter von 70,1 Jahren (SD = 5,2 Jahre, Range = 50–84 Jahre) aus urbanem und sub-urbanem Kontext durchschnittliche außerhäusliche Aufenthaltsdauern von täglich 4,5 Stunden (SD = 2,7h) (Kaspar et al., 2012). Auch die Erfassung regelmäßiger Alltagsaktivitäten mittels Tagebücher verweist darauf, dass weniger als 1/5 aller Teilnehmenden der Frankfurter BEWOHNT-Studie (N = 595 einer nach Altersgruppe und Haushaltsform disproportional geschichtete Zufallsstichprobe in drei Stadtteilen auf der Basis städtischer Meldeamtsdaten mit Populationsabdeckungen von 4–10%) während einer „typischen“ Woche innerhalb der letzten vier Wochen nie oder nur selten außerhalb der Wohnung unterwegs war, wobei dieser Anteil unter den hochbetagten (80+) Alleinlebenden unabhängig vom Geschlecht mit 25% deutlich höher ausfiel als unter den Älteren in Paarhaushalten (17%) (Oswald & Konopik, 2015), was direkt auf den Abschnitt Mobilität verweist (s.u.). Betrachtet man einzelne Aktivitäten, so zeigen Tagesprofile (z.B. der Berliner Altersstudie), dass 80% davon innerhäuslich statt­ finden und mit nur geringen Geschlechtsunterschieden zu rund 38% Freizeitaktivitäten zuzuordnen waren. Etwa 19% fielen auf Selbstpflege und einfache Alltagsaktivitäten, etwa 19% auf Ruhen, 15% auf komplexere instrumentelle Alltagsaktivitäten (wie z.B. Kochen), 7% auf soziale Aktivitäten, 0,7% auf Arbeit und 0,3% auf Hilfe, 1,5% der Aktivitäten waren nicht zuordenbar (Baltes et al., 1996). Adaptive Verdichtung von Kontrolle im Wohnen. Wohnverhalten zeichnet sich auch noch durch andere Prozesse aus. So kann beispielsweise anhand der Bildung sogenannter „Kontrollzentren“ („Control Center“; Lawton, 1989) oder eigentlich besser „Lebenszentren“ eine Verdichtung von Lebensvollzü­ gen beobachtet werden. Dazu gehören eine bequeme Sitzgelegenheit, notwendige und persönlich wichtige Dinge in greifbarer Nähe, eine gute Sicht zu Fenster und Eingangstür, IuK-Technologien (Telefon, Radio, TV, PC, Tablet, Smartphone), Kissen, Pflanzen, usw. Diese Prozesse der räumlichen Verdichtung in der Wohnung werden insbesondere im Hinblick auf die erzielte Maximierung von Kontrolle über und Unterstützung durch die Umwelt diskutiert, beispielsweise bei Vorliegen einer Sehbeeinträchtigung oder Mobilitätseinbuße. Es konnte in einer kleinen vergleichenden Studie aber gezeigt werden, dass auch weitgehend gesunde ältere Männer und Frauen über „Lieblingsplätze“ in der Wohnung verfügen, die allerdings eine größere räumliche Ausdehnung hatten und durch anderes Wohnverhalten geprägt waren als die von beeinträchtigten Älteren (Oswald, 1996, s. auch Claßen et al., 2014). Wohnanpassung. Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der Wohnumwelt deutet vieles darauf hin, dass die Möglichkeiten der Wohnraumanpassung in Deutschland noch nicht ausgeschöpft sind (KDA, 2014). Dies gilt vor allem für präventive Anpassungen von Wohnung und Wohnumfeld durch aufsuchende Strategien wie den präventiven Hausbesuch. Nach wie vor besteht im Bereich Wohn­ raumanpassung auch ein substanzielles Informationsdefizit hinsichtlich Kosten, Fördermöglichkeiten und Umsetzung (z.B. Informationen der Kf W: https://www.pflege-durch-angehoerige.de/zuschu 416 https://doi.org/10.5771/9783748938095 Generiert durch Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, am 25.09.2023, 14:20:11. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. XVI. Altern im Raum am Beispiel von Wohnen und Mobilität esse-von-der-kfw-bank-fuer-altersgerechtesbehindertengerechtes-wohnen/; Informationen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsanpassung e.V.: https://www.wohnungsanpassung-bag.de/seite /381676/qualit%C3%A4tsstandards.html); Informationen des BMG: https://www.bundesgesundheits ministerium.de/leistungen-der-pflege/wohnumfeldverbessernde-massnahmen.html). Umzüge. Schließlich sollen auch Umzüge als mögliches Wohnverhalten erwähnt werden, obwohl hier auch Erlebensprozesse hineinspielen (siehe nochmals Abbildung 16.1). Dabei können Umzüge in private Haushalte von solchen in alternative Wohnformen und jenen ins institutionalisierte Wohnen (Heim) unterschieden werden. Grundsätzlich finden jenseits von 65 Jahren sehr viel seltener Privat­ umzüge statt; zu zwei Dritteln erfolgen sie zudem im Umkreis von 50 Kilometern (Friedrich, 2021). Objektiv führen diese häufig zu einer besseren Ausstattung – auch weil ältere Menschen häufig nach langer Wohndauer aus altem Wohnbestand ausziehen – aber nicht immer zu weniger Wohnfläche, es sei denn, es wird Wohneigentum aufgegeben (Oswald et al., 2002). Eine verstärkte Nutzung von Ge­ sundheitsdiensten oder eine erhöhte Mortalität konnte bislang nicht nachgewiesen werden, allerdings können insbesondere spät im Alter erfolgende Umzüge sich negativ auf die soziale Integration am neuen Wohnort auswirken (Krout & Wethington, 2003). Häufig stellen sich bei Privatumzügen Fragen nach verfügbaren anregenden und barrierefreien Wohnalternativen, vorzugsweise im unmittelbaren Umfeld. Dabei sollte aber grundsätzlich von keiner eindimensionalen Motivlage, zum Beispiel nach Verkleinerung und leicht zugänglicher Wohnlage im Erdgeschoß, ausgegangen werden. Vielmehr existieren häufig konkurrierende Wohnwünsche (z.B. nach Zugänglichkeit, Sicherheit und Anregung). Eine Grundlage für gute Beratung liegt im Wissen um die Vielfalt von Wohn- bzw. Umzugsmotiven sowie um biografisch gewachsene Wohnbedeutungen und Bindungen, auch jenseits der funktionalen Erhaltung von Selbstständigkeit. Hinsichtlich der Inhalte stehen jene Bündel von Umzugsmotiven im Vordergrund, die sich auf die Wohnbedingungen und das Netzwerk von Angehörigen richten, gesundheitliche Motive rücken deutlich in den Hintergrund. Als weitere Motive werden private, auf präferierte Ruhesitzgegenden ausgerichtete und berufliche bzw. mit dem Renteneintritt verbundene Gründe genannt (Friedrich, 2021, S. 153f ). Umzüge in alternative und innovative Wohnformen sind zahlenmäßig eher selten (siehe Abbildung 16.2), wobei die intensive öffentliche Diskussion quartiersbezogener Wohnalternativen vor dem Hin­ tergrund einer wachsenden Nachfrage viel dazu beiträgt, dass Umzüge im Alter nicht mehr nur aus einer Unterstützungsperspektive, sondern auch als Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeit diskutiert werden (Wahl & Steiner, 2014). Für das Betreute Wohnen kann als ein Bestandteil im Zu­ sammenhang mit der Entscheidung für oder gegen einen Umzug vor dem Hintergrund der Angebots­ vielfalt, mangelnder Transparenz und der Unverbindlichkeit der Angebote die Einführung der Dienst­ leistungsnorm DIN 77800 für Betreutes Wohnen gelten (Mühlbauer, 2008). Geregelt werden darin unter anderem Vergleichbarkeit und Transparenz von Bewerbungsunterlagen und Verträgen, Angaben zu Mindeststandards, Leist

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